Geschichte und politische Theorie

Leo Trotzki und das Übergangsprogramm

1938 verallgemeinerte der russische Revolutionär Leo Trotzki die Traditionen von Marx, Engels, Lenin und Luxemburg. Der Text “Das Übergangsprogramm” beginnt mit der Feststellung, dass es einen Gap zwischen der objektiven Reife für den Sozialismus und dem aktuellen Bewusstsein gibt. Und dass die Krise der Arbeiter*innenklasse auf die Krise ihrer Führung zurückzuführen ist. In Deutschland und Österreich wurden die revolutionären Aufstände nach dem 1. Weltkrieg von der Führung der Sozialdemokratie verraten. Das verschaffte dem geschwächten Kapitalismus die notwendige Verschnaufpause. 20 Jahre später war die Arbeiter*innenbewegung wegen der katastrophalen Rolle ihrer Führungen bereits geschlagen, der Faschismus an der Macht. Der Weltkrieg war nicht mehr abzuwenden. Das Übergangsprogramm verband die täglichen Fragen der Arbeiter*innenklasse (Arbeitszeit, Lohn, Arbeitslosigkeit, Teuerung) mit der Notwendigkeit des Sozialismus. Seine Aufgabe bestand darin, die Grundlage für eine revolutionäre Weltpartei der Arbeiter*innen nach dem 2. Weltkrieg zu legen, um der erwarteten revolutionären Welle nicht wie 1918 führungslos gegenüber zu stehen. Viele der Forderungen wie die gleitende Lohnskala, das Ende des Geschäftsgeheimnisses und die Öffnung der Geschäftsbücher, die Verstaatlichung der Banken und Unternehmen unter Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse sind gerade heute  zentrale Bestandteile eines Übergangsprogramms. Entscheidend ist aber herauszuarbeiten, welche Methode Trotzki anwendet. Diese Übergangsmethode ist immer Ausdruck der konkreten Situation. Es geht darum, die Verbindung vom notwendigen Sturz des Kapitalismus zu aktuellen Kämpfen zu ziehen und die Forderungen so zu formulieren, dass sie der Mobilisierung dienen.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

VORWÄRTS-Schwerpunkt: Das Übergangsprogramm

Christoph Glanninger, Sarah Moayeri, Stefan Brandl und Yasmin Morag

Die Suche nach einer Systemalternative

In den letzten Jahren ist die Krise des Kapitalismus eskaliert - die Mehrheit hat sie zu spüren bekommen, angefangen bei alltäglichem Sexismus, Gewalt und Rassismus bis zu einer noch nie dagewesenen Pandemie, der Klimakatastrophe, einem sich anbahnenden imperialistischen Krieg und der Wirtschaftskrise. Eine Umfrage aus 2021 (USA) ergab, dass 54 % der Jugendlichen eine negative Einstellung zum Kapitalismus haben. In Britannien sagten 67 % der Jugendlichen, dass sie gerne in einem sozialistischen System leben würden und 72% befürworten die Verstaatlichung von Schlüsselsektoren.

Dieses Gefühl zeigt sich in den diversen Protestbewegungen der Jugend und Arbeiter*innenklasse weltweit. Die tiefe Krise des Systems offenbart vielen die Notwendigkeit eines Wandels. Gleichzeitig fehlt aber oft die Vorstellung, wie eine Alternative aussehen könnte, wie sie erkämpft werden kann und warum und wie es eine Organisierung der Arbeiter*innenklasse dafür braucht. Ein gutes Beispiel ist die Klimabewegung: Millionen erhoben sich unter dem Slogan “System change not climate change”, aber es gibt noch immer wenig Vorstellung davon, wie dieser Systemwandel aussehen könnte und welche Kraft ihn durchsetzen kann. Das führte dazu, dass jetzt ein Teil der Bewegung zunehmend auf NGOs und das grüne Establishment setzt und ein anderer sich auf isolierte direkte Aktionen und Besetzungen konzentriert, die oft die Arbeiter*innenklasse von der Bewegung entfremden.

Viele politische Organisationen konzentrieren sich entweder auf kurzfristige Lösungen, ohne einen Weg in die Zukunft zu bieten, oder sie präsentieren abstrakte Slogans für einen weit in der Zukunft liegenden Sozialismus - in einer Art und Weise, die völlig abgekoppelt ist vom Bewusstsein der Menschen und der aktuellen Realität. Um eine wirkliche Chance auf eine grundlegende Veränderung zu organisieren, bedarf es einer Methode, die eine Brücke zwischen beiden schlägt, die die gelebten Erfahrungen der Menschen mit dem Scheitern des kapitalistischen Systems aufgreift und den Weg aufzeigt, wie eine geplante, sozialistische Gesellschaft aussehen könnte und wie wir konkret dafür kämpfen können.

Das Übergangsprogramm: Die Brücke zum Sozialismus

Welches Programm kann die Arbeiter*innenklasse für ihre eigenen, unmittelbaren Interessen mobilisieren und gleichzeitig den Kampf für eine sozialistische Alternative organisieren? Ein marxistisches Programm ist keine bloße Aneinanderreihung von Forderungen, sondern eine Kombination mit Kampfvorschlägen, Taktik und Strategie, die einen Weg zum Sozialismus, also dem Ende des kapitalistischen Profitsystems aufzeigt. 

Schon im Kommunistischen Manifest, in dem Marx und Engels zum ersten Mal in Ansätzen ein Programm für die damalige Arbeiter*innenbewegung formulierten, erkannten sie, dass es notwendig ist, unmittelbare Forderungen zu erkämpfen und diese mit dem Kampf um Sozialismus zu verbinden.

Im revolutionären Russland warf Lenin mit den “Aprilthesen” im Frühjahr 1917 die drängenden Kernforderungen auf, die auf der Grundlage der Existenz von Arbeiter*innenräten (Sowjets) praktisch den Weg in Richtung einer Arbeiter*innenregierung zeigten. Als im Oktober 1917 die zweite Phase der Revolution näher rückte, vertiefte Lenin diese Aprilthesen und erklärte die Unfähigkeit des Kapitalismus, die drängenden Probleme der Zeit zu lösen. Er plädierte beispielsweise dafür, dass der Staat Preiskontrollen für Lebensmittel gegen die Profitinteressen der Großgrundbesitzer*innen durchsetzen müsse, für Maßnahmen der Arbeiter*innenregierung um "Land, Produkte und Lebensmittel richtig zu verteilen" usw. Dieses Programm, mit dem die Bolschewiki eine enorme Autorität innerhalb der Arbeiter*innenklasse aufbauen konnten, stellte die praktische Anwendung einer Übergangsmethode dar. Mit den richtigen Parolen zur richtigen Zeit “Land, Brot, Frieden” und “Alle Macht den Räten” konnten die Bolschewiki eine erfolgreiche Revolution der Arbeiter*innenklasse anführen.

Angesichts der drängendsten Fragen unserer Zeit, Klimawandel, Krieg, Inflation ist klar, dass der kapitalistische Markt Dauerkrise bedeutet. Lebensmittel bleiben auf Feldern oder in Geschäften liegen, weil die Preise zu hoch sind - gleichzeitig nimmt der Hunger zu. Energiekonzerne machen Milliardenprofite während Menschen sich zwischen Heizen und Essen entscheiden müssen. Forderungen nach Preiskontrollen durch die Arbeiter*innenklasse und dem Ende von Spekulation und Profitmacherei haben also nichts an Aktualität eingebüßt. Ein Übergangsprogramm heute muss dabei ganz zentral die Eigentumsfrage aufwerfen und die Frage beantworten, warum und wie es Verstaatlichungen und eine demokratische Planwirtschaft braucht, um die Krisen bewältigen zu können. Die Maßnahmen aller Regierungen angesichts der Teuerungswelle sind mehr als ungenügend - deswegen braucht es einen Kampf um Preiskontrollen und Verstaatlichungen z.B. der Energiekonzerne und Nahrungsmittelproduktion unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse. Es gibt zahlreiche offensichtliche Beispiele - Firmenpleiten mit dramatischem Stellenabbau, Pharmaindustrie, Rüstungskonzerne, klimaschädliche Industrien - die zeigen, warum eine Übernahme der Produktion und der gesamten Wirtschaft durch die Beschäftigten die einzige Lösung ist, um nachhaltig und nach Bedürfnissen orientiert wirtschaften zu können. Wer unmittelbare Forderungen nach höheren Löhnen angesichts der Inflation oder Geld für Soziales statt für Aufrüstung nicht mit diesem Ziel verbindet, landet am Ende bei einer Trennung in sogenannte Minimal- und Maximalforderungen: Es bleibt bei ungenügenden Forderungen fürs jetzt und einer abstrakten Vertröstung auf später. Wer den Kampf gegen Krieg und Imperialismus nicht konkret (z.B. durch die Forderung nach der Enteignung der Waffenindustrie) mit der Notwendigkeit einer Überwindung des kapitalistischen Systems, das immer wieder zu Kriegen führt, verbindet, landet dabei, abstrakte Friedensappelle an die Regierungen zu richten oder Illusionen in die Neutralität zu schüren. 

Es gibt einen realen Druck, Forderungen herunterzuschrauben, sich also nur an dem zu orientieren, was unmittelbar “realistisch” erscheint. Ob eine Forderung durchsetzbar ist oder nicht, hängt, gerade in einem der reichsten Länder der Welt, immer von Kräfteverhältnissen ab. Es geht also darum, auch beim Kampf um Reformen Organisierung und Aktivität der Arbeiter*innenklasse und Jugend voranzutreiben. Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführungen haben in Österreich Arbeiter*innen und Jugendlichen jahrzehntelang Passivität eingeimpft - vielen fehlt die Erfahrung dafür, sich selbst zu organisieren oder sich aktiv für ihre Interessen einzusetzen. Viele Kampftraditionen sind verloren gegangen und müssen neu aufgebaut werden. Viele wissen nicht, warum und wie es notwendig ist sich zu organisieren, warum die Arbeiter*innenklasse die Kraft ist, die Veränderung herbeiführen kann und wie Kämpfe rund um konkrete Forderungen geführt und gewonnen werden können. Diese Tatsache muss ein Übergangsprogramm heute berücksichtigen. Ein Beispiel dafür ist die Frage des Streiks - in anderen Ländern ist streiken für viele Beschäftigte normaler, obwohl es auch da die Beschränkungen durch die Gewerkschaftsführung gibt - in Österreich müssen wir selbst dieses grundlegende Element von Widerstand erklären und wieder erlernen. Deshalb nimmt die Forderung des Streiks eine zentrale Rolle in unserer Arbeit ein.

Die Übergangsmethode ist auch ein entscheidendes Instrument, um die tagtäglichen Unterdrückungserfahrungen in Widerstand zu verwandeln und politische und ökonomische Forderungen zusammenzuführen und zu verallgemeinern. Eine der drängendsten Fragen für viele, besonders Jugendliche, ist heute die nach dem Ende von spezifischer Unterdrückung, also wie wir  Diskriminierung, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Rassismus bekämpfen können. Diese Kämpfe stellen teilweise das ganze System in Frage, z.B. ist klar, dass die populäre Forderung “Nicht eine weniger” (Ni una menos) nur durch ein grundlegend anderes System möglich wird. Unser Programm muss die Frage beantworten was es braucht um diese Forderung zu erfüllen und wir müssen dabei zwei Ebenen berücksichtigen: Wie können wir rückschrittliche und diskriminierende Ideen zurückdrängen (auch innerhalb der Arbeiter*innenklasse) und wie hängt das mit den materiellen Verhältnissen zusammen. Wenn wir Forderungen nach Milliardeninvestitionen in Soziales, Gesundheit und Gewaltschutz, leistbaren Wohnraum, drastische Lohnerhöhungen in frauendominierten Jobs um Unabhängigkeit zu ermöglichen etc. aufstellen, dann werfen wir auch immer eine Perspektive auf, wie das erkämpft werden kann und warum Rollenbilder - und damit auch Sexismus und Gewalt - im Kapitalismus immer wieder reproduziert werden. Wir erklären die Notwendigkeit von Kampfformen, die die größtmögliche Kampfkraft und Einheit der Arbeiter*innenklasse herstellen, also z.B. Streiks in Schulen und Betrieben gegen Sexismus und warum innerhalb dieser Kämpfe demokratische Organisierung notwendig ist. Mit der sozialistisch-feministischen Initiative ROSA bauen wir ein konkretes Organisierungsangebot auf, das diese Aspekte vereint und eine antikapitalistische und sozialistische Perspektive in den Kampf gegen spezifische Unterdrückung einbringt. Ein Übergangspogramm kann also nicht  nur auf dem Papier existieren und muss sich ständig an die konkrete aktuelle Situation anpassen und wandeln. Es kann nicht getrennt werden von den Erfahrungen, Diskussionen und Kämpfen, die es durchlebt und in denen es immer wieder in der Praxis getestet wird.

Marx aktuell: Übergangsprogramm

1938 verallgemeinerte der russische Revolutionär Leo Trotzki die Traditionen von Marx, Engels, Lenin und Luxemburg. Der Text “Das Übergangsprogramm” beginnt mit der Feststellung, dass es einen Gap zwischen der objektiven Reife für den Sozialismus und dem aktuellen Bewusstsein gibt. Und dass die Krise der Arbeiter*innenklasse auf die Krise ihrer Führung zurückzuführen ist. In Deutschland und Österreich wurden die revolutionären Aufstände nach dem 1. Weltkrieg von der Führung der Sozialdemokratie verraten. Das verschaffte dem geschwächten Kapitalismus die notwendige Verschnaufpause. 20 Jahre später war die Arbeiter*innenbewegung wegen der katastrophalen Rolle ihrer Führungen bereits geschlagen, der Faschismus an der Macht. Der Weltkrieg war nicht mehr abzuwenden. Das Übergangsprogramm verband die täglichen Fragen der Arbeiter*innenklasse (Arbeitszeit, Lohn, Arbeitslosigkeit, Teuerung) mit der Notwendigkeit des Sozialismus. Seine Aufgabe bestand darin, die Grundlage für eine revolutionäre Weltpartei der Arbeiter*innen nach dem 2. Weltkrieg zu legen, um der erwarteten revolutionären Welle nicht wie 1918 führungslos gegenüber zu stehen. Viele der Forderungen wie die gleitende Lohnskala, das Ende des Geschäftsgeheimnisses und die Öffnung der Geschäftsbücher, die Verstaatlichung der Banken und Unternehmen unter Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse sind gerade heute  zentrale Bestandteile eines Übergangsprogramms. Entscheidend ist aber herauszuarbeiten, welche Methode Trotzki anwendet. Diese Übergangsmethode ist immer Ausdruck der konkreten Situation. Es geht darum, die Verbindung vom notwendigen Sturz des Kapitalismus zu aktuellen Kämpfen zu ziehen und die Forderungen so zu formulieren, dass sie der Mobilisierung dienen.

Ein Programm, um zu gewinnen

Der Grund, warum die Übergangsmethode stets danach ausgerichtet sein muss, die Arbeiter*innenklasse zu mobilisieren, zu aktivieren und zu organisieren ist die Analyse, dass der Kapitalismus nicht zum Besseren reformiert werden kann. Heute besitzen 252 Männer mehr Reichtum als alle Frauen und Mädchen in Afrika, Lateinamerika und der Karibik gemeinsam. Der Kapitalismus basiert darauf, dass eine Minderheit die Mittel besitzt, um andere für sich arbeiten zu lassen und daraus Profit zu ziehen. Solange diese Eigentumsverhältnisse bestehen, gibt es keine Chance, die Probleme unserer Zeit auch nur ansatzweise zu beenden. Der Kapitalismus kann dabei nur revolutionär, also durch massenhafte Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse überwunden werden.

Deshalb ist das Übergangsprogramm auch nichts, das man als schlauen Vorschlag Regierung, Parteien oder Gewerkschaftsspitze übergeben kann, sondern hat immer die Aufgabe der Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse auch für eine sozialistische Systemveränderung. Genau deshalb kann ein Übergangsprogramm auch nicht am Schreibtisch entwickelt werden, sondern entsteht durch das Aufgreifen, Zusammenfassen und Weiterentwickeln von Forderungen, die aus Kämpfen und der tagtäglichen Erfahrung der Klasse entstehen. Dafür braucht es eine Organisation, die in den Kämpfen der Klasse verankert ist und dort sozialistische Ideen einbringt. Es braucht Mitglieder, die sich nicht nur an Protesten und Arbeitskämpfen beteiligen oder sie unterstützen, sondern Vorschläge machen, wie diese Kämpfe weiterentwickelt und gewonnen werden können und herausarbeiten, warum eine dauerhafte Lösung nur durch eine Überwindung des Kapitalismus möglich ist. Es braucht eine Organisation, die Erfahrungen aus unterschiedlichen Bewegungen zusammenträgt und versucht, ein gemeinsames Programm zu entwickeln und unterschiedliche Kämpfe miteinander zu verbinden. So eine Organisation beschreiben wir als revolutionäre Partei.

Streik als zentrale Kampfmethode

Ein Beispiel für unsere Anwendung der Übergangsmethode sind die Kämpfe im Gesundheits- und Sozialbereich. Wir haben als ISA analysiert, dass die Krise des Kapitalismus die Kolleg*innen im Gesundheits- und Sozialbereich besonders hart treffen wird und ihr Kampf für bessere Arbeitsbedingungen eine Vorreiterrolle für die gesamte Klasse spielen kann. 

Bei den bevorstehenden Lohnverhandlungen im privaten Gesundheits- und Sozialbereich haben Wiener Betriebsrät*innen die radikale aber notwendige Forderung nach 750€ mehr und einer 35-Stundenwoche ab 1.1.2023 aufgestellt. Wir unterstützen diese Forderung nicht nur, sondern betonen auch, dass es für die Durchsetzung eine Ausweitung der Bewegung braucht, die sich nicht nur mit den Bossen, sondern auch der Politik und letztlich dem ganzen System anlegt. Wir unterstützen mit der Basisinitiative „Sozial, aber nicht blöd“ konkrete Angebote, sich an der Basis zu organisieren und werfen dabei auch die Frage auf, welches Gesundheits- und Sozialsystem es eigentlich braucht: Eines, das von Beschäftigten und Patient*innen bedarfsorientiert organisiert und das voll ausfinanziert ist - was innerhalb des Kapitalismus nicht erreichbar sein wird und wofür es eine grundlegende Umwälzung braucht. Wir erklären auch, warum ein solcher Zugang der beste Ansatzpunkt ist, um auch innerhalb der Gewerkschaften einen demokratischen und kämpferischen Kurswechsel durchzusetzen und mit der Sozialpartnerschaft zu brechen. Auf Basis der Stimmung haben wir Forderungen und Aktionsvorschläge entwickelt, die passiven Unmut in aktiven Widerstand verwandeln und diesen Widerstand mit der Notwendigkeit einer Systemalternative verbinden. Natürlich kann auch das beste Programm und die beste Methode Erfahrungen der Klasse nicht ersetzen - Bewusstsein entwickelt sich vor allem durch den gemeinsamen Kampf für Interessen. Aber eine Organisation, die unter der Anwendung der Übergangsmethode in diese Kämpfe eingreift, kann eine enorm wichtige Rolle dabei spielen, nicht nur das Bewusstsein schneller weiterzuentwickeln, sondern auch Kämpfe unmittelbar und dauerhaft zu gewinnen. Wenn auch du nicht mehr nur zuschauen willst und mit der “Übergangsmethode” die Welt verändern willst - mach mit!

Streik als zentrale Kampfmethode

Ein Beispiel für unsere Anwendung der Übergangsmethode sind die Kämpfe im Gesundheits- und Sozialbereich. Wir haben als ISA analysiert, dass die Krise des Kapitalismus die Kolleg*innen im Gesundheits- und Sozialbereich besonders hart treffen wird und ihr Kampf für bessere Arbeitsbedingungen eine Vorreiterrolle für die gesamte Klasse spielen kann. 

Bei den bevorstehenden Lohnverhandlungen im privaten Gesundheits- und Sozialbereich haben Wiener Betriebsrät*innen die radikale aber notwendige Forderung nach 750€ mehr und einer 35-Stundenwoche ab 1.1.2023 aufgestellt. Wir unterstützen diese Forderung nicht nur, sondern betonen auch, dass es für die Durchsetzung eine Ausweitung der Bewegung braucht, die sich nicht nur mit den Bossen, sondern auch der Politik und letztlich dem ganzen System anlegt. Wir unterstützen mit der Basisinitiative „Sozial, aber nicht blöd“ konkrete Angebote, sich an der Basis zu organisieren und werfen dabei auch die Frage auf, welches Gesundheits- und Sozialsystem es eigentlich braucht: Eines, das von Beschäftigten und Patient*innen bedarfsorientiert organisiert und das voll ausfinanziert ist - was innerhalb des Kapitalismus nicht erreichbar sein wird und wofür es eine grundlegende Umwälzung braucht. Wir erklären auch, warum ein solcher Zugang der beste Ansatzpunkt ist, um auch innerhalb der Gewerkschaften einen demokratischen und kämpferischen Kurswechsel durchzusetzen und mit der Sozialpartnerschaft zu brechen. Auf Basis der Stimmung haben wir Forderungen und Aktionsvorschläge entwickelt, die passiven Unmut in aktiven Widerstand verwandeln und diesen Widerstand mit der Notwendigkeit einer Systemalternative verbinden. Natürlich kann auch das beste Programm und die beste Methode Erfahrungen der Klasse nicht ersetzen - Bewusstsein entwickelt sich vor allem durch den gemeinsamen Kampf für Interessen. Aber eine Organisation, die unter der Anwendung der Übergangsmethode in diese Kämpfe eingreift, kann eine enorm wichtige Rolle dabei spielen, nicht nur das Bewusstsein schneller weiterzuentwickeln, sondern auch Kämpfe unmittelbar und dauerhaft zu gewinnen. Wenn auch du nicht mehr nur zuschauen willst und mit der “Übergangsmethode” die Welt verändern willst - mach mit

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Die Suche nach einer Systemalternative

Yasmin Morag

In den letzten Jahren ist die Krise des Kapitalismus eskaliert - die Mehrheit hat sie zu spüren bekommen, angefangen bei alltäglichem Sexismus, Gewalt und Rassismus bis zu einer noch nie dagewesenen Pandemie, der Klimakatastrophe, einem sich anbahnenden imperialistischen Krieg und der Wirtschaftskrise. Eine Umfrage aus 2021 (USA) ergab, dass 54 % der Jugendlichen eine negative Einstellung zum Kapitalismus haben. In Britannien sagten 67 % der Jugendlichen, dass sie gerne in einem sozialistischen System leben würden und 72% befürworten die Verstaatlichung von Schlüsselsektoren. Dieses Gefühl zeigt sich in den diversen Protestbewegungen der Jugend und Arbeiter*innenklasse weltweit. Die tiefe Krise des Systems offenbart vielen die Notwendigkeit eines Wandels. Gleichzeitig fehlt aber oft die Vorstellung, wie eine Alternative aussehen könnte, wie sie erkämpft werden kann und warum und wie es eine Organisierung der Arbeiter*innenklasse dafür braucht. Ein gutes Beispiel ist die Klimabewegung: Millionen erhoben sich unter dem Slogan “System change not climate change”, aber es gibt noch immer wenig Vorstellung davon, wie dieser Systemwandel aussehen könnte und welche Kraft ihn durchsetzen kann. Das führte dazu, dass jetzt ein Teil der Bewegung zunehmend auf NGOs und das grüne Establishment setzt und ein anderer sich auf isolierte direkte Aktionen und Besetzungen konzentriert, die oft die Arbeiter*innenklasse von der Bewegung entfremden. Viele politische Organisationen konzentrieren sich entweder auf kurzfristige Lösungen, ohne einen Weg in die Zukunft zu bieten, oder sie präsentieren abstrakte Slogans für einen weit in der Zukunft liegenden Sozialismus - in einer Art und Weise, die völlig abgekoppelt ist vom Bewusstsein der Menschen und der aktuellen Realität. Um eine wirkliche Chance auf eine grundlegende Veränderung zu organisieren, bedarf es einer Methode, die eine Brücke zwischen beiden schlägt, die die gelebten Erfahrungen der Menschen mit dem Scheitern des kapitalistischen Systems aufgreift und den Weg aufzeigt, wie eine geplante, sozialistische Gesellschaft aussehen könnte und wie wir konkret dafür kämpfen können.

Am Schwerpunkt mitgearbeitet haben Christoph Glanninger, Sarah Moayeri, Stefan Brandl und Yasmin Morag

 

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Arbeit: Ein notwendiges Übel

Sonja Grusch

Die Unternehmen suchen händeringend nach Arbeitskräften. Viele sind nicht mehr bereit, jeden noch so lausigen Job anzunehmen und sich alles gefallen zu lassen. Studien zeigen, dass Menschen kürzer arbeiten wollen. Die “work-life-balance” muss stimmen. So neu ist die Sache allerdings nicht. Kürzere Arbeitszeiten sind eine Forderung der Arbeiter*innenbewegung seit ihren Anfängen. 40 Wochenstunden sind nicht die “natürliche” Arbeitszeit, von der man nun plötzlich abgeht. Die letzte generelle Arbeitszeitverkürzung gab es in Österreich 1975 - da war ein Großteil der aktuell Erwerbstätigen noch nicht einmal geboren. Der technische Fortschritt ist aber weiter gegangen, d.h. wir leisten heute weit mehr in derselben Arbeitszeit als vor 47 Jahren. Spätestens seit den 1990er Jahren stagnieren die Reallöhne bestenfalls. Im Kern bedeutet das: Die Reichen werden durch unsere Arbeit immer reicher, für uns aber steigt die Belastung.

Dieser kapitalistische Wahnsinn wird uns von der Propaganda der Herrschenden als Normalzustand eingebläut. Corona hat hier eine spürbare Veränderung gebracht, die aber bereits mit der Krise 2007 begonnen hat. Nicht nur, dass vielen “die Arbeit” in den Lockdowns nicht wirklich abgegangen ist, ist offensichtlich geworden, dass es nicht am Geld mangelt. In der 2007er Krise wurden über Nacht astronomische Summen für die Banken locker gemacht. Unter Corona wiederholte sich das mit den Hilfspaketen für die Wirtschaft. Es ist also Geld da. Das Dogma vom “wir müssen alle sparen” zerfiel. Gleichzeitig wurde deutlich, wer eigentlich wirklich alles am laufen hält. Die “Systemerhalter*innen” und “essentiellen Jobs” waren nicht in Banken, Politik und Chefetagen, sondern in Spital, Schule und Supermarkt. Dass der Erkenntnis aber keine bessere Bezahlung folgte, sondern nur noch mehr Stress, macht zu Recht wütend. Das neue Selbstbewusstsein führt dazu, dass Arbeitssuchende “wählerisch” werden und Beschäftigte Forderungen erheben.

Diese Situation aber ist für die Unternehmen ein Problem, da sie wettbewerbsfähig bleiben/werden müssen. Also soll der Staat für sie mit Zuckerbrot (staatliche Lohnsubvention wie bei der Kurzarbeit) und Peitsche (Verschärfungen bei Arbeitslosen) dafür sorgen, dass ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. 

Generelle Arbeitszeitverkürzung jetzt!

Eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Einkommen, bei der entsprechend mehr Leute angestellt werden, ist nötig. So würden 1) die Arbeitslosigkeit bekämpft, 2) die Situation der Beschäftigten verbessert und 3) wir ein bisschen des Reichtums, den wir erwirtschaftet haben, zurück bekommen. Eine individuelle Arbeitszeitverkürzung, wo sich jedeR einzeln ausmacht, weniger zu arbeiten und weniger zu verdienen, ist für viele nicht leistbar. Das “Recht auf Teilzeit” ist bestenfalls für Besserverdienende attraktiv, für andere, insbesondere Frauen, wird es meist zur Armutsfalle. 

Doch eine Arbeitszeitverkürzung auf 35-Stunden ist eigentlich viel zu wenig. Würde alle sinnlose Arbeit eingespart, Produkte langlebiger erzeugt und alle technischen Möglichkeiten eingesetzt werden, dann würde sich die notwendige verbleibende Arbeit stark reduzieren. Und wenn wir dann auch noch selbst die Arbeitsbedingungen mitentscheiden können und darüber, was wann wie und warum gearbeitet wird, dann wird Arbeit von einer Last zu einer Bereicherung. Dann fällt auch die Mauer zwischen “Job” und “Freizeit”. Wir alle arbeiten ja in unserer Freizeit sehr viel: Ehrenamtlich in diversen Vereinen von der Stadtverschönerung bis zur Altenpflege, bei der IT-Entwicklung im open-source Bereich und kreativ in Theatergruppen oder Chören. “Arbeit” ist also nicht das Problem, sondern wer darüber entscheidet und wer davon profitiert. Wollen wir über unsere Arbeit und ihre Früchte verfügen, dann ist das mit dem Kapitalismus und seiner Profitlogik unvereinbar.

 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Sommer-Lektüre: Diese Texte dürfen nicht fehlen!

Bestelle Broschüren einfach bei uns via E-Mail: slp@slp.at
Sebastian Kugler

Von 21. bis 28. August findet das Sommercamp der ISA und unserer sozialistisch-feministischen Plattform ROSA statt. Außerdem organisieren wir in Wien die Veranstaltungsreihe “Marx im Park”. Bei beiden Events gibt es jede Menge politisches Programm: Wir werden uns mit verschiedenen aktuellen, historischen und theoretischen Themen beschäftigen, die für unsere Arbeit wichtig sind. Für sehr konkrete Fragen gibt es revolutionär-sozialistische Antworten. Dabei hilft es, sich im Vorhinein bereits in Themen einzulesen, um eigene Gedanken und Fragen dazu mitzubringen. Darum hier einige Lesetipps, mit denen du dich auf Sommercamp und Marx im Park vorbereiten kannst. Alle Texte sind online und auf slp.at oder über eine Google-Suche zu finden.

Der Krieg in der Ukraine und die globalen imperialistischen Spannungen werden im Sommer ein zentrales Thema bleiben. Die Stellungnahme des Internationalen Komitees der ISA Krieg in der Ukraine, die neue Ära und die Krise des Kapitalismus bietet einen guten Einstieg in die Diskussion - gleichzeitig beschäftigen wir uns mit der Russischen Revolution 1917, die den 1. Weltkrieg beendet hat. Eine lebendige Darstellung der Revolution bietet John Reeds 10 Tage, die die Welt erschütterten. Die Methode, mit der es den Bolschewiki damals gelang, die unmittelbare Aufgabe der Beendigung des Krieges mit der grundlegenden Aufgabe der Abschaffung des Kapitalismus zu verbinden, nannte Leo Trotzki “Übergangsmethode”. Seine Broschüre Das Übergangsprogramm ist darum auch einer der grundlegenden Texte für das Camp und “Marx im Park”. Eine Anwendung der Übergangsmethode für den heutigen Kampf gegen die Klimakrise stellt unsere Broschüre 20 Fragen und Antworten: Können wir die Welt noch retten? dar - nicht nur für den Workshop am Camp, sondern auch angesichts der nächsten Hitzerekorde ein wichtiger Text.

Dass wir unmittelbare Verbesserungen mit systemischen Veränderungen verbinden müssen, zeigt uns auch der Job-Alltag, insbesondere im Gesundheits- und Sozialbereich, der ebenfalls Gegenstand vieler Diskussionen sein wird. Zentrales Instrument dafür ist der Streik: Unsere Broschüre Streik – kurz & bündig ist ein Handbuch für den Arbeitskampf und liefert wertvolle Infos zu Geschichte und Theorie. Auch für die Workshops am Camp, die sich mit grundlegenden Fragen von Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit und dem Thema “Heißer Herbst” beschäftigen, ist dieser Text nützlich. Das Thema Streik ist aber auch in der feministischen Bewegung brandaktuell. Unsere sozialistisch-feministische Plattform ROSA organisiert gleich mehrere Workshops am Camp. Für diese Diskussionen ist die Broschüre Kämpfen um zu gewinnen – für einen sozialistischen Feminismus! ein Einstieg.

Marxistische Theorie fließt durch all diese Texte - wer sich aber z.B. beim Workshop am Camp explizit mit den Grundlagen des Marxismus auseinandersetzen möchte, ist mit unserer Broschüren-Reihe Basiswissen Marxismus (Philisophie, Geschichte, Wirtschaftstheorie, Staat) gut beraten. Diese Einführungsbroschüren sind auch nützliche Begleiter beim Lesen “klassischer” Texte wie dem Manifest der Kommunistischen Partei, das heute womöglich aktueller und lehrreicher denn je ist.

Mit diesen Texten bist du perfekt auf die Diskussionen und Workshops am Sommercamp und bei “Marx im Park” vorbereitet – wir sehen uns dort!

 

ISA & ROSA Sommercamp: 21. - 28. August 2022

Hier findest du Infos dazu und das vollständige Programm: https://www.slp.at/artikel/programm-f%C3%BCr-das-isa-rosa-sommercamp-202...

 

Termine für Marx im Park:

11.7.: Gesundheit und Soziales im Kapitalismus - warum wir ein anderes System brauchen

19.7.: Revolutionen und Konterrevolutionen - Lehren aus dem Arabischen Frühling

11.8.: Die russische Revolution - Lehren für den Kampf um eine sozialistische Alternative heute

18.8.: Wie verändern wir die Welt? Das Übergangsprogramm heute

 (immer 18:30, Augarten, Wien)

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Marxismus und Staat

basiswissenmarxismus>> Teil 4

Vorwort

Diese Broschüre wurde geschrieben während Millionen Menschen in der arabischen Welt gegen Elend und Unterdrückung auf die Straße gehen. Von Tunesien ging ein Erdbeben aus, dass die Region für immer verändert. Die Massen, die gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Diktatur kämpfen sind sofort mit den brutalsten Unterdrückungsmethoden durch den Staatsapparat konfrontiert. Tausende haben am eigenen Leib erfahren, dass der Staat nicht neutral ist, sondern die Interessen der herrschenden Klassen verteidigt.

Für die Massen in der arabischen Welt, wie für uns kann der Kampf aber nicht bei dem Sturz einer verhassten Regierung enden. Es geht um die Grundlagen der Gesellschaft, die  geändert werden müssen. Auf diesen Kampf müssen wir uns vorbereiten. Illusionen in den Staat haben in der Vergangenheit zu zahllosen Niederlagen geführt. Das gilt sowohl für jene Vorstellungen, die den Staat als eine neutrale Instanz als auch für jene, die ihn als das Übel an sich betrachten. Beide Seiten derselben Medaille treffen nicht zu. Eine genaue Auseinandersetzung mit dem Charakter des Staates ist notwendig um in der Lage zu sein ihm und der herrschenden Klasse, deren Interesse er durchsetzt, effektiven Widerstand entgegenhalten zu können. Dazu soll diese Broschüre einen Beitrag leisten.

Die KapitalistInnen haben der Mehrheit der Menschen nichts anzubieten als Ausbeutung und Unterdrückung.  Es gilt den Kapitalismus gemeinsam mit seinem Staat zu überwinden und eine demokratische, sozialistische Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung aufzubauen.

„Sie [die herrschenden Klassen, Anm.] werden fallen, ebenso unvermeidlich wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschinerie dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“

Friedrich Engels „der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ MEW B21, S. 168

 

Jan Rybak, Salzburg, Juni 2011

 

1. Überblick: Was ist der Staat?

Der Marxismus analysiert, dass jede Gesellschaft in „Unterbau“ und „Überbau“ getrennt ist. Unter „Unterbau“ sind die gesellschaftlichen Grundlagen zu verstehen. Das heißt Stand der Entwicklung der Produktivkräfte und die Besitzverhältnisse über sie. Als „Überbau“ werden Religion, Ideologie, Familie, Medien, Kultur und eben auch die Form des Staates definiert. Jede herrschende Klasse schafft sich „ihren“ Staat zur Absicherung der Herrschaft gegenüber jenen Klassen, die nicht herrschen. Das kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, attische (Athenische) Demokratie und imperium romanum, absolute Monarchie und Erzbistum, bürgerliche Demokratie und faschistische Diktatur. So sehr sich diese Staatsformen auch untereinander unterscheiden, gemeinsam haben, sie dass sie keine von der Gesellschaft abgelösten „natürlichen“, „gottgewollten“ oder „der menschlichen Natur einfach entsprechenden“ Strukturen sind. Sie sind auf der Grundlage von Klassengesellschaften entstanden und dienen der Unterdrückung. Der Staat ist daher auch nicht neutral sondern setzt die Interessen einer Klasse gegen eine andere durch. Der Staat zwingt die sich bekämpfenden Klassen in eine Gesellschaft hinein, hält also die von den Herrschenden als solche definierte „Ordnung“ aufrecht.

„Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungne Macht; ebensowenig ist er ‚die Wirklichkeit der sittlichen Idee‘, das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft‘, wie Hegel behauptet. Er ist ‚vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ‚Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“

Friedrich Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ MEW B21, Berlin 1962, S. 165.

 

2. Wie der Staat entstanden ist

Der Marxismus entstand in der wissenschaftlichen Tradition der Hegelianer. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) ging davon aus, dass sich alle Dinge permanent entwickeln, das heißt nichts „seit jeher“ bestand und „ewig“ bestehen wird. Das gilt auch für die Institution Staat. Während Hegel allerdings noch davon ausging, dass für materielle oder gesellschaftliche Veränderungen vorher eine grundlegende Veränderung des Bewusstseins stattfinden müsse, stellten Marx und Engels „Hegel vom Kopf auf die Füße“ (Lenin). So gingen die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus davon aus, dass der Staat nicht auf Grund des Willens einzelner Menschen entstanden ist sondern aus einer real gegebenen gesellschaftlichen Notwendigkeit, der Entwicklung der Produktivkräfte.

 

3. Von der klassenlosen Urgesellschaft zum Klassenstaat

Zu Beginn  der Menschheitsgeschichte existierten noch keine staatlichen Strukturen. Der geringe Besitz, über den die Menschen verfügten, etwa einfache Werkzeuge, Decken, Behausung, wurde von allen Mitgliedern des Stammes geteilt. Das tagtägliche Leben war durch die permanente Suche nach Nahrung bestimmt. Kein Mitglied des Stammes konnte hier eine besonders privilegierte Rolle einnehmen oder in eine besonders unterprivilegierte Rolle gezwungen werden. Die Güter des täglichen Bedarfs wurden gemeinsam produziert und zwischen allen geteilt. Darum war eine Herrschaft einer privilegierten Minderheit über die Mehrheit weder möglich noch „notwendig“. Friedrich Engels bezeichnet diese Gesellschaft als „Urkommunismus“. Damit meint er die kollektive, herrschaftslose Organisierung der Gesellschaft durch alle ihre Mitglieder. Dementsprechend waren auch keine den Menschen übergeordnete Machtorgane notwendig, die den Reichtum weniger gegenüber der armen Mehrheit zu verteidigen hätten. An Stelle des Staates stand als einigendes Band die Gens, die Familie, bzw. der Stamm. Engels schrieb über die „Verfassung“ des nordamerikanischen UreinwohnerInnenstammes der Irokesen:

„Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht, die Gens oder der Stamm. … Obwohl viel mehr gemeinsame Angelegenheiten vorhanden sind als jetzt - die Haushaltung ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch, der Boden ist Stammesbesitz, nur die Gärtchen sind den Haushaltungen vorläufig zugewiesen -, so braucht man doch nicht eine Spur unseres weitläufigen und verwickelten Verwaltungsapparates. … Alle sind gleich und frei – auch die Weiber. Für Sklaven ist noch kein Raum, für die Unterjochung fremder Stämme in der Regel auch nicht.“

Friedrich Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ Frankfurt a. Main 1978, S. 109f  

Die Entdeckung neuer Anbaumethoden, Verbesserungen in der Viehzucht und andere Neurungen, die die Arbeitsproduktivität erhöhten waren Grundlagen für die Weiterentwicklung der Menschheit. Damit wurde zum ersten Mal ein Mehrprodukt erzeugt. Das heißt die menschliche Arbeit erzeugte mehr Güter als für das unmittelbare Überleben notwendig waren. Dieses Mehrprodukt wurde in Folge von Einzelnen in der Gesellschaft privat angeeignet. Diese erhoben sich somit über den Rest der Gesellschaft als Reiche und Privilegierte. Die Schaffung und private Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts legte die Grundlage für die Entwicklung des Staates ebenso wie der Unterdrückung der Frau. Mit dem neuen Privateigentum kam der Wunsch es an die eigenen Nachkommen zu vererben. Um das sicherzustellen wurden Frauen im Haus eingesperrt und unterdrückt, wollte der besitzende Mann sicher sein können, dass die Erben seine eigenen waren. Die Unterdrückung der Frau hat ebenso wie der Unterdrückungsapparat Staat ihre Wurzeln im Privateigentum an Produktionsmitteln.

Der gesellschaftliche Überschuss wurde dazu genutzt einzelne Personen aus der unmittelbaren Produktion von Nahrung, Werkzeugen, etc. herauszulösen und sie in Form von KriegerInnen, PriesterInnen oder anderen besonders gestellten Personen über die Sicherheit des Privateigentums wachten oder andere spezialisierte Führungs- bzw. Herrschaftsfunktionen zu übernehmen. Diese Personen waren die Keimform des Staates eine „besondere Formationen bewaffneter Menschen“ (Engels). So sehr sich staatliche Strukturen im Laufe der Geschichte auch verändert haben, seine Grundaufgabe blieb und bleibt die Gleiche. Durch seine Organe die Aufrechterhaltung der Macht und des Reichtums der herrschenden Klasse in einer Klassengesellschaft sicher zu stellen.

„Je weniger die Arbeit noch entwickelt ist, je beschränkter die Menge ihrer Erzeugnisse, also auch der Reichtum der Gesellschaft, desto überwiegender erscheint die Gesellschaftsordnung beherrscht durch Geschlechtsbande. Unter dieser, auf Geschlechtsbande begründeten Gliederung der Gesellschaftentwickelt sich indes die Produktivität der Arbeit mehr und mehr; mit ihr Privateigentum und Austausch, Unterschiede des Reichtums, Verwertbarkeit fremder Arbeitskraft und damit die Grundlage von Klassengegensätzen: neue soziale Elemente, die im Lauf von Generationen sich abmühen, die alte Gesellschaftsverfassung den neuen Zuständen anzupassen, bis endlich die Unvereinbarkeit beider eine vollständige Umwälzung herbeiführt. Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammenstoß der neu entwickelten gesellschaftlichen Klassen; an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefaßt im Staat, … in der sich nun jene Klassengegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller bisherigen geschrieben Geschichte besteht.“

Friedrich Engels: Vorwort zur ersten Auflage von „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ Frankfurt a.M. 1978, S.8

 

4. Sklavenhaltergesellschaft und Feudalstaat

Die erste weiter entwickelte Klassengesellschaft im weiteren europäischen Raum, also jenem Raum, der in der europäischen Antike als bekannte Welt galt, war eine Gesellschaft deren Grundlage in den meisten Ländern die Sklaverei war. Selbstverständlich gab es auch in anderen Teilen der Welt die Entwicklung von Staatstrukturen (Mesopotamien, China, Inkareich, etc.), die sich in den Kernaufgaben nicht von den europäischen unterschieden. Um die Systematik zu erklären sollen hier als Beispiel die Entwicklungen im europäischen Raum dienen.

Die Sklaverei ist eine der ältesten Ausbeutungsverhältnisse, das bekannt ist. SklavInnen wurden vor allem durch Kriege gewonnen. (Kriegs-)Gefangene, die keine reichen Verwandten hatten, die sie auslösen konnten, wurden in die Sklaverei verkauft und bildeten so die Grundlage der Wirtschaft. Der Staat eine doppelte Aufgabe: Einerseits garantierte er durch die fast ununterbrochen stattfindenden Kriege den Nachschub von Arbeitskräften, andererseits schützte er die SklavenhalterInnen vor dem Freiheitsdrang und den Rachewünschen „ihrer“ SklavInnen. Die Spaltung der Gesellschaft in wirtschaftlich untätige SklavenhalterInnen und arbeitende SklavInnen musste durch staatliche Gewalt aufrecht erhalten werden. Als im Jahr 73 vor unserer Zeitrechnung (vuZ.) 78 Gladiatoren-Sklaven unter Führung des Gladiators Spartacus in Capua flüchteten breitete sich dies wie ein Lauffeuer unter den SklavInnen in der Region aus. Hunderte flüchteten von den Feldern, den Werkstätten und den Bergwerken ihrer HerrInnen. Dabei ging es den SklavInnen nicht darum die Sklaverei als solche abzuschaffen oder den römischen Staat zu stürzen sondern „nur“ um individuelle Freiheit. Obwohl nach römischen Recht die Situation eines/r SklavIn eine Privatangelegenheit des/der  BesitzerIn war wurde von staatlicher Seite unverzüglich eine Armee von 3.000 Mann mobilisiert um die entlaufenen SklavInnen zu bekmäpfen. Der römische Staat war also kein „neutraler“ Staat, sondern Instrument zur Aufrechterhaltung des Besitzes der herrschenden Klasse.

Mit den neu entstandenen Staaten änderte sich die Zugehörigkeit der Menschen. Sie waren nicht mehr primär Mitglieder einer Familie oder eines Stammes sondern eines Staates, der sich auf ein bestimmtes Territorium erstreckte. Der Kontakt der einfachen (freien) Bevölkerung mit dem Staat war überwiegend durch das Zahlen von Abgaben an die jeweiligen Herrschenden. Die konnte sich ebenso wie die Einflussbereiche der einzelnen Staaten allerdings innerhalb von sehr kurzer Zeit ändern. Aufgrund dieses sehr losen Bezugs zum Staat in den meisten Regionen entstand auch in den meisten Fällen kein „Staatsbewusstsein“. Ausnahmen sind hier vor allem die über längere Zeit bestehenden Staatsstrukturen Roms und einzelner griechischer Pollais (Stadtstaaten). MarxistInnen definieren einen Staat nicht nach den Kriterien von klar umrissenen Grenzen und anhaltenden Herrschaftsstrukturen, sondern durch die Existenz von institutionalisierten Herrschaftsinstrumenten zur Aufrechterhaltung der Macht und der Privilegien der herrschenden Klassen.

Neben dem Klassenwiderspruch FreieR – SklavIn findet sich in der Antike als eklatanter Widerspruch jener zwischen Patriziern und Plebejern, also zwischen formal freien BürgerInnen, die sich dadurch unterschieden, dass die einen über Reichtum und Macht (und SklavInnen) verfügten, die weitaus größere Mehrheit der Bevölkerung allerdings nicht. Die bürgerliche Geschichtsschreibung nennt hier die attische Demokratie als „Erfolgsrezept“ um die Widersprüche zwischen den zwei freien Klassen auszugleichen. In der attischen Demokratie blieb jedoch der Staat ebenso ein Instrument der Klassenherrschaft, wie in anderen Gesellschaften, in denen es keine demokratischen Elemente gab. So hatten nur männliche Freie ab dem 20. Lebensjahr Zugang zu den Volksversammlungen. Das alleine betraf schon nur einen Bruchteil der Bevölkerung.

Beispiel: Demokratieabbau zu Gunsten der Oligarchie: Im Jahr 322 vuZ. wurde als Voraussetzung für die volle Bürgerschaft, was das Teilnahmerecht an der Volksversammlung beinhaltete, ein Vermögen von mindestens 2.000 Drachmen vorgeschrieben, was sechzehn Jahresgehältern eines Landarbeiters entsprach.

Neben der Schaffung der demokratischen Institutionen (Volksversammlung und andere) entwickelte sich der attische Staat zu einem relativ selbständigen Apparat, dessen Aufgabe es war die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten.

„Wir sahen, dass ein wesentliches Kennzeichen des Staates in einer von der Masse des Volkes unterschiedenen öffentlichen Gewalt besteht. Athen hatte damals nur erst ein Volksheer und eine unmittelbar vom Volk gestellte Flotte; diese schützten nach außen und hielten die Sklaven im Zaum, die schon damals die große Mehrzahl der Bevölkerung bildeten. Gegenüber den Bürgern bestand die öffentliche gewalt zunächst nur aus Polizei, die so alt ist wie der Staat, weshalb die naiven Franzosen des 18. Jahrhunderts auch nicht von zivilisierten Völkern sprachen, sondern von polizierten (nations policées). Die Athener richteten also gleichzeitig mit ihrem Staat auch eine Polizei ein … Diese Gendarmerie aber wurde gebildet – aus Sklaven. So entwürdigend kam dieser Schergendienst dem freien Athener vor, daß er sich lieber vom bewaffneten Sklaven verhaften ließ, als daß er selbst dich zu solcher Schmachtat hergab. … Der Staat konnte ohne die Polizei nicht bestehn, …“

Friedrich Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ Frankfurt a. Main 1978, S. 132f.

Der Kern des antiken Staates war nicht die „Demokratie“ (die wurde in Athen 262 vuZ. und in Rom 27 vuZ. de facto abgeschafft) sondern das Staatskonstrukt von Heer, Bürokratie und Polizei, das die Macht der herrschenden Klasse aufrechterhielt.

Das Imperium Romanum stieß im späten 4. Jh. an seine wirtschaftlichen, politischen und militärischen Grenzen. Die Ausdehnung des Reiches machte es kaum kontrollierbar und verhinderte neue Eroberungskriege. Dadurch brach der Nachschub von Arbeitskräften (SklavInnen) zusammen. Auch die Produktivität der Sklaverei konnte mit den neuen Bedingungen nicht mithalten. Im Zuge der Völkerwanderung kollabierte der römische Staat. In Europa entwickelten sich als neue Herrschaftsstruktur die Feudalstaaten. Adelige und Kirche brachten die ehemals freien Bauer/Bäuerinnen in ihre Abhängigkeit. Der ideologische Überbau dafür war, dass entsprechend der sozialrevolutionären Traditionen des Urchristentums keinE ChristIn SklavIn sein durfte. Die neuen Herrschenden waren aber weiter abhängig von der Ausbeutung unselbständiger abhängiger Arbeitskräfte, den leibeigenen Bauern/Bäuerinnen.

Die Klasse der Adeligen und des Klerus, die in früheren Gesellschaften primär aus dem Produktionsprozess herausgelöste FunktionärInnen waren, die für den Schutz der Gemeinschaft verantwortlich waren eigneten sich in Folge des Machtvakuums nach Zusammenbruch des Imperium Romanum das wichtigste Produktionsmittel, den Boden an. Die leibeigenen Bauern/Bäuerinnen mussten „Schutzgeld“ in Form von Naturalienabgaben zahlen, mit denen der Staat und der Luxus der Herrschenden finanziert wurden.

Der Feudalstaat war kein territorial klar umrissener Staat, sondern ein Personenverbandsstaat an dessen Spitze Adel und Klerus standen. Die staatliche Struktur war personengebunden. Das heißt, die herrschende Klasse des Adels selbst war die Staatsmacht. Das Recht war Standesrecht und unterschied grundsätzlich zwischen Adeligen, Klerus, Bauern/Bäuerinnen und BürgerInnen.

Beispiel: Standesrecht im Lex Ribuaria 8. Jh. „Von den verschiedenen Totschlägen“

§2: Wenn jemand einen zugewanderten Franken tötet, werde er mit zweimal 80 Schilling bestraft.

§7: Wenn jemand einen Diakon tötet, werde er mit dreimal 100 Schilling bestraft.

§9: Wenn jemand einen Bischof tötet, werde er mit dreimal 300 Schilling bestraft.

Mit neuen Erfindungen gab es einen neuen Bedarf nach Arbeitskräften. In den neu entstandenen Manufakturen der Städte wurden dringend Arbeitskräfte benötigt. Die feudalen Strukturen, in denen die Menschen standesmäßig und regional (Leibeigene an das Land „ihres“ Lehnsherren) gebunden waren wurden zum einengenden Korsett für die Entwicklung der Wirtschaft und der Machtausweitung der neuen Schicht der reichen BürgerInnen in den Städten. Die Abschaffung der Leibeigenschaft kam auf die Agenda der neu entstandenen bürgerlichen Bewegung. Nicht aus Humanismus sondern aus dem Wunsch die Arbeitskräfte selbst in den neu entstandenen Manufakturen und später Fabriken über sie verfügen zu können. Der Feudalstaat erwies sich als Hemmnis für die Entwicklung der Wirtschaft. Die individuelle Herrschaft der FeudalherrInnen erwies sich als zu unflexibel für die Bedürfnisse der entstehenden modernen Wirtschaft. Gegen Ende des Mittelalters erhoben sich die leibeigenen Bauer/Bäuerinnen gegen die FeudalherrInnen. Der Sturz des Feudalismus und das Ende der Leibeigenschaft waren ein notwendiger historischer Prozess, dessen Durchsetzung von den Massen in zahllosen Kämpfen erzwungen wurde.

 

5. Der bürgerliche (kapitalistische) Staat

Der Widerspruch zwischen Adel und Klerus auf der einen und dem „dritten Stand“ auf der anderen Seite brach in heftigen Klassenkämpfen auf. Oft schlossen sich die Bauern/Bäuerinnen, ArbeiterInnen und die städtische Armut den Bürgerlichen an, da es in Fragen wie Presse- und Versammlungsfreiheit zumindest phasenweise gemeinsame Interessen gab. Sehr schnell sahen viele Bürgerliche jedoch, dass die ArbeiterInnenklasse und die ländliche Armut eine Bedrohung für ihre eigene neue Macht darstellten. Nicht selten desertierte das Bürgertum darum ins Lager der feudalen Reaktion. In der Französischen Revolution (1789-1799) wurden Adel und Klerus gestürzt und die Bourgeoisie begann ihre Gesellschaftsordnung zu etablieren. An die Stelle der adeligen bzw. klerikalen Autokratie wurden bürgerlich-demokratische Strukturen aufgebaut. Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft und allen (männlichen) Bürgern freies Wahlrecht und grundlegende demokratische Recht zugestanden. Gleichzeitig galt es aus Sicht der Bourgeoisie die vom Land in die Stadt strömenden ehemaligen Leibeigenen, jetzt „freie“ ArbeiterInnen im Zaum zu halten. Die Armut in den Städten und die Ausbeutung in den Fabriken führten immer wieder zu Revolten der Massen. Die KapitalistInnen griffen auf die alten Strukturen des Feudalstaates in Form von Polizei, Gerichten, Gefängnissen und Militär zurück um die eigene Macht gegenüber der ArbeiterInnenklasse zu verteidigen.

„Die zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen - stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit - stammt her aus den Zeiten der absoluten Monarchie.... Während der nachfolgenden Herrschaftsformen wurde die Regierung unter parlamentarische Kontrolle gestellt, d.h. unter die direkte Kontrolle der besitzenden Klassen. Einerseits entwickelte sie sich jetzt zu einem Treibhaus für kolossale Staatsschulden und erdrückende Steuern und wurde vermöge der unwiderstehlichen Anziehungskraft ihrer Amtsgewalt, ihrer Einkünfte und ihrer Stellenvergebung der Zankapfel für die konkurrierenden Fraktionen und Abenteurer der herrschenden Klassen - andererseits änderte sich ihr politischer Charakter gleichzeitig mit den ökonomischen Veränderungen der Gesellschaft. In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft." 

 Karl Marx „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ MEW B17, Berlin, 1962, S. 336.

Der neue bürgerliche Staat wurde die Grundlage für die Aufrechterhaltung der Macht der KapitalistInnen. Die Demokratie in Form von Wahlen blieb eine Hülle. Ihre Aufgabe war (und ist) es 1. Die Politik der herrschenden Klasse in den Augen der Bevölkerung zu legitimieren und 2. Einen Ausgleich zwischen den einzelnen Fraktionen der herrschenden Klasse zu schaffen. Eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Interessen der ArbeiterInnenklasse und der Armen durch Wahlen zu bürgerlichen Parlamenten war und ist nicht möglich. Die Grundlage für Macht im bürgerlichen Staat ist der Reichtum und die damit mögliche Einflussnahme auf die Politik. Nichtsdestotrotz ergaben sich durch die bürgerliche Demokratie Freiräume und Möglichkeiten für die sich formierende ArbeiterInnenbewegung. So konnten unter besseren Bedingungen sozialistische Zeitungen herausgegeben, Gewerkschaften gegründet und ArbeiterInnenparteien aufgebaut werden.

„Die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden. In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sicherer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster ist, andererseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse.“

Friedrich Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ MEW B21, Berlin 1962, S. 167.

Das Erreichen grundlegender demokratischer Rechte war aber trotzdem ein bedeutender Fortschritt für die Menschen, da es dadurch zu einer immensen Entwicklung der Produktivkräfte und damit der Gesellschaft kam. Für die ArbeiterInnenklasse bedeuten demokratische Rechte vor allem legale Möglichkeiten zur Organisierung, Presse, etc. und damit Möglichkeiten zur Stärkung der eigenen Position im Kampf um soziale Rechte gegen die KapitalistInnen. Zurzeit, da diese Broschüre geschrieben wurde (Anfang 2011) sehen wir massive Bewegungen für Demokratie im Nahen und mittleren Osten. Die Forderungen nach demokratischen Rechten sind verständlich und richtig. Der Sturz der jeweiligen Diktatoren und freie Wahlen reichen aber nicht aus um die Lebensumstände der Massen zu verbessern. Zweifellos sind das Fortschritte, sie ändern aber noch nichts an den grundlegenden Ausbeutungs- und Machtverhältnissen in der Gesellschaft. Der staatliche Unterdrückungsapparat bleibt weitgehend der Selbe, die Betriebe werden noch immer von den gleichen AusbeuterInnen geführt. Darum können die Bewegungen, wollen sie erfolgreich sein, auch nicht bei demokratischen Forderungen stehen bleiben, sondern müssen über den Rahmen des Kapitalismus und der bürgerlichen „Demokratie“ hinausgehen.

 

6. Demokratie und Diktatur im kapitalistischen Staat

Wie wir gesehen haben kam die Bourgeoisie mit einem demokratischen Programm gegen die Autokratie von Adel und Klerus an die Macht. Demokratie ist allerdings kein abstraktes Gut, dass allen Menschen in der Gesellschaft gleich zustehen würde. Auch heute sind in Österreich Menschen die etwa keine österreichische StaatsbürgerInnenschaft haben vom Wahlrecht ausgeschlossen. Der staatliche Apparat selbst ist im Kapitalismus kein über den Klassen stehender Staat. Gericht fällen regelmäßig Urteile, die Streiks als „unverhältnismäßig“ oder auf Grund sonstiger fadenscheiniger Begründungen verbieten. Wenn sich Klassenkämpfe und Bewegungen zuspitzen und die Profite der KapitalistInnen bedroht sind, wird schnell auf undemokratische Mitteln und staatliche Repression zurückgegriffen.

Beispiel: Im Dezember 2010 erklärte die (sozialdemokratische) spanische Regierung einen Streik der FluglotsInnen für Illegal und verhängte den Ausnahmezustand über alle Flughäfen. Gegen die streikenden FluglotsInnen wurde Militär aufgefahren und ihnen bei Weiterführung des Streiks mit einer Verurteilung durch Militärgerichte gedroht.

In Phasen, in denen die Macht der herrschenden Klasse selbst bedroht ist, ist die Bourgeoisie bereit auf die unmenschlichsten Unterdrückungsmethoden zurückzugreifen. Das kann verschiedenste Formen der Diktatur, bis hin zum Faschismus bedeuten. Der Faschismus war eine Reaktion auf die Stärke der ArbeiterInnenbewegung. Diese war zwar auf dem Rückzug, stellte aber noch immer eine gewaltige Bedrohung für die Macht des Kapitals dar. Der Faschismus garantierte die Sicherung der Profite des Großkapitals. Gewerkschaften wurden verboten und linke AktivistInnen verhaftet und ermordet. In einer speziellen historischen Situation war aus Sicht der Bourgeoisie der „Ausweg“ faschistische Diktatur die attraktivere alternative zur wachsenden Macht der ArbeiterInnenbewegung.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die KapitalistInnen prinzipiell eine faschistische Diktatur anstreben oder die bürgerliche Demokratie aushebeln wollen. Das deutsche, wie das internationale Kapital haben sehr wohl die Erfahrung aus dem Zweiten Weltkrieg mitgenommen, dass eine Diktatur ein Eigenleben entwickeln kann und nicht mehr unbedingt oder ausschließlich im Interesse der KapitalistInnen arbeitet. Faschismus und andere kapitalistische Diktaturen können aus Sicht der KapitalistInnen ein letztes Mittel sein um die ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen. In den meisten Fällen setzen die KapitalistInnen auf „demokratische“ Formen der Staatsführung. Das bedeutet aber nicht, dass „demokratische“ KapitalistInnen Skrupel hätten mit Diktaturen in anderen Ländern zusammenzuarbeiten, wenn sich diese als Garanten für die Profite erweisen.

„Die Allmacht des ‚Reichtums‘ ist in der demokratischen Republik deshalb sicherer weil sie nicht von einzelnen Mängeln des politischen Mechanismus, von einer schlechten politischen Hülle des Kapitalismus abhängig ist. Die demokratische Republik ist die denkbar beste Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik diese Macht erschüttern kann.“

V. I. Lenin „Staat und Revolution“ Werke B25; Berlin 1972; S. 405.

Lenin stellt klar, dass „Demokratie“ im Kapitalismus immer die „Demokratie“ der KapitalistInnen ist. Wir alle kennen das aus unserem täglichen Leben oder aus Erzählungen. Zwar gibt es formal völlige Redefreiheit, wenn wir aber im Betrieb unserem Frust über die Vorgesetzten Luft machen, können wir den Arbeitsplatz verlieren. Wir haben das formale Recht uns in linken Parteien zu organisieren, wenn das das Personalbüro allerdings herausfindet können wir in vielen Fällen die Bewerbung gleich bleiben lassen. Selbst ein Aufruf zur Nichtbeachtung von Gesetzen bzw. zivilem Ungehorsam können bestraft werden.

Beispiel: Strafgesetzbuch der Republik Österreich § 281. „Wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder sonst auf eine Weise, daß es einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird, zum allgemeinen Ungehorsam gegen ein Gesetz auffordert, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen.“ 

Demokratische Staatsformen und der „demokratische“ Staatsapparat sind also Mechanismen im Interesse der herrschenden Klasse um die eigene Macht aufrecht zu erhalten. Sie ist aus Sicht der Herrschenden auch ganz einfach günstiger als eine Diktatur. Nichtsdestotrotz bietet die bürgerliche Demokratie Möglichkeiten für die ArbeiterInnenbewegung. Es können Gewerkschaften gegründet, sozialistische Zeitungen und Flugblätter publiziert, und selbst revolutionäre, sozialistische Parteien gegründet werden. In diesem Sinne nutzen MarxistInnen die vorhandenen Möglichkeiten zum Aufbau revolutionärer Organisationen, mit denen der Sturz des Kapitalismus geführt werden kann. Selbst an Wahlen nehmen MarxistInnen teil, allerdings ohne Illusionen durch Wahlen wirklich etwas zu verändern. MarxistInnen nutzen Mandate in bürgerlichen Parlamenten als Plattformen um Bewegungen von ArbeiterInnen und Jugendlichen zu unterstützen, ihnen mehr Öffentlichkeit zu geben und um die VertreterInnen der kapitalistischen Parteien mit den Forderungen der Bevölkerung zu konfrontieren.

Beispiel: Joe Higgins ist Abgeordneter zum irischen Parlament für die Socialist Party, die Schwesterorganisation der SLP. Joe behält nicht mehr als einen durchschnittlichen FacharbeiterInnenlohn. Er nützt das EU-Parlament um die Politik der etablierten Parteien gegen die breite Masse der Bevölkerung bloß zu stellen. Bewegungen von ArbeiterInnen und Jugendlichen in ganz Europa gibt er eine Stimme im Parlament. In Irland nennen ihn selbst bürgerliche Zeitungen „den Roten, den man nicht kaufen kann“.

MarxistInnen verteidigen jede noch so kleine demokratische Errungenschaft im Kapitalismus gegen die Versuche der Herrschenden diese wieder abzubauen. MarxistInnen sehen aber den Kampf für demokratische Rechte nicht getrennt vom Kampf gegen den Kapitalismus. Die Versuche sozialdemokratischer und vieler stalinistischer Parteien Bewegungen auf die Forderungen nach „Demokratie“ zu reduzieren waren in den meisten Fällen zum Scheitern verurteilt.

„Wir sind für die demokratische Republik als die für das Proletariat unter dem Kapitalismus beste Staatsform, aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der allerdemokratischsten bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. Ferner. Jedweder Staat ist eine ‚besondere Repressionsgewalt‘ gegen die unterdrückte Klasse. Darum ist jeder Staat unfrei.“

V. I. Lenin „Staat und Revolution“ Werke B25; Berlin 1972; S. 410.

Das Verteidigung und das Nützen demokratischer Möglichkeiten durch MarxistInnen bedeutet allerdings nicht sich darauf zu reduzieren und zu glauben, die Gesellschaft könne im Rahmen der bürgerlichen Demokratie schön langsam verändert werden. Diese grundfalsche Annahme, die von den sozialdemokratischen und später vielen stalinistischen Parteien vertreten wurde führte zu zahlreichen schweren Niederlagen für die ArbeiterInnenbewegung. Hinter dieser falschen Annahme steht ein bewusstes oder unbewusstes Fehlverständnis über den Charakter des demokratischen (bürgerlichen) Staates. Er wird losgetrennt von den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, den Eigentumsverhältnissen in der Gesellschaft betrachtet. Der Staat ist aber in seinen zahlreichen Ausformungen immer ein Produkt der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Darum war auch der Versuch der Sozialdemokratie, wie sie etwa im Linzer Programm der österreichischen Sozialdemokratie von 1926, nämlich im Staat die „bürgerlichen Formen mit sozialistischem Inhalt zu füllen“ zum Scheitern verurteilt. Während sich die sozialdemokratische Führung an die letzten verbliebenen Institutionen der bürgerlichen „Demokratie“ klammerte schlug die Staatsgewalt Hand in Hand mit faschistischen Heimwehren die ArbeiterInnenbewegung nieder.

MarxistInnen haben keinerlei Vertrauen in die „Unabhängigkeit“ des Staates oder einzelner seiner Organe. Es mag zwar in einzelnen Fällen dazu kommen, das Gerichte auch Urteile gegen UnternehmerInnen und für ArbeitnehmerInnen fällen, die Grundlage der bürgerlichen Justiz bleibt aber die Aufrechterhaltung der kapitalistischen „Ordnung“. Gerichte urteilen auf Grundlage der geltenden Gesetze (und manchmal nicht einmal das). Gesetze sind aber nicht „neutral“, sondern von Regierungen und Parlamenten auf Grund ganz konkreter Interessen des Kapitals beschlossen. Die bürgerliche Justiz ist darum eine Klassenjustiz, die grundsätzlich gegen die Interessen von ArbeiterInnen und Jugendlichen urteilen. Natürlich sind auch einzelne Erfolge, etwa bei Klagen, die von der Gewerkschaft gegen ungerechtfertigte Kündigungen einreicht möglich. Das sind aber überwiegend Ausnahmen, die vor allem auf ein bestimmtes Kräfteverhältnis zwischen UnternehmerIn und ArbeiterInnen zurückzuführen sind. Es gibt auch rechtliche Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung, wie Kündigungsschutz und dergleichen, die in der Vergangenheit erkämpft, jetzt aber zunehmend wieder abgebaut werden. Das ändert aber nichts am grundsätzlichen Charakter des bürgerlichen Justizsystems. Selbst angenommen für jedeN der/die vor Gericht stehen würde das „gleiche Recht“ gelten – was an sich schon durch die anhaltende Begünstigung von Reichen, Prominenten, PolizistInnen, etc. widerlegt ist – so wäre in einer ungleichen Gesellschaft, wie es die kapitalistische ist, „gleiches Recht“ immer „Ungleichheit“. Der Ursprung des Rechtes sind nicht allgemeingültige Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens sondern die Produktions- und Eigentumsverhältnisse in einer bestimmten Epoche.

Behaupten die Bourgeois nicht, daß die heutige Verteilung ‚gerecht‘ ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige ‚gerechte‘ Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen? … Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.“

Karl Marx „Kritik des Gothaer Programms“ MEW B19; Berlin 1962; S.18ff.

 

7. Volk und Staat

Es ist hier nicht ausreichend Platz um sich ausreichend genau mit der Frage was ein „Volk“ bzw. eine „Nation“ genau ausmacht auseinanderzusetzen. In den meisten Definitionen werden hier gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition geschichtliche Erfahrung und vor allem Selbstverständnis als „Volk“ bzw. „Nation“ als wichtige Faktoren angeführt. Der Begriff der „Nation“ oder des „Volkes“ ist auch historisch wandelbar. Von einer Kontinuität im Volks- oder Nationsbegriff kann keine Rede sein. Die Verwendung des Begriffes im modernen Sinne (meist nach den oben genannten Faktoren) kommt erst ab dem späten 17. Jahrhundert auf. Davor existierten viel mehr Begriffe wie „Kirchenvolk“, die in diesem Beispiel eben alle Mitglieder der katholischen Kirche meinte. Von einer „völkischen“ Kontinuität über die Jahrtausende war damals noch nicht die Rede. Diese Vorstellung von „Volk“ ist eine spätere Entwicklung. So ist etwa die angebliche Kontinuität zwischen den Germanen aus der Schlacht im Teutoburger Wald (im Jahre 9 u.Z.) und den Deutschen des 19./20. Jahrhunderts eine unwissenschaftliche Kreation, die letztlich den deutschen NationalistInnen und später dem Hitlerfaschismus dienen sollte um für den Krieg zu mobilisieren.

So „künstlich“ auch der Volksbegriff in seiner aktuellen Verwendung ist, so real ist allerdings auch die Spaltung der Menschen entlang „nationaler“ Linien. Für Menschen aus unterdrückten Völkern bedeutet das oft das Verbot die eigene Sprache zu sprechen, die Unterdrückung der eigenen Kultur und die Vorenthaltung grundlegender sozialer und demokratischer Rechte.

In der Vergangenheit setzten die Kolonialmächte nach dem Motto „Teile und Herrsche“ gezielt auf die Spaltung der beherrschten Bevölkerung in den Kolonialländern. Die französische Kolonialmacht „erfand“ in manchen Ländern sogar unterschiedliche „Völker“ die sie versuchte anhand optischer Unterschiede zu definieren, um die Beherrschten zu spalten. Diese Spaltung und Unterdrückung setzt sich oft bis heute fort und war/ist Hintergrund zahlloser Kriege und Massaker. Für MarxistInnen ist es entscheidend, dass sich die Menschen nicht entlang „nationaler“ Linien spalten lassen. Für uns ist nicht entscheidend, welche Sprache jemand spricht, welche Hautfarbe oder Glauben jemand hat. Entscheidend ist die soziale Lage. Frieden, soziale und demokratische Rechte können letztlich nur dann erreicht werden, wenn sich die Menschen entlang ihrer gemeinsamen Klasseninteressen zusammenschließen und gemeinsam gegen die jeweiligen herrschende Klasse zu kämpfen.

Es ist aber legitim und unterstützenswert, dass Menschen, die auf Grund ihrer „nationalen“ Zugehörigkeit unterdrückt werden die Forderung nach einem „eigenen“ Staat erheben. Menschen, die Unterdrückung, Diskriminierung und Besatzung erfahren werden sich immer dagegen wehren und für ihre Interessen kämpfen. Entscheidend dafür ist aber, dass der Kampf für nationale Unabhängigkeit im modernen Kapitalismus letztlich mit dem Kampf gegen die „eigene“ wie die fremde herrschende Klasse verbunden sein muss. Auf Grundlage des Kapitalismus ist echte Unabhängigkeit und Demokratie nicht möglich. Selbst bei erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegungen bleibt meist wirtschaftliche Abhängigkeit bestehen und die Unabhängigkeit nur formal. Selbst wenn – hypothetisch – auch die wirtschaftliche  Unabhängigkeit von der ehemals unterdrückenden Macht überwunden werden würde, so würde für die Masse der Bevölkerung immer noch die Ausbeutung durch die „eigene“ herrschende Elite bestehen bleiben. Letztlich ist echte „nationale“ Unabhängigkeit nur dann möglich, wenn sich die ArbeiterInnenklasse und Armen der unterdrückten, wie der unterdrückenden Nation zusammenschließen und gemeinsam in beiden Ländern für die Überwindung des Kapitalismus kämpfen.

Beispiel: Die KurdInnen sind weltweit das größte Volk ohne einen eigenen Staat. Die Heimat von geschätzten 35 Mio. Menschen ist zwischen der Türkei, Syrien, Iran und Irak aufgeteilt. In den meisten Ländern ist ihnen verboten die eigene Sprache zu sprechen, in Syrien wurde ihnen sogar die Staatsbürgerschaft aberkannt. Grundlegende soziale und demokratische Rechte werden ihnen verwehrt. 2011 sehen wir das gemeinsame Aufbegehren von KurdInnen und AraberInnen in Syrien. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Diktatur um demokratische und soziale Rechte.

 

8. Staatsgewalt und Repression

AktivistInnen in sozialen Bewegungen, ArbeiterInnen auf Streikposten, AntifaschistInnen bei Demonstrationen gegen rechtsextreme Veranstaltungen, sie alle und noch viele mehr sind immer wieder mit brutalem Vorgehen der Polizei konfrontiert. Manche ziehen daraus die Schlussfolgerung, die Polizei an sich sei das Übel, das es zu bekämpfen gilt. Die Polizei selbst ist aber nicht verantwortlich für Armut, Arbeitslosigkeit, geringen Löhnen, faschistischen Umtrieben, etc. Sie ist auch nicht ursächlich für die Repression gegen AktivistInnen verantwortlich. Dahinter steht die herrschende Klasse. Polizei und andere „Sicherheits“apparate sind nur Mittel zum Zweck. Die Polizei ist der bewaffnete Arm der herrschenden/unterdrückenden Klasse, nicht selbst Unterdrückerin im eigentlichen Sinne.

Selbstverständlich machen sich PolizistInnen schuldig, wenn sie auf DemonstrantInnen einprügeln oder Flüchtlinge abschieben. Sie selbst sind aber auch aus Sicht der KapitalistInnen nur Mittel zum Zweck. Es ist auch verständlich, wenn Menschen der Polizei einmal die Gewalttätigkeiten „zurückgeben“ wollen. Es bringt die Bewegung aber nicht weiter, wenn sich einige wenige Vermummte mit PolizistInnen prügeln um dann verhaftet zu werden. Solche Taktiken entstehen aus einem falschen Verständnis vom Charakter des Staates und laufen letztlich darauf hinaus nicht das eigentliche Übel zu bekämpfen sondern nur ein Symptom, bzw. das ausführende Organ.

Polizei, Militär, etc. sind aber keine homogene Masse. Die meisten PolizistInnen und SoldatInnen kommen aus der ArbeiterInnenklasse. In Zeiten, in denen Bewegungen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend sehr stark sind können selbst Teile des staatlichen Unterdrückungsapparates auf die Seite der Bewegung gewonnen werden oder sich zumindest nicht mehr für die Politik von Regierung und KapitalistInnen missbrauchen lassen. Vor allem in revolutionären und vorrevolutionären Situationen kann, wenn die Bewegung stark genug ist und direkt an die einfachen SoldatInnen/PolizistInnen appelliert nicht gegen ihre eigenen Interessen zu kämpfen, können manche gewonnen werden. Grundlage dafür ist, dass auch Polizei und Militär keine homogenen Blöcke sind sondern ebenso wie die gesamte Gesellschaft durch Klassenlinien gespalten sind. In (vor)revolutionären Situationen können sie aufbrechen, was etwa bedeuten kann, dass sich SoldatInnen weigern auf DemonstrantInnen zu schießen, etc.

Beispiel: Während des britischen BergarbeiterInnenstreiks 1984/85 weigerten sich hunderte PolizistInnen, die selbst in den Kohlerevieren lebten gegen ihre NachbarInnen und Bekannten eingesetzt zu werden. Ihnen war die Lage der Bergleute bewusst und waren nicht bereit sich von der Regierung Thatcher missbrauchen zu lassen. Die britische Regierung war gezwungen aus dem ganzen Land Polizeieinheiten in die Kohlenreviere zu verlegen. Diese prügelten dann den Einsatz von StreikbrecherInnen gegen die Bergleute durch.

Solche Entwicklungen sind allerdings keine auf deren Eintreffen wir vertrauen können. Der kapitalistische Staatsapparat wird immer gegen die Bewegungen von ArbeiterInnen und Jugendlichen eingesetzt werden so lange der Kapitalismus besteht. Darum ist es auch Aufgabe der organisierten ArbeiterInnenbewegung sich selbst vor staatlichen Übergriffen zu schützen. Das bedeutet auf Demonstrationen etwa einen gut vorbereiteten Demoschutz zu organisieren um Übergriffe von Polizei oder FaschistInnen zu verhindern oder die Demonstration vor ProvokateurInnen zu schützen. Der beste Schutz vor Übergriffen ist eine Möglichst breite Mobilisierung von Linken, GewerkschafterInnen, AnrainerInnen, etc. Dazu gehört vor allem auch die Mobilisierung im Vorfeld. Wenn wir Menschen davon überzeugen wollen mit uns gemeinsam auf die Straße zu gehen, ist die Art und Weise unseres Auftretens sehr wichtig. Ein martialisches Auftreten, das uns von anderen isoliert (Vermummung, Seitentransparent, „gewalttätige“ Sprüche) bringt nichts sondern schreckt viele ab und schwächt so letztlich wieder die Demonstration. Die Auseinandersetzung mit der Herrschenden Klasse und dem Staatsapparat ist primär eine politische, keine „militärische“. Sinnlose Gewalttätigkeit führt (das zeigen die Erfahrungen) nicht zu einer Verbreiterung der Basis der Bewegung und bringt sie dem Erreichen ihrer Ziele nicht näher. Im Gegenteil – sie schreckt Menschen ab und dient den Herrschenden als Argument für die Verschärfung von Repression.

Beispiel: Die Strategie einiger (in diesem Fall griechischer) Autonomer mit Gewalt in Form von Anschlägen gegen Einrichtungen von Staat und Kapital vorzugehen nimmt auch das Risiko von „Kollateralschäden“ in Kauf. Am 5. Mai 2010 starben drei Angestellte in einem Athener Bankgebäude nachdem das Haus mit Brandsätzen beworfen wurde. Dieser Versuch einiger weniger sich durch individuelle terroristische Aktionen über die Massen zu stellen hat die Bewegung wurde massiv geschwächt. Viele Menschen wendeten sich entsetzt von den Demonstrationen ab und die Regierung konnte den Anschlag als Vorwand nutzen um brutal gegen die Linke vorzugehen und gleichzeitig das Kürzungspaket durchzusetzen. Es kommt in diesem Fall noch der Faktor dazukommt dass die Angestellten vom Management im Gebäude eingesperrt waren um nicht zu streiken. Davon unabhängig schließt die Taktik der Anschläge Tote als „Kollateralschäden“ ein. 

 

8. Militarismus – Antimilitarismus

Während die Polizei die Sicherung der Interessen der herrschenden Klasse im Inneren wahrnimmt, ist das Militär aus Sicht der KapitalistInnen für die Durchsetzung der Interessen nach außen verantwortlich. Die Grenzen verschwimmen zwar oft (Assistenzeinsatz des Bundesheeres im Burgendland, Einsatz der deutschen Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei gegen die Anti-Atom-Proteste in Gorleben), durch die Spezialisierung Ausrüstung der Armee ist sie allerdings weitgehend für den Durchsetzung der Kapitalinteressen in anderen Ländern zuständig.

Beispiel: Derzeit sind ca. 500 österreichische SoldatInnen in Kosova stationiert. Ihre Aufgabe ist es dort nicht „Frieden und Stabilität“ zu sichern sondern für den reibungslosen Ausverkauf der kosovarischen Wirtschaft an das europäische und österreichische Kapital zu sorgen. So ist die österreichische Präsenz vor Ort maßgeblich für die zahlreichen Übergriffe gegen linke AktivistInnen und GewerkschafterInnen verantwortlich. Währenddessen übernehmen österreichische Banken in Kosova große Teile der Wirtschaft des Landes.

„Der äußere wie der innere Militarismus ist ein Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen für die Interessen der herrschenden Klassen. Er ist die festeste Schutzwehr und das wirksamste Unterdrückungs und Ausbeutungsinstrument der herrschenden Klassen. Er gibt diesen die Möglichkeit, auch gegen den Willen der großen Mehrheit des Volkes wenigstens für geraume Zeit ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, und ist ein Hindernis der friedlichorganischen Fortentwicklung der Gesellschaft.  Er ist eine immer unerträglichere wirtschaftliche, politische und moralische Last für die Masse des Volkes und eine Gefährdung des Völkerfriedens.“

Karl Liebknecht „Militarismus – Antimilitarismus“ Frankfurt am Main, 1978; S. 153f.

Zwischen den KapitalistInnen der unterschiedlichen Länder, und nicht selten auch innerhalb ein und desselben Landes, besteht Konkurrenzkampf. Ihnen allen geht es um möglichst hohe Profite. Das ist aber ab einem gewissen Zeitpunkt nur mehr auf Kosten anderer KapitalistInnen möglich. Aufrüstung bedeutet immer die Vorbereitung auf Kriege zur Durchsetzung von Profit- und Herrschaftsinteressen. Die sozialistische ArbeiterInnenbewegung lehnt jeden imperialistischen Krieg, also Krieg im Interesse der herrschenden Klasse grundsätzlich ab. Selbst die ArbeiterInnenklasse im imperialistischen Land gewinnt nichts aus der Aggression und Unterdrückung gegen ein anderes Volk.

Die Armee nimmt die Rolle einer von der breiten Masse der Bevölkerung getrennten Organisation ein, die (geht es nach den KapitalistInnen) ausschließlich dem Willen der herrschenden Klasse verpflichtet ist und sich bereitwillig einsetzen lässt. MarxistInnen haben darum innerhalb des Kapitalismus immer für eine möglichst starke Abrüstung der bürgerlichen Armee plädiert. Die Abschaffung der Armee als solcher ist in ihrer Konsequenz allerdings keine zweckdienliche antimilitaristische Forderung sondern im Rahmen des Kapitalismus (leider) eine reine Utopie. In einer Klassengesellschaft brauchen die Herrschenden zwingendermaßen eine bewaffnete Macht, die ihre Interessen nach innen und gegebenenfalls nach außen durchsetzt. Ansonsten hätte sie Bewegungen der Unterdrückten nichts entgegenzusetzen. Aus Sicht des Kapitals gibt es also keine Alternative zu einer bewaffneten Staatsmacht. In jenen Ländern, in denen die Armee formal abgeschafft wurde existieren dafür besonders ausgerüstete paramilitärische Einheiten der Polizei der Regierung zur Verfügung. Das Ergebnis bleibt das Gleiche. In Anbetracht dessen fordern MarxistInnen das staatliche Gewaltmonopol möglichst einzuschränken und vor allem die Demokratisierung der bestehenden bewaffneten Strukturen.

Je exklusiver und professionalisierter eine Armee ist, desto leichter lässt sie sich gegen äußere „Feinde“ wie gegen Bewegungen im Inland einsetzen. BerufssoldatInnen haben kaum mehr Bindungen an den Rest der Bevölkerung. Sie sind weitgehend in Kasernen abgeschottet, sind der Propaganda und der Macht ihrer Vorgesetzten unwidersprochen ausgeliefert. BerufssoldatInnen entfernen sich von ihrer Klasse und nehmen die Interessen der Herrschenden als (scheinbar) ihre eigenen an. Dadurch steigt auch die Bereitschaft sämtliche befohlenen Aggressionen nach außen und nach innen durchzuführen. Es ist absolut verständlich, wenn sich in Österreich junge Menschen dafür sind die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen. Für die wenigsten ist diese Zeit eine positive Erfahrung. Drill, Beschimpfungen von Vorgesetzten und monatelange relativ sinnentleerte Tätigkeiten machen heute den Grundwehrdienst in Österreich (und nicht nur hier) aus. Auch der Hinweis auf den Assistenzeinsatz des Bundesheeres im Burgenland in dem junge Grundwehrdiener dazu missbraucht werden „illegale“ Flüchtlinge aufzugreifen wird von vielen völlig zu Recht abgelehnt. Aber im kapitalistischen Staat bedeutet die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht keine De-Militarisierung sondern in der Realität das genaue Gegenteil. Selbst das Argument ein Berufsheer wäre billiger stimmt nicht. Sämtliche internationalen Studien der letzten Jahre zeigen, dass Berufsheere deutlich teurer sind (unter anderem, weil sich die Professionalisierung auch auf die Ausrüstung bezieht). Auch die Repression gegen Flüchtlinge an den Grenzen würde eine neue Qualität erreichen.

Ein Berufsheer würde den Herrschenden eine noch zuverlässigere Waffe in die Hand geben. MarxistInnen stellen dem staatlichen Gewaltmonopol, was real das Monopol der herrschenden Klasse über die Waffen im Land bedeutet, die Idee der Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse gegenüber. Also eine möglichst breite Streuung der bewaffneten Macht innerhalb der Gesellschaft. Wir fordern demokratische und gewerkschaftliche Rechte für SoldatInnen. Eine derartige Volksmiliz könnte zwar das Land verteidigen, wenn es angegriffen wird, wäre aber ebenso unfähig zu imperialistischen Raubzügen wie zur Unterdrückung der Bevölkerung. Historisch hat das Friedrich Engels etwa so formuliert:

„Was ist das Heilmittel gegen Wettrüsten und Kriegsgefahr? Die Abschaffung des stehenden Heeres und die Ersetzung desselben durch ein wirkliches Volksheer, das eine einfache Schule ist, in die jeder Bürger, sobald er fähig ist, die Waffen zu tragen, für die Dauer der zur Erlernung des Soldatenhandwerks absolut notwendigen Zeit eingereiht wird; Einstellung der so herangebildeten Leute in stark örtliche Reserveeinheiten, so dass jede Stadt, jeder Kreis sein Bataillon hat, zusammengesetzt aus Leuten, die sich kennen und die, wenn es sein muss, in 24 Stunden vollständig ausgerüstet und marschbereit zusammentreten können. Das bedeutet, dass jeder Wehrfähige sein Gewehr und seine Ausrüstung bei sich zu Hause hat .... Das Volk, welches dieses System zuerst einführt, wird seine wirkliche militärische Kraft verdoppeln und dabei gleichzeitig sein Kriegsbudget um die Hälfte vermindern. Es wird schon durch die Tatsache, dass es alle seine Bürger bewaffnet, seine Friedensliebe beweisen. Denn diese Armee ... ist ebenso wenig zur Eroberung nach außen geeignet, als sie in der Verteidigung ihres heimischen Bodens unbesiegbar ist. Und dann, welche Regierung würde es wagen, die politische Freiheit anzutasten, wenn jeder Bürger ein Gewehr und fünfzig scharfe Patronen zu Hause liegen hat?“

Friedrich Engels „Sozialdemokrat“ MEW B21, S. 345.

MarxistInnen streben eine Welt ohne Waffen und Gewalt an – letztlich kann diese allerdings nur erreicht werden, wenn das gewalttätige System Kapitalismus gemeinsam überwunden wird.

Wenn wir über „Volksbewaffnung“ sprechen heißt das nicht, dass wir Situationen wie in den USA oder der Schweiz anstreben. Dort gibt es einen weit verbreiteten privaten Waffenbesitz (in der Schweiz bekommt jedeR nach Ableistung des Grundwehrdienstes ein Gewehr, das er/sie zu Hause aufbewahrt). Ganz offensichtlich führt dieser allerdings nicht zu einer Stärkung der ArbeiterInnenklasse gegenüber den Herrschenden. In den USA kommt der private Waffenbesitz vor allem im Zusammenhang mit Amokläufen, Kriminalität und dem versehentlichen Erschießen von Familienangehörigen, die für EinbrecherInnen gehalten werden in die Schlagzeilen. Die Grundlage dafür ist allerdings nicht der Waffenbesitz an sich sondern die sozialen Probleme und die Tatsache, dass die meisten Menschen weder wissen wie mit den Waffen umzugehen ist noch wie sie sicher zu verstauen sind. In der Schweiz hingegen, in denen der Waffenbesitz mit einer Ausbildung verbunden ist und die sozialen Probleme nicht die Tiefe der USA erreicht haben finden auch deutlich weniger „Familientragödien“, Unfälle und Amokläufe statt. Entscheidend ist, ob der Besitz mit Ausbildung verbunden ist und ob die soziale Lage die Menschen zu Verzweiflungs-/Wahnsinnstaten treibt. Für MarxistInnen bedeutet allgemeine Volksbewaffnung vor allem einmal kollektive Organisierung, nicht individueller Waffenbesitz. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass revolutionäre Massenbewegungen der Gewalt der Herrschenden oft hilflos ausgeliefert waren. Hätte es eine kollektive, demokratische Organisierung in bewaffneten Selbstverteidigungsstrukturen gegeben, hätten Blutbäder und Diktaturen verhindert werden können.

 

9. Sozialstaat

Die Entwicklung des Sozialstaates steht in direktem Zusammenhang mit den Kämpfen der ArbeiterInnenbewegung. Arbeitslosengeld, Pension, bezahlter Krankenstand, Krankenversicherung, etc. sind Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung. Sie wurden erst durchgesetzt als die Bewegung so stark war, dass die Herrschenden gezwungen waren Zugeständnisse zu machen. Der Kern des Sozialstaates ist die Umverteilung von Geld in Form von Steuern innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu Gunsten der bedürftigsten Teile der Bevölkerung. Entstanden sind die ersten Elemente der Sozialversicherungen als vom Staat unabhängige Vereine, in die ArbeiterInnen einzahlten um bei Bedarf (Unfall, Pension, Krankheit) daraus Unterstützung zu bekommen. Die ArbeiterInnenbewegung führte allerdings von Anfang an einen Kampf um die staatliche Integration der Sozialversicherungselemente. Die Begründung war, dass bei den „privaten“ Krankenversicherungen der Gewerkschaft und anderer Organisationen die Beiträge der KapitalistInnen fehlen würden, die durch die Ausbeutung maßgeblich für die Bedürftigkeit vieler ArbeitnehmerInnen verantwortlich waren. Es wäre falsch das Geld nur innerhalb der ArbeiterInnenklasse, oder den Beteiligten an den Sozialversicherungen, umzuverteilen und nicht die Ressourcen der gesamten Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Die Angst der herrschenden Klasse vor der Stärke der ArbeiterInnenbewegung und der Angst vor revolutionären Entwicklungen zwang sie in der Vergangenheit zu Zugeständnissen bei sozialen Rechten. Die Tatsache, dass sich die sozialen Errungenschaften in staatlicher Form manifestierten kam vor allem daher, dass es keine institutionalisierte Alternative zum bürgerlichen Staat gab. Aus Sicht der KapitalistInnen ist der Sozialstaat in manchen Phasen der Entwicklung sogar ein Gewinn. Das Versagen der kapitalistischen Wirtschaft in Form von Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfällen, Krankheit und Armut wird von sozialstaatlichen Einrichtungen aufgefangen. Für MarxistInnen bedeutet das alle sozialen Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zu verteidigen, aber gleichzeitig auch die Wurzeln der sozialen Probleme anzugreifen. Arbeitslosengeld ist wichtig. Seine Existenz ist aber kein Grund um auf die Forderung nach Verteilung der vorhandenen Arbeit auf alle, also Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, zu verzichten. Das Gleiche gilt für die Kranken- und Unfallversicherung, die kein Ersatz dafür sein kann KapitalistInnen zu durch Streiks etc. zu zwingen den Arbeitsplatz möglichst sicher zu gestalten.

 

10. Verstaatlichung

Eine grundsätzliche Forderung von MarxistInnen ist die Verstaatlichung der entscheidenden Bereiche der Wirtschaft. In einer sozialistischen Gesellschaft stellt das die Grundlage der Wirtschaft dar. Sie wird gemeinsam demokratisch kontrolliert, verwaltet und geplant. Aber auch im Rahmen des Kapitalismus fordern wir Verstaatlichungen obwohl die KapitalistInnen herrschen. Im Gegensatz zu SozialdemokratInnen sehen wir dies allerdings nicht als einen Schritt in Richtung Sozialismus sondern als mögliche Unterstützung für Beschäftigte und Bevölkerung. Die Gewinne der verstaatlichten Industrie können im Rahmen des Kapitalismus, wenn die ArbeiterInnenbewegung ausreichend Druck aufbaut, für das Sozialsystem, den Ausbau der Infrastruktur, etc. verwendet werden. Eine Möglichkeit, die sich so in bei der Privatwirtschaft nicht stellt. Trotzdem bleiben verstaatliche Betriebe im Rahmen des Kapitalismus profitorientiert und dienen, vom bürgerlichen Staat verwaltet, den Interessen des privaten Kapitals.

Beispiel: Die VOEST, einst der größte verstaatlichte Stahlkonzern Westeuropas, stellte mit Steuergeldern subventioniert qualitativ höchstwertigen Stahl her, der dann weit unter Weltmarktpreisen an private Unternehmen verkauft wurde. So bestand über Umwege eine Subventionierung der Privatwirtschaft durch Steuergelder.

Verstaatlichungen sind im Rahmen des Kapitalismus in der Regel ein Fortschritt, da sie zumindest eine minimale öffentliche Kontrolle über die Wirtschaft bieten. Die Notverstaatlichungen europäischer Banken im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise haben allerdings nichts mit echten Verstaatlichungen zu tun. Es ging dabei nur darum die Verluste mit Steuergeldern aufzufangen und die Banken sobald sie wieder rentabel waren zu Re-Privatisieren. MarxistInnen fordern die Verstaatlichung der entscheidenden Wirtschaftsbereiche unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigten und der Bevölkerung. Das heißt, das ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen, AnrainerInnen, UmweltexpertInnen, etc. gemeinsam darüber entscheiden sollen was produziert wird und unter welchen Bedingungen.

 

11. Der ArbeiterInnenstaat

Lenin wurde oben zitiert, dass die bürgerliche demokratische Republik „im Kapitalismus“ die beste Herrschaftsform aus Sicht der ArbeiterInnenklasse ist. Aber sie bleibt im Kapitalismus verhaftet und wird in einer sozialistischen Revolution ebenso überwunden, wie der Kapitalismus selbst. Eine Gesellschaft, egal welcher Form muss aber organisiert werden. Auf die Überwindung des kapitalistischen Staates folgt darum der Aufbau eines ArbeiterInnenstaates.

 

12. Rätemacht

Die Erfüllung der zentralen Aufgabe der ArbeiterInnenbewegung, nämlich das System Kapitalismus als solches zu stürzen und durch eine freie demokratische, sozialistische Gesellschaft zu ersetzen, ist nicht im Rahmen der vom bürgerlichen Staat vorgegebenen Ordnung möglich. Alle Versuche auf „demokratische“, also den bürgerlichen Vorstellungen von „Demokratie“ entsprechenden, Wegen den Kapitalismus zu überwinden sind gescheitert. Wenn sich Bewegungen so entwickeln, dass sie eine Existenzbedrohung für die Herrschaft der KapitalistInnen werden, werfen die kapitalistischen „DemokratInnen“ ihre Demokratie schnell über Bord. Die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung ohne Rücksicht auf die „Demokratie“ steht dann auf der Tagesordnung.

Beispiel:  1970 wurde in Chile Salvador Allende, der Kandidat der linken Volksfront zum Präsidenten gewählt. Er begann ein Programm zur langsamen Einführung des Sozialismus im Rahmen der bürgerlich-demokratischen Institutionen. Als dies „zu weit“ ging putschte am 11. September 1973 das Militär mit Unterstützung der CIA und errichtete eine jahrzehntelange blutige Diktatur. Die Einstellung der KapitalistInnen zur Demokratie wurde vom US-Staatssekretär (und Friedensnobelpreisträger) Henry Kissinger in Bezug auf den Militärputsch in Chile so formuliert: „Ich sehe nicht ein, warum wir einfach zusehen sollen wenn ein Land auf Grund der Dummheit seines Volkes kommunistisch wird.“

Die Aufgabe der Revolution ist also nicht die Übernahme des bürgerlichen Staates sondern seine Zerschlagung. Ersetzt wird er durch den Aufbau eines ArbeiterInnenstaates, in dem die Macht direkt und wahrhaft demokratisch von der Bevölkerung selbst ausgeübt wird. Die Macht wird direkt von gewählten VertreterInnen der ArbeiterInnenklasse ausgeübt, die jederzeit wähl- und abwählbar sind, rechenschaftspflichtig und über keinerlei Privilegien verfügen. Räte sind die natürlichste Organisierungsform von Menschen, die gleichberechtigt gemeinsame Ziele umsetzen wollen. So entstehen bei Streiks, solange sie nicht von der Gewerkschaftsbürokratie alleine dominiert werden, oft Streikkomitees. Diese sind für die Koordinierung der Streikposten verantwortlich, Solidaritäts- und Medienarbeit, für die Versorgung der Streikenden, etc. Sie bilden im Betrieb eine Gegenmacht zum/r UnternehmerIn.

In einer sozialistischen Revolution weiten sich Komitees oder Räte auf weite Teile der Bevölkerung aus. Sie sind nicht mehr nur Gegenmacht zu einem/r UnternehmerIn sondern stellen eine reale Alternative zum bürgerlichen Staat dar. Es ist dann notwendig diese Rätestrukturen untereinander zu verbinden und zu größeren Strukturen zu entwickeln. Das wäre der qualitativ entscheidende Schritt zur Weiterentwicklung der revolutionären Bewegung und zur Erringung einer neuen gesellschaftlichen Organisierung. Damit legen sie die Grundlagen für die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft. An die Stelle des alten bürgerlichen Staatsapparates mit Polizei, Gerichten und Gefängnissen tritt die ArbeiterInnenklasse selbst. „Der Staat, das ist das als herrschende Klasse organisierte Proletariat.“ schreibt Marx. Räte, Komitees, Sowjets, Schoras oder wie auch immer die neuen Organe genannt werden sind die Keimformen der Organisierung der neuen Macht, in der sich die ArbeiterInnenklasse zur herrschenden Klasse erhebt. In einer vorrevolutionären oder revolutionären Situation organisieren sie die Bewegung, legen gemeinsam demokratisch fest was die nächsten Schritte sein sollen, organisieren die Versorgung der Bevölkerung, etc.

Beispiel: Als Vorformen von Räten können die Asambleas (Versammlungen) während der Massenbewegung der spanischen Jugend und ArbeiterInnen 2011 gesehen werden. In den Stadtteilen kamen die Menschen zusammen, wählten Delegierte, die dann die Bewegung der ganzen Stadt koordinieren. Die Asambleas organisierten die Menschen in den Stadtteilen und entwickelten auf demokratischer Grundlage die Bewegung effektiv weiter.

Räte sind Ausdruck der Doppelmacht-Situation in der Phase vor dem Sieg der ArbeiterInnenklasse über die KapitalistInnen und ihren Staat. Doppelmacht bedeutet, dass in einer bestimmten Phase innerhalb einer Gesellschaft sowohl die alte herrschende Klasse noch über ihre Machtstrukturen verfügt, gleichzeitig aber die revolutionäre Bewegung schon ihre eigen Instrumente aufgebaut hat. So eine Phase ist symptomatisch für revolutionäre Entwicklungen. Sie kann aber nur über eine sehr begrenzte Zeit bestehen. Früher oder später entscheidet sich, ob sich die Revolution durchsetzt oder die alte herrschende Klasse.

Die Revolution besteht darin, daß das Proletariat den ‚Verwaltungsapparat‘, ja den gesamten Staatsapparat zerstört und ihn durch einen neuen, aus bewaffneten Arbeitern bestehenden Apparat ersetzt. Kautsky offenbart eine ‚abergläubische Verehrung‘ der ‚Ministerien‘, weshalb aber sollten diese nicht ersetzt werden können, sagen wir, durch Kommissionen von Fachleuten bei den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, denen die ganze ungeteilte Macht gehört? Der Kern der Frage besteht durchaus nicht darin, ob ‚Ministerien‘ bestehen bleiben, ob es ‚Kommissionen von Fachleuten‘ oder irgendwelche andere Institutionen geben wird: das ist ganz belanglos. Die entscheidende Frage ist, ob die alte Staatsmaschinerie (die durch tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und durch und durch von verknöcherten Gewohnheiten und Konservatismus durchsetzt ist) aufrechterhalten bleibt, oder ob sie zerstört und durch eine neue ersetzt wird. Die Revolution darf nicht darin bestehen, daß die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, sondern muß darin bestehen, daß sie diese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen Maschine kommandiert und regiert – diesen grundlegenden Gedanken des Marxismus vertuscht Kautsky, oder aber er hat ihn überhaupt nicht begriffen.“

V. I. Lenin „Staat und Revolution“ Werke B25; Berlin 1972; S. 501.

 

12.2. Der sozialistische Staat und dessen Absterben

Es reicht nicht aus die Formen des (bürgerlichen) Staates mit sozialistischem Inhalt zu füllen. Notwendig für den Aufbau einer demokratischen, sozialistischen Gesellschaft ist auch die Entwicklung neuer Formen des Staates. Den Staat sofort „abzuschaffen“ ist nicht möglich, da nach der Revolution neue Strukturen erst entwickelt werden müssen. Eine (demokratisch organisierte) Staatsmacht ist immer noch nötig. So müssen konterrevolutionäre Umsturzversuche zurückgeschlagen werden, Güter für die Menschen planmäßig produziert und gerecht verteilt werden. Er hat aber einen anderen Charakter und ist prinzipiell ein „Auslaufmodell“, existiert also nur bis er seine Aufgaben abgeben kann und abstirbt.

Durch die sozialistische Revolution wird der bürgerliche Staat „aufgehoben“ und durch Formen des ArbeiterInnenstaates ersetzt. Sein Wesen als Repressionsapparat (nun aber nicht mehr gegen die Masse der Bevölkerung sondern gegen die Reste der Konterrevolution) verliert er nicht automatisch, denn es für eine gewisse Zeit müssen die Errungenschaften der Revolution noch gegen die ehemaligen Herrschenden verteidigt werden, die mit allen Mitteln versuchen ihre verlorene Macht wieder zu erlangen. Der besondere Charakter des sozialistischen Staates gegenüber allen Klassenstaaten der Vergangenheit ist, dass es nicht mehr seine zentrale Aufgabe ist die herrschende Klasse gegenüber den unterdrückten Klassen zu verteidigen.

Beispiel: Die Bolschewiki traten in der Oktoberrevolution mit einem Friedensprogramm an. Die von der ArbeiterInnenklasse entmachteten Adeligen und KapitalistInnen zögerten allerdings nicht eine Armee aufzubauen um, unterstützt von einundzwanzig ausländischen imperialistischen Interventionstruppen gegen den jungen ArbeiterInnenstaat vorzugehen. Die russische ArbeiterInnenklasse war gezwungen eine eigene Armee und einen Apparat der die Konterrevolution unterdrückte, aufzubauen um sich gegen die Reaktion zu verteidigen.

Wenn aber die Versuche der ehemals herrschenden Klassen überwunden ihre eigene Diktatur wieder aufzurichten, beginnt der ArbeiterInnenstaat seine Rolle als Unterdrückungs- und Machtapparat zu verlieren. Die Aufgabe des „Staates“, soweit dieser Begriff dann überhaupt noch zutrifft ist dann die kollektive Organisierung des gesellschaftlichen Lebens, der Wirtschaft, usw. durch alle Mitglieder der Gesellschaft. Dabei ist in einer sozialistischen Gesellschaft kein Platz für Bürokratie, Gerichte, Gefängnisse und Polizei. Die Bevölkerung selbst übernimmt die Organisierung der Gesellschaft. Darüber kann es keine Bevormundung und Unterdrückung geben. Durch die demokratische Planung der Produktion und die gerechte Verteilung aller benötigter Güter fällt die „Notwendigkeit“ der Verteidigung von Privilegien weg. In einer Gesellschaft, in der JedeR gleichen Zugang zu allen benötigten Dingen hat, braucht es keineN, der/die über die Privilegien, Macht und Reichtum weniger verteidigt. Der Staat ist gesellschaftlich nicht mehr notwendig. Er stirbt ab.

"Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht 'abgeschafft', ER STIRBT AB. Hieran ist die Phrase vom 'freien Volksstaat' zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden."

Friedrich Engels: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ MEW B20; Berlin 1962; S.261f.

 

13. Literatur zum Thema

Karl Marx: „Kritik des Gothaer Programms“

Karl Marx: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“

Friedrich Engels: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ (Anti-Dühring)

Friedrich Engels: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“

V.I. Lenin: „Staat und Revolution“

Leo Trotzki: „Verratene Revolution“

Leo Trotzki: „Geschichte der Russischen Revolution“ (Band 1)

August Bebel: „Die Frau und der Sozialismus“

Karl Liebknecht: „Militarismus – Antimilitarismus“

Antifaschistischer Widerstand- aber richtig!

Anna H. und Sebastian Kugler

In der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird meistens der Widerstand aus dem bürgerlichen und kirchlichen Lager aufgegriffen, wie z. B. der Versuch von Stauffenberg, Hitler zu beseitigen. Doch während Stauffenberg selbst Faschist war, der nur den Faschismus vor Hitler retten wollte, gab es auch den zahlenmäßig wesentlich größeren, auch bewaffneten, sozialistischen bzw. kommunistischen Widerstand, der oft mit dem jüdischen Widerstand einherging. Doch sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, wäre für die Bourgeoise äußerst unangenehm. Denn dieser stellte auch den Kapitalismus, aus dessen Krise sich der Faschismus entwickelte, in Frage. Juden/Jüd*innen und Kommunist*innen gingen keineswegs “wie Lämmer zur Schlachtbank”. Von den mehreren erfolgreichen Anschlägen auf hohe Funktionäre der Nazis durch die niederländische Kommunistin Hannie Schaft bis zum bewaffneten Aufstand des Warschauer Ghettos und dem Partisan*innenkampf von Slowenien bis Lettland kämpften Unzählige bis zum letzten Atemzug. Und dennoch waren dies vor allem Verzweiflungskämpfe. Sie wurden alternativlos, weil die Arbeiter*innenbewegung zuvor es nicht geschafft hatte, durch Bildung einer Einheitsfront den Faschismus aufzuhalten.

Volksfront und Einheitsfront

Einheitsfront meinte historisch den gemeinsamen Kampf kommunistischer und sozialdemokratischer Arbeiter*innen gegen den Faschismus. Im Gegensatz zu heute waren die sozialdemokratischen Parteien damals Massenorganisationen des Proletariats. Außerdem hatten zumindest Teile reformistischer Parteien eine sozialistische Perspektive. Durch die Einheitsfronttaktik hätten noch Anfang der 1930er Jahre riesige Massen an Arbeiter*innen mobilisiert werden können und der Vormarsch des Faschismus gestoppt werden können. Sie wurde vor allem von dem russischen Revolutionär und Antistalinisten Leo Trotzki propagiert, konnte sich aber, trotz vielversprechender Initiativen an der Basis, aufgrund des Sektierertums der bürokratischen Führungsapparate in beiden Parteien nicht durchsetzen.

Nachdem der Stalinismus vor dem Sieg des Faschismus alle anderen politischen Kräfte - und insbesondere die Sozialdemokratie - als “Faschisten” gesehen hatte, schwenkte er nun um 180 Grad und propagierte die “Volksfront”. Darunter ist das Bündnis kommunistischer, sozialdemokratischer und bürgerlicher Parteien im Kampf gegen den Faschismus zu verstehen. In der Praxis bedeutete sie die komplette Unterordnung unter bürgerliche Kräfte. So kämpfte zum Beispiel die damalige KPÖ nicht für den Sozialismus, sondern für ein „freies Österreich“. Der Kampf gegen den Kapitalismus wurde so über Bord geworfen. Die Volksfront scheiterte in Frankreich oder Spanien, wo sie kurzzeitig an die Macht kam, katastrophal. Der Nationalsozialismus wurde aufgrund dieser falschen Taktik auch nicht politisch, sondern letztlich nur militärisch besiegt. Somit blieb der Boden für eine Wiedergeburt des Faschismus bestehen.

Und heute?

Somit stellt sich die Frage, wie eine Einheitsfront heutzutage aussehen könnte. Aufgrund des Fehlens großer proletarischer Massenparteien bedeutet Einheitsfront nicht einfach das Bündnis einzelner bestehender Gruppen, sondern vor allem den Aufbau und die Zusammenführung sozialer Bewegungen bzw. Klassenkämpfe im Kampf gegen Rechts. Zum Beispiel bedeutet das den vereinten Kampf von Gesundheits-, Pflege-, und Bildungsbeschäftigten, sowie anderer Initiativen gegen den sozialen Kahlschlag, der massenhaft von rechten Parteien betrieben wird. Die gemeinsamen Interessen aller, die von kapitalistischer Ausbeutung und rechter Gewalt betroffen sind, müssen dabei im Zentrum stehen - und nicht hohle moralische Appelle. Das bedeutet auch, sich nicht vor den Karren jener bürgerlichen Parteien wie SPÖ oder Grüne spannen zu lassen, die sich nach außen hin (wenn es gerade politisch genehm ist) antifaschistisch präsentieren, aber durch Kürzungspolitik und staatlich verwalteten Rassismus den Rechten den roten Teppich ausrollen. Konkret muss Widerstand gegen den Faschismus mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden sein.

 

“Taktisches Wählen” gegen Rechts?

Stefan Brandl

Auch wenn Le Pen die Stichwahl in Frankreich verloren hat, ist das Erreichen des zweiten Wahlgangs ein weiterer von vielen Wahlerfolgen von rechten und rechtsextremen Parteien in Europa. Hierzulande sprechen sich laut Umfragen ebenfalls wieder 20% für die FPÖ aus, die sich schon längst wieder vom Ibiza-Skandal erholt hat. Als Möglichkeit, rechte (Wahl-)Erfolge zu verhindern, wird “taktisches Wählen” wieder mehr diskutiert.

Wahl zwischen Pest und Cholera

Besonders in Frankreich war die Präsidentschaftswahl von einer “geringeren Übel”-Logik geprägt. Le Pen konnte mit dem Thema Kaufkraft vor allem nur deswegen Stimmen gewinnen, weil das Thema Inflation von linker Seite zunächst kaum aufgegriffen worden ist. Die absolute Mehrheit aller Wähler*innen wollte keine Le Pen als Präsidentin; für manche bedeutet das nun, Macron zu wählen. Doch Macrons Politik war keine Alternative zur extremen Rechten, sondern der Boden, auf dem sie wuchs. Seine erste Amtszeit war gezeichnet von Sozialabbau, Polizeibrutalität und größer werdender Unsicherheit für große Bevölkerungsschichten in Frankreich. Besonders für junge Menschen stellten weder Macron noch Le Pen eine wählbare Option dar. Der linke Kandidat Mélenchon lag Anfang März noch bei knapp 12%. Doch er schaffte es durch konsequentes Ablehnen der Politik der Superreichen und mit einem Programm, das sich klar gegen Angriffe auf das Arbeitsrecht positioniert und weitgehende ökologische und soziale Verbesserungen beinhaltet, auf 22,0% - und verpasste nur knapp die Stichwahl.

Obwohl Mélenchon’s Programm einige starke Punkte beinhält, bleibt es dennoch ein reformistisches Programm. Es arbeitet mit Appellen und versucht Lösungen in derselben kapitalistischen Logik zu finden, die keinen Spielraum für eine echte soziale Alternative zulässt. Für die Parlamentswahlen Anfang Juni ruft er mit der “union populaire” zu einem breiten Bündnis aus Gewerkschafter*innen, linken Parteien und Organisationen auf. Entscheidend für den Erfolg eines Bündnisses ist vor allem sein Inhalt - das Programm -, und nicht, wie “breit” oder groß es am Papier ist. Am Beispiel Ungarn, wo Orban im April die Wahl gegen eine Koalition aller oppositionellen Parteien gewinnen konnte, sehen wir am besten, dass die “Einigung auf den aussichtsreichsten Kandidaten” ohne Programm keinen Erfolg bringt.

Raus aus dem Teufelksreis

In dem auf unserer Konferenz beschlossenen Dokument zu österreichischen Perspektiven schreiben wir, dass die unmittelbare Wahlebene für die Frage des Wiederaufbaus einer politischen Alternative tendenziell an Bedeutung verlieren werden - zu groß ist die Desillusionierung vom bürgerlichen Staat und seinen Parteien sowie Institutionen. Dafür rücken betriebliche Kämpfe bzw. soziale Bewegungen stärker in den Fokus. Die Basis für eine echte politische Alternative zu Establishment und rechtsextremer Pseudo-Opposition wird also nicht durch Herumtaktieren und Bündnisse Schmieden gelegt, sondern durch konkrete, gemeinsame Kämpfe gegen beide. In Frankreich - und in kleinerem Ausmaß auch in Österreich - treten immer größer werdende Teile der Arbeiter*innenklasse bewusster in Kämpfe ein, welche die Profitlogik in Frage stellen: Angefangen von Beschäftigten in der Pflege oder Elementarpädagogik, Frauen im Kampf gegen Sexismus und andere Formen der Diskriminierung bis hin zur Jugend, die noch nie eine krisenfreie Zeit erlebt hat.

Ein erfolgreicher Streik im Gesundheitsbereich hilft mehr, als in bürgerlichen Parlamenten überstimmt zu werden. Betriebliche Auseinandersetzungen alleine greifen aber - wie der ausschließliche Fokus auf Wahlen - zu kurz: Das aktive Unterstützen und Zusammenführen dieser betrieblichen Kämpfe bildet die stärkste organisatorische und politische Basis für echte Verbesserungen und eine neue Partei der Arbeiter*innen. Erst die gegenseitige Wechselbeziehung zwischen einer politischen Partei, die Kämpfe zusammenführen und politisch anführen kann, und dem Widerstand auf betrieblicher Ebene, in Schulen oder Universitäten, wird die tatsächlich breite Massen für eine Alternative zum kapitalistischen Chaos mobilisieren.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Was ist Imperialismus?

Jan Wottawa

Der Revolutionär Lenin definierte es Anfang des 20. Jhd. so: “Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.” In reichen Staaten wie Japan oder Deutschland wichen kleinere Betriebe großen Strukturen - multinationalen Konzernen. Das ist bei Lebensmitteln (Nestle/Unilever), bei Medien (Disney/Tencent), Social Media (Meta/Facebook) und vielen weiteren Industrien zu beobachten. Finanzkapital und produzierende Industrie verschmelzen immer stärker. Reiche Staaten raubten bis ins 19. Jhd. durch Kolonialismus Rohstoffe aus ärmeren Ländern und fixierten so ihre Position. Diese nutzen sie heute subtiler aus. Im Imperialismus kontrollieren sie zusätzlich zum Raubbau von Rohstoffen nun auch durch Investment und Land-Grabbing die Produktionsketten und die Bedingungen der Verträge. Internationale Institutionen des Kapitals (IWF, Weltbank, G7 usw.) setzen die Aufteilung der Welt in verschiedene Einflusssphären um. Wie es der lokalen Bevölkerung geht und ob dieses Handeln Kriegsgefahr und Gewalt erzeugt, ist egal. Ihnen geht es nur um ihre Profite. Eine internationale Planung der Arbeitenden selbst ist nötig, um das Wohlergehen aller Menschen zu garantieren. Wir sagen: Kampf der herrschenden Klasse, statt Krieg zwischen den Nationen.

Der 1. Weltkrieg und die österreichische Revolution

Teil 3 der Artikelserie: Geschichte der österreichischen Arbeiter*innenbewegung
Anna Hierman

„Neider überall zwingen uns zur gerechten Verteidigung." Der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1914

In Geschichtsbüchern wird als Ursache für den Krieg das Attentat auf den österreichischen Thronfolger und dessen Frau genannt. Doch kann ein Attentat eine solche nie dagewesene Barbarei verursachen? Um die Ursache des Krieges analysieren zu können, müssen die damaligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen berücksichtigt werden. Schon vor mehr als 100 Jahren ist der Kapitalismus auf seiner höchsten Stufe angelangt, dem Imperialismus. Nun versuchten Großmächte, ihre Einflussgebiete zu erweitern bzw. zu erhalten, was zu dieser Zeit bedeutet: Auf Kosten anderer Staaten. Der Grund liegt im Zugriff auf Rohstoffe, Arbeitskräfte und Anlagemöglichkeiten. Im Gegensatz zum Anfangsstadium des Kapitalismus, wo noch freier Handel und freie Konkurrenz im Vordergrund steht, geht es nun um die „Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen“ (Lenin: “Sozialismus und Krieg“). Anfangs des 20. Jahrhunderts sind die Produktivkräfte so weit entwickelt, dass das kapitalistische System nur mit wiederkehrenden Kriegen aufrechterhalten werden kann – wird es nicht durch ein sozialistisches ersetzt.

Die größte Organisation der Arbeiter*innenklasse war die SDAP, die Vorläuferorganisation der SPÖ. Diese war in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg zwar in Worten weit radikaler als ihre deutsche Schwesterpartei, in Taten aber letztlich systemkonform. Im Gegensatz zur deutschen, konnte die österreichische Sozialdemokratie den Kriegskrediten nicht formal zustimmen - weil sie in Österreich nicht gefragt wurde. Doch schrieb Friedrich Austerlitz in der Arbeiterzeitung: „Die österreichische Arbeiterschaft bekennt sich zur k.u.k. Monarchie und zum Kriegseintritt“. Die Parteiführung glaubte, der Krieg wäre recht kurz und wollte nicht das bereits Erreichte gefährden. Einer der bedeutendsten Sozialdemokrat*innen der 1910er und 1920er Jahre, Karl Renner, war sogar gegen den Sturz des Kaisers und strebte den „Aufgeklärten Absolutismus“ an. Aus Angst vor Repressionen des kaiserlichen Regimes wurde die aktive politische Arbeit der Parteibasis massiv eingeschränkt und diese in die Passivität gedrängt. So erlitt die Arbeiter*innenbewegung einen schweren Rückschlag. In Folge dieser Entscheidungen der Parteiführung sanken die Mitgliederzahlen und die Verankerung in der Arbeiter*innenklasse.

Ohne Widerstand durch die SDAP wurden Regelungen zu Arbeitszeit, Arbeitspausen oder Sonntagsruhe außer Kraft gesetzt. Durch den Krieg, die zunehmende Nahrungsmittelknappheit und Krankheiten verschlechterte sich die Lage der österreichischen Arbeiter*innenklasse zusehends. Das führte rasch zur Ernüchterung über den Krieg und trug zur Veränderung das Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen bei. Sie konnten das kapitalistische System und seine Folge Krieg nicht länger ertragen. So kam es zu revolutionären Erhebungen, wie dem Matrosenaufstand von Cattaro, der ungefähr zeitgleich mit dem Jännerstreik stattfand – die SDAP-Führung aber vermied, beides zusammenzubringen.

Durch eine erneute Verkürzung der Mehlrationen kam es zu starkem Unmut in der Bevölkerung. Am 14. Jänner 1918 traten Fabrikarbeiter*innen in Wiener Neustadt in den „Jännerstreik“. Ihre Kolleg*innen in Wien, Niederösterreich und der Obersteiermark schlossen sich an. Es ging den Streikenden auch um Solidarität mit der Russischen Revolution. Außerdem wollten sie sich nicht mehr als Kanonenfutter missbrauchen lassen. Da sie sich nicht mehr von der Habsburger Monarchie unterdrücken lassen und den Krieg beenden wollten, wählten sie Räte nach dem Vorbild der Sowjets in Russland. Mit der Novemberrevolution 1919 flammten die Räte wieder auf, sie übernahmen die Aufgaben der zusammenbrechenden staatlichen Verwaltung, sowie der Lebensmittelversorgung – aber entlang der Bedürfnisse der Arbeiter*innen, nicht der Kapitalist*innen und Adeligen. Sie waren der Keim einer neuen Gesellschaft.

Die Führung der SDAP fürchtete jedoch, dass es zur Revolution wie in Russland kommen könnte. Sie argumentierten. es brauche als Vorstufe zum Sozialismus erst eine bürgerliche Republik, eine Revolution wäre unmöglich und zu gefährlich. Deshalb versuchten sie alles, um die Massen vom revolutionären Geist abzubringen. Der „linke“ Sozialdemokrat Otto Bauer sagte über die bremsende Rolle seiner Partei stolz: „Nur Sozialdemokraten konnten wildbewegte Demonstrationen durch Verhandlungen und Ansprachen friedlich beenden, die Arbeitermassen von der Versuchung zu revolutionären Abenteuern abhalten.“ Die Gewerkschaftsführung unterstützte die SDAP-Führung, nicht die eigenen Mitglieder, d.h. die Arbeiter*innen konnten auch hier keine Unterstützung erwarten. Jene, die sich für die Räte einsetzten, waren oftmals zu unerfahren und unorganisiert – es fehlte im Unterschied zu Russland die gut organisierte, revolutionäre Partei. So konnte die SDAP-Spitze die Räte mehr und mehr in Organe zur Verrichtung administrativer Tätigkeiten umwandeln. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft wurde in Worten herbeigesehnt, in Taten verhindert. Diese prinzipienlose Haltung hat nicht nur die Arbeiter*innen in Österreich in den 1. Weltkrieg getrieben und dessen Ende hinausgezögert, sondern in letzter Konsequenz 1934 zum Bürgerkrieg und später zum 2. Weltkrieg geführt.

 

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