Geschichte und politische Theorie

1917 in Russland und die Lehren für Iran heute

Christoph Glanninger

Info:

Trotz brutaler Repression dauert die Bewegung im Iran seit September an, es steht ein langer Kampf bevor. Umso wichtiger sind Lehren aus früheren Revolutionen, z.B. dem revolutionären Prozess in Russland 1905-17. Demokratische, genauso wie soziale Ziele und Frauen spielten eine zentrale Rolle. Die Russische Revolution stürzte 1917 nicht nur den verhassten Zar, sondern ging zum ersten Mal Schritte in Richtung einer tatsächlich befreiten Gesellschaft (bis der Stalinismus diesen Versuch beendete). Ihre Lehren sind von zentraler Bedeutung für alle, die heute im Iran für Freiheit kämpfen.

1. 1905, Februar 1917 und Oktober 1917:

Revolutionäre Prozesse haben Höhen und Tiefen und jede Niederlage bringt Erfahrungen für kommende Bewegungen. Schon 1905 gab es in Russland eine Revolution, die den Zarismus in Bedrängnis brachte, aber schließlich brutal niedergeschlagen wurde. Schon 1912-14 gab es wieder Massenstreiks, die nur durch den 1. Weltkrieg unterbrochen wurden - bevor 1917 der Zarismus endgültig gestürzt wurde. Lenin beschrieb 1905 rückblickend als Generalprobe. Tatsächlich wussten viele Arbeiter*innen am Beginn der Bewegung 1917 aufgrund ihrer Erfahrung, was zu tun war, wie man sich organisiert bzw. Polizei und Militär bekämpft. Jene, die in der Periode von 1905-17 aktiv waren und sich organisiert hatten, waren eine “natürliche” Führung der Revolution. Auch die aktuelle Bewegung im Iran baut auf den Erfahrungen der “grünen Revolution” von 2009 und den Protesten und Streiks der letzten Jahre auf. Selbst wenn es dem Regime noch einmal gelingen sollte, die Kontrolle zu erlangen, werden diese Erfahrungen nicht umsonst sein. Aber umso wichtiger ist es, dass wir versuchen, die richtigen Lehren herauszuarbeiten - dafür braucht es vor allem auch Organisierung. 

2. Wie erkämpfen wir demokratische Freiheiten?

Der Kampf um demokratische Freiheiten steht im Zentrum der Bewegung, viele hoffen auf ein demokratisches System “wie im Westen” (auch wenn dieses beschränkt ist und mit Diktaturen packelt). Aber die Erfahrungen der Russischen Revolutionen, jene des arabischen Frühlings, auch jener der iranischen Revolution 1979, zeigen, dass Demokratie in einer Welt, die vollständig kapitalistischen Mechanismen unterworfen ist, nur erkämpft werden kann, wenn sie auch die Ressourcen und die Wirtschaft unter die demokratische Kontrolle der Bevölkerung stellt. Gelingt das nicht, können weder die demokratischen, noch die sozialen Ziele der Revolution erfüllt werden und es bleibt die Grundlage für neue Oligarchien und ein neues autoritäres System. Das zeigte sich 1917 in Russland: Nachdem die Februarrevolution zwar den Zar zu Fall und das liberale Bürgertum an die Macht brachte, aber weder Krieg noch Hunger beendete, brauchte es eine 2. Revolution im Oktober, die auch die Kontrolle über die Wirtschaft in die Hände von Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen legte.

3. Organisierung, Räte und Arbeiter*innenklasse:

Eine der zentralen Fragen, die sich im Iran aktuell stellen, ist, wie die Revolution organisiert werden kann. In Russland organisierten sich Arbeiter*innen und einfache Soldaten in “Sowjets” (Räten) - auf Basis von Arbeitsplätzen und Einheiten wurden Vertreter*innen gewählt, die sich überregional vernetzten, um die Revolution zu organisieren. Genau diese demokratische Organisierung in Betrieben, Unis, Nachbarschaften und die weitergehende Vernetzung, aber auch die aktive Rolle der Arbeiter*innenklasse fehlt im Iran leider noch großteils und ist eine der brennendsten Aufgaben (obwohl es Ansätze dafür gibt - Arbeiter*innenorganisationen in Haft Tappeh, feministische und Jugendgruppen). Einen Straßenprotest kann man leicht zerschlagen - bei einem Streik und der Besetzung einer Fabrik ist das schwieriger.

4. Führung, Partei und Exil:

Aktuell versuchen sich liberale bis nationalistische Promis (u.a. der Sohn des Schah) im Ausland in eine Führungsrolle zu bringen. Sie haben offensichtlich ganz andere Interessen als die Frauen, Arbeiter*innen und Jugendlichen, die gerade im Iran ihr Leben riskieren. Stattdessen braucht es eine tatsächlich revolutionäre Führung rund um ein Programm, das echte Freiheit und Gerechtigkeit für Frauen, Arbeiter*innen und Jugendliche im Iran liefert: Ein sozialistisches Programm. Natürlich ist es enorm schwer, so eine Organisation im Iran aufzubauen. Eine ähnliche Ausgangslage hatte auch die russische Arbeiter*innenbewegung, deren organisatorisches Zentrum aufgrund der Repression fast immer im Ausland lag. Dort konnte man die vorhandenen Freiheiten zur Organisierung der Arbeit (auch der Untergrundarbeit fürs Heimatland) nutzen. Die ursprüngliche Exilgruppe bestand bei ihrer Gründung 1883 aus nur 5 Personen und wurde in wenigen Jahrzehnten zur Kraft, die die Revolution zum Sieg führen konnte. Als ISA und ROSA versuchen wir, die Grundlagen für den Aufbau genau so einer Organisation im Iran voranzutreiben.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Von Paris bis Port-au-Prince: Die bürgerliche Revolution und ihre Widersprüche

Teil 1 der Artikelserie: Revolutionen und ihre Lehren
Peter Hauer und Sebastian Kugler

 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ – Die Parole der Französischen Revolution, die 1789 begann, ist heute noch präsent. Einen „herrlichen Sonnenaufgang“ nannte der Philosoph Hegel den Sturz der absoluten Monarchie, der den Weg zu einer Gesellschaft ebnen sollte, die nicht von Tradition oder Autorität geleitet würde, sondern von Vernunft. Gegen die Macht von Adel und Kirche rebellierte der „Dritte Stand“, also jene 99%, die Bäuer*innen, Handwerker*innen, Leibeigene, aber auch Bürgerliche, also Anwälte, Ärzte, Kaufleute etc. waren. Auf sie hatte der Staat die enormen Schulden abgewälzt, die aus der Niederlage im Kampf um die weltweite Kolonialvorherrschaft entstanden - und aus dem Vermögen, das der Absolutismus aufwandte, um den teils entmachteten Adel bei Laune zu halten. Und sie alle einte der Hass auf das absolutistische „Ancien Régime", das politische Freiheit und wirtschaftlichen Fortschritt zurückhielt. Doch im Laufe der Revolution wurde immer klarer: Während die unteren Klassen – die Arbeiter*innen, Handwerker*innen, Bäuer*innen – auf den Straßen die Revolution erkämpften, richteten die Bürgerlichen die neue Gesellschaft nach ihren eigenen Klasseninteressen ein.

Bürgerliche (Konter)Revolution

Die großbürgerlichen Girondist*innen, unter ihnen viele Sklavenhändler*innen, wollten eine konstitutionelle Monarchie unter Kontrolle des Großkapitals. Gegen sie revoltierten die kleinbürgerlichen Jakobiner*innen und die proletarischen Sansculotts. An der Macht verteidigten die Jakobiner*innen, mit Robespierre an der Spitze, die Revolution gegen Rechts – Girondist*innen und Royalist*innen – aber auch die Interessen des Bürgertums gegen die proletarischen „Enragés“, die echte soziale Gleichheit forderten. Der jakobinische Terror war Ausdruck dieses Spagats, der letztlich scheitern musste. Unter Napoleon wurden die sozialen und demokratischen Errungenschaften der Revolution auf ihre fürs Kapital wesentlichen Eigenschaften zurückgerollt: Freiheit – des Eigentums an Kapital; und Gleichheit – vor der Staatsmacht. Die juristische Gleichheit verfestigt in allen modernen kapitalistischen Gesellschaften die soziale Ungleichheit: Jede*r darf einen Konzern besitzen und andere ausbeuten – und jede*r darf sich ausbeuten lassen. Wo allerdings gleiche Rechte Kapitalinteressen zuwiderlaufen, nimmt man es damit nicht so ernst: So behielt man nicht nur die Entrechtung der Frauen bei, sondern führte 1802 auch die Sklaverei wieder ein. Damit reagierte Napoleon vor allem auf die Entwicklungen in der wichtigsten französischen Kolonie: Saint Domingue (heute: Haiti).

Haiti: Spiegel der Revolution

Die Nachricht von der Französischen Revolution hatte die Kolonien in Windeseile erreicht. Saint Domingue war die lukrativste; mit unzähligen Plantagen und durch grausamen Umgang mit 450.000 Sklav*innen kam fast die Hälfte der weltweiten Baumwoll-, Kaffee- und Zuckerproduktion von dort. Die Revolution weckte Hoffnung unter den Sklav*innen. Sie begannen ab 1791, sich zu organisieren und militärischen Widerstand zu leisten. Ziel des Anführers der Rebellion Toussaint Louverture war die Abschaffung der Sklaverei und freier Zugang zu Eigentum für alle, aber nicht die Unabhängigkeit von Frankreich, da zu dieser Zeit die Jakobiner*innen die gleichen Ziele verfolgten. Wie sie scheiterte er daran, die Ideale der Revolution auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise zu verwirklichen. Napoleons Invasionsheer tötete ihn. Die Sklav*innenbefreiung konnte das nicht stoppen: Mit dem ehemaligen Sklaven Dessalines an der Spitze vertrieb die schwarze Bevölkerung alle Kolonialist*innen und gründete 1804 den Staat Haiti. Die haitianische Revolution hielt der französischen den Spiegel vor: Sie zeigte, dass echte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter kapitalistischen Bedingungen unmöglich sind. Das erfuhren leider auch die haitianischen Massen nach der Revolution: Sie fielen schnell unter das Joch eigener und neokolonialer Kapitalist*innen und Tyrannen.

Die Lehre der französischen und haitianischen Revolutionen könnte aktueller nicht sein: “Bürgerliche Freiheiten” können nur gegen die Kapitalist*innen und durch Abschaffung ihres Systems erkämpft werden – vom neuen „Dritten Stand“, der globalen Arbeiter*innenklasse.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Auschwitz: Massenmord und Profite

Sylla Kahl, Sozialistische Alternative (ISA in Deutschland)

Am 27. Januar 2005 jährte sich der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee zum 60. Mal. Über 1,5 Millionen Menschen wurden an diesem Ort in den Gaskammern und durch Zwangsarbeit ermordet. Auschwitz gilt seither als Symbol für den organisierten Massenmord des nationalsozialistischen Regimes. An dieser Stätte mündeten imperialistische Expansionsbestrebungen und industrielle Ausbeutunginteressen im größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts.
Zentraler Punkt der nationalsozialistischen Eroberungspolitik in Osteuropa waren der Zugang zu den reichen Rohstoffquellen der Sowjetunion und der durch die NS-Ideologie propagierte Gewinn von "Lebensraum im Osten". Nach der Besetzung erfolgte die gewaltsame Änderung der Bevölkerungsstruktur im Sinne des nationalsozialistischen Rassenwahns. Die jüdischen EinwohnerInnen wurden in Sammelstellen zusammengepfercht. Ziel war es, Platz für sogenannte Volks- und Reichsdeutsche zu schaffen. Die jüdische Bevölkerung sollte aus dem deutschen Machtbereich nach Sibirien, beziehungsweise Richtung Eismeer deportiert werden und dort an vermeintlich "natürlichen" Todesursachen, wie Hunger, Kälte oder Zwangsarbeit sterben. Zwischen 1939 und 1941 waren Begriffe wie "Aussiedlung", "Räumung" und "Evakuierung" in den Planungen der Nazis noch wörtlich gemeint. Da der rasche Sieg über die Sowjetunion aber ausblieb und sich die ursprünglichen Pläne nicht realisieren ließen, wurden sie in der Folge zu Synonymen für den nun einsetzenden Massenmord. Der geographische Schwerpunkt der Anfang 1942 beschlossenen sogenannten Endlösung, das heißt der Ermordung der europäischen Juden wurde nach Westen in das politisch und militärisch gesicherte Polen verlagert.

Musterstadt Auschwitz

Auch die Stadt Auschwitz veränderte sich durch die Politik der Nationalsozialisten grundlegend. Sie entwickelte sich zum Vorbild für ökonomische Erschließung und rassistische Auslese.
Charakteristisch für die Stadt wurde die enge Zusammenarbeit mit dem 1941 gegründeten Werk der IG Farben (Interessen-Gemeinschaft Farbenindustrie AG), dem seinerzeit wichtigsten deutschen Privatunternehmen. Der Frankfurter Chemiekonzern produzierte Buna, einen kriegswichtigen synthetischen Ersatzstoff für Benzin.
Auschwitz sollte auf Betreiben der Konzernleitung zu einem leistungsfähigen Industriezentrum umgewandelt werden. Aber nicht nur das. Als williger Helfer des Regimes trieb die ansässige Unternehmensleitung mit erstaunlicher Eigeninitiative auch den rassistischen Auftrag der "Germanisierung" der Region voran. Deutsche Arbeiter wurden in großer Zahl nach Auschwitz geholt. Die polnische und jüdische Bevölkerung wurde größtenteils in das seit 1940 existierende benachbarte Konzentrationslager deportiert. Mit seinem großen Reservoir an billigen Arbeitskräften hatte das KZ Auschwitz einen nicht unentscheidenden "Standortfaktor" in den Plänen der IG Farben gebildet.
Die Reichsministerien stellten der sogenannten Siedlungsmusterstadt Auschwitz große Summen zur Verfügung. Kaum ein Antrag auf staatliche Zuschüsse wurde abgelehnt und dies inmitten des Krieges und allen Sparmaßnahmen zum Trotz.

Die "IG Auschwitz"

Im Frühjahr 1941 begann das Vorhaben "IG Auschwitz". Die IG Farben waren das erste Privatunternehmen, dass ein Heer von Zwangsarbeitern unterhielt. Von den insgesamt 35.000 Häftlingen in den Arbeitslagern des Chemie-Riesen starben mehr als 25.000 an den Folgen der Zwangsarbeit. Das Lager Auschwitz-Monowitz, dass eines der neugegründeten Hauptlager des späteren Vernichtungslagers Auschwitz bildete, war das erste von einem Privatunternehmen initiierte und finanzierte Konzentrationslager. Genügte die Arbeitsleistung eines Häftlings nicht mehr, forderte der Konzern Ersatz. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Häftlinge betrug in Monowitz nicht mehr als drei Monate.
Die Konzentrationslager bekamen ab 1941 den Auftrag, die Arbeitskraft der Häftlinge gewinnbringend für die deutsche Industrie auszunutzen. In der Folge wurden sie zu Schauplätzen eines geplanten, systematischen Massenmordes und zum Arbeitskräftereservoir der deutschen Großindustrie. Hunderttausende Häftlinge wurden von der SS an die Rüstungsindustrie und Großkonzerne verpachtet.

Industrieller Massenmord

In Auschwitz erreichte das Streben nach profitorientierter Verwertbarkeit des Menschen seinen verbrecherischen Höhepunkt. Selbst die auf der Rampe von Auschwitz als arbeitsunfähig eingeordnet und in den Gaskammern zu Hunderttausenden Ermordeten wurden bis zum Letzten ausgebeutet. Die Haare der Opfer wurden zu U-Bootdichtungen und Strümpfen verarbeitet, aus ihren Knochen wurde Seife produziert. Beides wurde anschließend gewinnbringend an die Wehrmacht verkauft. Den Weg in den Tod ließ sich die Reichsbahn gut bezahlen. Die Deportierten wurden gezwungen ihre Fahrkarte in das Vernichtungslager selbst zu bezahlen. Bei Transporten mit mehr als tausend Menschen gewährte die Reichsbahn "Mengenrabatt".
In Auschwitz wurde die Verknüpfung von Vernichtungswillen und industriellen Ausbeutungsinteressen Wirklichkeit. Hier trafen sich die Interessen der SS und der deutschen Großindustrie und bildeten für mehr als anderthalb Millionen Menschen einen tödlichen Pakt.

Kritik ausgeblendet

In den Gedenkveranstaltungen von Regierung und Bundestag wird die Verwicklung der deutschen Großindustrie in Zwangsarbeit und Massenmord ausgeblendet. Stattdessen wird die These in den Vordergrund gestellt, alle Deutschen trügen die Schuld am Holocaust. "Uns Deutschen stünde es eigentlich gut an, angesichts des größten Menschheitsverbrechens zu schweigen", so Gerhard Schröder kürzlich. Doch worüber soll nach dem Willen des Kanzlers geschwiegen werden?
Darüber, dass die Industriekonzerne IG Farben, Flick, Krupp und Thyssen, die Elektrokonzerne Siemens und AEG zu den größten Geldgebern Hitlers gehörten und der Machtübernahme der Nazis mit ihrem Geld den Weg ebneten. Die Naziführung revanchierte sich durch die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen, Abschaffung von Arbeiterrechten, der Vergabe großer Aufträge und mit der Bereitstellung eines schier endlosen Heeres von Zwangsarbeitern. Doch über diese Verbindung wird beim Gedenken an die NS-Verbrechen regelmäßig der Mantel des Schweigens gelegt.
Gerhard Schröder hielt im letzten Jahr die Eröffnungsrede bei der Kunstausstellung "Flick Collection". Die Bilder waren vom Enkel des Großindustriellen Friedrich Flick zur Verfügung gestellt worden. Seine Bilder-Sammlung hat er aus dem geerbten Vermögen des einstigen NS-Rüstungsunternehmers erworben. Friedrich Flick hatte zehntausende Zwangsarbeiter beschäftigt und war 1945 als Kriegsverbrecher verurteilt worden.

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SPÖ verbürgerlicht, FPÖ gewinnt

Teil 9 der Artikelserie: Geschichte der österreichischen Arbeiter*innenbewegung
Oliver Giel

Spätestens seit den 1990er Jahren hat die einst starke Arbeiter*innnenbewegung in Österreich keine Partei mehr, während die extreme Rechte mit der FPÖ von 5-6% auf über 25% explodierte. Der Aufstieg der FPÖ hängt eng mit der Verbürgerlichung der SPÖ zusammen. SPÖ und ÖGB waren stets tief in der herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung verhaftet. Das bedeutete, “das bestmögliche” für die Arbeiter*innen zu erreichen, sich aber im Zweifelsfall auf die Seite von Staat, Regierung und Unternehmen zu stellen. Diese Anpassung an die kapitalistischen Notwendigkeiten bekam Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität.

Die SPÖ “verbürgerlichte”. Sie wurde aus einer Partei der Arbeiter*innen, die durch Reformen den Kapitalismus überwinden wollte - oder zu wollen vorgab - zu einer bürgerlichen Partei, die den Staat „besser“ verwalten wollte. Das lag im wirtschaftlichen und politischen Rahmen: Profitables Wirtschaften wurde schwieriger, die Durchsetzung neoliberaler Politik, die dem Kapital neue Investitionsmöglichkeiten erschloss, wurde nötig. Eine SPÖ, die nicht mit den Grundsätzen der Konkurrenz und Profitlogik brechen will, muss sich zwangsläufig diesen Sachzwängen beugen. Hinzu kam der Zusammenbruch des Stalinismus 1988-94 und damit das Wegfallen einer Systemkonkurrenz.

Von 700.000 Mitgliedern (1970er) auf knappe 100.000 

Die Verbürgerlichung umfasste alle sozialdemokratischen Parteien, verkörpert durch Schröder in Deutschland, Blair in Britannien, Vranitzky in Österreich, unter dem aus der “Sozialistischen Partei” die “Sozialdemokratische Partei” wurde. Gerade in Österreich aber wurde diese Entwicklung durch die in Jahrzehnten der “Sozialpartnerschaft” passiv gehaltene Basis noch befördert, ohne, dass es zu größeren Auseinandersetzungen kam. Eine der wenigen Ausnahmen war Opposition aus den Reihen der SPÖ-Jugendorganisation SJ, unter anderem gegen den Beitritt zum kapitalistischen Großprojekt EU. Federführend dabei Aktivist*innen die - nachdem sie wegen ihrer sozialistischen Opposition ausgeschlossen worden waren - später die SLP, heute ISA gründeten.

Die SPÖ betrieb Politik gegen die Arbeiter*innen und so verließen diese sie zu hunderttausenden. Es fehlt an Jugendlichen, an Aktiven, an Leben in der SPÖ, Frauen- und Umweltbewegung gingen an der SPÖ vorbei. Die Passivität, auch der Gewerkschaften, die sich immer noch an die inzwischen bürgerliche SPÖ ketten, bedeutete, dass Opposition gegen Sozialabbau und Privatisierungen keinen organisatorischen Ausdruck fand. 

Die FPÖ wird stärkste rechtsextreme Partei Europas

Mit der Privatisierungswelle ab den 1980ern und den Sparpaketen der 1990er Jahre wurde die SPÖ eine Partei wie jede andere. 1986 war Haider an die Spitze der FPÖ gelangt. Der nationalistische Flügel, der seit Gründung integraler Bestandteil der FPÖ war, war weiter führend. Aber unter Haider konnte sich die FPÖ das Image aufbauen, eine neue Partei für „uns’re Leut“ zu sein. Zwar war die FPÖ (ursprünglich als erste für einen EU-Beitritt) damals die Speerspitze des Neoliberalismus in Österreich, konnte aber gleichzeitig ihre Politik als einen Angriff auf den „schwarz-roten Filz“ in Staat, Verwaltung und Verstaatlichter verkaufen. Zentrales Element der FPÖ war von jeher Rassismus. Der jahrzehntelange Nationalismus von SPÖ und ÖGB, die Verbesserungen für die „eigenen“ Leute erreichen wollten und sich dabei auch auf rassistische Gesetze stützen, legte dafür eine Basis. 

Was seit Jahrzehnten fehlt, ist eine echte Arbeiter*innenpartei. Die SPÖ ist es längst nicht mehr und alle Versuche, sie zurückzugewinnen sind kläglich gescheitert, die FPÖ war nie eine. Das von der SPÖ hinterlassene Vakuum konnte teilweise die FPÖ mit ihrer pseudo-sozialen Rhetorik füllen. In den 1980ern entstanden mit Anti-AKW und Öko-Bewegung die Alternativen Listen Österreich und später die Grünen. Eine neue Partei für Arbeiter*innen waren sie nicht, sondern sind schnell nach rechts gegangen. Heute steht die Arbeiter*innenklasse vor einer ähnlichen Aufgabe wie an ihren Anfängen: Eine eigene Organisation, unabhängig von Staat und Kapital, die alle vertritt, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Nationalität aufzubauen, eine Organisation, die auf Grundlage eines sozialistischen Programms einen kompromisslosen Kurs einzig für die Interessen der Arbeiter*innenschaft fährt. 

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Frauen in der österreichischen Arbeiter*innenbewegung

Teil 8 der Artikelserie: Geschichte der österreichischen Arbeiter*innenbewegung
Karin Wottawa und Sebastian Kugler

Frauen waren immer Teil der Arbeiter*innenbewegung, auch wenn kleinbürgerliche und reformistische Kräfte stets versuchten, sie zurückzudrängen. Das begann bei der Debatte um Frauenarbeit im 19. Jahrhundert. Die männlich dominierte Führung der Arbeiter*innenbewegung trug das bürgerliche Familienideal der Frau mit, deren Welt aus Heim und Herd besteht, und richtete die Organisationen auf männliche Industriearbeiter aus. Frauen wurden mehr als Lohndrückerinnen gesehen denn als Mitkämpferinnen. Nichtsdestotrotz forderten sie nicht nur Bildung, Wahlrecht und Arbeit, sondern kämpften auch gegen ihre spezifische Unterdrückung. Bei einer Demonstration für Frauenrechte am 19.3.1911 wurde die Abschaffung des §144, der Abtreibung unter Gefängnisstrafe stellte, gefordert. Diese Fragen betrachtete die sozialdemokratische Führung jedoch höchstens als Beiwerk - unter “Einheit” der Klasse wurde verstanden, dass Frauen ihre Forderungen im Zweifelsfall hintanstellen sollen, anstatt gemeinsam gegen jede Unterdrückung zu kämpfen - so auch bei der Wahlrechtsfrage. Die Übernahme bürgerlicher Ideologie in Geschlechterfragen wurde zur zentralen Stütze des Reformismus - kein Wunder, dass die Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg die gegen Krieg und Hunger revoltierenden Frauen vor allem als Bedrohung sah, während in Russland die Bolschewiki sie als revolutionäres Potential wahrnahmen.

Alles Einzelkämpferinnen?

Die reformistische Dominanz ist die Basis dafür, dass ihre Geschichte Frauen in dieser Zeit vor allem als isolierte Einzelkämpfer*innen kennt - von Amalie Seidel und Adelheid Popp, die 1893 den ersten Frauenstreik von 700 Fabrikarbeiterinnen organisierten, der nach drei Wochen eine Arbeitszeitverkürzung von 13 auf 10 Stunden pro Tag gewann; bis zu Anna Boschek und Käthe Leichter, die in der Zwischenkriegszeit als Gewerkschafterinnen und Antifaschistinnen gegen das fatale Zögern der Führung ankämpften. Die kleine KPÖ hatte zwar mit Elfriede Friedländer eine ausgewiesene Revolutionärin als erstes Mitglied, die mit “Sexualethik des Kommunismus” ein wichtiges Werk des sozialistischen Feminismus verfasste - sie war jedoch später unter dem Namen Ruth Fischer in Deutschland stets Anfeindungen ausgesetzt, als Frau, die es wagte, Männer in den eigenen Reihen, besonders Stalin zu kritisieren. Der Stalinismus stellte sich ebenso gegen Frauen wie der Reformismus. Das erkannten Kommunistinnen wie Isa Strasser und Raissa Adler. Sie waren mit Trotzki in engem Kontakt und unterstützten die “Linke Opposition”. Während diese in den werktätigen Frauen eine zentrale Kraft der Revolution sah, fand sich im Programm der österreichischen Linksopposition KPÖ(O) kein einziger Punkt zur Frauenbefreiung.

Reformismus als gläserne Decke

Nach dem Krieg hat sich all das nur bedingt geändert. Die ausgewiesene Linke Hilde Krones wurde in der SPÖ auch mit Sexismus in den Selbstmord getrieben, sie hatte “eine Ehe zerstört”. Die Dominanz des Reformismus und das Ausbremsen von radikalen Forderungen blieb System. So kämpfte die Sozialdemokratin Johanna Dohnal mit dem Rückenwind der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den 1970ern für die Legalisierung von Abtreibung. Dohnal meinte “Aus taktischen Gründen leise zu treten, hat sich noch immer als Fehler erwiesen” - tat aber letztlich genau das. In der SPÖ wurden ihre politischen Forderungen und Einstellungen mitunter nur geduldet und waren zu radikal, Dohnal organisierte dennoch keinen organisierten und offenen Kampf gegen den Reformismus in der Partei. Weil die SPÖ jedoch weder ÖVP noch Kirche auf die Füße treten wollte, blieb es bei der Fristen”lösung”, die Abtreibung nicht legal, sondern nur “straffrei” macht und Frauen nur bedingt Abtreibungen ermöglicht, weil sie nach wie vor selbst bezahlt werden müssen und nicht jede Frau Zugang hat - es gibt nach wie vor keine Abtreibung auf Krankenschein, im Gegenteil steht nun die Fristenlösung immer stärker unter Beschuss.

Es reicht also nicht, auf Reformen zu hoffen, die jederzeit wieder zurückgenommen werden können. Reformismus bremst und schadet. So wie der Kampf gegen Frauenunterdrückung nur mit einer revolutionären Perspektive konsequent geführt werden kann, muss die Arbeiter*innenbewegung den Kampf für eine revolutionäre Veränderung auf dem konsequenten Kampf gegen Frauen- und jegliche spezifische Unterdrückung aufbauen.

 

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„Wir san Wir“ – österreichischer Patriotismus zum Nationalfeiertag

Albert Kropf

Am 26. Oktober ist wieder Nationalfeiertag. Dazu werden Gemeindebauten, Schulen und öffentliche Gebäude rot-weiß-rot beflaggt, am Wiener Heldenplatz gibt es eine Leistungsschau des Bundesheers. Da können Kinder Krieg spielen, in Panzer klettern, Soldaten und Kriegsgerät bewundern. Sowas passiert natürlich nicht nur bei uns, überall sehen wir eine zunehmende nationalistische Aufladung der Gesellschaft.

Konjunkturen des Nationalismus

In den 1990er Jahren erreichte der Neoliberalismus seinen ideologischen Höhepunkt. In Europa wurde versucht, die jeweiligen Nationalismen durch einen europäischen Nationalismus zu ersetzen bzw. zumindest zu erweitern. „Unser Haus Europa“ war das Projekt der Liberalen, der Sozialdemokratie und vieler Grüner. Für zahlreiche Menschen hat sich aber schnell gezeigt, dass auch der EU-Kapitalismus außer schönen Worten für sie wenig zu bieten hatte. Mit der Krise 2008 hatte das EU-Projekt schon deutliche Risse bekommen. Die EU-Verfassung wurde sang- und klanglos über Bord geworfen. Heute kräht kein Hahn (auch nicht der Johannes) mehr danach. War die Sozialdemokratie auf der Welle der EU-Euphorie mitgeschwommen, ist sie in dieser Situation mit ihr abgesoffen. Nicht zu Unrecht wurde sie von vielen Menschen verantwortlich für das neoliberale Chaos gemacht und in den meisten Staaten abgewählt. Mangels einer internationalistischen, echten Alternative zur Kürzungspolitik profitierten davon vor allem Parteien wie die FPÖ, die ihren alten Deutschnationalismus in der Schmuddelkiste verstaute und sich als “soziale Heimatpartei” präsentierte. Große Teile ihres Programms, nicht nur in Asylfragen, wurden immer mehr zum politischen Standard - die Krise der neoliberalen Globalisierung machte für die Herrschenden eine neokonservative und mit ihr eine nationalistische Wende notwendig. Begleitet wird diese Rückkehr zum Nationalstaat mit zunehmendem Nationalismus an allen Ecken und Enden.

“Wir” sitzen nicht im selben Boot

Dieselben Prozesse führten auch zur Wiederentdeckung des (National-)Staats auch in der bürgerlichen Wirtschaftstheorie. Der vorher im Neoliberalismus verdammte Staat wird so zur eierlegenden Wollmilchsau zur Sicherung der Profite der Unternehmen.

Von Wirtschafts- (2008) über Corona- (2020) bis zur jetzigen Energiekrise wurden Milliarden an Wirtschaftsförderungen in die Kassen der Unternehmen und Konzerne gespült. Der neue starke Staat wurde von vielen Gewerkschaften und manche Linken begrüßt. Dabei ist daran alleine überhaupt nichts fortschrittlich. Das Kapital benötigt in der Krise einen auf allen Ebenen gestärkten Staat: Nach außen, um die eigenen imperialistischen Interessen (für Österreich besonders am Balkan) zur Not militärisch durchzusetzen - daher die Milliarden für Aufrüstung; und nach innen, um durch Subventionierungen die Profite hoch zu halten (nichts anderes ist etwa die “Strompreisbremse”) und den für die Profitmacherei notwendigen “sozialen Frieden” sicherzustellen. Dieser wird vor allem beschworen, wenn durch Kürzungen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich der Lebensstandard von Millionen zerstört werden soll, um das an die Reichen verteilte Geld wieder rein zu holen. Um aber die Gefahr von Protesten zu verringern, kommt der Nationalismus ins Spiel. Ein großes “Wir” als vermeintliche staatliche Gemeinschaft wird heraufbeschworen. An nationale Einheit wird appelliert, wo die herrschende Politik unwidersprochen bleiben soll. „Die Österreicher*innen“ sind aber nicht gleich von den vielen Krisen betroffen. Wer vermögend ist, kann ganz anders auf die Krisen reagieren als wir, die arbeiten müssen. Dieses österreichische „wir“ gibt also nicht - schon alleine deswegen, weil ein immer größerer Teil derer, die hier unter den Krisen leiden, vom Staat nicht als “Österreicher*innen” anerkannt werden und keine demokratischen Rechte haben.  All das zu verschleiern und von der sozialen Ungerechtigkeit abzulenken, ist die Aufgabe des Nationalismus.

 

Infobox:

Der österreichische Nationalfeiertag wurde nach dem 2. Weltkrieg eingeführt, allerdings nicht, um die Befreiung vom Faschismus zu feiern - das wäre der 8. Mai 1945; sondern um den Abzug des letzten Soldaten der Befreiungsmächte am 25. Oktober 1955 zu bejubeln - wegen der Optik legte man den “Tag der Fahne” auf den Tag danach. Erst 1965 wurde er zum offiziellen Nationalfeiertag. Es handelt sich also um keine Frage der “Tradition”, sondern um puren Geschichtsrevisionismus: Der “neue” kapitalistische Nationalstaat will von der Mitschuld seiner Herrschenden nichts mehr wissen.

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SPÖ am Ruder – 1 Schritt vorwärts, 2 zurück

Teil 7 der Artikelserie: Geschichte der österreichischen Arbeiter*innenbewegung
Margarita Wolf

Bis heute wird Kreiskys Politik als fortschrittlich, sozial und sogar links dargestellt. Zwar war die SPÖ damals noch eine Partei der Arbeiter*innen, doch von linker, sozialistischer Politik keine Spur. 

Die Nachkriegszeit war bis in die 60-er Jahre geprägt von einem weltweiten Wirtschaftsaufschwung. In Österreich gefördert durch die Unterstützung der USA, um den Einfluss der Sowjetunion zurückzudrängen. Gegen Ende der 60-er Jahre wurden Investitionen immer weniger lukrativ, das läutete das Ende des Aufschwungs ein. Auch Klassenkämpfe hatten zugenommen. Durch den Beginn der Wirtschaftskrise konnten sich sozialdemokratische Parteien wieder mehr behaupten, weil eine staatliche Investitionspolitik und keynesianische Maßnahmen im Interesse des Kapitals waren. Die SPÖ überzeugte 1970 erstmals die Mehrheit der Wähler*innen. Es folgte die Alleinregierung der SPÖ unter Bruno Kreisky. Aus der Regierungserklärung 1971: „Konzentrations- und Kooperationsvorgänge im Unternehmensbereich, die Weckung und Stärkung der unternehmerischen Eigeninitiative und die Förderung eines freien und geordneten Wettbewerbs sollen zu einer Modernisierung und ständigen Erneuerung wirtschaftlicher Aktivität in neue, zukunftsträchtige Bereiche führen.“ Etwas, das die ÖVP nicht konnte, ohne ihre Basis an Kleinunternehmen und Bäuer*innen zu vergrämen.

Das europäische Freihandelsabkommen von 1973 schuf die Basis für Kreiskys Erfolg. Er subventionierte im großen Stil die Privatwirtschaft, etablierte staatliche Exportgarantien für das Privatkapital und eine harte Währungspolitik zwang Unternehmen, in Modernisierung zu investieren, die Löhne wurden niedrig gehalten. Die SPÖ-Alleinregierung spielte also den besten Modernisierer des Kapitalismus.

Widersprüche, soweit das Auge reicht

Um Kreiskys Politik zu entglorifizieren, braucht es nicht viel. Die Widersprüche zwischen dem “sozialistischen” Parteiprogramm und der tatsächlichen Politik liegen auf der Hand. Folgend einige Fun-facts: Die internationale Solidarität wurde mit Füßen getreten – die Verstaatlichte Industrie setzt unter Kreisky auf Rüstungsindustrie, die u.a. Pinochet in Chile belieferte. Die Arbeitslosenrate konnte u.a. deshalb niedrig gehalten werden, weil das Ausländerbeschäftigungsgesetz eben diese aus dem Arbeitsmarkt drängte. Wer sich innerhalb der SPÖ für einen linken Kurs einsetzte, wurde isoliert. Aussöhnung mit dem Hause Habsburg, mit dem katholischen Klerus und mit alten Nazis standen auch auf der Tagesordnung. Die Duldung der ersten Kreisky-Regierung durch die FPÖ spricht Bände.

Frauen- und Arbeiter*innenbewegung ruhig halten

Mit Reformen, die wenig kosten, manifestierte die SPÖ-Regierung und die Sozialpartnerschaft ihre Stellvertretungspolitik: Fristenlösung, Familienrechtsreform, Schulreform, freier Hochschulzugang, u.v.m. wurden im Laufe der 70er Jahre umgesetzt. Reformen, die die Situation der Arbeiter*innen verbesserten, aber nicht einmal annähernd an den Festen des Kapitalismus rüttelte. Dafür besänftigten diese die aufgeflammte Frauenbewegung der 68er-Jahre und man setzte Reformen um, die schon längst überfällig waren. „Wir machen das schon für euch“ war die Devise der Gewerkschaften und der Sozialpartnerschaft, die damals als quasi Nebenregierung fungierte. Das führte zu einer Entmündigung der Arbeiter*innenklasse, die bis heute anhält.

Durch die Weltwirtschaftskrise 1974/75 und deren Auswirkungen musste die SPÖ Regierung deutlicher ihr bürgerliches Gesicht zeigen. Öffentliche Aufträge an die Privatwirtschaft wurden 1975 im Vergleich zum Jahr davor um 50% erhöht. 1980-82 stiegen die staatlichen Wirtschaftsförderungen von 8 auf 12 Milliarden Schilling. Massensteuern wurden erhöht, wobei die Ausgaben für Soziales stagnierten. Proteste blieben nicht aus: Gegen das AKW-Zwentendorf, für Frieden und gegen das erste Sparpaket, das geschnürt werden „musste“. Dieses kostete der SPÖ letztendlich auch die absolute Mehrheit bei den Wahlen 1983. Der Reformismus, verkörpert durch die SPÖ war also wieder einmal an seine Grenzen gestoßen und gehörte nun der Vergangenheit an. Die Regierung Kreisky hat erfolgreich die Einkommen und Vermögen zu Ungunsten der Arbeiter*innenklasse verschoben und hinterließ den Kapitalismus unangetastet - aber modernisiert.

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Die Rolle des Staates

Marx aktuell
Anna Hierman

Der Staat wird von den meisten als ewiges Naturgesetz angesehen. Dessen Aufgabe wird in Zeiten von Krieg und Krise wieder wichtiger. Während früher nur Linke für Verstaatlichungen eintraten, sind in Krisenzeiten auch ÖVP & Co dafür. Der Grund dafür ist nicht soziale Gerechtigkeit, sondern die Bedienung wirtschaftlicher Interessen.

Ein Beispiel ist die Re-Verstaatlichung des französischen Energiekonzerns EDF. Dieser steckt in der Krise, die Energie aber wird dringend gebraucht. Da sich der französische Staat innerhalb der Profitlogik bewegt, wird es schwierig, z.B. den Anteil erneuerbarer Energien auszubauen, da das kostenintensiv ist und somit die Profite senkt.

Nun stellt sich die Frage, was Sinn und Ursprung des Staates ist. Laut herrschender Darstellung sei der Staat durch ein Übereinkommen des Gemeinwesens entstanden. Das stimmt nicht. Die Urgesellschaften (klassenlose Gesellschaften in der Altsteinzeit) sind ohne Staat ausgekommen. Erste staatliche Konstrukte, wie das alte Ägypten entstanden erst, als gesamtgesellschaftlich mehr produziert wurde als unmittelbar verbraucht werden konnte. So entstand eine kleine Schicht Privilegierter, die ihren Wohlstand sichern wollten. Daher sorgte ein Apparat zur Verwaltung und Repression für den Erhalt der ungerechten Verhältnisse. Je nach Zeit und System unterscheidet sich der Staatsapparat im Detail, im wesentlichen erfüllt er jedoch den selben Zweck. Entscheidungen werden nicht von Wähler*innen getragen, sondern von Großkonzernen. Das erkennt man z.B. wenn bei Streiks die Polizei Streikende angreift, anstatt sie vor Schikanen der Unternehmer*innen zu schützen. Denn die Aufgabe der Staatsgewalt ist es, dem Kapital zu ermöglichen, noch mehr Kapital zu schaffen.

SPÖ & ÖGB 1945: Wiedergeburt als Kalte Krieger

Teil 6 der Artikelserie: Geschichte der österreichischen Arbeiter*innenbewegung
Albert Kropf

Seit Ende März 1945 tobt die militärisch sinnlose Schlacht um Wien. Getrieben durch den SS-Terror wird alles gegen die Rote Armee geworfen. Das ändert an der Kriegsniederlage nichts, verschafft aber Bonzen und Kriegsgewinnler*innen aus Wirtschaft und Politik Zeit, um sich und ihr Vermögen in Sicherheit zu bringen. Der Wehrmachtsbericht vom 14.4.1945: „Die Restbesatzung von Wien kämpft auf dem Westufer der Donau standhaft….“ Am gleichen Tag wird die SPÖ im Wiener Rathaus wiedergegründet, einen Tag später der überparteiliche ÖGB und kurz danach die KPÖ durch den aus Moskau eingeflogenen Johann Koplenig.

Wer ist noch da, um SPÖ und ÖGB zu gründen?

Zentrales Merkmal des Faschismus ist die physische Vernichtung der Organe der Arbeiter*innen-Bewegung. Zehntausende haben sich im Widerstand aufgerieben, wurden verschleppt oder ermordet. Einigen gelang die Flucht, sie leben verstreut und weit weg von Wien. Es sind hauptsächlich Ältere, die im April 1945 SPÖ und ÖGB gründen. Eine Schicht ehemaliger Funktionär*innen, die sich nicht verstecken oder fliehen mussten, sich mit dem Faschismus arrangiert hatten. Es sind hauptsächlich die Rechten (Renner, Schärf, Böhm etc.) in Partei und Gewerkschaft, die in den Vordergrund treten. Die Linken sind ja nicht mehr oder noch nicht da. ÖGB und SPÖ werden am Reißbrett entworfen. Die sich gerade formierende Basis, die mancherorts herrenlose Betriebe übernimmt, Nazis vertreibt und gemeinsame antifaschistische Strukturen von Sozialist*innen und Kommunist*innen aufbaut, soll vor vollendete Tatsachen gestellt werden. In der SPÖ geht es darum, den Einfluss der Linken einzudämmen. Der austromarxistische Reformismus war vor den Augen der Arbeiter*innen mit Zaudern und Zurückweichen in der Praxis spätestens im Bürgerkrieg 1934 gescheitert. Die Glaubwürdigkeit war dahin, die Partei gespalten. Wer im Widerstand kämpfte, tat das in der Regel in den Revolutionären Sozialisten, einer Abspaltung von der Sozialdemokratie, oder in der KPÖ. Doch es brauchte Zugeständnisse an die Linke, die in Widerstand und Exil weit mehr Anerkennung im Kampf gegen den Faschismus erworben hatte, als Renner, Schärf & Co. „daheim“ in der Ostmark. Die SPÖ ist daher keine direkte Fortsetzung der Sozialdemokratie der 1. Republik, sondern ein Zusammenschluss mit den Revolutionären Sozialisten. Faktisch haben aber die Rechten das Ruder fest in der Hand. Die Linke in der SPÖ setzt auf Ducken und Durchtauchen, beteiligt sich zeitweise sogar an antikommunistischer Hetze. Die Einheit der Partei wird bis heute zum Dogma, dem letztlich jede organisierte, oppositionelle Politik geopfert wird. So wird die Linke in der SPÖ zum wirkungslosen Feigenblatt.

Wie schon 1918 wird der Kapitalismus gerettet

Nach 1945 ist der Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus sehr vielen klar. Deswegen geben sich selbst bürgerliche Parteien wie ÖVP oder CDU antikapitalistisch. Beim ÖGB holt man sich neben SPÖ und KPÖ noch die ÖVP an Bord. Mittels „Sozialpartnerschaft“ soll der Kapitalismus gezähmt, nicht gestürzt, werden. Die KPÖ-Führung setzt mit überparteilichem ÖGB und ihrer Rolle bei der Republikgründung auf die stalinistische Volksfronttheorie. Eigentlich war diese „Theorie“ vom Zusammenschluss aller antifaschistischen Kräfte unter Aufgabe des eigenen sozialistischen Ziels, schon in den 1930er Jahren gescheitert. Hier drückt sich in ihr die Kontrolle der stalinistischen Bürokratie in Moskau aus, denn nach 1945 gibt es in vielen Ländern die Hoffnung und auch konkrete Ansätze für eine demokratische Gesellschaft, die Faschismus und Kapitalismus beseitigt. Aber alles ist besser, als eine unkontrollierbare, revolutionäre Entwicklung im Nachkriegseuropa, die die privilegierte Stellung der Bürokratie in der UdSSR gefährden könnte. Die Schnelligkeit, mit der das Volksfront-Bündnis von SPÖ und ÖVP beendet wird, hat die österreichischen Stalinist*innen um Koplenig, Fischer, Honner oder Fürnberg wohl überrascht. Und sobald die Situation soweit stabilisiert ist, dass mit keiner revolutionären Bewegung zu rechnen ist, lässt die Moskauer Bürokratie zu, dass die KPÖ aus Regierung und dem öffentlichen Leben geworfen wird. Der Kapitalismus ist gerettet, die Zeche zahlt einmal mehr die Arbeiter*innenklasse.

 

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Ein Programm um zu gewinnen

Der Grund, warum die Übergangsmethode stets danach ausgerichtet sein muss, die Arbeiter*innenklasse zu mobilisieren, zu aktivieren und zu organisieren ist die Analyse, dass der Kapitalismus nicht zum Besseren reformiert werden kann. Heute besitzen 252 Männer mehr Reichtum als alle Frauen und Mädchen in Afrika, Lateinamerika und der Karibik gemeinsam. Der Kapitalismus basiert darauf, dass eine Minderheit die Mittel besitzt, um andere für sich arbeiten zu lassen und daraus Profit zu ziehen. Solange diese Eigentumsverhältnisse bestehen, gibt es keine Chance, die Probleme unserer Zeit auch nur ansatzweise zu beenden. Der Kapitalismus kann dabei nur revolutionär, also durch massenhafte Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse überwunden werden. Deshalb ist das Übergangsprogramm auch nichts, das man als schlauen Vorschlag Regierung, Parteien oder Gewerkschaftsspitze übergeben kann, sondern hat immer die Aufgabe der Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse auch für eine sozialistische Systemveränderung. Genau deshalb kann ein Übergangsprogramm auch nicht am Schreibtisch entwickelt werden, sondern entsteht durch das Aufgreifen, Zusammenfassen und Weiterentwickeln von Forderungen, die aus Kämpfen und der tagtäglichen Erfahrung der Klasse entstehen. Dafür braucht es eine Organisation, die in den Kämpfen der Klasse verankert ist und dort sozialistische Ideen einbringt. Es braucht Mitglieder, die sich nicht nur an Protesten und Arbeitskämpfen beteiligen oder sie unterstützen, sondern Vorschläge machen, wie diese Kämpfe weiterentwickelt und gewonnen werden können und herausarbeiten, warum eine dauerhafte Lösung nur durch eine Überwindung des Kapitalismus möglich ist. Es braucht eine Organisation, die Erfahrungen aus unterschiedlichen Bewegungen zusammenträgt und versucht, ein gemeinsames Programm zu entwickeln und unterschiedliche Kämpfe miteinander zu verbinden. So eine Organisation beschreiben wir als revolutionäre Partei.

Streik als zentrale Kampfmethode

Ein Beispiel für unsere Anwendung der Übergangsmethode sind die Kämpfe im Gesundheits- und Sozialbereich. Wir haben als ISA analysiert, dass die Krise des Kapitalismus die Kolleg*innen im Gesundheits- und Sozialbereich besonders hart treffen wird und ihr Kampf für bessere Arbeitsbedingungen eine Vorreiterrolle für die gesamte Klasse spielen kann. Bei den bevorstehenden Lohnverhandlungen im privaten Gesundheits- und Sozialbereich haben Wiener Betriebsrät*innen die radikale aber notwendige Forderung nach 750€ mehr und einer 35-Stundenwoche ab 1.1.2023 aufgestellt. Wir unterstützen diese Forderung nicht nur, sondern betonen auch, dass es für die Durchsetzung eine Ausweitung der Bewegung braucht, die sich nicht nur mit den Bossen, sondern auch der Politik und letztlich dem ganzen System anlegt. Wir unterstützen mit der Basisinitiative „Sozial, aber nicht blöd“ konkrete Angebote, sich an der Basis zu organisieren und werfen dabei auch die Frage auf, welches Gesundheits- und Sozialsystem es eigentlich braucht: Eines, das von Beschäftigten und Patient*innen bedarfsorientiert organisiert und das voll ausfinanziert ist - was innerhalb des Kapitalismus nicht erreichbar sein wird und wofür es eine grundlegende Umwälzung braucht. Wir erklären auch, warum ein solcher Zugang der beste Ansatzpunkt ist, um auch innerhalb der Gewerkschaften einen demokratischen und kämpferischen Kurswechsel durchzusetzen und mit der Sozialpartnerschaft zu brechen. Auf Basis der Stimmung haben wir Forderungen und Aktionsvorschläge entwickelt, die passiven Unmut in aktiven Widerstand verwandeln und diesen Widerstand mit der Notwendigkeit einer Systemalternative verbinden. Natürlich kann auch das beste Programm und die beste Methode Erfahrungen der Klasse nicht ersetzen - Bewusstsein entwickelt sich vor allem durch den gemeinsamen Kampf für Interessen. Aber eine Organisation, die unter der Anwendung der Übergangsmethode in diese Kämpfe eingreift, kann eine enorm wichtige Rolle dabei spielen, nicht nur das Bewusstsein schneller weiterzuentwickeln, sondern auch Kämpfe unmittelbar und dauerhaft zu gewinnen. Wenn auch du nicht mehr nur zuschauen willst und mit der “Übergangsmethode” die Welt verändern willst - mach mit

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