Geschichte und politische Theorie

Pariser Kommune 1871 - Den Himmel stürmen

Nicolas Croes, LSP/PSL (ISA in Belgien)

Vor 150 Jahren versuchte ein Arbeiter*innenaufstand in Paris eine neue Gesellschaftsform aufzubauen, die als Kommune bekannt wurde – eine Anspielung auf die revolutionäre Regierung von Paris, die in den frühen Tagen der Französischen Revolution von 1789 bestanden hatte. In den 72 Tagen ihres Bestehens, vom 18. März bis zum 28. Mai 1871, schockierte die Pariser Kommune die herrschenden Klassen in ganz Europa – und inspiriert Revolutionär*innen bis heute.

1870 lebten etwa 65 % der französischen Bevölkerung (38 Millionen Menschen) auf dem Lande. Von den zwei Millionen Einwohner*innen von Paris waren etwa 70% in Handel und Industrie beschäftigt. Die wachsende Arbeiter*innenbewegung stellte zunehmend offensive Forderungen. Unter dem Druck der Kämpfe wurde den Arbeiter*innen durch die Aufhebung des „Koalitionsverbots“, durch das die Gründung von Gewerkschaften und Verbänden illegal gewesen war ein eingeschränktes Streikrecht zugestanden. Dies geschah 1864, im selben Jahr, in dem die Internationale Arbeiterassoziation gegründet wurde, besser bekannt als die Erste Internationale. Ihre französische Sektion wurde im Jahr 1868 gegründet. Die Zugeständnisse des Zweiten Französischen Kaiserreichs (1852-1870) reichten den Arbeiter*innen jedoch nicht aus.

Neben der Bedrohung durch die aufstrebende Arbeiter*innenklasse gab es weitere ernste politische Probleme in Frankreich. Um davon abzulenken, betrieb der Kaiser, Napoleon III., eine risikoreiche Außenpolitik. Am 19. Juli 1870 erklärte er Preußen den Krieg. Dieser Krieg entwickelte sich zu einem völligen Desaster. Eineinhalb Monate später, am 2. September, kapitulierte der Kaiser in der Stadt Sedan. Unter dem Druck der Massen und der Nationalgarde, die den Bourbonenpalast stürmte und den Sturz des Kaisers forderten, wurde am 4. September eine französische Republik ausgerufen. Nach der Kapitulation von Sedan fielen die preußische Armee und ihre Verbündeten in Nordfrankreich ein und belagerten ab dem 18. September Paris.

Bedingungen für die Revolution reifen heran

Die Nationalgarde sollte bei den Ereignissen um die Kommune eine führende Rolle spielen. Ursprünglich war sie eine bürgerliche Miliz. Als sie während des Krieges mit Preußen vergrößert wurde veränderte sich ihre Zusammensetzung, sie wurde zu einer Volksmiliz. Am 2. September 1870 beschloss die Miliz, die Offiziere, Unteroffiziere und Korporale der Bataillone der Seine-Nationalgarde abzusetzen und sich selbst Neue zu wählen. Am 4. September wurde das Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit eingeführt. Zeitungen, Vereine und verschiedene Organisationen blühten auf. Die meisten von ihnen betonten die führende Rolle der Nationalgarde.

Die neue französische Regierung hatte bald mehr Angst vor der bewaffneten Bevölkerung als vor den ausländischen Truppen. Am 28. Januar 1871 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. In Artikel 7 des Waffenstillstandsabkommens hieß es: „Die Nationalgarde behält ihre Waffen; sie ist mit der Bewachung von Paris und der Aufrechterhaltung der Ordnung beauftragt.“ Bismarck, der starke Mann Preußens, warnte die französische Regierung vor den Gefahren dieser Bestimmung. Es dauerte nicht lange, bis sich die Feinde von gestern zusammen schlossen, um ihre Klasseninteressen zu verteidigen.

Die am 8. Februar gewählte Nationalversammlung hatte eine royalistische Mehrheit. Sie beschloss, in Versailles zu tagen und nicht im bevölkerungsreichen und gefährlichen Paris. Der ehemalige Innenminister Adolphe Thiers wurde zum Chef der Exekutive ernannt.

Am 24. Februar 1871 versammelten sich rund 2000 Delegierte aus den 200 Bataillonen der Nationalgarde in Paris. Sie verabschiedeten einen Antrag, in dem sie erklärten, dass sich die Nationalgarde von der Regierung Adolphe Thiers nicht entwaffnen lassen würde. Die Bevölkerung des übrigen Landes wurde aufgerufen, dem Beispiel von Paris zu folgen. Später wurde ein Zentralkomitee der Nationalgarde gewählt. Es enthielt keine Delegierten der bürgerlichen Bataillone. Am 11. März beendete die Regierung unerwartet das Moratorium für die Rückzahlung von Handelsschulden und Mietrückständen, das zu Beginn des Krieges verhängt worden war. Sie schaffte auch die Zulage für die Mitglieder der Nationalgarde ab. Die Situation spitze sich drastisch zu.

Der Aufstand

Am 18. März 1871 rückten reguläre Truppen der Regierung Thiers auf Paris vor, um die Waffen der Nationalgarde zu beschlagnahmen. Doch die Soldat*innen verbrüderten sich mit der Bevölkerung. General Lecomte gab den Befehl, auf die Menge zu schießen, wurde aber von seinen eigenen Soldat*innen aufgehalten. Er wurde später zusammen mit einem anderen Gefangenen hingerichtet: General Clément-Thomas, der einer der Befehlshaber bei der blutigen Niederschlagung des Aufstandes vom Juni 1848 gewesen war. Innerhalb von 24 Stunden zogen sich die Regierung und die regulären Truppen nach Versailles zurück und überließen die Hauptstadt den Aufständischen. Dies war der Beginn der Pariser Kommune.

Das Zentralkomitee der Nationalgarde quartierte sich im Rathaus ein. Am nächsten Tag kündigte das Komitee Wahlen für einen Kommune-Rat an und begann sofort mit der Einführung sozialer Maßnahmen: Die Besoldung der Nationalgarde und die Stundung der Mieten und Raten wurden wieder eingeführt.

Die Wahlen für den Kommune-Rat fanden am 26. März 1871 statt. Mehr als 230.000 Wähler*innen nahmen daran teil. Die Befürworter*innen der Kommune gewannen mit überwältigender Mehrheit. Am 28. März proklamierten die 90 gewählten Vertreter*innen auf dem Platz vor dem Rathaus inmitten einer Menschenmenge von etwa 200.000 Personen die Kommune.

Unter den vielen Erfolgen der Kommune waren unter anderem:

  • die Trennung von Kirche und Staat;
  • Maßnahmen für die Bildung und Erziehung des Volkes: freier und verpflichtender weltlicher Unterricht, auch für Mädchen;
  • die Möglichkeit der Absetzung der gewählten Vertreter*innen: „Die Mitglieder des Gemeinderats, die unter der ständigen Aufsicht und Kontrolle des Volkes stehen, können abgesetzt werden und müssen sich für ihre Handlungen verantworten.“
  • Die Ersetzung der Armee durch die Nationalgarde, d.h. durch die bewaffnete Bevölkerung;
  • soziale Maßnahmen zum Schutz von Mieter*innen, Arbeiter*innen, Arbeitslosen, Obdachlosen, … ;
  • die Übergabe von Betrieben, die von ihren Eigentümer*innen aufgegeben wurden, an Arbeiter*innen und an Vereinigungen von Produzent*innen;
  • die Gleichheit zwischen ehelichen und unehelichen Kindern.

Paris wurde erneut belagert, diesmal von der französischen Armee. Am 21. Mai begann die „Blutige Woche“: Die Truppen von Versailles marschierten in Paris ein, die Repression war grauenhaft und gab eine Vorstellung vom Hass und der Angst der herrschenden Klasse vor dem Keim eines Arbeiter*innenstaates. Zwischen 20.000 und 35.000 Kommunard*innen – oder Menschen, die man dafür hielt – wurden hingerichtet, darunter viele Frauen und Kinder. In den Jahren 1871 und 1872 verhängten Militärgerichte mehr als 50.000 Urteile, darunter mehrere Todesurteile, lebenslängliche Zwangsarbeit und Deportationen in Gefängnisse in abgelegenen Gegenden.

Ehrung der Kommune durch Fortsetzung des Kampfes

Nach den Erfahrungen der Kommune nahmen Marx und Engels eine Änderung an ihrem bekannten Manifest der Kommunistischen Partei vor. Sie argumentierten, dass der bürgerliche Staat zerschlagen werden muss, um eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen; es reiche nicht aus, die Kontrolle über den bestehenden Staat zu übernehmen. Sie wiesen auch auf den Fehler hin, das Vermögen der Bank von Frankreich mit Sitz in Paris nicht zu beschlagnahmen.

„Am schwersten begreiflich ist allerdings der heilige Respekt, womit man vor den Toren der Bank von Frankreich ehrerbietig stehnblieb. Das war auch ein schwerer politischer Fehler. Die Bank in den Händen der Kommune – das war mehr wert als zehntausend Geiseln. Das bedeutete den Druck der ganzen französischen Bourgeoisie auf die Versailler Regierung im Interesse des Friedens mit der Kommune bedeutet.“ (Friedrich Engels: Einleitung zur dritten deutschen Auflage von Karl Marx’ “Bürgerkrieg in Frankreich”, 1891.)

Auch spätere Revolutionäre wie Lenin und Trotzki schenkten den Erfahrungen der Pariser Kommune vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Russischen Revolution große Aufmerksamkeit. In Lenins „Staat und Revolution“ nimmt die Kommune einen großen Raum ein.

„Die Kommune zeigt uns den Heroismus der werktätigen Massen, ihre Fähigkeit, sich zu einem festen Block zusammenzuschließen und sich aufzuopfern, sie zeigt uns aber auch gleichzeitig ihr Unvermögen, den richtigen Weg zu wählen, die Bewegung in die richtigen Bahnen zu lenken, und ihre verhängnisvolle Neigung, nach dem ersten Erfolg Halt zu machen und dem Feind so die Möglichkeit zu geben, seine Stellungen zurückzuerobern und zu festigen.“ Leo Trotzki: Die Lehren der Pariser Kommune, 1921).

Trotzki betonte, dass die Kommune jede Chance hatte, am 4. September 1870 die Macht zu ergreifen, aber in Ermangelung einer Partei, die die Lehren und Erfahrungen vergangener Revolutionen, vergangener Kämpfe und des wiederholten Verrats der bürgerlichen Demokratie zusammenführte, wurde die Initiative der Bourgeoisie überlassen. „Diese sechs Monate waren ein unwiederbringlicher Verlust. Wenn im September 1870 an der Spitze des französischen Proletariats eine straff organisierte Partei der revolutionären Aktion gestanden hätte, würde die Geschichte Frankreichs und damit die ganze Geschichte der Menschheit eine andere Richtung eingeschlagen haben.“

Am 18. März kam die Macht in Paris in die Hände der arbeitenden Massen. Dies geschah nicht als bewusster Akt: Die Feinde hatten Paris einfach verlassen. Eine kostbare Gelegenheit ging verloren, als die Regierung mit ihrer Flucht aus Paris einer Verhaftung entging.

Die Erfahrung der Pariser Kommune ist voll von Lehren für zukünftige Revolutionen. Der beste Weg, die heldenhaften Opfer der Kommunard*innen zu ehren, ist, ihren Kampf mit der gleichen Flexibilität, historischen Initiative und dem gleichen Opfergeist fortzusetzen. Diese Elemente der Pariser Kommune ließen Marx bewundernd von den Pariser*innen sprechen, die „den Himmel stürmten.“

150 Jahre - Von Rosa Luxemburg lernen

Pandemien, Klimawandel, Kriegsgefahr: Die Frage “Sozialismus oder Barbarei?” stellt sich immer dringlicher
Flo Klabacher, Sarah Moayeri, Till Ruster

Bis heute geistern die unterschiedlichsten Mythen rund um Rosa Luxemburg und ihre Ideen umher: Manche bezeichnen sie als größte Gegenspielerin Lenins, andere vereinnahmen sie als eine, streitbare, aber letztlich Sozialdemokratin, wieder andere stellen sie als sanftmütige Sozialistin dar, die im Gegensatz zu anderen Revolutionär*innen, insbesondere den russischen Bolschewiki, ein weniger “blutiges” Konzept von Sozialismus verfolgt hätte. Dabei haben viele der Kräfte, die sich heute auf Rosa Luxemburg beziehen - abgesehen davon, dass sie sich auch gegenseitig widersprechen - wenig bis nichts mit ihrem wahren Erbe und ihren Ideen und Taten als überzeugte Marxistin gemein. 

Viele, die nach ihrer Ermordung Rosa bewusst instrumentalisiert und verfälscht haben wie Stalinist*innen oder Sozialdemokrat*innen, haben das getan, um ideologisch gegen die Verbreitung eines revolutionären Marxismus vorzugehen. Heute dient die kommerzielle Verbreitung ihrer “Briefe aus dem Gefängnis” mittlerweile nicht selten einer romantischen Verklärung und lenkt von ihren politischen Überzeugungen, ihrem unermüdlichen Kampf gegen Kapitalismus, Imperialismus und Krieg und ihrer kompromisslosen Verteidigung marxistischer Grundsätze gegen revisionistische und reformistische Verwässerungen ab. 

Als Internationalistin sah Rosa immer die Notwendigkeit einer revolutionären Erhebung der globalen Arbeiter*innenklasse zur Überwindung des kapitalistischen Systems, eine Notwendigkeit, die heute angesichts der tiefen Wirtschaftskrise und des offensichtlichen Versagens der Herrschenden, mit dieser Krise umzugehen, aktueller ist denn je. 

Vor 150 Jahren wurde Rosa Luxemburg (Rozalia Luxenburg) im heutigen Polen als Tochter eines jüdischen Holzhändlers geboren. Schon früh wurde die junge Rosa politisch aktiv, mit 16 Jahren schloss sie sich dem revolutionären Zirkel “Proletariat” an und begann ihre Mitschüler*innen und Studierende zu agitieren. Ab dieser Zeit begann ihre lebenslange Aktivität für die Sache der Arbeiter*innenklasse. Sie wurde Teil der polnischen und deutschen Sozialdemokratie und baute als eine der wichtigsten Figuren den linken Flügel mit auf. Sie kämpfte innerhalb der 2. Internationale für einen revolutionären Kurs und gegen den Versuch, sich darauf zu beschränken den Kapitalismus durch den parlamentarischen Weg und kleine Reformen zu “verbessern”. Und sie argumentierte immer wieder gegenüber den verknöcherten sozialdemokratischen Führungen, wie die Arbeiter*innenmassen selbst früher oder später in Aktion treten würden und dafür eine revolutionäre Führung bräuchten. 

Immer wieder wurde Rosa aufgrund von “Majestätsbeleidigungen” und ihrer öffentlichen Agitation gegen den deutschen Imperialismus und den drohenden 1. Weltkrieg verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nicht nur die herrschenden Klassen fürchteten die “Rote Rosa” und ihre Genoss*innen, sondern auch jene führenden Sozialdemokrat*innen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr mit der Bourgeoisie anfreundeten und sozialistische Prinzipien zugunsten von Privilegien und Macht über Bord warfen. Als eine der wichtigsten Anführer*innen der deutschen Novemberrevolution 1918/19 kämpfte Rosa kurz vor ihrer Ermordung ein letztes Mal gemeinsam mit Karl Liebknecht und anderen Kämpfer*innen des Spartakusbundes und später der KPD für das, was sie in Russland gesehen hatte: Die erfolgreiche Machtergreifung der Arbeiter*innenklasse durch Arbeiter*innen- und Soldatenräte, die Enteignung des Grund und Bodens, der Banken und der Industrie durch die Räterepublik und die ersten Schritte im Aufbau einer sozialistischen Demokratie.

Gegen reformistische Anpassung und für die revolutionäre Tat

Rosa Luxemburgs Ideen haben im 21. Jahrhundert nichts an Aktualität eingebüßt. Mit der sich zuspitzenden Krise des kapitalistischen Systems wirken viele ihrer maßgebenden Schriften wie zugeschnitten für unserer Zeit. Rosas Wirken als Revolutionärin zeichnete sich stets durch revolutionäre Klarheit und ein tiefes Vertrauen in die Arbeiter*innenklasse aus. Der Revisionismusstreit innerhalb der Sozialdemokratie bringt das klar zum Ausdruck. Rosa argumentierte scharf gegen Eduard Bernstein und andere, die sich angesichts des ökonomischen Booms und der parlamentarischen Erfolge der Sozialdemokratie immer mehr vom Ziel einer revolutionären Umwälzung der Gesellschaft entfernten und argumentierten, der Kapitalismus könne reformiert werden, bis der Sozialismus an der Tagesordnung stünde.

Im Gegensatz dazu zeigte Rosa einen Weg auf, der für revolutionäre Sozialist*innen heute noch zentral ist: Die Verbindung vom Kampf um jede Verbesserung im Interesse der Arbeiter*innenklasse mit dem Ziel einer sozialistischen Revolution. Für sie ging es darum, den Kampf um Reformen nicht als primäres Ziel an sich, sondern v.a. als Mittel zum Zweck der endgültigen Befreiung der Arbeiter*innenklasse durch die Überwindung des Kapitalismus zu sehen. Heute gibt nur sehr beschränkt Spielraum für tiefgreifende Reformen innerhalb des kapitalistischen Rahmens, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen merklich verbessern könnten. Die Corona- und Wirtschaftskrise widerlegt alle reformistischen Illusionen in einen “sozialeren” Kapitalismus. Dennoch haben alle größeren linken Formationen international in den vergangenen Jahren darin versagt, eine Systemalternative anzubieten und sind letztlich dabei stehengeblieben, reformistische Minimalforderungen aufzustellen - ohne diese aber zu erreichen, eben weil der Blick und Kampf ums große Ganze fehlt. 

Rosa erklärt, warum der Kapitalismus aufgrund seines Wesens, aufgrund des Privateigentums an Produktionsmitteln immer wieder Krisen hervorbringen wird. Sie beschreibt den Kampf um Reformen als “Erziehungsmittel zur proletarischen Revolution”; wenn die Arbeiter*innenklasse sich zur Wehr setzt und Zugeständnisse erkämpft, steigt das Verständnis für Klassengegensätze, die Rolle des Staates und v.a. das Selbstbewusstsein in die eigene Kampfkraft.

Praktisch drückte sich dieser Zugang zu Reform und Revolution nicht nur in ihrer Ablehnung bezüglich der Beteiligung von Sozialist*innen an bürgerlichen Regierungen, sondern auch in ihrer Haltung in der Massenstreikdebatte aus. Rosa erkannte sehr früh den schädlichen Charakter des bürokratischen Gewerkschafts- und Parteiapparats. Die Gewerkschaftsführung und führende Sozialdemokrat*innen ignorierten die Bedeutung der Spontaneität der Arbeiter*innenmassen. Sie sahen Streiks als geplante und von den Führungen der Arbeiter*innenorganisationen choreographierte Aktionen, die taktisch zur Anwendung kommen konnten. Aber als zentrales Mittel der Arbeiter*innenbewegung, das sich von unten entwickeln würde, lehnten sie den Massenstreik ab und versuchten sogar immer wieder, die Debatten darum innerhalb der eigenen Reihen abzuwürgen und zu verbieten. Inspiriert von ihren Eindrücken in der Russischen Revolution 1905 und besorgt über die Trägheit der Gewerkschaftsfunktionär*innen und sozialdemokratischen Führungen verteidigte Rosa das Mittel des Massenstreiks immer wieder, sei es im Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht oder später gegen den Krieg. 

Rosa argumentierte, dass die Orientierung der Sozialdemokratie auf Wahlen, die Beschränkung auf ökonomische Kämpfe unter der Führung der Gewerkschaften und die künstliche Trennung zwischen politischen und ökonomischen Kämpfen zum Scheitern verurteilt war. Ihrer Auffassung nach werden in einer revolutionären Massenaktion “politischer und ökonomischer Kampf eins” - dieses dialektische Verhältnis ist heute sehr eindeutig. 

Die Massenbewegungen in den verschiedensten Ländern, die 2019 und 2020 ausgebrochen sind, waren nicht nur von der enormen Spontaneität und Furchtlosigkeit der Massen geprägt, sondern auch von der Untrennbarkeit von politischen und ökonomischen Forderungen. Rosa schrieb, dass “wo jede Form und jede Äußerung der Arbeiterbewegung verboten, wo der einfachste Streik ein politisches Verbrechen ist, muß auch logischerweise jeder ökonomische Kampf zum politischen werden.” Auf Länder wie den Iran, China, Belarus,  oder Russland, aber auch Bewegungen wie BLM heute trifft diese Analyse haargenau zu, aber auch in Frankreich oder Chile, wo ökonomische Kämpfe schnell politische wurden und werden. Wir haben in der Corona-Pandemie gesehen, wie ökonomische Kämpfe in der Krise immer stärker auch einen politischen Charakter annehmen müssen und andersherum. 

Rosa prognostizierte, dass mit der Entwicklung von größeren politischen Kämpfen auch Arbeitskämpfe auf der Tagesordnung stehen und damit nicht auf den “Befehl” der Gewerkschaftsführungen warten würden. Viele der großen Streikbewegungen der vergangenen Jahre haben trotz der bremsenden Rolle der Gewerkschaftsbürokratie stattgefunden, nicht zuletzt in Österreich, wo die Streikbewegung im Gesundheits- und Sozialbereich maßgeblich von unten organisiert wurde, während die Gewerkschaftsführung den Ausbruch der Pandemie genutzt hat, um die Bewegung abzuwürgen. 

Wir dürfen nicht unterschätzen, welche bremsende Wirkung die Gewerkschaftbürokratie, genauso wie eine fehlende revolutionäre Führung, heute hat. Luxemburg tat das bei all ihrer Betonung der Spontaneität der Massen auch nicht, sie sah die Notwendigkeit einer organisierten Führung der Massen: “Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend.” Sie sah weder die Gewerkschaften noch Arbeiter*innenparteien als Selbstzweck, aber erkannte schon damals, was heute umso mehr zutage tritt: Dass ohne eine revolutionäre Partei, die die Wut und Aktivität der Masse organisieren und in Richtung einer sozialistischen Alternative lenken kann, jede Spontaneität der Massen früher oder später in Niederlagen mündet. 

Eine der wichtigsten Schlachten gegen die Gefahren des Reformismus führte Luxemburg gegen den drohenden Krieg. Sie wurde nicht müde zu erklären, wie das kapitalistische System von Natur aus Spannungen zwischen den herrschenden Klassen und Kriege zwischen den Nationen erzeugt. Genauso wie die Bolschewiki hielt sie an einer standhaften Opposition gegen den imperialistischen Krieg fest, während die reformistischen Kräfte trotz der formalen Übereinkunft zwischen den Parteien der 2. Internationale gegen den Krieg unter dem massiven Druck zur Bewilligung der Kriegskredite kapitulierten. Nach einem jahrelangen Prozess der schrittweisen Degeneration markierte das den Anfang vom schnellen Ende der 2. Internationale. Die Degeneration der Sozialdemokratie wurde sinnbildlich mit ihrer Mithilfe bei der Ermordung von Rosa und Karl vervollständigt.

Rosa in der Novemberrevolution

Mit der Befehlsverweigerung Kieler Matrosen gegen eine letzte sinnlose Schlacht im November 1918 beginnt die Deutsche Revolution. Am 9. November erreicht sie  Berlin. Rosa Luxemburg ist bis dahin in Breslau in Haft und kommt erst am nächsten Abend in der Hauptstadt an. Sie greift sofort in die Bewegung ein – auf dem programmatischen Boden der Bolschewistischen Partei, die 1917 die russische Arbeiter*innenklasse an die Macht geführt hatte. Sie fordert die Auflösung des Parlaments und aller politischen Organe des Bürgertums und die Übernahme ihrer Aufgaben durch demokratisch gewählte Arbeiter*innen- und Soldatenräte; die Enteignung des Vermögens der Reichen, aller Banken, Bergwerke & Großbetriebe durch die Räterepublik und ihre Unterstellung unter einen Zentralrat der Räte. Rosa weiß, die alten Eliten geben ihre Herrschaft nicht auf und fordert die Entwaffnung von Polizei und Offizieren und die Bewaffnung der Arbeiter*innenklasse – also ein Gewaltmonopol der entstehenden Rätedemokratie – zur Absicherung der Revolution. Und sie will die Revolution auf eine internationale Basis stellen.

Die Spitze der Sozialdemokratie (SPD) arbeitet hingegen eng mit kaiserlichen Ministern zusammen. Die Führung der USPD (Linksabspaltung der Sozialdemokratie) tritt dennoch mit ihr in eine Regierung ein und bereitet Reichtagswahlen vor, ein entscheidender Schritt zur Entmachtung der Arbeiter*innen- und Soldatenräte. Tags darauf gründen Rosa und andere den Spartakusbund auf Basis des obigen Programms neu. Statt der bis dahin lockeren Struktur innerhalb der USPD jetzt als klar abgegrenzte revolutionäre Kaderpartei. Aus ihm geht die Kommunistische Partei (KPD) hervor. Sie soll in einer revolutionären Periode fähig sein, die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse hinter ihrem Programm vereinen und diese an die Macht zu führen. Damit zieht Rosa dieselben organisatorischen Schlüsse wie Lenin 1903 – aber erst 15 Jahre später.

Reformistische Ideologie und eigene Privilegien hatten die SPD-Führung so weit vom revolutionären Marxismus entfernt, dass sie 1914 sogar der Kriegspolitik der Reichsregierung zustimmen, statt einen Massenkampf gegen den Weltkrieg zu organisieren. Rosa aber geht für ihre lautstarke Opposition und ihre Rolle in Protesten gegen Reformismus, Krieg, Monarchie und Kapitalismus mehrmals ins Gefängnis. Folglich hat sie eine ungeheure Autorität in der Arbeiter*innenklasse, als die anfängliche Kriegseuphorie verfliegt. Doch sie nutzt das noch nicht, um eine schlagkräftige Organisation aufzubauen, die ihr glänzendes revolutionäres Programm in die Tat umsetzen kann.

Als 1918 die SPD-Führung samt Bürgertum und faschistischen Freikorps die Revolution mit Waffengewalt unterdrückt, wird klar: Die Spontaneität der Massen reicht aus, um den Kampf um die Macht anzutreten – aber nicht für den Sieg. Die Bolschewiki hatten ihre Organisation 14 Jahre über Umwege, Fehler und personelle Veränderungen aufgebaut und ausdifferenziert, Genoss*innen geschult, sich als verlässliche Kämpfer*innen in der Arbeiter*innenklasse profiliert und verankert bevor die Russische Revolution losbricht. Die KPD aber gründet sich erst zwei Monate nach Beginn der Novemberrevolution und kann ihren Verlauf nicht mehr entscheidend beeinflussen. Die meisten Parteimitglieder sind entschlossen, wütend aber unerfahren in Strategie und Taktik. Sie verweigern die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung und die revolutionäre Arbeit in den reformistischen Massengewerkschaften. Rosas fordert die Nutzung dieser Arbeitsfelder für den Parteiaufbau, bleibt aber in der Minderheit. So gewinnt die KPD vorerst keine wesentlichen Teile der enttäuschten USPD-Basis und isoliert sich von vielen Arbeiter*innen. Rund um immer wieder aufflammende, aber nie generalisierte und bzw. koordinierte Aufstände werden in den folgenden Monaten tausende Revolutionär*innen ermordet – unter ihnen Rosa Luxemburg. Als die KPD später Masseneinfluss entwickelt, fehlt ihr Rosas Verständnis dafür, revolutionäre Krisen zu nutzen um die Arbeiter*innenklasse an die Macht zu führen.

Heute machen Umweltzerstörung und Wirtschaftskrise vielen Menschen klar: Der Kapitalismus bietet uns keine Zukunft, das zeigen viele neue Massenbewegungen. Was ihnen fehlt ist eine Organisation und eine Führung, die die harten Lektionen aus den Kämpfen Rosa Luxemburgs und vielen anderen vergangenen gescheiterten Revolutionen verinnerlicht haben. Diese und die lebendigen Erfahrungen aus neuen Bewegungen sind die Grundlage für ein revolutionäres Programm und eine Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus. Wir haben uns den Aufbau einer solchen Organisation mit unserer Internationale zur Aufgabe gemacht.

 Marx aktuell: Wieso war Rosa Luxemburg gegen eine polnische Nation?

Rosa Luxemburg hatte viele Feinde. Einen nahm sie sich von Anfang ihrer politischen Aktivität an vor: Den Nationalismus in der Arbeiter*innenbewegung. Die großen Mächte hatten die Spaltung entlang nationaler Linien so perfektioniert, dass sie zu einer Säule ihrer Regimes wurde. Das Habsburgische, das Deutsche und das Russische Reich hatten sich z.B. Rosas Heimat Polen aufgeteilt, aber auch innerhalb der Landesteile zündelten sie an den Konflikten zwischen der polnischen, jüdischen, ukrainischen, … Bevölkerung. Mal bevorzugten sie die Einen, dann die Anderen, um die Wut der jeweils anderen Gruppen auf diese hin- und von der herrschenden Klasse abzulenken. Das hat sich so bewährt, dass Rassismus, Nationalismus oder religiöse Spaltung bis heute zum gleichen Zweck eingesetzt wird. 

Wer also die Arbeiter*innenklasse für den revolutionären Kampf organisieren will muss eine Antwort auf die “nationale Frage” finden, daran knabbert die Bewegung bis heute.
Für Marx war klar: Für die Entwicklung der Produktivkräfte, also z.B. die Industrialisierung, ist es nötig dass sich die Bourgeoisie national organisiert. Doch mehr Industrie lässt die Arbeiter*innenklasse wachsen und schafft auch sonst die Voraussetzung für den Sozialismus. Also mag es Fälle geben in denen auch das Proletariat  für die Unabhängigkeit einer Nation kämpfen sollte. 

Luxemburg analysierte für die meisten unterdrückten Nationen ihrer Zeit das Gegenteil: Würde sich Polen wiedervereinigen, würde es sich ökonomisch von den sich schnell entwickelnden imperialen Mächten isolieren und die polnische Arbeiter*innenklasse aus den gemeinsamen Kämpfen z.B. mit den Arbeiter*innen in Russland lösen. Noch dazu bliebe die Frage unbeantwortet was mit den nationalen Bestrebungen der Ukrainer*innen, Jüd*innen… werden würde. Für sie wäre so ein Staat im Kapitalismus unmöglich und im Sozialismus überflüssig. Das leuchtet erstmal ein. Aber es geht an der Realität der Arbeiter*innen vorbei. Nationalität war (und ist oft) ein wesentlicher Bestandteil ihrer Unterdrückung durch die herrschende Klasse. Es ließ sich für sie nicht trennen, genauso wenig wie der Kampf gegen Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA vom Kampf gegen Armut. Die russischen Sozialist*innen stellten daher die Losung “volles Recht auf nationale Selbstbestimmung für alle Völker” auf. Rosa meinte so eine Losung heize unrealistische “nationale Illusionen” in der Klasse an, statt sie um (andere) politische Forderungen zu vereinen. Aber in der Russischen Revolution 1917 war diese Losung ein Schlüssel zum Sieg. Die Bolschewiki kämpften gemeinsam mit nationalen Minderheiten um ihre Rechte. Auf dieser Erfahrung luden sie sie ein, sich in der SowjetUNION zusammenzutun.

 

 

Vater Staat als Retter in der Not?

Das Comeback des starken Staates ist keineswegs Anlass zur Hoffnung auf einen sozialeren Kapitalismus.
Sebastian Kugler

„Die Neoliberalen haben ja jetzt wie nach der Finanzkrise wieder Sendepause.“ verkündete der Grüne Vizekanzler Kogler stolz im Jänner gegenüber dem ORF. Die Devise des Staates in der Krise sei: „Retten, dann überbrücken und vor allem rausinvestieren“. Zweifelsohne sehen wir aktuell eine Stärkung der Rolle des Staates in allen Gesellschaftsbereichen. Doch der neue starke Staat ist nicht der Retter vor dem Neoliberalismus. Im Gegenteil: Der Staat greift ein, um genau die wirtschaftliche Landschaft zu retten, die der Neoliberalismus geformt hat.

Die Äußerungen von ÖVP-Finanzminister Blümel sind also keineswegs verwunderlich: „Wenn jetzt einer sagt, endlich hat die ÖVP den Keynes entdeckt“, so Blümel bei seiner Budgetrede für 2021, dann antworte er: „Natürlich hat Keynes recht, aber nur kurzfristig. Langfristig hat natürlich Hayek recht“. Sozialdemokratische Blogs wie „Kontrast“ oder „Moment“ schäumten darüber, dass Blümel ihren Liebling Keynes nun mit dem Paten des Neoliberalismus Hayek versöhnen wollte. Doch tatsächlich trifft Blümel den Charakter der herrschenden Wirtschaftspolitik in Corona-Zeiten viel besser als Kogler.

Diese Politik ist nicht neu: Das „Revival des starken Staates“ analysierte „Vorwärts“ bereits vor einem Jahr (siehe „Vorwärts“-Schwerpunkt Nr.283). Es ist ein zentrales Merkmal der Austeritätspolitik, die seit der Krise 2008 herrscht, dass der Kapitalismus einen auf allen Ebenen gestärkten Staat benötigt, um die privaten Profite abzusichern. Doch die durch Corona ausgelöste Krise hat diesen Prozess enorm verstärkt.

Erstens in der Wirtschaftspolitik, um die niedrigen Profite durch Subventionen aufzufetten bzw. zu retten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Investitionsprämie, mit welcher der Staat bis zu 14% der Investitionskosten von Unternehmen trägt – die Profite dieser Investitionen gehen natürlich in private Taschen. Kein Wunder, dass die Industriellenvereinigung fordert, dass diese Maßnahme nicht wie geplant im März auslaufen, sondern permanent gemacht werden soll. Mindestens 61 Milliarden nimmt der österreichische Staat in der Corona-Krise unmittelbar in die Hand - und wöchentlich werden es mehr. Mit diesem Geld finanziert der Staat z.B. die Kurzarbeit. Diese Maßnahme soll nicht nur Jobs retten - vor allem soll sie Profite sichern. Denn der Staat übernimmt die Kosten der ausgefallenen Stunden. Ursprünglich als kurzfristige Maßnahme gedacht, wird die Kurzarbeit (in verschiedenen Formen) zu einer längerfristigen Maßnahme. Ebenso verhält es sich mit dem Umsatzersatz, bei dem der Staat den Unternehmen, die von Lockdowns betroffen sind, einen Teil des ausgefallenen Umsatzes zahlt. Bereits jetzt häufen sich die Stimmen von Seiten des großen Kapitals, sie zu beenden. Die großen Fische sehen es nicht gern, wenn die kleinen gefüttert und künstlich am Leben gehalten werden: Es sei Zeit für das große Fressen. Denn ein Ende dieser Maßnahmen würde bedeuten, dass unprofitable Unternehmen untergehen oder aufgekauft werden. Früher oder später wird dies passieren. Denn die aktuellen Maßnahmen sind extrem teuer und lassen die Staatsverschuldung explodieren. Dieser Riss zwischen Groß- und Kleinbürgertum wird politische Konsequenzen haben: ÖVP und Grüne werden ihre Basis im Kleinbürgertum enttäuschen. FPÖ, Strache und andere Rechtsextreme stehen bereits mit weit offenen Armen da. Ihre starke Präsenz auf den Demos der Corona-Leugner*innen und Skeptiker*innen ist Ausdruck der gefährlichen Dynamik, die sich im existenzgefährdeten Kleinbürgertum breitmacht.

Damit ist auch die zweite Ebene angesprochen, auf welcher der Staat Muskeln zeigt: Die Innenpolitik. Politische Stabilität ist das höchste Gut für das Kapital im Allgemeinen. Nur in einem “regierbaren” Land sind die Profite sicher. Die Einschränkungen des Versammlungsrechts, die der Staat gerade vor allem an den “wild gewordenen Kleinbürgern” (Lenin) auf den Anti-Corona-Demos einübt, werden in verstärktem Maße gegen echten Widerstand seitens Beschäftigter gegen Kürzungen und Betriebsschließungen eingesetzt werden. Bereits vorauseilend werden vor allem jene die “schlagende Hand” des Staates spüren, denen es schwer fällt, sich zu wehren. Die konsequente Weigerung der Regierung, das Arbeitslosengeld zu erhöhen - genauso wie das krampfhafte Fortsetzen von AMS-Kursen in Präsenz - ist ein Hinweis auf die verstärkte Repression, der Arbeitslose ausgesetzt sein werden. Zwangsarbeitsähnliche Maßnahmen, etwa in Verbindung mit Infrastrukturprojekten, sind durchaus im Bereich des Möglichen. Der ideologische Ausdruck dieser Entwicklungen wird eine massive Stärkung des Nationalismus sein. Appelle an den “Zusammenhalt” wirkten am Anfang der Pandemiebekämpfung noch unschuldig. Bereits im Sommer zeigte jedoch die Hetze gegen die “Heimkehrer”, wohin die Reise geht. Migrant*innen eignen sich als Virus-Sündenböcke besonders gut. Mit zunehmender politischer Instabilität wird nicht nur der rassistische Aspekt des Nationalismus stärker werden - die Repression wird all jene treffen, die durch ihren Kampf für soziale Verbesserungen die Profite bedrohen und damit zeigen, dass wir nicht “alle in einem Boot” sitzen.

Drittens ist da die Außenpolitik. Der Staat hat die Aufgabe, im weltpolitischen Hauen und Stechen für die nationalen Unternehmen die besten Marktbedingungen rauszuholen. Gerade hier ist die “alle in einem Boot”-Propaganda besonders wichtig, denn auf dem Ozean des Weltmarktes geht es in der Krise besonders stürmisch zu. Die Devise ist: die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen. Bereits seit der Krise 2008 geht der Welthandel im Vergleich zur Weltwirtschaftsleistung zurück. Die Globalisierung ist zwar nicht rückgängig zu machen, aber an die Stelle der Ideologie vom weltweiten Freihandel, von dem alle profitieren würden, treten nun die Konflikte um die Verteilung von Marktanteilen, z.B. in Form von Handelskriegen und Blockbildung. Österreich ist Teil des EU-Blocks, der sich verstärkt gegen Russland, China und die USA positioniert. Dieser Block ist jedoch selbst brüchig, wie die aktuelle Machtlosigkeit der EU-Institutionen angesichts nationaler Alleingänge zeigt. Der österreichische Staat manövriert innerhalb eines Widerspruchs: Einerseits ist da die Notwendigkeit, als kleines exportabhängiges Land Teil eines größeren Machtblocks mit sicheren Absatzmärkten zu sein. Andererseits wird ständig versucht, unmittelbare Wettbewerbsvorteile für bestimmte Kapitalfraktionen auf Kosten anderer Staaten herauszuholen - man denke etwa an die Öffnungen im Tourismus oder die “Kaufhaus Österreich”-Kampagne.

Inmitten der letzten Krise vergleichbaren Ausmaßes beschrieb der russische Revolutionär Leo Trotzki Mitte der 1930er Jahre die Politik des “starken Staats” als „Etatismus“, als „Einmischung des Staates auf der Grundlage des Privateigentums mit dem Ziel, es zu retten. Welches die Regierungsprogramme auch sein mögen, der Etatismus führt unweigerlich dazu, die Verluste des faulenden Systems von den Schultern der Starken auf die der Schwachen abzuwälzen.“ - Welche Beschreibung könnte heute zutreffender sein?

 

Was ist eigentlich was?

-  Etatismus: “Die Einmischung des Staates auf der Grundlage des Privateigentums mit dem Ziel, es zu retten.” (Leo Trotzki)

  • Große Depression: Weltwirtschaftskrise 1929-41
  • Große Rezession: Weltwirtschaftskrise 2007-2013
  • Keynesianismus: Der Ökonom Keynes argumentierte in den 1930ern, dass der Staat “antizyklisch” in den Markt eingreifen sollte: Das bedeutet etwa Rettungspakete in Krisenzeiten, um die Nachfrage anzuregen. Während einzelne Aspekte des Keynesianismus unmittelbare Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiter*innen bedeuten können, ist das Konzept keineswegs links: Es geht immer darum, das System als Ganzes zu stabilisieren. Dazu sind dem Keynesianismus auch autoritäre Regierungsformen, Krieg, Zwangsarbeit usw. recht. In der Nachkriegsära war der Keynesianismus die vorherrschende Wirtschaftspolitik. Doch dieser “strukturelle Keynesianismus” brach aufgrund seiner inneren Widersprüche 1973 mit der Ölkrise und dem Bretton Woods-Systems zusammen.
  • Laissez-faire: Eine Wirtschaftspolitik, wo sich der Staat so wenig wie möglich einmischt
  • Monetarismus: Wirtschaftspolitik, bei der der Staat v.a. über Regulierung der Geldmenge eingreift. In der Praxis der Vorläufer zum Neoliberalismus.
  • Neoliberalismus: Als Reaktion auf das Scheitern des Keynesianismus wurden die Ideen liberaler Ökonom*innen - insbesondere der Österreicher Hayek und Mises - aus der Mottenkiste geholt. “Liberal” hat hier nicht die positive, fortschrittliche Bedeutung, mit der das Wort ansonsten verbunden wird. Die “Freiheit” des (Neo-)Liberalismus ist die Freiheit des Kapitals. Um die Profitabilität wiederherzustellen, wurden ab den 1970ern dem privaten Kapital Bereiche eröffnet, die bisher staatliche Monopole waren: Es kam zu weitreichenden Privatisierungen im Gesundheits-, Bildungs- und Pensionssystem sowie der Industrie. Gleichzeitig wurde die Finanzsphäre dereguliert und aufgeblasen, um trotz stagnierender Löhne durch Kredite die Nachfrage zu stimulieren. Diese Doktrin herrschte bis 2008 vor, als ihre inneren Widersprüche in Form der Weltwirtschaftskrise ausbrachen.
  • Austerität: strenge Sparpolitik des Staates
Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Wie die Revolution von 1905 in Russland die Revolution von 1917 vorbereitete

Albert Kropf

1851 fand die erste Weltausstellung im Londoner Hydepark als “Great Exhibition” im eigens dafür gebauten “Crystal Palace” statt. Diese Konstruktion aus Stahl und Glas war an und für sich schon ein Wunder an Ingenieurskunst. Nach der Weltausstellung wurde er aus Platzgründen vom Hydepark in den Süden Londons nach Lewisham verlegt und ist dort 1936 abgebrannt. Davor wurde aber im “Crystal Palace” noch 1905 der gleichnamige Fußballverein gegründet. Der hinkt zwar in Sachen Popularität und auch Erfolg, gemessen am Anspruch alteingesessener englischer Fußballvereine, dem Bauwerk hinterher, existiert dafür aber heute noch und pendelt zwischen den oberen Spielklassen.

Aufgabe der Weltausstellung war eine industrielle Leistungsschau der Nationen, die dort in eigenen Pavillons ihre Projekte, Erfindungen und Errungenschaften vorstellten. Die Besten und Beeindruckendsten erhielten Auszeichnungen. Natürlich ging es dabei auch darum, Investor*innen aus dem In- und noch viel mehr Ausland anzulocken. Das Format “Weltausstellung” gibt es heute noch unter dem geläufigeren Titel “Expo” (=Exposition Mondiale).

Russland um die Jahrhundertwende

Wenn wir über die Oktoberrevolution, die Bolschewiki, den Stalinismus usw. reden oder schreiben, betonen wir immer die extreme Rückständigkeit Russlands im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu dieser Zeit. Wenig überraschend war das um das Jahr 1905 herum nicht besser, sondern noch schlechter.

Die Leibeigenschaft wurde formal erst 1861 abgeschafft. Formal deswegen, weil sich viele Bäuer*innen und ihre Familien freikaufen mussten und damit um die Jahrhundertwende noch nicht “fertig” und somit verschuldet waren. Es gab keine Verfassung, an die der nur durch “Gottes Gnaden” herrschende Zar gebunden gewesen wäre. Ein eigenständiges, selbstbewusstes Bürgertum konnte sich in dieser Situation der Unterordnung bzw. Verzahnung mit Adel und Großgrundbesitz nicht herausbilden, sondern trappelte im Schlepptau derer, denen der überwiegende Teil des Landes gehörte. Weit über 80% der Bevölkerung lebte in ärmlichen Verhältnissen auf dem Land als Bäuer*innen oder Landarbeiter*innen. Gewerkschaften waren verboten, von demokratischen Rechten war überhaupt keine Rede. In der Industrie herrschte ein 11,5 Stunden-Arbeitstag. Die Ochrana, die gefürchtete zaristische Geheimpolizei, war allgegenwärtig. Die Opposition wurde verfolgt, verschleppt, verbannt und ins Exil getrieben.

Schauplatzwechsel. Am 25. Mai 1896 fanden die formellen Krönungsfeierlichkeiten für Zar Nikolaus II. statt. Dazu wurde ein riesiges Fest mit Tribünen für das "einfache“ Volk geplant und organisiert. Der Besucherandrang war so groß, dass während der Feier eine Tribüne unter der Last der vielen Menschen zusammenbrach. Rund 1.000 Menschen waren unmittelbar tot, das Ausmaß des Unglücks so groß, dass es nicht ignoriert werden konnte und die Frage aufwarf, wie mit den Feierlichkeiten weiter umzugehen war. Der Zar und die Verantwortlichen sahen darin aber keinen Grund, die laufende Prozession auch nur zu unterbrechen, um die Verletzten besser zu versorgen oder die Toten bergen zu können. Alles ging weiter seinen geplanten Lauf. Für viele von uns ist das heute schwer vorstellbar. Wir sehen aber gerade auch wieder zunehmend, wie Tragödien heute von den Herrschenden benutzt werden. Die Palette reicht dabei von der Katastrophe 1989 im Hillsborough-Stadion in Sheffield, wo 96 Menschen beim Einsturz einer Tribüne ums Leben kamen. Die damalige konservative Regierung und ihre Medien versuchte durch gezielte Lügen einen Teil der britischen Arbeiter*innen-Klasse in Verruf zu bringen und ihre harte Kürzungs- und Strafpolitik zu rechtfertigen. Erst vor einigen Jahren wurden die Opfer auch offiziell rehabilitiert. Andere Beispiele sind die Flüchtlingskrise 2016 mit der Festung Europa an den EU-Außengrenzen und aktuell die “Wir zuerst” Propaganda und Hetze im Kampf um medizinische Versorgung und Impfstoff in der Corona-Krise durch das Chaos der kapitalistischen Marktwirtschaft. Und auch heute sehen wir wieder zunehmend eine Elite, ohne jegliches Unrechtsbewusstsein in ihrer Prunk- und Verschwendungssucht.

Pariser Weltausstellung

Vom 15. April bis 12. November 1900 fand die Weltausstellung in Paris auf sage und schreibe 216 Hektar statt. Um sich das besser vorstellen zu können, das entspricht der Fläche von über 300 Fußballfeldern. In diesem gigantischen Rahmen sollte das 20., von den industriellen Neuerungen geprägte, Jahrhundert eingeläutet werden. Versinnbildlicht wurde das durch die Eröffnung der Pariser Metro zur Weltausstellung. Neben anderen wurden die erste Rolltreppe und mit dem Lohner-Porsche das erste Elektro-Hybridauto präsentiert. Auch damals schon, weil durch die große Anzahl an Verbrennungsmotoren in den Städten die Luft verpestet wurde...

Die Brüder Lumiere stellten nach der Urführung und Patentierung 1895 ihren Cinematographen der Weltöffentlichkeit vor. In nur kurzer Zeit wird im Schlepptau des Kinos eine Unterhaltungs- und Informationsindustrie entstehen, die uns auch heute noch im Internetzeitalter prägt und durch die Corona-Pandemie mit boomenden Streaming-Diensten auf eine neue Stufe gehoben wurde. Gleichzeitig und parallel zur Weltausstellung fanden die 2. Olympischen Spiele der Neuzeit statt. Nach heutigen Maßstäben würde klar der besser zu vermarktende Sport im Vordergrund stehen und die Weltausstellung nebenbei mitlaufen. 1900 in Paris war das noch umgekehrt und die Sportveranstaltungen waren eher vergleichbar mit Schaukämpfen auf Jahrmärkten zur Unterhaltung.

Allerdings dürften nicht wenige der knapp 50 Millionen Besucher*innen gestaunt haben, als sie den russischen Pavillon betreten haben. Denn das, was sie dort sahen, entsprach so gar nicht dem Bild eines rückständigen Landes. Russland präsentierte dort seine Fortschritte im Bereich der Industrialisierung anhand eines Mammutprojekts – dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Die in nur drei bis vier Jahren Bauzeit (je nach Quelle) errichtete 940m lange Brücke von Krasnojarsk über den Jenissei erhielt schließlich auch eine Auszeichnung. Fast gleichzeitig mit dem Baustart 1897 wurde ein gewisser Vladimir Iljitsch Uljanow, später auch Lenin genannt, aufgrund aufrührerischer Tätigkeiten dorthin verbannt. Damals noch am Arsch der Welt wurde Krasnojarsk kurze Zeit später der sibirische Eisenbahnknotenpunkt.

Die wirkliche Attraktion aber war ein ausgestellter Eisenbahnwaggon, in dem die Reise von Moskau nach Peking “mitgefahren” werden konnte. Die Pläne gingen sogar soweit, über die Behringstraße zwischen Russland und Alaska eine Eisenbahnbrücke zu schlagen. Damit sollte der Transatlantik-Schifffahrt Konkurrenz gemacht und der Handel zwischen Europa und Amerika auf eine völlig neue Ebene gebracht werden, aber unter russischer Kontrolle. Projekte wie diese erinnern heute an die “Neue Seidenstraßen”-Politik Chinas.

Russland stellte aber auch seine neuesten Industrieprojekte vor, die in Umfang, Größe und Konzentration staunend machten. Die russische Industrie kam spät, dafür war sie modern, technisch auf hohem Stand und vergleichsweise riesig. Finanziert wurde das einerseits staatlich und anderseits über ausländisches Kapital, das gerade durch die Weltausstellung verstärkt angezogen werden sollte. An die 40% der russischen Industrie gehörte ausländischem Kapital. Zahlen aus dem Jahr 1902 zeigen, dass 38,5% der Arbeiter*innen Russlands in Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten arbeiten. Im Vergleich dazu lag der Wert in Deutschland, dem industriellen Flaggschiff Kontinentaleuropas zu diesem Zeitpunkt, bei knapp 10%. Diese Konzentration der Arbeiter*innen in Großbetrieben wird später bei den Revolutionen von 1905 und 1917 eine große Rolle spielen. Aber auch auf dem Parkett der internationalen Diplomatie trat Russland vermehrt auf. Sowohl bei der Haager Landkriegsordnung wie auch bei der Schaffung des internationalen Schiedsgerichtshof mischten russische Juristen tatkräftig mit.

Vom "Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung" zur "Theorie der Permanenten Revolution"

Diese Beispiele zeigen, dass Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ein homogenes Land war, sondern den Charakter und die Geschwindigkeit von mehreren Verschiedenen in sich trug. Einerseits das alte, zurückgebliebene noch im Feudalismus steckende Zarenreich. Andererseits das moderne, von Industriezentren und –projekte geprägte Russland. Wir haben die extreme Prunk- und Verschwendungssucht des Zaren mit seinem Hofstaat und bürgerlichen Vasall*innen. Wir haben aber auch eine Arbeiter*innen-Klasse, die obwohl sie nicht mehr als 5% der Gesamtbevölkerung ausmacht, genau wegen ihrer sehr hohen Konzentration in wenigen wirtschaftlichen und politischen Zentren eine weitaus bedeutendere Rolle spielen kann. Das macht den niedrigen Anteil, an der über die riesige Fläche des russischen Reichs verstreuten Bevölkerung wieder wett. Die Revolutionen von 1905 und 1917 werden das eindrücklich belegen.

Eine rückständige Landwirtschaft neben einer hochentwickelten Industriekultur in wenigen Zentren wird als das Gesetz der “ungleichen und kombinierten Entwicklung” von Leo Trotzki als unmittelbare Lehre aus der Revolution von 1905 beschrieben werden. Demnach sind mit dem 20. Jahrhunderts in der Industrialisierung zu spät gekommene Länder trotz ihrer Rückständigkeit in das System des sich ausbreitenden Weltkapitalismus eingebunden. Eine gleichmäßige, die größten Bevölkerungs- und Wirtschaftsteile einbeziehende Entwicklung ist bis auf Ausnahmen (wie zum Beispiel Brückenköpfe des Kalten Kriegs in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts) nicht mehr möglich. Der Großteil des Landes bleibt in der rückständigen, bäuerlich feudal geprägten Gesellschaft, während ein kleiner Teil in wenigen Zentren den Sprung ins Industriezeitalter nimmt. Trotzki schreibt dazu in der “Geschichte der Russischen Revolution” von 1930:

„Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, enthüllt sich am krassesten (…) am Schicksal verspäteter Länder. Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen. Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich das Gesetz (…) der kombinierten Entwicklung (…) im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen.“

Eine Situation, die nicht nur Russland 1905 und 1917 betraf, sondern auch heute bei Ländern der sogenannten Dritten und zunehmend Zweiten Welt hoch aktuell ist.

Das Gesetz der “ungleichen und kombinierten Entwicklung” bildet die Basis von Trotzkis 1906 erstmals so ausformulierten, aber bereits bei Marx, Engels, Luxemburg oder Mehring schon angelegten, "Theorie der Permanenten Revolution". Sie beschreibt den direkten Übergang einer noch stark von politischen Elementen der bürgerlichen Aufgaben (Landreform, Wahlrecht, Pressefreiheit etc.) angestoßenen Revolution in eine proletarische, sozialistische Revolution. Die Mehrheit des Bürgertums hat sich schon mit den alten Elementen wie Großgrundbesitz und Adel verwoben, wie es sich auch mit dem ausländischen Kapital bereits arrangiert hat. Es braucht keine Revolution mehr, um seine Interessen zum Durchbruch zu bringen und kann daher auch nicht Träger des Kampfes für "bürgerliche" Rechte sein. Ganz im Gegenteil. Es fürchtet die Revolution, weil dadurch das Kleinbürgertum, die Arbeiter*innen-Klasse, die bäuerliche Bevölkerung und Unterschichten gegen sie, ihre Interessen und ihre privilegierte Situation in Bewegung geraten.

Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie im Zeitraffer

Im Zug der verspäteten Industrialisierung, kam in Russland auch die organisierte Arbeiter*innenbewegung in Form der Sozialdemokratie spät. Erst 1898 gründete sich in Minsk, im heutigen Belarus, die russische Sozialdemokratie (SDAPR) aus unterschiedlichen Zirkeln und Zugängen. Die Sozialdemokratie stand damals noch auf dem Boden des Marxismus und nicht wie später als Speerspitze des Neoliberalismus mit ihren Schröders und Blairs. Allerdings ist die Partei von Beginn an der Verfolgung ausgesetzt und ein Großteil der Parteiführung wird rasch verhaftet. In Folge bestand die SDAPR vorwiegend aus isolierten Propagandazirkeln mit der oft einzigen Verbindung durch die illegalen Parteizeitungen.

Mit der Zunahme von Klassenkämpfen um 1900 reichten Propagandazirkel nicht mehr aus, es brauchte den Umbau in eine schlagkräftige Partei. Bereits auf dem 2. Parteitag 1903 begann die Spaltung anhand dieser organisatorischen bis 1912 immer stärker auch politischen Fragen in Bolschewiki und Menschewiki. Die Minderheit (Menschewiki) schlug einen politisch gemäßigteren Kurs ein. Die Mehrheit (Bolschewiki) unter Lenin begann mit dem Aufbau einer straffen Parteiorganisation in Form des “Demokratischen Zentralismus”. Dieses Organisationsprinzip bedeutet bis heute die volle Diskussion und gleichberechtigte Debatte aller Mitglieder nach innen. Die Bolschewiki aber hatten auch die Lehren aus den Kämpfen der Arbeiter*innen in den Betrieben gezogen: Sie sahen die Notwendigkeit, demokratisch gefällte Beschlüsse auch gemeinsamen nach außen umzusetzen um als Organisation handlungsfähig und schlagkräftig zu sein. Damit brachen die Bolschewiki scharf mit dem eher föderalistischen Aufbau der Menschewiki, wo jeder Zirkel tun konnte was er für richtig hielt, sofern er nur innerhalb der breiten politischen Klammer blieb. Bis heute ist die Frage nach dem Aufbau eine ganz Wesentliche in der Arbeiter*innen-Bewegung und radikalen Linken geblieben, die sich auf kurz oder lang auch politisch ausdrückt.

Die Grenzen der Fraktionen waren bis zum Vollzug der Spaltung 1912 und auch darüber hinaus nicht starr. Deswegen braucht es uns heute nicht verwundern, wenn es auch immer wieder zu Wechseln zwischen den Fraktionen kam. Georgi Plechanow, ein “Gründungsvater” der russischen Sozialdemokratie, unterstützte zuerst die Bolschewiki, um schließlich zu den Menschewiki zu wechseln. Trotzki unterstützte in organisatorischen Fragen zuerst die Menschewiki, schwankte immer wieder zwischen den Positionen der beiden Fraktionen, schloss sich schließlich 1917 endgültig den Bolschewiki an und war dann gemeinsam mit Lenin für die Oktoberrevolution verantwortlich.

Bis heute verweisen Sozialdemokraten und bürgerliche Historiker bereits auf den Keim des späteren Stalinismus der Bolschewiki in der Spaltungsfrage 1903. Auf der deutschen Ausgabe von Wikipedia lesen wir dazu:

„Die Entscheidung, Kaderpartei zu werden und entsprechend konspirative Strukturen aufzubauen, behinderte nach Einschätzung des Historikers Manfred Hildermeier die innerparteiliche Demokratie (…)“
(Quelle Wikipedia, abgerufen am 26. Jänner 2021)

Für sich alleine betrachtet mag das ja sogar vernünftig klingen, allerdings ist das Pferd so von der völlig falschen Seite her aufgezäumt. Isoliert betrachtet hat der erste Corona-Lockdown in Europa im Frühjahr 2020 zu deutlich weniger Toten im Straßenverkehr geführt. Gemäß den von Manfred Hildermeier angewendeten Kriterien müsste dann in COVID 19 oder den Lockdowns ein taugliches Instrument zur Bekämpfung der Verkehrstoten gesehen werden. Das ist natürlich absoluter Blödsinn und hoffentlich fordert das auch niemand. Diese Herangehensweise Äpfel mit Birnen zu vergleichen hilft uns weder im Kampf für eine Senkung der Verkehrstoten, noch bei der Analyse des Stalinismus und wie er verhindert werden kann.

Wenn schon, denn schon, dann müsste es korrekterweise heißen, dass die zaristische Geheimpolizei und Verfolgung im Zarismus gemeinsam mit der Intervention von 21 ausländischen Armeen im Bürger*innen-Krieg nach der Oktoberrevolution den Aufbau von innerparteilicher Demokratie “behindert” haben. So aber bleibt es eine leere “Hülse” ohne nennenswerten Erkenntnisgewinn.

Am Anfang war die Krise, dann der Krieg und dann die Krise

Am Beginn des 20. Jahrhunderts rutschte Russland in eine schlimme Rezession. Ausgangspunkt dazu war eine Krise der Finanz- und Getreidemärkte. Russland war von seinen Getreideexporten abhängig und finanzierte damit seine Industrieprojekte und den Bau notwendiger Infrastruktur. Vom folgenden Einbruch der Getreidepreise waren die Bäuer*innen als erste betroffen und es folgten Unruhen in den Jahren 1902 und 03. Als Antwort darauf versuchte die Regierung die Kosten der Krise zunehmend auf die Industriearbeiter*innen abzuladen. Eine große Streikbewegung, die sich 1903 über die Industriezentren ausdehnte, war die Folge. Als letzten Ausweg befeuerte der russische Innenminister den Antisemitismus und somit Pogrome gegen die völlig schuldlose jüdische Bevölkerung und setzte auf Spaltung der Menschen. Es ist kein Zufall, dass just 1903 zum ersten Mal die sogenannten “Protokolle der Weisen von Zion” als gefakte “geheime Protokolle” einer jüdischen Weltverschwörung in Russland gedruckt und verbreitet wurden. Von da an befeuerte dieses plumpe Hetzwerk Verschwörungstheorien und Antisemitismus rund um den Globus. Der Autopionier, Antisemit, Mussolini-Bewunderer und Antidemokrat Henry Ford bezog sich genauso darauf, wie die Nazis oder heutige Impfgegner*innen, Corona-Leugner*innen oder Rechtsradikale aus dem Umfeld des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Kaum ein Beispiel entlarvt Antisemitismus sosehr als gezieltes Instrument zur Herrschaftsstabilisierung und Spaltung der Gesellschaft.

Aber zurück nach Russland um die Jahrhundertwende. Wie wir schon gezeigt haben, war der Bau der Transsibirischen Eisenbahn auch ein deutliches Signal in Richtung imperialistischer Ausdehnung Russlands nach Osten und vor allem China. Das kam nicht ungefähr. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann ein Wettlauf um noch zu verteilende politischen und wirtschaftlichen Einflusssphären in China. Und Russland ist mit der Transsibirischen Eisenbahn “gut” mit dabei. Um schneller einen Zugang zu einem eisfreien Tiefsee-Hafen zu haben, weitete Russland seine “Interessen” in der Mandschurei im Norden Chinas aus. Dazu gehört die Einbindung der Ostchinesischen-Eisenbahn als Abzweigung der Transsibirischen Eisenbahn nach Port Arthur, dem heutigen Dalian am Gelben Meer.

1894/95 hatte Japan China besiegt, und, heute würden wir sagen als „Hegemonialmacht“ endgültig abgelöst. Zunehmend gerieten japanische und russische Interessen in Konflikt. Als “alte” europäische Großmacht wähnte sich Russland gegenüber dem aufstrebenden japanischen Kaiserreich haushoch überlegen. Umso heftiger was das Erwachen der russischen Elite, als Japan ohne Kriegserklärung die gesamte russische Pazifikflotte Anfang Februar 1904 in Port Arthur versenkte. Es folgte der russisch-japanische Krieg mit vielen schmachvollen Niederlagen Russlands zu Land, Wasser und nur deswegen nicht zu Luft, weil es noch keinen Luftkrieg gab. Der letzte, katastrophale Höhepunkt war die Versenkung der zu Hilfe gerufenen, stolzen Ostseeflotte Russlands im Mai 1905 bei Tshushima vor der Küste Chinas. Für Russland wird es wenig Trost gewesen sein, dass es sich rückblickend dabei um die erste “moderne” Seeschlacht handelte.

Die Vermittlung des Friedensvertrages von Portsmouth, New Hampshire, war eine der ersten Handlungen der USA auf dem internationalen diplomatischen Parkett. Russland verlor darin die Ostchinesische Eisenbahn und Südsachalin an Japan und somit den Zugang zum Gelben Meer. Vorbei der Traum vom eisfreien Tiefseehafen. Der Einfluss Japans auf die Mandschurei und Korea wurde gegenüber Russland festgeschrieben. Im Gegenzug für seine Rolle als Vermittler erhielt der US-Präsident Teddy Roosevelt 1906 den Friedensnobelpreis im Prinzip für nichts außer dafür, für die imperialistischen Interessen eines Landes einzustehen. Aber damit ist er sicherlich in der langen Liste der Träger*innen dieses Preises nicht alleine. Japan anerkannte darüber hinaus auch die Vorherrschaft der USA über die Philippinen. Es war erst die zweite Niederlage einer europäischen Macht gegen ein außereuropäisches Land nach Italien in Abessinien 1896. Außen-, wie Innenpolitisch war es für Russland ein Desaster, das jetzt auch noch auf seinen Kriegskosten sitzen geblieben war.

Die Revolution fällt (nicht) vom Himmel

Wir sehen trotz der Größe und der Festigkeit der absolutistischen Herrschaft des Zaren mit der Niederlage im Krieg und im Folgenden der hohen Kriegskosten eine sehr zerbrechliche Grundkonstellation in Russland. Der bekannte russische Autor Leo Tolstoi hat in seinem letzten Lebensviertel einen religiösen, Bäuer*innenanarchismus vertreten und entwickelt bevor er 1910 starb. Auch er hatte die zunehmend zerbrechliche Situation im Zarismus wahrgenommen und aus Angst vor einer Revolte sich 1902 an den Zaren gewandt:

“Lieber Bruder, diese Anrede hielt ich für die angemessenste, weil ich mich mit diesem Brief nicht so sehr an den Zaren wie an den Menschen – den Bruder wende (…) Ein Drittel Russlands befindet sich im Zustand verschärfter Überwachung (…) Die Armee der Polizisten – der öffentlichen und geheimen – vergrößert sich ständig. Die Gefängnisse, die Orte der Verbannung und der Sträflingsarbeit sind neben hunderttausenden Krimineller mit politischen Häftlingen überfüllt, zu denen jetzt auch die Arbeiter gerechnet werden. Die Zensur hat eine Unsinnigkeit der Verbote erreicht, wie es in der schlimmsten Zeit der vierziger nicht der Fall gewesen war (…) Überall in den Städten und Fabrikzentren sind Truppen konzentriert, und sie werden mit scharfer Munition gegen das Volk ausgeschickt (…) Mit Gewaltmaßnahmen kann man das Volk unterdrücken, aber nicht regieren (…) Ihr Ihnen aufrichtig wahres Glück wünschender Bruder - Lew Tolstoi”

Trotz aller Vor- und Anzeichen einer aufkommenden Krise, schrieb der russische Politiker Sergei Witte noch zum Jahreswechsel 1904/5 an den britischen Botschafter McCormick, dass die Situation zwar ernst wäre aber keine Gefahr für eine Revolution bestünde. Wie so oft in der Geschichte hat sich auch hier die etablierte Politik blind gegenüber der wirklichen Situation gezeigt.

Der Pfarrer der Ostkirche Georgi Apollonowitsch Gapon war in seinem Denken stark vom alten Tolstoi beeinflusst. In Moskau geriet Gapon in Kontakt mit religiösen Arbeitervereinen, die auch aktiv vom Regime gestützt wurden. Sie waren vom Geheimdienst unterwartet und spielten auch bewusst die Rolle den Unmut der Arbeiter*innen religiös verpuffen zu lassen. Mit heutigen Maßstäben würden wir sie dem weiten Feld der „Gelben Gewerkschaften“ zuordnen. Gapon übernahm dieses System der religiösen Arbeitervereine für sich in Petersburg und hatte damit nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Arbeiter*innen dort. Zunehmend gewann er durch seine „Stillhaltefunktion“ auch Eingang in Regierungskreise in Petersburg.

Trotzdem können wir Gapon nicht einfach, wie das teilweise passiert, als bewussten, reaktionären Spitzel sehen. In Moskau war er zuerst auf die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen gestoßen und das hatte ihn letztlich überzeugt, die religiösen Arbeitervereine nach Petersburg zu übertragen. Ende 1904 schwankte er zunehmend zwischen Loyalität zum Zarismus und der Wandlung seines Vereins hin zu einer Gewerkschaft. Gapon glaubte ähnlich wie Tolstoi einige Jahre vor ihm, dass Problem bestehe darin, dass der Zar über die Probleme nicht Bescheid wisse. So entsteht auch die Idee der Übergabe einer Petition mit Forderungen der Arbeiter*innen an den Zaren.

1904 war der russische Innenminister Pleve noch der Meinung, ein kleiner, siegreicher Krieg gegen Japan könne das Land im Inneren wieder festigen. In Wirklichkeit zeigte sich das Gegenteil. Die abzeichnende Niederlage im Krieg heizte den Unmut aufgrund der Krise von 1902/03 noch weiter an. Dazu kam, dass die immer größer werdenden Kosten des Kriegs – wenig überraschend – auf die Bäuer*innen und Arbeiter*innen abgeladen wurde. In dieser Situation kam es nun zum Jahreswechsel 04/05 zur Kündigung von vier(!) Arbeitern in den Putilow-Werken. Bereits wenige Tage danach streikten über 100.000 Arbeiter*innen in Petersburg. Das sind rund 2/3 der Arbeiter*innenschaft Petersburgs. Auch Gapon und sein Arbeiterverein gerieten unter Druck und riefen so eine Demonstration für Sonntag den 9. Jänner (alter Kalender, 22. Jänner nach dem Neuen) aus.

An diesem Morgen war ein Großteil der Arbeiter*innenschaft samt Familien Petersburgs auf den Beinen. Ganze Familien mit Kindern bereiteten sie sich auf die Demonstration zum Zarenpalast vor. Mit dabei hatten sie Spruchbänder und Portraits des Zaren, nichts deutete auf eine nicht kontrollierbare Radikalisierung hin. Überhaupt glich das Ganze mehr einer Prozession als einer Demonstration, an deren Spitze der Pope Gapon ging um dem Zaren die Bittschrift der Arbeiter*innen zu übergeben. Allerdings hatten die Forderungen der Arbeiter*innen an den Zaren sehr wohl ordentlich „Pfeffer“.

  • Volksversammlung an der Seite des Zaren
  • Wahlrecht
  • Höhere Löhne
  • bessere Arbeitsbedingungen
  • Ende des Krieges mit Japan

Heute wissen wir, dass bereits zwei Tage vor der Prozession, die Entscheidung fiel, weder Gapon eine Audienz beim Zaren, noch der Demonstration Zugang ins Petersburger Zentrum zu gewähren. Wieweit Gapon davon selbst wusste, ist heute schwer zu sagen. Fest steht, dass ihm und seinem Verein die Kontrolle über die Demonstration bereits entglitten war und sie kurzfristig sehr wahrscheinlich auch ohne ihn stattgefunden hätte. Als sich die Menschenmasse singend und teilweise auch betend dem Zentrum näherte, erfolgte der Schießbefehl. Gapon konnte, beschützt durch seine Leibwächter, fliehen. Er wird später sagen, ab heute gibt es keinen Gott und Zaren mehr. Die Demonstrant*innen wurden von Polizei und Militär gejagt, mehrere Hunderte getötet oder verletzt: Der Petersburger Blutsonntag.

Und so liest sich der Tag im Tagebuch von Zar Nikolais II., einem 37-jährigen Mann, im Stil eines Grundschulaufsatzes:

„Ein schwerer Tag (…) Ach Gott, wie schmerzlich und schwer ist es! Mama kam von der Stadt zur Frühmesse. Wir lunchten mit allen. Ich ging mit Mischa spazieren. Mama blieb bei uns über Nacht.“

Das Revolutionsjahr 1905

Mit dem Petersburger „Blutsonntag“ war die Tür weit aufgeworfen und mehrere revolutionäre Wellen prägten das ganze Jahr 1905. Die Nachrichten verbreiteten sich rasch in alle Landesteile. Streiks und Bäuer*innenunruhen brachen unmittelbar im Jänner und Februar aus. Die Antwort des Zaren war eine Militärregierung, um wenig überraschend die Bewegung zu unterdrücken. Aber stattdessen dehnten sich die Streiks, Unruhen und Aufstände bis in den Sommer auf 122 auf kleinere Ortschaften aus. Das ganze Zarenreich war davon betroffen. Von Streiks in Polen (damals bei Russland) und einem Aufstand mit 90 Toten in Warschau zum Kaukasus mit der Ölmetropole Baku, an der Ostsee streikten die Arbeiter*innen und bei Bäuer*innenunruhen wurden über 500 Gutshöfe abgefackelt, in der Ukraine der Kornkammer des Reichs revoltierten die Bäuer*innen mit Unterstützung der dortigen großen jüdischen Bevölkerung. Teile der Armee und Flotte meuterten wie am Panzerkreuzer Potemkin, die islamischen Teile des Reichs erhoben sich gegen die religiöse Unterdrückung der Orthodoxen Kirche und im Osten zeichnete sich dazu immer mehr die Niederlage im russisch-japanischen Krieg ab. Schließlich bildete sich ca. 300 km östlich von Moskau in der Textilindustriehochburg Iwanowo ein Arbeiter*innen-Rat, der erste Sowjet.

Über den Spätsommer baute sich, angetrieben durch den für das offizielle Russland schmachvollen Frieden von Portsmouth, eine neue Welle der revolutionären Bewegung auf. Allerdings zeigte sich auch, dass die Hauptfragen der Bewegung, nämlich die Lösung der Landfrage, die Beendigung der nationalen Unterdrückung und demokratische Mitbestimmung bisher politisch noch weitgehend unbeantwortet geblieben waren. Die bürgerlich Liberalen waren wegen der Heftigkeit und steigenden Radikalisierung der Arbeiter*innen zunehmend verschreckt. Die Antwort der Menschewiki lautete darauf, die Arbeiter zu bremsen, um die liberale Bourgeoisie bei der Stange zu halten.

Statt sich wie die Menschewiki dem liberalen Bürgertum unterzuordnen, gab Lenin die Losung der “Demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern” aus. Das war zwar weit über die Menschewiki hinaus, sagte allerdings auch noch nichts über den Charakter der Revolution und wer darin die entscheidende Rolle spiele werde aus. Auch die Bolschewiki werden bis zu Lenins Aprilthesen 1917 brauchen, in denen dieser letztlich Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution übernahm, um eine programmatische Grundlage der Oktoberrevolution zu schaffen. Nichtsdestotrotz befeuerten die Bolschewiki die Streikbewegung und trieben die Revolution damit voran. Als Mitte September in Moskau bei den Druckereien ein Streik ausbrach, arbeiteten sie erfolgreich daran, den Streik auf alle Bereiche der Stadt auszubreiten.

Anfang Oktober streikte die Eisenbahn, es folgten immer mehr Teile bis zum Generalstreik in Petersburg. Am Höhepunkt streikten 1,5 Millionen Arbeiter*innen in 120 Städten. Dem Beispiel von Iwanowo folgend wurde jetzt auch in Petersburg ein Arbeiter*innen-Rat gegründet. Zur ersten Sitzung am 13. Oktober erschien nur eine Handvoll Delegierte, zwei Tage später waren es bereits einige Hundert. Und wieder einige Tage später kontrollierte der Sowjet Petersburg. Wer Ende Oktober/Anfang November ein Telegramm verschicken oder empfangen wollte, brauchte die Zustimmung des Sowjets. Die Machtfrage war gestellt.

Doppelherrschaft und Konterrevolution

Im Oktober/November 1905 sehen wir mit den Räten neben der zaristischen Regierung eine zweite Herrschaftsebene heranwachsen. In das durch die Revolution entstehende Machtvakuum waren die Sowjets getreten und hatten zunehmend mehr Bereiche auch der Verwaltung und des Zusammenlebens übernommen. Einerseits zeigte die Revolution von 1905 damit eine neue Möglichkeit für die demokratische Organisierung und Verwaltung einer künftigen Gesellschaft in Form der Räte. Anderseits zeigte sie auch, dass diese Situation nicht ewig anhält, die Macht auf der Straße lag und ergriffen werden muss, entweder von der einen oder anderen Seite.

1905 gab es noch keine Organisation oder Partei, die die Massen mit einer revolutionär-sozialistischen Perspektive hinter sich und ein dauerhaftes Bündnis mit den Bäuer*innen zum nächsten Schritt bringen konnte. Die Situation einer Doppelherrschaft, wo bereits Elemente einer neuer und einer alten gegeneinander um die Vorherrschaft kämpfen, haben wir später auch in vielen Revolutionen und revolutionären Situationen wie etwa nach dem 1. oder 2. Weltkrieg gesehen. Alle historischen Beispiele bis heute haben gezeigt, dass es dort, wo es Elemente einer Doppelmacht gab, kein langsames, friedliches „Hinüberwachsen“ und Durchsetzen der sozialistischen Räteherrschaft gegenüber der Alten möglich war und ist. Ganz im Gegenteil, die alte Herrschaft mobilisiert alle Kräfte, um die Räte niederzuringen. Insofern braucht es auch einen revolutionären Akt, um die Doppelherrschaft in Richtung der Räteherrschaft zu entscheiden. Und um diesen revolutionären Willen zu bündeln braucht es eine sich der Aufgabe bewusste, revolutionäre Organisation oder eben Partei.

Die alte Macht spielt zuerst auf Zeit und sobald sich die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verschiebt, wird eine rasche, harte und in der Regel blutige Entscheidung gesucht. 1905 ist das noch das historische Moment der liberalen Bourgeoisie. Allerdings verinnerlichten die Menschewiki diese Politik und ordneten sich mit Haut & Haaren den Liberalen unter. Gemeinsam warfen sie den Sowjets vor, mit ihrer radikalen Politik die Bündnispartner zu verschrecken und deswegen den offenen Kampf zu vermeiden. Später in den Revolutionszyklen ab 1917 übernimmt diese Rolle der Liberalen bereits in Russland die Menschewiki und in Europa die Sozialdemokratie. Die Massen werden vertröstet, nach Hause geschickt, ins Leere laufen gelassen und die Räte zunehmend entmachtet oder wie teilweise z. B. in Deutschland oder Österreich später auch untergeordnet in den Staat integriert. Wie lange die Periode dieses “Krisenmanagements” dauert, hängt in erster Linie davon ab, wie lange es braucht, bis sich die alte Herrschaft wieder etabliert hat. In Russland 1905 war das nur eine sehr kurze Periode, weil sich das Bürgertum sehr schnell mit dem Adel und Zarismus geeinigt hatte. In der deutschen Revolution nach dem 1. Weltkrieg wird diese Phase fünf Jahre bis 1923 dauern.

Nachdem die staatliche Ordnung in Russland im Spätherbst 1905 weitgehend zusammengebrochen war, verkündete der Zar zur Rettung seiner Herrschaft Zugeständnisse im „Oktobermanifest“. Ein Teil der Liberalen gründete in Anlehnung dazu daraufhin die bürgerliche Partei der „Oktobristen“ und unterstütze den Zaren. Der andere Teil, der noch ein paar Zugeständnisse mehr wollte, sammelte sich in den Konstitutionellen Demokraten; abkürzt KD – also Kadetten. Beide Strömungen werden wieder eine Rolle in der Februarrevolution 1917 spielen und auch dort werden ihnen die Menschewiki den Steigbügel halten. Trotzki bezeichnete die Revolution von 1905 deswegen auch als eine Revolution ohne revolutionäres Bürgertum.

Nach der Verkündung des Oktobermanifests und dem Abflauen der Bewegung ging es Schlag auf Schlag. Die zaristische Herrschaft setze auf das Prinzip „Teile und Herrsche“. Im Oktobermanifest waren einige demokratische Zugeständnisse an die liberale Bourgeoisie enthalten und sie damit ruhiggestellt. Fast zeitgleich mit der Verkündung des Manifests überzogen wieder vom Regime gestartete antisemitischen Pogrome die Bereiche der jüdischen Bevölkerung. Nationale Aufstände in Polen, dem Baltikum und Kaukasusgebieten wurden mit militärischer Härte niedergeschlagen. Ende November wurde der Vorsitzende des Petrograder Sowjet verhaftet, dessen Sitz nun Trotzki für die letzte Zeit übernahm. Anfang Dezember wurden dem Sowjet nahestehende Zeitungen verboten. In Moskau hatte der Sowjet eigene Milizen gebildet, die noch bis Mitte des Monats Widerstand leisten konnten. Durch die ungelöste Landfrage gab es nochmals im November und Dezember eine kurze Welle von Bäuer*innenaufständen, die letztlich aber ebenfalls niedergeschlagen werden konnten. Ende des Jahres war die Initiative wieder auf die Seite der alten Herrschaft übergegangen.

Was bleibt von 1905?

Sehr viel, nicht umsonst wird die Revolution auch als Generalprobe für 1917 bezeichnet. Wir können das aber ohne Probleme auf alle sozialen und kolonialen Revolutionen bis heute ausdehnen. Trotzki formulierte aufgrund seiner Erfahrung die Theorie der Permanenten Revolution mit dem Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung, auf das wir schon eingegangen sind. Lenin drängte die Bolschewiki zu Änderungen und scharfen Anpassungen in Ihrer Revolutionstheorie und ermöglichte damit einen Weg zu den April-Thesen 1917. Lenin schrieb dazu selbst im April 1917:

(…) die bolschewistischen Losungen und Ideen sind im Allgemeinen durch die Geschichte vollkommen bestätigt worden, konkret aber haben sich die Dinge anders gestaltet, als ich (oder sonst jemand) es erwarten konnte – origineller, eigenartiger, bunter (…) Diese Tatsache nicht beachten, sie vergessen, hieße, es jenen „alten Bolschewiki" gleichtun, die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie gedankenlos die auswendig gelernte Formel wiederholen, anstatt die Eigenart der neuen, lebendigen Wirklichkeit zu analysieren. (…)

Jetzt gilt es, sich die unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, dass der Marxist mit dem lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen muss, und sich nicht an die Theorie von gestern klammern darf, die wie jede Theorie bestenfalls lediglich das Grundlegende, Allgemeine aufzeigt, die ganze Kompliziertheit des Lebens nur annähernd erfasst.
(Quelle: Lenin Briefe zur Taktik im April 1917)

Rosa Luxemburg verfolgte das ganze Jahr über gespannt die Entwicklungen in Russland und speziell im von Russland besetzten Polen. Ende 1905 ging sie nach Polen, wo die revolutionäre Bewegung und Aufstände noch bis 1907 anhielten. Im Gegensatz zur Führung der 2. Internationale und der SPD erkannte sie das Potential von Massenbewegungen für das sprunghafte Ansteigen des Bewusstseins. Schulung und Aufklärung ist gut und wichtig, aber nicht das stetige Weiterorganisieren in Partei und Gewerkschaft schafft ein revolutionäres Bewusstsein, sondern die Teilnahme an Massenbewegungen. Der Massenstreik – wie die Generalstreiks in Russland und Polen – erweckt also die Arbeiter*innen als Klasse zum Leben und lähmt gleichzeitig die Staatsgewalt. Die Regierung wird so zunehmend handlungsunfähig und neue geschaffene Institutionen wie die Sowjets können diese Machtvakuum hin zur einer Doppelherrschaft ausfüllen. Wie aber 1905 gezeigt hat, besteht hier die Gefahr, dass die Revolution in der Doppelherrschaft stecken bleibt und letztlich gegenüber der Reaktion zurückfällt. Das Verhältnis von revolutionärer Situation und revolutionärer Partei wurde oft treffend als “Geburtshelferin” der Revolution beschrieben. Es braucht keine revolutionäre Partei für revolutionäre Situationen, aber es braucht sie, um aus einer solchen den nächsten Schritt in Richtung Sozialismus und Überwindung der Doppelherrschaft zu Gunsten der Revolution zu gehen. Das ist eine der unmittelbarsten Lehren aus der Revolution von 1905. Leo Trotzki hat sie 1906 in seiner Theorie der Permanenten Revolution gezogen, Lenin letztlich in den Aprilthesen 1917 und Rosa Luxemburg mit der Massenstreikdebatte in der 2. Internationale und deutschen Sozialdemokratie, die sie zum Bruch mit dem sogenannten “Marxistischen Zentrum” um Karl Kautsky führte.

Sie waren einige der Wenigen, die die Flexibilität besaßen, Theorien rasch anhand von Bewegungen und Ereignissen zu überprüfen, anzupassen und notfalls auch durch Geeignetere zu ersetzen. Sie waren damit nicht, wie viele spätere Stalinist*innen oder Sozialdemokrat*innen dazu verurteilt, wie die von Lenin zitierten "alten Bolschewiki“ auswendig gelernten Phrasen an neue Gegebenheiten anzuwenden statt sie daran anzupassen.

Das tun zu können, ist eine der wesentlichsten Bedingungen für Revolutionär*innen und eine unmittelbare Lehre aus der Revolution von 1905. Es wäre ein weiterer Artikel, um auf die internationale Bedeutung der Revolution von 1905 vor allem in Europa einzugehen. Die ganze marxistische Revolutionstheorie des 20., und es gibt für uns keinen Grund zu zweifeln, auch des 21. Jahrhunderts, fußt mit mindestens einem Bein in den Erfahrungen der Russischen Revolution von 1905.

Beethoven, der Revolutionär

Bill Hopwood

Beethoven, eine herausragende Gestalt der Musikgeschichte, wurde am 16. Dezember 1770 geboren. Er war ein Genie der klassischen Musik, so wie sie in Europa gespielt wurde. Sein Leben war voller Aufruhr und Revolution und oft an der Grenze der künstlerischen Beziehung zur Gesellschaft. Beethovens musikalische Schönheit und Genialität ist am besten im Kontext der revolutionären Veränderungen seiner Zeit zu verstehen - in Gesellschaft und Kunst.

Kunst und Menschlichkeit

Kunstfertigkeit und Ästhetik sind Teil des Menschseins und sogar Teil der Natur. Während die Vielfalt und die Formen des Lebens von der Evolution vorangetrieben werden, bietet die Natur Schönheit im Überfluss. Mathematiker sagen, wenn man die Wahl zwischen zwei Beweisen für eine Theorie hat, solle man den schöneren wählen.

Schon bei den ersten menschlichen Artefakten ist neben ihrem Verwendungszweck auch ein Sinn für Ästhetik zu erkennen. Alltagswerkzeuge weisen eine Schönheit auf, oft mit Verzierungen versehen. Bill Reid, ein berühmter Haida-Künstler, schrieb, dass "eine grundlegende Eigenschaft alle Werke der Menschheit eint, die über die Barriere von Zeit, Kultur und Raum hinweg mit menschlicher, erkennbarer Stimme zu uns sprechen. Die einfache Eigenschaft, gut gemacht zu sein."

Die Menschen brachten Kunstfertigkeit in ihr Leben, in Werkzeuge und Alltagsgegenstände wie Schalen, Nadeln und Kleidung. Diese Gegenstände wurden nicht gekauft, um sie bald wegzuwerfen, sondern um sie zu erhalten. Natürlich ist ein Teil der Kunstfertigkeit die Schönheit des Designs, um die gewünschte Aufgabe gut zu erledigen. Gegenstände, die man in die Hand nimmt, müssen gut in der Hand liegen, und Kleidung muss sich dem Körper anpassen. Der Zweck bestimmt die Ästhetik. Betrachten Sie das Genie und die einfache, atemberaubende Schönheit eines Iglus - der Bau einer wetterfesten, warmen Behausung aus dem verfügbarsten Material: zusammengedrückten Schnee!

Die meisten Menschen waren handwerklich begabt und stellten Dinge gut her. Einige waren in dieser Arbeit geschickter als andere - sie flochten Körbe, formten ein Messer aus Obsidian, nähten Kleidung oder schnitzten eine Nadel aus Knochen. Aber diese talentierten Arbeiter*innen lebten nicht von der Gesellschaft getrennt.

Als sich jedoch eine Klassengesellschaft herausbildete, wurde die "Kunst" zu etwas, das vom Alltagsleben getrennt war. Eine Minderheit von Menschen wurde reich und mächtig, sowohl religiös als auch weltlich, obwohl diese Rollen oft kombiniert waren. Sie waren ein neues soziales Phänomen - eine herrschende Klasse. Sie benutzte Objekte, um den Reichtum und die Macht der Reichen und ihrer Götter zur Schau zu stellen, und zur Verherrlichung der Herrschenden. Kennzeichen dieser Objekte waren ihre Ästhetik und ihre Qualität. Die reichen Herrscher bezahlten für prächtige Werke wie Gebäude, Statuen und große Gemälde. Trotz ihres ursprünglichen Zwecks kann ein Marxist die Kunstfertigkeit, die gut gemachte Qualität, schätzen.

Allerdings hat die herrschende Klasse diese Kunstwerke nicht gemacht. Sie arbeiteten nicht, also konnten sie keine Kunstwerke erstellen. Sie beschäftigten andere, um diese Kunst zu produzieren. Ein Teil der Gesellschaft wurde zu Künstler*innen, eine Gruppe von Arbeiter*innen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, "Kunst" für andere Menschen zu machen.

Der Rest der künstlerischen Arbeiten außerhalb der hohen Kunst wurde als Handarbeiten eingestuft, insbesondere von Frauen gefertigte Arbeiten wie Textilarbeiten und Korbflechten, oder Volkskunst. Die Mehrheit der Menschen pflegte weiterhin eine lebendige Kultur mit Geschichtenerzählen, Tanz und Theater.

 

Gesellschaft im Wandel

Viele Jahrhunderte lang war der Besitz von Grund und Boden die Grundlage für den Reichtum von Adel und Kirche. In Europa wuchs während des Mittelalters eine neue gesellschaftliche Kraft heran. Es waren Stadtbewohner*innen, die ihren Reichtum nicht durch den Besitz von Land, sondern durch Handel und Gewerbe erlangten. Sie waren Kaufleute, Handelnde und Besitzer*innen von Betrieben, in denen Gruppen von Arbeiter*innen zusammenkamen, um Dinge herzustellen, die ihnen selbst nicht gehörten. In den meisten germanischen Sprachen bedeutet eine Variante von burg (ursprünglich Burg) Stadt oder Ort, z. B. burgh, borough, borg, bourg, usw. Die Bürger*innen einer Stadt, mit Ausnahme des Gesindes und der Armen, wurden Bürger*innen, bürgers, burgers oder, auf Französisch, bourgeoisie genannt.

Diese Klasse forderte zunehmend die Macht der Fürstenhöfe und der Kirche heraus. Als sie reicher wurden, argumentierten sie, dass sie mehr Mitspracherecht haben sollten. Im England der 1600er Jahre waren die Städte im Unterhaus vertreten, während die Kirche und die Aristokratie das Oberhaus beherrschten. Das Oberhaus und der Monarch trafen die wichtigsten Entscheidungen, während die Bürgerlichen, insbesondere die reicheren Bürgerlichen, die Bourgeoisie, die Steuern zahlten.

Zur Zeit der englischen Revolution, 1642 - 1651, hatten die Commons (die Bürgerlichen, Anm. d. Übers.) mehr Reichtum als die Lords, aber weit weniger politische Macht. In der Revolution ging es darum, dass die Commons mehr Macht gegenüber dem Adel und der Kirche erlangten. Die Bürger*innen der Niederlande gewannen nach einem langen und blutigen Krieg 1648 die Unabhängigkeit vom spanischen Reich.

Veränderung lag in der Luft in Westeuropa. Dieser Wandel war mehr als der Wechsel der Herrscher und der nationalen Grenzen. Es gab tiefgreifende Veränderungen: in der Religion, die Reformation; in der Wissenschaft, gab es in vielerlei Hinsicht eine Wiedergeburt; in der Technologie, wurde die Grundlage der industriellen Revolution geschafft; und in der Kultur.

Es war auch die Zeit der globalen Eroberung, als die Kaufleute Europas neue Warenquellen und neue Märkte erschlossen. Neue Nahrungsmittel kamen in Europa an, darunter Kartoffeln, Mais, Tomaten, Schokolade und grüne Bohnen. Die herrschende Klasse eroberte weite Teile Afrikas, Amerikas und Asiens, was für die meisten Bewohner*innen dieser Kontinente Elend und Schrecken bedeutete, für die Kaufleute und die herrschende Klasse jedoch kolossalen Reichtum.

Diese weitreichenden Veränderungen in der Gesellschaft wirkten sich auf die Kunst aus - was unvermeidlich war, da Kunst in der Gesellschaft verwurzelt ist. Neue Techniken entstanden, die wichtigste war die Druckerpresse. Diese ermöglichte die genaue und schnelle Vervielfältigung von Texten und Bildern, was enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte. Farben auf Ölbasis ersetzten im 16. und 17. Jahrhundert die Temperamalerei, was sattere Farben und die Darstellung von Licht ermöglichte. Die Gasbeleuchtung - heller, sauberer und leichter zu kontrollieren als Kerzen - veränderte die Theater. Neue Musikinstrumente - wie das Klavier, die Gitarre, das Waldhorn und die Klarinette - wurden erfunden oder entwickelten sich aus älteren Instrumenten.

In der Kunst ging es nicht mehr in erster Linie um Herrscher und Religion oder deren Verherrlichung. Bachs Musik diente der Verherrlichung Gottes. Neue Ideen entstanden und gewöhnliche Menschen tauchten in der Kunst auf. Es entstand der Roman, der das Leben der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Maler, wie die Brügels (Vater und zwei Söhne), porträtierten das Alltagsleben.

Eine neue städtische Wohlstandsklasse veränderte die Art, wie Künstler*innen ihren Lebensunterhalt verdienten. Sie waren nicht mehr auf reiche Gönner*innen angewiesen, sondern konnten ihre Kunst direkt an ihr Publikum verkaufen. Zu den ersten Bereichen, in denen sich dies auswirkte, gehörten das Theater und das Verlagswesen. Bücher, Broschüren, Noten und Bilder konnten billig vervielfältigt und in großen Stückzahlen verkauft werden. In den Städten wurden Theater gegründet, in denen ein zahlendes Publikum Theaterstücke, Opern (zuerst in Italien zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelt) und andere Aufführungen sehen konnte.

Beethoven’s Leben und Zeit

Ludwig van Beethoven wurde in Bonn, als Kind einer musikalischen Familie, geboren. Der Rhein war seit langem eine Reise- und Handelsroute, die einen großen Teil des westeuropäischen Binnenlandes und über die Donau den Osten Europas mit dem mächtigen Hafen von Amsterdam und von dort aus mit der Welt verband. Die Veränderungen, die Europa durchströmten, kamen über den Rhein bis nach Bonn. Das Tal der Wupper, 75 Kilometer weiter nördlich, war eine Geburtsstätte der industriellen Revolution.

Im Vergleich zu den meisten anderen Ländern, die zu Deutschland wurden, war das Rheinland fortschrittlicher und kultivierter, weniger abhängig von der bäuerlichen Landwirtschaft und urbaner. Veränderung und Revolution lag in der Luft der Gesellschaft und der Zeit, in die Beethoven hineingeboren wurde. Die alte Feudalordnung war am Zerfallen und das aufstrebende Bürgertum forderte mehr Rechte und Macht. Philosoph*innen sprachen von Menschenrechten statt von Unterwerfung unter die weltlichen und geistlichen Herren.

In Frankreich, im Westen, schien der Feudalismus unter der Herrschaft von Ludwig XIV, bekannt als der Sonnenkönig, von 1643 bis 1715 seine volle Blüte zu erreichen. Doch unter dem Glanz der Eliten verrottete das alte Regime im Inneren. Im Jahr 1789 brach die Französische Revolution aus. Obwohl es in den Niederlanden, England und den Vereinigten Staaten bereits frühere bürgerliche Revolutionen gegeben hatte, hatte die Französische Revolution unvergleichbare Auswirkungen auf ganz Europa.

Progressive, städtische Bourgeoisie und junge Menschen wurden von der Revolution und ihrem kühnen Slogan "Liberté, égalité, fraternité" inspiriert. Beethoven war ein solcher Mensch, achtzehn Jahre alt, als die Bastille gestürmt wurde. Wordsworth, ebenfalls 1770 geboren, schrieb über die Revolution:

"Glückselig war es in jener Morgenröte, am Leben zu sein,

Aber jung zu sein war wirklich himmlisch!

O Zeiten . . . Als die Vernunft am meisten ihre Rechte zu beanspruchen schien."

Im Gegensatz dazu sahen die alten Regime Europas und die katholische Kirche mit Entsetzen zu, wie ihre Freund*innen und Verwandten Land und Titel verloren, einzelne sogar das Leben.

Beethovens musikalische Ausbildung, zuweilen sehr hart vermittelt, begann schon in jungen Jahren. 1792 zog er von Bonn nach Wien, einem musikalischen Zentrum, um seine Ausbildung zu vertiefen. Bis 1795 komponierte er und trat auf. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Eintrittskarten und dem Veröffentlichen von Noten. Er war ein bekannter Pianist, auf einem Instrument, das es erst seit 100 Jahren gab und das zu seinen Lebzeiten rasch weiterentwickelt wurde, um lauter zu sein und einen größeren Oktavumfang zu haben. Seine späteren Kompositionen, mit großen, lauten Orchestern, waren nur durch den technischen und gesellschaftlichen Wandel möglich.

Beethoven erhielt zwar Einkünfte von reichen Förderer*innen, aber der größte Teil seines Einkommens stammte aus Aufführungen und veröffentlichter Musik. Dies war ein historischer Wandel. Mozart, nur 14 Jahre älter als Beethoven, bezog den größten Teil seines Einkommens aus Rentenzahlungen und Arbeitsverhältnissen bei Aristokrat*innen und der Kirche, obwohl auch er in seinem späteren Leben etwas Geld mit Aufführungen verdiente. Beethoven war finanziell unabhängig, was ihn musikalisch unabhängig machte.

In den frühen 1800er Jahren wurde Beethoven volljährig, begann aber auch taub zu werden, wobei sein Gehör im Laufe seines Lebens weiter abnahm. Er hatte Verzweiflungsphasen, sowohl wegen seiner Taubheit als auch wegen persönlicher Misserfolge. Er schrieb über Selbstmordgedanken, verwarf sie aber, indem er schrieb: "Es war nur die Kunst, die mich zurückhielt, es schien unmöglich, die Welt zu verlassen, bevor ich nicht alles produziert hatte, wozu ich mich berufen fühlte."

1804 komponierte er die Dritte Symphonie, die eine Abkehr von seiner bisherigen Musik bedeutete. Ursprünglich wollte er sie "Bonaparte" widmen, was Beethovens Unterstützung für die Französische Revolution widerspiegeln sollte. Nachdem sich Napoleon zum Kaiser von Frankreich erklärt hatte, strich Beethoven Napoleons Namen vom Titelblatt, und die Sinfonie wurde 1806 unter dem Titel "Eroica" und dem Untertitel "zur Feier des Andenkens an einen großen Mann" veröffentlicht.

Mit der Niederlage Frankreichs 1814 begann in Europa eine Zeit der Reaktion, da die alte Ordnung (ancien regime) versuchte, revolutionäre Ideen und Bewegungen zu unterdrücken. Wien war ein Zentrum der Reaktion. Das Jahrzehnt nach der Niederlage Frankreichs waren düstere Jahre für Beethoven, politisch und gesellschaftlich, aufgrund von Taubheit und zunehmender Isolation, familiären Konflikten und schlechter Gesundheit. Er heiratete nie und hatte keine Kinder.

Seine großen Werke sind nicht so leicht zu hören, verglichen mit denen seiner Vorgänger, wie Haydn oder Mozart, von denen er lernte und die er dann überwand. Mozarts Musik hat Kontrast, ein Hin und Her, das die Welt um ihn herum widerspiegelte. Kontrast lag in der Luft der Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts, als die feudale Ordnung, in der jeder seinen Platz kannte, zusammenbrach. Mozart löst den Kontrast in Harmonie auf, so wie die Bessergestellten hofften, dass dies in der Gesellschaft geschehen würde.

Der Kontrast steigerte sich zu Spannungen und Konflikten und brach 1789 in Paris zur Revolution aus. Beethoven nahm die Struktur der Sinfonie und transformierte und transzendierte das alte Gefühl davon. Seine Musik ist, wie die Gesellschaft, voller Spannungen, Zusammenstöße und Konflikte. Seine großen Werke erreichen einen Schluss, ein Crescendo, aber es ist vielleicht nicht Harmonie, sondern Spannung.

Seine Musik und seine Ansichten waren revolutionär. An einen seiner Gönner, Fürst Lichnowsky, schrieb er: "Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall der Geburt; was ich bin, bin ich von mir selbst." Franz II, Kaiser von Österreich, mochte Beethovens Musik nicht, da "etwas Revolutionäres in der Musik war."

Neunte Sinfonie

Beethovens Neunte Sinfonie gilt als eines der größten Musikstücke, die je komponiert wurden. Sie war sein letztes großes Werk und fasst in vielerlei Hinsicht sein Leben und seine Zeit in majestätischer Musik zusammen. Sie wurde 1824 uraufgeführt, nachdem er Jahre daran gearbeitet hatte. Diese Jahre waren einige seiner schwersten, geprägt von Krankheit und Depressionen.

Das Gefühl ist das eines Kampfes, von Hoffnung, die zurückgeworfen wird, nur um immer wieder zurückzukehren. Dies spiegelt sein Leben wider, seine Hoffnungen, Sorgen, Freuden und Enttäuschungen in seiner Kunst, in der Liebe und durch seine Taubheit. Doch immer wieder taucht er auf, um neu zu leben. Es fühlt sich auch an wie eine erneute Bestätigung der Hoffnung seiner Jugend an die Menschheit,  Hoffnung n diea Französischen Revolution.

Es gibt Kampf, Spannung, Hoffnung, scheinbaren Erfolg, dann Rückschlag, düstere Zeiten und dann kehrt die Hoffnung zurück, das Streben nach einer besseren Welt. Das könnte die Partitur zu einer Revolution sein. Es gibt Zeiten voller Hoffnung und Freude, Zeiten des stillen Friedens und andere Zeiten der Uneinigkeit, der Verzweiflung, des Rückzugs und der Reaktion. Aber durch all das hindurch geht die Hoffnung weiter: manchmal ein sprudelnder Bach, an anderen Stellen ein langsamer, schwacher Strom und wieder andere Male ein kraftvoller Fluss. Aber nach drei Sätzen ist nichts gelöst. Nur bei den menschlichen Stimmen ist der Triumph. Die Hoffnung wird zur Freude, nachdem alle Widrigkeiten überwunden sind und die Menschen die Himmelspforte gestürmt haben. Das Finale ist überwältigend, es strotzt vor Hoffnung, Freude und Freiheit.

Neu ist, dass im letzten Satz die menschliche Stimme sowohl im Chor als auch als Solo Schillers Gedicht Ode an die Freude singt. Schiller war ein deutscher Schriftsteller, der von den Ideen des aufstrebenden Bürgertums beeinflusst war; er schrieb gegen den Absolutismus der Herrschenden und für die Freiheit. Ode an die Freude könnte auch Ode an die Menschlichkeit oder Ode an die Freiheit heißen, mit den Zeilen "Alle Menschen werden Brüder sein, umarmt euch Millionen!" Es wird allgemein angenommen, dass Schiller das Gedicht ursprünglich als Ode an die Freiheit geschrieben hat.

Die Neunte ist von vielen benutzt worden, von einigen reaktionär, aber hauptsächlich von der Arbeiter*innenbewegung und den Menschen im Kampf. Die Europäische Union, eine Organisation, die mit Solidarität wenig am Hut hat, benutzte sie. Im Gegensatz dazu spielten und sangen es viele Menschen aus Fenstern und von Balkonen, während der ersten Phase der Corona-Lockdowns in mehreren europäischen Ländern.

Der große schwarze US-Sänger (und kommunistische Sympathisant), Paul Robeson, schrieb diese Worte, um zu erfassen, was die Symphonie ausdrückt:

"Keiner soll einen anderen beiseite schieben,

Keiner soll einen anderen fallen lassen.

Marschiere neben mir, oh mein Bruder,

Alle für einen und einer für alle."

Zwar kann man Schillers Gedicht als Lobpreisung Gottes interpretieren, aber im 18. Jahrhundert waren die Schriftsteller noch auf der Suche nach einem Vokabular frei von Gott und religiösen Begriffen. Beethoven ging nicht in die Kirche und war wahrscheinlich, wie viele seiner Zeit, eher ein Deist, der an einen vagen Geist glaubte, als ein Katholik.

Keine Worte können der Musik gerecht werden - hören Sie sie sich an!

Beethoven wusste, dass das Leben oder die Veränderung - eine Revolution - kein Ereignis ist, sondern ein gewaltiger Prozess des Kampfes. Er würde seine Hoffnungen für die Menschheit nicht verwirklicht sehen, aber er benutzte seine Kunst, um zu helfen, dass diese Hoffnungen verwirklicht werden. Revolutionär*innen wollen repressive Regimes der Gesellschaft und der Kunst stürzen; Beethoven war ein Revolutionär. Seine große Vorstellungskraft, die Stärke seiner Entschlossenheit und die große Hoffnung, dass sein Werk andere inspirieren würde, ermöglichten es ihm, brillante Musik zu schreiben, die er selbst nie hören würde. Er hatte den Charakter eines Revolutionärs - Vorstellungskraft, Entschlossenheit und Hoffnung.

Nach Beethoven

Beethoven war ein großer Einschnitt in die Musik, die nie mehr dieselbe sein sollte.

Die Gegend von Beethovens Geburt, das Rheintal, war ein Zentrum revolutionärer Ideen. Marx, 1818 in Trier geboren, und Engels, 1820 in Barmen (heute Wuppertal) geboren, atmeten diese Luft. Marx schrieb für die Rheinische Zeitung, die von 1842 bis zu ihrem Verbot im Jahr 1843 in Köln ansässig war. Am Vorabend der deutschen Revolution von 1848 kehrte er nach Köln zurück und gründete eine Tageszeitung, die Neue Rheinische Zeitung, bis auch sie wieder verboten wurde und er ins Exil ging.

Die deutsche Revolution von 1848-49 scheiterte, da die liberale Bourgeoisie die Arbeiter*innen mehr fürchtete, als dass sie das Joch der Feudalherrschaft beenden wollte. Engels kämpfte in den Schlachten der Revolution entlang des Rheins. Er war einer der letzten Kämpfer, der fliehen konnte und am 25. Juli 1849 die Schweiz erreichte. Später, 1871, wurde Deutschland von Preußen geeint und wurde zu einer großen kapitalistischen und industriellen Macht.

Zu Beethovens Zeit und noch eine Zeit lang danach waren die Kapitalist*innen eine neu angekommene revolutionäre Klasse: selbstbewusst, dynamisch und kühn. Diese aufstrebende Bourgeoisie wurde zunehmend Eigentümer der Industrie, und in diesen Betrieben wuchs eine neue Klasse an Stärke. Die Arbeiter*innenklasse, oder das Proletariat, stellte Gegenstände gegen Lohn her, aber die Besitzer*innen der Arbeitsplätze und zunehmend auch der Fabriken besaßen die Produkte und kontrollierten die Arbeitsbedingungen. Die Arbeiter*innen wurden von ihrer Arbeit und dem, was sie herstellten, entfremdet. Die Kapitalist*innen wurden reich, indem sie die Produkte der Arbeit anderer verkauften; die Objekte waren Waren.

Heute ist die kapitalistische Klasse verkommen und degeneriert, sie zieht die Menschheit in eine Katastrophe nach der anderen, unfähig, auch nur die einfachen Handlungen wie das Testen, Kontaktverfolgen und Bereitstellen von Schutzkleidung zum Schutz der Menschen bei einer globalen Pandemie sicherzustellen. Aber jetzt ist eine andere Klasse zu einer milliardenstarken geworden: die Arbeiter*innenklasse. Wie die Kapitalisten in den frühen Tagen hat die Arbeiter*innenklasse ihre Macht und ihr Potenzial, die Welt zu verändern, noch nicht erkannt. Anders als die Kapitalist*innenklasse ist die Arbeiter*innenklasse die Mehrheit der Menschheit.

Die bürgerliche Revolution hat am Anfang Beethoven und viele andere inspiriert. Die proletarische Revolution wird breiter und tiefer sein und viele Millionen inspirieren. Die russische Revolution gab einen kleinen Ausblick auf die Explosion der Kultur nach einer Revolution. Die sozialistische Revolution wird um die Erde gehen, neuen Höhen der Kultur erschließen, wo Sachen gut gemacht werden und die Kunst wieder mit dem Leben vereint ist.

Januar 1961: Ermordung von Lumumba, dem Held der kongolesischen Unabhängigkeit

Lumumba und die Uanbhängig der ehemaligen belgischen Kolonie
Michel Munanga, ISA Belgien

Lumumba stammte ursprünglich aus jenen Teilen der kongolesischen Bevölkerung, die die "relays" (Stützen) der Kolonialverwaltung waren. Viele dieser Kongoles*innen, die von der Verwaltung als "evolved" (entwickelt) bezeichnet wurden, konnten für die Idee der Unabhängigkeit gewonnen werden. Lumumba steckt 1957 hinter der Gründung der Kongolesischen Nationalbewegung (MNC), deren Ziel, wie das anderer Parteien, die Befreiung des Kongo von Imperialismus und Kolonialherrschaft war.

Unter dem Druck von Mobilisierungen, Streiks und Demonstrationen, im Kongo selbst, aber auch anderswo, und beeinflusst durch die wachsende Popularität des Panafrikanismus, musste sich die belgische Regierung dazu verpflichten, Wahlen zu organisieren, in der Hoffnung der Radikalisierung der Bevölkerung zuvorzukommen und ihren Würgegriff zu legitimieren. Im Mai 1960 gewann die MNC die ersten Parlamentswahlen. Die Partei bildete daraufhin eine Regierung. Zu Lumumbas Forderungen gehörte die Weigerung, die Kolonialschulden zu bezahlen, die Leopold II. Belgien zukommen lassen hatte.

Die ersten Tage der Unabhängigkeit

Schließlich wurde vereinbart, dass der Kongo am 30. Juni 1960 unabhängig werden sollte, dem Jahr, in dem 17 afrikanische Staaten ihre Souveränität erlangten. An diesem Tag hielt belgische König Baudouin eine prokoloniale Rede und Präsident Kasa-Vubu antwortete mit einer vereinbarten Treueerklärung. Das Protokoll sah keine Redezeit für den Premierminister vor. Doch Lumumba sorgte für eine Überraschung, indem er eine historische Rede auf die Tagesordnung setzte.

"Männer und Frauen des Kongo, siegreiche Unabhängigkeitskämpfer*innen, ich grüße euch im Namen der kongolesischen Regierung. (...) Kein*e Kongoles*in wird jemals vergessen, dass die Unabhängigkeit im Kampf errungen wurde, einem ausdauernden und inspirierten Kampf, der von Tag zu Tag weitergeführt wurde, einem Kampf, in dem wir weder Entbehrungen noch Leiden scheuten und weder Kraft noch Blut scheuten. (...) Wir sind zutiefst stolz auf unseren Kampf, denn er war gerecht und edel und unentbehrlich, um der erniedrigenden Knechtschaft, die uns aufgezwungen wurde, ein Ende zu setzen. (...) Morgens, mittags und nachts waren wir dem Spott, den Beleidigungen und Schlägen ausgesetzt, weil wir 'Neger' waren. (...) Wer wird jemals die Erschießungen vergessen, die so viele unserer Brüder töteten, oder die Zellen, in die gnadenlos diejenigen geworfen wurden, die sich nicht länger dem Regime der Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung unterwerfen wollten, das von den Kolonialist*innen als Werkzeug ihrer Herrschaft benutzt wurde? (...) Gemeinsam werden wir die soziale Gerechtigkeit herstellen und jedem Menschen einen gerechten Lohn für seine Arbeit sichern."

Nach dem 30. Juni erklärte General Janssens, Chef der Force Publique (der kolonialen Streitmacht): "Vor der Unabhängigkeit = nach der Unabhängigkeit". Damit meinte er, dass zwar die politische Unabhängigkeit gewährt werden müsse, nicht aber die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Ausbeutung des Kongo sollte in den Händen der belgischen Kapitalist*innen und ihrer Verbündeten bleiben.

Die Haltung von Janssens und anderen verbliebenen ex-kolonialen Militärkadern provozierte eine Revolte in der Force Publique, wo sich kongolesische Soldat*innen weigerten die Hierarchie in den Händen der konservativen, monarchietreuen Ex-Kolonist*innen zu belassen. In der Folge führte die Politik der "Afrikanisierung" der Force Publique zu dem, was man später die "kongolesische Krise" nennen würde.

Die Rolle der belgischen und amerikanischen imperialistischen Mächte

Diese Periode ist im internationalen Kontext der Konfrontation zwischen den beiden großen ideologischen Blöcken zu sehen, die völlig gegensätzlich waren: der westliche, imperialistische Block, der für den freien Markt war, und der "östliche" Block, der für die Planwirtschaft um die UdSSR war, eine bürokratische Karikatur des Kommunismus, die aber dennoch eine Ideologie vertrat, die den Interessen der Arbeiter*innen, der Unterdrückten und Ausgebeuteten entgegenkam.

Die USA befürchteten, dass Lumumba wie Fidel Castro in Kuba enden würde, dass die koloniale Revolution ihn von einer liberalen zu einer kommunistischen Position bewegen würde. Die Afrikanisierung der öffentlichen Gewalt sowie die belgische Militärniederlage lockerten den Griff der ehemaligen Kolonialmacht, was dazu führte, dass die Westmächte, Belgien, die CIA, die UNO - und ihre Komplizen in Leopoldville, Kasai und Katanga - beschlossen, Lumumba zu stürzen.

Der koloniale Würgegriff wurde in der reichen Provinz Katanga gefestigt, um die Kontrolle über die natürlichen Reichtümer zu behalten, die von der belgischen Minengesellschaft Union Minière kontrolliert wurden. Die belgischen Behörden schürten Intrigen, um den jungen Staat mit Sezessionskriegen und Staatsstreichen in Brand zu setzen. Katanga spaltete sich im Juli ab, mit der Unterstützung der mit der NATO verbündeten imperialistischen Staaten.

Lumumba stellte eine Bedrohung für die Interessen der ehemaligen Kolonialelite dar; er war für die belgischen und US-amerikanischen imperialistischen Mächte nicht kontrollierbar. Im September drängten sie Präsident Kasa-Vubu, Lumumba und seine Regierung zu entlassen, obwohl er eigentlich nicht die verfassungsmäßige Macht dazu hatte. Lumumba antwortet mit seinem Recht, indem er Kasa-Vubu zum Rücktritt auffordert. Zehn Tage nach Lumumbas Absetzung drängten die imperialistischen Mächte die Armee zur Machtübernahme, indem sie einen Putsch des Generalstabschefs Mobutu unterstützten. Dieser mag zwar illegal gewesen sein, aber das Fehlen einer gesellschaftlichen Basisorganisation, die einen solchen Putsch hätte verhindern können, erwies sich als fatal.

Ende 1960 gaben die belgischen und amerikanischen Behörden grünes Licht für die Ermordung Lumumbas. Er wurde gefoltert und nach Katanga transportiert, wo er erschossen wurde.

1999 veröffentlichte der Autor Ludo De Witte ein aufschlussreiches Buch, "Regierungsauftrag Mord: Der Tod Lumumbas und die Kongo-Krise", in dem er die Verantwortung des belgischen Staates an diesen Ereignissen aufzeigt. Es wurde Druck aufgebaut, eine belgische parlamentarische Untersuchungskommission einzurichten. Im Jahr 2002 erkannte die belgische Regierung einen Teil der Verantwortung der belgischen Behörden zu dieser Zeit an.

Aufbau echter Unabhängigkeit

Lumumba verstand, dass es notwendig war, sich zu organisieren. Er beteiligte sich an der Gründung der MNC, aber diese wurde nicht als Instrument des Massenkampfes für Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Unterdrückte entwickelt. Eine unabhängige Klassenorganisation wäre notwendig gewesen. Der Aufbau eines günstigen Kräfteverhältnisses in der Gesellschaft ist von größter Bedeutung: eine Grundlage, um die Konterrevolution zu vermeiden und sich gegen die Repression aus dem gegnerischen Lager zu wappnen, eine Grundlage für koordinierte Aktionen, auf denen man aufbauen kann, um die wirkliche Unabhängigkeit zu erobern.

Die wirkliche Unabhängigkeit und der Nutzen des Reichtums des Landes zugunsten der Mehrheit des Volkes wäre nur durch die Übernahme dieses Reichtums in die Hände der Massen selbst zu erreichen gewesen. Eine Übernahme der Union Minière durch die kongolesische Bevölkerung hätte bedeuten können, deren Reichtum auf die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung zu lenken.

Lumumba war ein ehrlicher Aktivist für die Unabhängigkeit mit einem starken Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit für das kongolesische Volk. Der Klassenkampf und der Kontext der damaligen Zeit drängten ihn zu einem radikaleren Verständnis und einer radikaleren Haltung. Seine Aktionen und die Hoffnung, die er weckte, führten dazu, dass die imperialistischen Mächte ihm das Leben nahmen, um zu versuchen, die Hoffnung, die er geschaffen hatte, zu zerstören.

USA: Aus der Geschichte lernen

Aus aktuellem Anlass, zum Wieder-Lesen

Angesichts der aktuellen Ereignisse in den USA lohnt es, sich mit historischen Erfahrungen mit rechten Putschversuchen zu beschäftigen. Hier drei Artikel zum Thema:

100. Jahrestag des Kapp-Putsches - Wie die deutsche Arbeiter*innenklasse einen rechten Putsch abwehrte, fast die Macht ergriff und wieder einmal von der SPD verraten wurde: https://www.sozialismus.info/2020/03/100-jahrestag-des-kapp-putsches/

Kapp-Putsch 1920 - 12 Millionen Generalstreik stoppt rechten Militärputsch: https://www.sozialismus.info/2010/11/kapp-putsch-1920-12-millionen-generalstreik-stoppt-rechten-militaerputsch/

Arbeiter*innendemokratie ist möglich - Über einige Erfahrungen der Selbstorganisation: https://www.slp.at/artikel/arbeiterinnendemokratie-ist-m%C3%B6glich-2722

 

Demokratie & Kapitalismus: Von Etappen und Permanenz

Lukas Kastner

Bereits vor rund 100 Jahren machte der russische Revolutionär Leo Trotzki in seiner „Theorie der Permanenten Revolution“ klar, dass in den Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung die Lösung der „demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur (=Herrschaft, nicht Diktatur im heutigen Wortsinn, Anm.) des Proletariats.“ Noch 2019 wurden im Democracy Index des Economist lediglich 22 Länder als „vollständige Demokratien“ eingestuft – gemeint ist die ohnehin beschränkte bürgerliche Demokratie! In den neokolonialen Ländern ist dies die Konsequenz der verzögerten Entwicklung des Kapitalismus. Stellte die parlamentarische Demokratie zu Beginn der internationalen Entwicklung des Kapitalismus in z.B. Frankreich und Britannien für das Bürgertum einen Weg zur Durchsetzung seiner Interessen dar, waren in den Kolonien und neokolonialen Staaten autoritäre Systeme notwendig, um die wirtschaftliche Macht des Kapitals zu festigen. An z.B. einer Landreform haben die Herrschenden, oft Kapitalist*innen UND Großgrundbesitzer*innen, kein Interesse.

Die arabischen Staaten stellen hierfür ein eindrucksvolles Beispiel dar. Vor dem Hintergrund von deren wirtschaftlicher Abhängigkeit wurde die Besetzung von Staatsposten zur Grundlage von Bereicherung und Beschaffung von Kapital. So konnte in Ägypten die oberste Schicht der Militärs durch Rüstungsgeschäfte ein Vermögen anhäufen, mit welchem sie über den Bausektor, das verarbeitende Gewerbe und den Tourismus 30-40% der Wirtschaft kontrolliert. Die Frau von Tunesiens Ex-Diktator, Ben Ali, bunkerte 45 Milliarden Dollar auf Auslandskonten. Diktatorische Regime dienen auch zur Absicherung dieser Staatsposten. Dabei wird auch nicht vor Massenmord, Krieg und religiöser bzw. ethnischer Spaltung zurückgeschreckt. Multinationale Konzerne und imperialistische Regierungen stützen die lokalen Machthaber*innen für den Zugang zu Rohstoffen und geostrategische Interessen.

Selbst eine bürgerliche Demokratie würde hingegen für die herrschende Klasse eine Bedrohung darstellen: Die Arbeiter*innenklasse (und die städtischen und ländlichen Armen) hätten „zu viel“ Einfluss und der Verlust von Staatsposten würde den Herrschenden die Grundlage ihrer Akkumulation von Reichtum und Kapital erschweren. Dies stellt ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus in der Region dar. Die Überwindung diktatorischer Regime macht somit die Verbindung demokratischer Forderungen mit einer Umwälzung der sozialen Verhältnisse durch die Arbeiter*innenklasse unter ihrer eigenen Führung unerlässlich. Nur die Arbeiter*innenklasse, im Bündnis mit den armen Massen, hat sowohl das Interesse, als auch die Kampfkraft, um Al Sisi, Assad & Co. den Kampf anzusagen. Die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus erzeugt weltweit autoritäre Regime und Diktaturen. Die Antwort darauf kann nur sozialistische Demokratie – nicht nur im arabischen Raum, sondern auch in Nigeria, Belarus, oder Berg-Karabach – sein. 

 Buchtipp: Leo Trotzki, Die Permanente Revolution, 1929.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Der zeitliche Ablauf des „Arabischen Frühlings“

17.12.2010 Mohamad Bouazizi verbrennt sich in Sidi Bouzid selbst

Dez. 2010 Tunesische Polizei greift Demonstrant*innen an

6.1.2011 Erste Massenstreiks in Tunesien

10.1. UGTT (tunesischer Gewerkschafts-Dachverband) verkündet Generalstreik

14.1. Diktator Zine el-Abidine Ben Ali verlässt Tunesien

20.1. Linke und Gewerkschafter*innen in Algerien beginnen Proteste zu organisieren

25.1. Massenproteste in Ägypten

27.1. Proteste im Jemen beginnen

1.2. ca. 2 Millionen Menschen in Kairo auf der Straße

10.2. Hosni Mubarak wird abgesetzt – das Militär übernimmt die Macht in Ägypten

15.2. Massenproteste in Libyen gegen Diktator Muammar al-Gaddafi

20.2. Proteste in Marokko zwingen Regierung zu Zugeständnissen

Februar: Demonstrant*innen in Bahrain fordern ein Ende der Diktatur

Februar: Gaddafis militärische Unterdrückung der Proteste führt zum Bürger*innenkrieg

15.3. erste Massenproteste in Syrien

16.3. Militär und Polizei schlagen die Proteste in Bahrain nieder

19.3. NATO-Bombardement Libyens beginnt

April: Syrisches Militär eröffnet den Bürgerkrieg in Syrien

27.4. Hunderttausende protestieren im Jemen

Mai: Zunehmend bewaffnete Konflikte im Jemen

28.8. Mit NATO-Unterstützung erobern Rebellentruppen die libysche Hauptstadt Tripoli

9./10.10. Nach islamistischem Anschlag auf eine ägyptische Kirche protestieren Muslim*innen und Christ*innen gemeinsam; die Armee greift ein – zahlreiche Tote

20.10. Gaddafi wird getötet

19.–21.11. Massenproteste in Kairo fordern Ende der Herrschaft des Militärs

20.12. Massenproteste von Frauen in Ägypten gegen Sexismus und Unterdrückung

27.2.2012: Ali Abdullah Saleh als Präsident des Jemens abgesetzt

Juni 2012 Mohammed Mursi (Muslimbrüder) gewinnt Wahl in Ägypten

22.11. In Ägypten beginnen Massenproteste gegen die schlechte soziale Lage und die zunehmend autoritäre Herrschaft der Muslimbrüder

Jänner–Juli 2013 zunehmende Proteste gegen Mursi in Ägypten

Juli 2013 Mursi wird abgesetzt. Das Militär errichtet eine Diktatur

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Das bittere Erbe von Margaret Thatcher

von Mike Forster (Socialist Alternative, Schwesterorganisation der SAV/ SLP und Sektion der ISA in England, Wales und Schottland)

 

Vor dreißig Jahren beendete Margaret Thatcher mit Tränen in den Augen ihre elfjährige Regentschaft als Premierministerin von Großbritannien. Als Pionierin des Neoliberalismus kämpfte sie für die Interessen ihrer Klasse - der Reichen, während die Arbeiterklasse sie so sehr zu hassen begann, dass viele ihren Tod feierten.

 

Am 28. November 1990, vor 30 Jahren, erklärte Margaret Thatcher unter Tränen ihren Rücktritt als Vorsitzende der Tory-Partei und damit auch als Premierministerin des Vereinigten Königreichs, nachdem sie 11 Jahre an der Macht war. Sie wurde dazu durch einen Kabinettsputsch gezwungen und erkannte, dass sie diese Herausforderung der Führung nicht bestehen konnte. Ihr Abgang beendete eine Herrschaftsperiode, die das Gesicht der britischen und auch der internationalen Politik völlig verändert hatte. Der Rücktritt wurde in den Vierteln der Arbeiter*innenklasse gefeiert, weil sie massiv unter ihrer brutalen Politik gelitten hatten, aber es sollte noch weitere 7 Jahre dauern, bis die Tories endgültig aus dem Amt getrieben wurden. Thatchers Ruf und ihr Vermächtnis haben eine tiefe Narbe in der britischen Gesellschaft hinterlassen, die auch heute noch von nachfolgenden Generationen als einschneidend empfunden wird.

Thatchers arbeiterfeindliche Regierung war ein Nebenprodukt des langsamen, aber stetigen Niedergangs des britischen Kapitalismus seit Anfang des 20. Jahrhunderts, der jedoch durch die Nachkriegsrezession der 1970er Jahre beschleunigt wurde. Obwohl Labour von 1972 bis 1979 an der Macht war, war Großbritannien die erste Industrienation der Zeit, die sich den Forderungen des Internationalen Währungsfonds beugte und die öffentlichen Ausgaben kürzte, Lohnzurückhaltung einführte und die Macht der Gewerkschaften beschnitt.

Der Angriff auf die Arbeitsplätze und den öffentlichen Sektor führte zu den berüchtigten "Dirty Jobs"-Streiks von 1978. Dabei organisierten einige der am schlechtesten bezahlten Arbeiter*innen (darunter das medizinische Personal, Totengräber*innen und Vorarbeiter*innen) lang anhaltende und koordinierte Streikaktionen gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik der Callaghan-Labour-Regierung. Dies führte dazu, dass viele Arbeiter*innen das Vertrauen in die Labour-Partei verloren. Das wiederum erlaubte den Tories, die Wahl von 1979 knapp zu gewinnen und die erste weibliche Premierministerin Großbritanniens an die Macht zu bringen.

Thatcher - Wegbereiterin des Neoliberalismus

Es gibt viele Mythen um Thatchers Amtszeit. Eine davon war, dass sie große, öffentliche Unterstützung genoss. Aber innerhalb eines Jahres war sie bereits die unpopulärste Premierministerin der britischen Geschichte. Sie war verantwortlich für die wachsende Arbeitslosigkeit, die bis 1984 von 1,5 Millionen auf 3,5 Millionen anstieg. Thatcher behauptete, die Inflation zähmen zu können, wenngleich sie bei ihrem Amtsantritt bei über 20 % lag, schwankte sie während ihrer Regierungszeit meistens zwischen 5 und 10 %.

Die Gewerkschaftsbewegung veranstaltete Massenproteste gegen sie, an denen Hunderttausende teilnahmen, und die Labour Party rief sogar zu Demonstrationen in Liverpool, Glasgow, Cardiff und London auf, die etwa 1 Million Menschen auf die Straße brachten. Eine Stimmung des Widerstands und des Trotzes hing in der Luft. In Bristol, London und Liverpool kam es zu Unruhen wegen der exzessiven rassistischen Polizeipräsenz und zur Entstehung von Arbeitslosenzentren in den verödeten Innenstädten.

Thatchers innerer Zirkel, der damals die Interessen der herrschenden Elite Großbritanniens widerspiegelte, hatte einen wirtschaftlichen Kurswechsel vollzogen und die Konsenspolitik zugunsten harter monetaristischer Doktrinen, den Vorläufern des heutigen Neoliberalismus, aufgegeben. Sie befürworteten die Schrumpfung des öffentlichen Sektors und die Demontage der Schwerindustrie zugunsten der Finanzmärkte.

Dieser Ansatz widersprach der gesamten Geschichte des britischen Kapitalismus, der durch die Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie zu einer großen Weltmacht geworden war. Als Thatcher an die Macht kam, machte das verarbeitende Gewerbe 40 % des britischen BIP aus, was im Rest des Jahrzehnts dramatisch zurückging und bis zum heutigen Tag weniger als 10 % des BIP ausmacht.

Die öffentlichen Ausgaben fielen von 44% des BIP auf nur noch 39%, als sie ihr Amt verließ. Stattdessen befürworteten die Tories Steuersenkungen und eine erzwungene Abhängigkeit von den Finanzmärkten. Sie hoben die Devisenkontrollen für die britische Währung auf und ausländisches Kapital begann in die Londoner City zu strömen. Thatcher vollendete diese Revolution, als die Londoner Börse 1986 dereguliert wurde und sich so zu einem der größten Finanzzentren der Welt für Spekulation und Profitmacherei entwickeln konnte.

Während der "Big Bang" in der City eine riesige Illusion von Wohlstand schuf, ebnete er in Wirklichkeit den Weg für den Finanzcrash von 2007 bis 2009. Die Märkte wurden durch Schulden und Spekulationen massiv aufgebläht. Marxisten warnten damals, sie säe die Saat für eine große Katastrophe. Obwohl es einige Zeit dauerte, bis sich dies durchsetzte, hat der Crash von 2007-09 und die heutige tiefe Rezession ihre Wurzeln in Thatchers monetaristischem Experiment.
Diese "Get Rich"-Mentalität wurde von Thatcher gefördert, auch wenn sie eindeutig auf Kosten der ärmsten Schichten der Gesellschaft ging. Thatcher verfolgte eine brutale und herzlose Ideologie. Sie behauptete: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht“. Diese Ideen haben sich als leerer und hohler Unsinn erwiesen, als die Menschheit mit der Covid-Pandemie konfrontiert wurde und als die  Arbeiter*innenklasse Solidarität und gegenseitige Kooperation zeigen musste.

Thatchers Politik verwüstete die Viertel der Arbeiter*innenklasse. Noch 1982 war Thatcher auf dem Weg in ein Wahldesaster. Die Geschichte gab ihr jedoch eine Gelegenheit die nationalistische Karte zu ziehen, als Argentinien im selben Jahr auf den Falkland-Inseln einmarschierte.

Thatcher ging ein hohes Risiko ein und entschied sich, eine Kriegsarmada zu entsenden, um angeblich das Volk der Falklandinseln von dem Militärdiktator, Präsident Galtieri, zu "befreien". Es war ein Konflikt, den sie beinahe verloren hätte, aber Galtieris junge Wehrpflichtigenarmee war der überlegenen britischen Luftwaffe nicht gewachsen, allerdings erst, nachdem Thatcher die berüchtigte Versenkung des argentinischen Kriegsschiffs Belgrano befohlen hatte. Es wurde beim Rückzug versenkt und kostete über 700 Menschenleben.

Thatchers Zukunft war untrennbar mit einem militärischen Sieg verbunden, und sie betrachtete die brutale Versenkung der Belgrano als notwendigen Kollateralschaden. Die Kapitulation der argentinischen Truppen brachte Thatcher den Titel der "Eisernen Lady" ein. Bei den Wahlen im folgenden Jahr fegte sie, sich in den Union Jack hüllend, die Labour-Partei und ihren glücklosen Führer Michael Foot beiseite und wurde für eine weitere Amtszeit an die Macht zurückgebracht.

Die Antwort der Labour Party

In den frühen 1980er Jahren hatte die Labour-Partei so etwas wie einen Wandel durchgemacht. Der linke Flügel war auf dem Vormarsch und die Mitgliederzahlen stiegen rapide an. Linke Gewerkschaftsführer*innen und Wahlkreisaktivist*innen setzten Änderungen durch, die eine automatische Wiederwahl der Abgeordneten vorsahen, so dass die Mitglieder kontrollieren konnten, wer ihre Kandidaten sein würden, und eine Vetomöglichkeit gegen das Wahlprogramm, wodurch die Kontrolle über die Entscheidungsfindung der Partei in die Hände der Konferenz gelegt wurde. Die Galionsfigur der Linken, Tony Benn, rief zu einer sozialistischen Labour Party auf und kandidierte als stellvertretender Parteivorsitzender. Er verfehlte diese Position auf dem Parteitag 1981 nur knapp, aber kurz darauf verließen vier rechte Abgeordnete die Labour Party, um eine neue Partei zu gründen (die Sozialdemokratische Partei unter der Führung der Viererbande, wie sie genannt wurde). Dieses kalkulierte Manöver, das darauf abzielte, die Linke zu schwächen, spaltete 1983 auch die Stimmen der Labour-Partei und bescherte Thatcher eine Mehrheit von 144 Sitzen!

Wir haben so einen Verrat auch durch heutige Rechte gesehen, die sich absichtlich zur Wahl gestellt haben, um Corbyn bei der Wahl 2017 in den Rücken zu fallen und eine linksgeführte Labour-Regierung zu verraten. Diese Rechten sollten in die "Hall of Shame" der Labour-Bewegung aufgenommen werden, da sie den Weg für Thatchers Angriff auf Arbeitsplätze, Wohnungsbau, die Gewerkschaften und demokratische Rechte geebnet haben.

 

Thatcher greift die Gewerkschaften an

Thatcher wollte es mit der Macht der britischen Gewerkschaftsbewegung aufnehmen. Die Tories hatten ihre Demütigung durch die Bergarbeiter*innen in den Jahren 1972 und 1974 nicht vergessen, als zwei aufeinander folgende Streiks die Tories zum Rückzug gezwungen hatten. 1974 rief der damalige Tory-Führer Edward Heath inmitten des Streiks die Parlamentswahlen aus und stellte die Frage: "Wer regiert das Land, die Regierung oder die Bergarbeiter?“ Das Ergebnis war ein Labour-Sieg und die Tories wurden unrühmlich von der Macht vertrieben.

Thatchers berüchtigtes Tory-Kabinettsmitglied, Nicholas Ridley, überlegte, wie die Bergarbeiter*innen in einem weiteren Streik besiegt werden könnten. Sein Geheimplan wurde von Thatcher gebilligt und beinhaltete die Einstellung einer nationalen, streikbrechenden Polizeitruppe, das Anlegen von Kohlevorräten, die Rekrutierung streikbrechender LKW-Fahrer, die Streichung jeglicher Vergünstigungen für Streikende und die Ausstattung der Regierung mit mehr gewerkschaftsfeindlichen Befugnissen. Die Tories provozierten 1984 einen Streik, indem sie mit der Schließung mehrerer Zechen drohten, und der einjährige Streik nahm seinen Lauf. Dies war eine der bittersten Perioden des Klassenkampfes in der britischen Nachkriegsgeschichte. Die herrschende Klasse war darauf aus, die mächtigste Gewerkschaft Großbritanniens, die National Union of Mineworkers, zu zerstören, was Militant, der Vorläufer von Socialist Alternative, damals zu Recht als einen "Bürgerkrieg ohne Kugeln" bezeichnete.

Der Ausgang des Streiks war eine tragische Niederlage für die Bergarbeiter*innen, aber ein Sieg der NUM hätte den Lauf der Geschichte zugunsten unserer Klasse verändert. Umso tragischer, dass es sowohl die Labour- als auch die Gewerkschaftsführer*innen zuließen, dass der britische Staat der Arbeiter*innenklasse diesen schrecklichen Schlag versetzte. Der damalige Labour-Führer Neil Kinnock verurteilte die "Gewalt" der Streikposten und lehnte es ab, ihren Kampf zu unterstützen. Aufrufe zum Generalstreik durch den TUC wurden von seinem Vorsitzenden Norman Willis ebenfalls zurückgewiesen, und die Bergarbeiter*innen wurden mit ihrem Kampf allein gelassen. Trotzdem waren die Bergarbeiter*innen dem Sieg nahe; Thatcher enthüllte später, dass sie nach einem Ausweg gesucht hatte, als der Streik abgebrochen wurde. Eine stolze aber dennoch besiegte Gewerkschaftsmitgliedschaft marschierte ohne eine Einigung zurück zur Arbeit. Thatcher begann sofort die Industrie zu zerstören: Die Belegschaft von 230.000 wurde auf weniger als 4.000 heute reduziert.

Was folgte, war eine Zerschlagung anderer wichtiger Industriearbeitsplätze und Gewerkschaften: Hafen-, Auto-, Stahl-, Druck- und Maschinenbauarbeiter*innen wurden Zeug*innen von groß angelegten Schließungen oder Privatisierungen, manchmal nach kurzen und erbitterten Streiks. Die Arbeitslosigkeit stieg bis Mitte der 1980er Jahre von 5,3 % auf 11,4 %. Die Zahl der Arbeiter, die Krankengeld bezogen verdoppelte sich auf 1,6 Millionen, wodurch eine Arbeitslosigkeit von fast 20 % der Arbeiter*innen künstlich verschleiert wurde. 3 Millionen Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe wurden vernichtet, hauptsächlich in den nördlichen Kerngebieten. Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften sank von ihrem Höhepunkt von 13,2 Millionen Mitgliedern auf einen historischen Tiefstand von etwa 7 Millionen am Ende des Jahrzehnts und ging in den 1990er Jahren noch weiter zurück. Die Armut stieg sprunghaft an: Während die Einkommen der reichsten 10 % um 35 % stiegen, sanken die Einkommen der ärmsten Bevölkerungsschichten, und die Zahl der in Armut lebenden Kinder stieg von 1,7 Millionen auf 3,3 Millionen, als sie aus dem Amt schied.

Es ist kein Wunder, dass Tausende von Arbeiter*innen den ganzen Tag feierten, als Thatcher 2013 starb. Sie hinterließ ein bitteres Erbe von zerstörten Vierteln, Häusern und Familien; eine Narbe, die nie verheilt ist.

Thatchers Krieg gegen die lokalen Behörden

Thatcher entschied sich auch dafür, gegen die Labour-Stadträte in den Krieg zu ziehen, indem sie die Beträge, die die Stadträte  von der Zentralregierung erhielten, kürzte und gesetzliche Obergrenzen für die Möglichkeit festlegte, Mittel auf lokaler Ebene aufzubringen. Dies stellte die Räte vor die Wahl, sich entweder gegen ihre Angriffe zu wehren oder für Thatcher die Drecksarbeit zu erledigen, in dem sie Kürzungen bei den Dienstleistungen oder Erhöhungen der Steuern (lokale Steuern) oder sogar beides durchsetzten. Zunächst gab es eine beeindruckende Einheitsfront von bis zu 20 Labour-Stadträten, die sich gemeinsam weigerten, die Tory-Kürzungen umzusetzen. Es gab sogar Massenproteste in den Rathäusern, die von lokalen Ratsvorsitzenden wie David Blunkett in Sheffield einberufen wurden, der damals als ein führender linker Unruhestifter galt. Einer nach dem anderen kapitulierte jedoch vor den kombinierten juristischen Drohungen und den Forderungen der nationalen Labour-Führung, sich "unterzuordnen". Am Ende entschieden sie sich für sogenannte "legale" Budgets, was natürlich Kürzungen und Steuererhöhungen bedeutete.

Massendemonstration zur Unterstützung des Liverpooler Stadtrats

Im Unterschied dazu verweigerte der sozialistisch geführte Stadtrat von Liverpool die Unterwerfung. In scharfem Gegensatz zu den anderen Stadträten verpflichteten sie sich, den Tories zu trotzen und ein illegales oder "Bedarfs"-Budget festzulegen. Ihr Trotz und ihre klare kämpferische Haltung inspirierte die enorme Unterstützung der Arbeiter*innenklasse von Liverpool, die den Aufrufen zu Protesten und Streiks folgte, als sie gebeten wurden, ihren Stadtrat zu unterstützen. Noch beeindruckender war, dass der Stimmenanteil für die Labour-Partei seit Beginn ihres Kampfes 1981, als die Unterstützer*innen der Militant-Gruppe in der Labour-Partei die Führung des Rates übernahmen, jedes Jahr weiter anstieg. In einer großen Auseinandersetzung 1984, während des Bergarbeiter*innenstreiks, lenkte die Thatcher-Regierung ein und gab dem Rat finanzielle Unterstützung, damit er sein Wohnungsbau- und Arbeitsbeschaffungsprogramm ohne eine massive Steuererhöhung durchführen konnte. Der von Militant inspirierte Stadtrat hatte bewiesen, dass Thatcher geschlagen werden konnte, sobald sie mit entschlossenem und militantem Widerstand konfrontiert wurde.

Bedauerlicherweise ging diese Lektion unter der neuen Labour-Führung von Neil Kinnock und Roy Hattersley verloren. Sie starteten auf dem Labour-Parteitag 1985 eine schändliche Hexenjagd gegen die Liverpooler Ratsvorsitzenden. Dies stellte einen bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte der Labour Party dar. Der Angriff auf den marxistischen Flügel von Labour hörte damit nicht auf. Stück für Stück wurden die Errungenschaften der Linken in Labour aus den frühen 80er Jahren für das nächste Jahrzehnt geschliffen, bis Tony Blair 1998 sogar erklären konnte, dass er nun "New Labour" anführte. Die Opposition gegen Thatchers Konterrevolution war damit gebändigt und sie konnte weitere Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse vorantreiben. Nachdem sie aus dem Amt geschieden war, wurde Thatcher gefragt, was ihre größte Errungenschaft gewesen sei. Sie antwortete ohne zu zögern: "New Labour". Kein Wunder also, dass sie die erste war, die von Tony Blair in die Downing Street eingeladen wurde, als er die Wahl 1997 gewann.

Privatisierung des öffentlichen Sektors

Thatcher war auch für umfangreiche Privatisierungen verantwortlich. Schlüsselindustrien, die sich in öffentlicher Hand befunden hatten, wurden an den privaten Sektor verkauft, darunter British Gas and Electricity, British Telecoms, Leyland, Oil, Airways, Steel, Petroleum und Jaguar, gefolgt von den Wassergesellschaften. Andere Versorgungsunternehmen und Verkehrsnetze folgten unter der Regierung von John Major. Dieser obszöne Ausverkauf stellte einen massiven Transfer von Reichtum aus dem öffentlichen Sektor zu Spekulant*innen und den Reichen dar. Er wurde begleitet vom Verkauf öffentlicher Wohnungen, um das zu schaffen, was Thatcher eine "eigentumsbesitzende Demokratie" nannte. In den 1980er Jahren führte sie eine Gesetzgebung ein, die es Mietern von Sozialwohnungen erlaubte, ihre eigenen Häuser zu kaufen, wodurch knapp 1 Million Häuser aus dem öffentlichen Sektor herausgenommen wurden und das Wohneigentum von 10,2 Millionen im Jahr 1981 auf 13,4 Millionen am Ende des Jahrzehnts anstieg.

Dies brachte ihr vorübergehend die Unterstützung einiger ehemaliger Labour-Wähler*innen ein, die sich von der Illusion der Schaffung von Wohlstand leiten ließen. Aber der rasante Anstieg der Hauspreise und der Zinssätze im Laufe des Jahrzehnts verdrängte die meisten von ihnen aus dem Markt. Das Erbe dieser entsetzlichen Gesetzgebung ist nun in dem enormen Anstieg der Obdachlosigkeit und dem Rekordmangel an Sozialwohnungen zu sehen.

Thatcher konnte sich 1987 eine dritte Amtszeit auf dem Rücken eines vorübergehenden wirtschaftlichen Aufschwungs sichern, der durch Kredite und Schulden angeheizt wurde, aber dennoch die Illusion eines steigenden Lebensstandards schuf. In Wirklichkeit war ein großer Teil der Arbeiter*innenklasse auf der Strecke geblieben, aber Neil Kinnocks schreckliche Führung der Labour Party gab den Tories den politischen Raum, um erneut zu gewinnen.
 

Das Rosten der „Eisernen Lady“

Thatcher wurde in ihrer letzten Amtszeit zu selbstbewusst. Sie machte den Fehler, die Stimmung der Massen nur an ihrer blassen Führung zu messen. Sie entschied sich, die Poll-Tax (Kopfsteuer) einzuführen - eine ungerechte und ungleiche Steuer, die jedem Hausbesitzer auferlegt werden sollte, unabhängig vom Einkommen, um das lokale Steuersystem zu ersetzen, das das Haushaltseinkommen auf der Grundlage des Hauswertes erhob.

Es war ein direkter Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter*innen, den sie sich nicht leisten konnten. Die demoralisierte Führung der Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung wetterte gegen die Ungleichheit der Steuer, bot aber keine kohärente Kampfalternative an. Nur Militant, die ihrer Klasse treu blieben, forderte eine Massen-Nichtzahlungskampagne. Wir wussten, dass sich eine Unzufriedenheit zusammenbraute, die leicht überschwappen und sich um diese Steuer herum kristallisieren konnte.

Thatchers zweiter Fehler bestand darin, Schottland als Versuchskaninchen zu benutzen, wo die Kopfsteuer ein Jahr früher eingeführt wurde. Durch kommunale Tür-zu-Tür-Werbung bauten Anti-Poll-Tax-Aktivist*innen in jeder Siedlung große Anti-Poll-Tax-Bündnisse auf. Fensterplakate mit der Aufschrift "No Poll Tax Here" (Keine Kopfsteuer hier) schmückten die innerstädtischen Mietskasernen. Als die Kopfsteuer in Schottland Gesetz wurde, weigerten sich 1 Million Menschen sie zu zahlen, was sie völlig uneinbringlich machte. Doch Thatcher blieb stur und schuf eine Armee von 14 Millionen Nichtzahler*innen in England und Wales. Die Bewegung gipfelte in riesigen gleichzeitigen Demonstrationen in Glasgow und London am 31. März 1990. Die Zahlungsausfälle nahmen im Laufe des Jahres tatsächlich zu und brachten die Gemeindefinanzen durcheinander. Die Steuer war fürchterlich gescheitert und die Tory-Führung fasste schließlich den Mut, Thatcher am Ende des Jahres abzusetzen.

Der ursprüngliche Brexiteer

Ihr anderes Vermächtnis war die Förderung von Feindseligkeit und Misstrauen gegenüber der Europäischen Union. Anfänglich war sie eine starke Befürworterin der EU und unterstützte die Stärkung der Handelsbeziehungen. Als dies jedoch in eine engere politische Union überging, begann sie ihren Kreuzzug gegen eine weitere Integration. Es war dieser Standpunkt, der die zügellosen Rechtsnationalisten in ihrer Partei ansprach und die Partei zu einer feindlicheren Haltung gegenüber der EU veranlasste. Diesen Ansatz verfolgte auch ihr Nachfolger (John Major), der die die EU als "Bastarde" bezeichnete. Und es erlaubte auch Boris Johnson zu behaupten, er stehe in der Tradition Thatchers, was ironischerweise die Tory-Partei weiter auseinander riss und dem Brexit den Weg ebnete.

Lehren

Thatcher war ein Geschöpf ihrer Zeit, gleichermaßen gefürchtet und verabscheut. Wir studieren diese Periode, weil man viel aus ihr lernen kann, vor allem durch aus den Niederlagen, die ihr von organisierten sozialistischen Kräften vor Ort zugefügt wurden. Wenn uns nur allzu oft gesagt wird, dass rechte Diktator*innen oder Führer*innen allmächtig sind, sollten wir uns daran erinnern, wie die Eiserne Lady zurückgedrängt wurde. Wenn sie inspiriert und selbstbewusst geführt werden, können arbeitende Menschen immer kämpfen und gewinnen, wie wir heute in Seattle bewiesen haben. Bedauerlicherweise wurde Thatcher erlaubt, Millionen arbeitenden Menschen großes Leid zuzufügen und einen Kurs für die britische Gesellschaft einzuschlagen, den wir nie vergessen dürfen. Obwohl sie auch heute noch von Tory-Anhänger*innen gelobt und gepriesen wird, ebnete ihre Politik auch den Weg für große Spaltungen, die wir heute in der Tory-Partei und in Europa beobachten können. Thatcher führte die Wirtschaft in den finanziellen Ruin. Ihre Regierungszeit ebnete den Weg für einen massiven Niedergang des britischen Kapitalismus und damit auch der Tory-Partei.

 

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