Internationales

Impfstoff-Nationalismus bedroht die Heilung von COVID

Keely Mullen (Socialist Alternative, ISA in den USA)

Die COVID-Pandemie hat die katastrophale Unfähigkeit des westlichen Kapitalismus offengelegt. Eine neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 40% der COVID-Todesfälle in den USA vermeidbar gewesen wären. Das sind Hunderttausende, die nicht hätten sterben müssen. Die Regierungen der EU, der USA und Großbritanniens haben alle völlig dabei versagt, das Virus einzudämmen. Ihre höchste Priorität war es, die globale Profitmacherei für ihre eigene heimische Kapitalist*innenklasse wieder in Gang zu setzen, was zu einem wahnwitzigen Kreislauf von Schließungen und überstürzten Wiedereröffnungen geführt hat. Sie haben auf nationalistisches Horten von Ressourcen zurückgegriffen, was die Krise nur verschlimmert hat und es dem Virus ermöglicht hat, in anderen Teilen der Welt um sich zu greifen und zu mutieren.

 

 

Leider ist dies nicht die einzige Pandemie, die wir erleben werden. Wissenschaftler*innen sagen voraus, dass zukünftige Pandemien häufiger auftreten, sich schneller verbreiten und mehr Menschen töten werden. Die Ausbeutung des Planeten durch kapitalistische „Entwicklung“ ist das, was uns COVID überhaupt erst beschert hat: Die Abholzung von Wäldern und die Störung von wilden Lebensräumen (immer im Namen des Profits) erhöht den Kontakt zwischen Wildtieren, Vieh, Krankheitserregern und Menschen und ist ein Hauptgrund für die Verbreitung von Infektionskrankheiten. Wenn es jemals einen Zweifel daran gab, dass der Kapitalismus seinen Nutzen überlebt hat, dann sollte diese Krise ihn ausräumen.

 

 

Der Trend zur Deglobalisierung hat dazu geführt, dass die engen Interessen nationaler Kapitalist*innenklassen Vorrang vor einer global koordinierten Reaktion auf die Pandemie hatten. Zu Beginn der Pandemie entschieden sich die USA, auf die COVID-Testtechnologie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu verzichten und stattdessen einen selbstgemachten Test der Centers for Disease Control (CDC) zu verwenden, der später zurückgerufen wurde. Dieser Trend wurde durch die Impfkampagne nur noch verschärft, bei der westliche Kapitalist*innen Impfstoffe horten und einen Großteil der neokolonialen Welt ungeschützt lassen.

 

 

Die Folgen dieser Vorgehensweise sind komplett kontraproduktiv. So sehr sich nationale Regierungen es auch wünschen mögen, es ist fast unmöglich, seine Grenzen gegen die COVID-Bedrohung abzuschotten. Wenn das Virus in einem Teil der Welt zirkulieren kann und gefährliche neue Mutationen entwickelt, ist der Rest der Welt gefährdet.

 

 

Schon jetzt scheint die Coronavirus-Variante in Südafrika gegen den Impfstoff von AstraZeneca geschützt zu sein, der als Königsweg zur Lösung von Ausbrüchen in der neokolonialen Welt gepriesen wurde, weil er pro Dosis weniger teuer ist als andere Impfstoffe. Bloomberg schätzt, dass es bei dem derzeitigen Tempo 6,6 Jahre dauern wird, bis die Welt eine 75%ige Immunität gegen COVID erreicht hat.

 

 

Die Bereitstellung von Impfstoffen für die 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt wird eine der größten logistischen Herausforderungen sein, die die Menschheit je bewältigt hat. Trotz des ganzen Hypes um die kapitalistische Innovation versagt dieses System völlig bei der Bewältigung dieser Herausforderung. Die Konsequenz? Tod und Krankheit für die globale Arbeiter*innenklasse und die Armen und Megaprofite für die Profiteur*innen des Gesundheitswesens. Anstatt innovativ zu sein, dient das kapitalistische System als Fessel für Innovation. Die üblichen neoliberalen Spielchen der Kapitalist*innenklasse, wie z.B. sich auf NGOs zu stützen, um die Probleme aufzufangen, versagen jetzt. Ohne eine zentrale Planung und ein Ende des Profitstrebens der Pharmakonzerne wird sich dieses Virus weiter seinen Weg durch die Weltbevölkerung bahnen.

 

 

Die Kapitalist*innen befinden sich in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite würde die Lösung dieser Krise es ihnen ermöglichen, ihre Profitmacherei wieder fortzusetzen. Aber auf der anderen Seite erfordert die Lösung der Krise die Beendigung der Profitmacherei für die große Pharmaindustrie und möglicherweise für bestimmte Teile der Logistikindustrie. Sie wollen unbedingt wieder zur Tagesordnung übergehen, aber die Frage ist: Werden sie dazu in der Lage sein?

 

 

Globale Ungleichheit bei Impfstoffen

 

 

Schon früh in der Pandemie setzten wohlhabende westliche Länder wie die EU, die USA, Kanada und Großbritannien auf eine Reihe von Impfstoffen, die sich in der Entwicklung befanden, und bestellten Milliarden Impfdosen, insbesondere von Pfizer und Moderna. Sie reservierten genug Dosen, um ihre eigene Bevölkerung mehrfach zu versorgen und ließen die armen Länder dabei außen vor.

 

 

Noch bevor die Impfstoffe von den Behörden zugelassen wurden, stand fest, dass die wohlhabenderen Länder die Regale mit den verfügbaren Impfstoffen leeren und die armen Länder schutzlos gegen COVID-19 zurücklassen würden. Tatsächlich wurde in den USA in den Verträgen der „Operation Warp Speed“ festgeschrieben, dass jeder Impfstoff, der mit amerikanischen Dollars entwickelt wurde, zuerst an Amerikaner verimpft werden muss.

 

 

Es war die Voraussicht dieser Ungerechtigkeit, die zur Gründung des COVAX-Programms führte, einer Partnerschaft zwischen der WHO und GAVI, einer öffentlich-privaten „globalen Gesundheitsallianz“. GAVI, eine 20 Jahre alte Initiative der Bill und Melinda Gates Stiftung, bringt Pharmariesen und nationale und internationale Gremien zusammen, um „Impfstoffe in arme Länder zu schaffen.“

 

 

Die Absicht des COVAX-Programms war es, die Entwicklung bestimmter Impfstoffe finanziell zu unterstützen und im Gegenzug Milliarden von Dosen für arme Länder zu sichern. Aber selbst die weitreichendsten Ziele von COVAX würden kein Ende der Pandemie bringen. Das Programm sieht vor, bis Ende 2021 zwei Milliarden Dosen zu liefern. Damit wären nur 20 % der Bevölkerung in 91 armen und Ländern mit mittlerem Einkommen in Afrika, Asien und Lateinamerika abgedeckt. Und sie sind weit davon entfernt, auch nur dieses bescheidene Ziel zu erreichen, da sie damit ringen, genügend Unterstützung von den kapitalistischen Großmächten weltweit zu bekommen.

 

 

Das COVAX-Programm befindet sich nun im freien Fall, und sein Scheitern könnte bedeuten, dass arme Länder bis 2024 nicht einmal Zugang zu den Impfstoffen erhalten werden.

 

 

COVAX-Krise

 

 

Der Weg zu massenhaften Impfungen in armen Ländern ist übersät mit Hindernissen, die von der großen Pharmaindustrie aufgebaut wurden. Hindernisse, die nicht einmal der reichste Philanthrop überwinden kann.

 

 

Laut internen COVAX-Dokumenten, die Reuters vorliegen, besteht für das COVAX-Programm ein „sehr hohes Risiko“ des Scheiterns. Reuters berichtet, „die Förderer des Programms sagen, dass das Programm mit einem Mangel an Geldmitteln, Lieferrisiken und komplexen vertraglichen Vereinbarungen kämpft, die es unmöglich machen könnten, seine Ziele zu erreichen.“

 

 

Die Impfstoffe von Pfizer und Moderna, die auf einer brandneuen, revolutionären mRNA-Technologie basieren, haben sich als hochwirksam erwiesen. Berichten zufolge lösen beide zwar eine geringere Antikörperreaktion auf die südafrikanische Variante aus, sind aber generell wirksam, wenn sie mit einer Auffrischungsimpfung kombiniert werden. Diese Impfstoffe sind schneller und billiger zu produzieren als herkömmliche Impfstoffe und werden im Labor entwickelt, was bedeutet, dass die Produktion relativ einfach hochgefahren werden kann.

 

 

Trotz alledem hat COVAX nur magere Verträge mit Pfizer und Moderna und Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt, die in armen Ländern leben, werden niemals Zugang zu diesem lebensrettenden Impfstoff erhalten. Der Grund? Profit, schlicht und einfach.

 

 

Obwohl die Impfstoffe von Pfizer und Moderna billiger zu produzieren sind, kosten sie viermal mehr als der weniger wirksame Impfstoff von AstraZeneca. Ryan Richardson, Chief Strategy Officer von BioNTech, der deutschen Firma, die den Impfstoff von Pfizer entwickelt hat, sagte, dass der Produktpreis „teilweise die Risiken widerspiegelt, die die Investor*innen eingegangen sind.“ Die Führungskräfte von Pfizer weigern sich, detaillierte Informationen darüber herauszugeben, wie sie zu diesen Preisentscheidungen gekommen sind oder was sie mit den erzielten Gewinnen zu tun gedenken. Werden sie wieder in Forschung und Entwicklung investieren? Höchst zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass Pfizer doppelt so viel für Werbung, Managergehälter und Zulagen usw. ausgibt wie für Forschung.

 

 

In Anbetracht all dessen wird das COVAX-Programm kaum Zugang zu den neuen mRNA-Impfstoffen haben und auf billigere traditionelle Impfstoffe wie die von AstraZeneca und Novavax zurückgreifen müssen. Beunruhigend ist die Tatsache, dass Pfizer ein GAVI-Partner ist.

 

 

COVAX hat eine unverbindliche Vereinbarung mit AstraZeneca, Novavax und Sanofi getroffen, um 400 Millionen Dosen bereitzustellen. Diese drei Unternehmen haben jedoch alle mit Verzögerungen zu kämpfen, und die Impfstudien von AstraZeneca in Südafrika wurden kürzlich gestoppt, weil sich der Impfstoff als unwirksam gegen die gefährliche neue Variante namens B.1.351 erwies.

 

 

COVAX ist in einer so schlechten Lage, dass sie die CitiGroup beauftragt haben, sie zu beraten, wie sie finanzielle Fallstricke überwinden können.

 

 

Geistige Eigentumsrechte

 

 

Es gibt eine Welt, die gar nicht so weit von unserer entfernt ist, in der die revolutionäre mRNA-Impfstofftechnologie in die ganze Welt exportiert werden könnte, so dass Länder, die derzeit überhaupt keinen Zugang zu einem Impfstoff haben, die Blaupause von Pfizer und Moderna nutzen könnten, um Impfstoffe zu Hause herzustellen.

 

 

Eine Gruppe von Ländern hat vorgeschlagen, dass die Welthandelsorganisation (WTO) die traditionellen Beschränkungen des geistigen Eigentums aufhebt und ihnen genau dies erlaubt. Aber die WTO erfordert einen Konsens, und die USA, Großbritannien und die EU haben diese Bemühungen im Keim erstickt, den Wünschen ihrer Pharmariesen folgend.

 

 

Die Pharmariesen benutzen typisch kapitalistische Argumente, um zu sagen, dass der Patentschutz für die Innovation unerlässlich ist. Wie das? Weil angeblich der Patentschutz es ihnen ermöglicht, Profit zu machen, und Profite ermöglichen es Ihnen in Innovationen zu investieren.

 

 

Nun, wenn man bedenkt, dass die eigentliche Innovation für diese Impfstoffe mit öffentlichen Geldern und Ressourcen durchgeführt wurde – wie es bei der großen Mehrheit der medizinischen Durchbrüche der Fall ist – ist dieses Argument eine komplette Farce. Die Wahrheit ist, dass der Patentschutz es ihnen ermöglicht, Profit zu machen, und Profite ermöglichen es ihnen, fette Schecks an die Aktionär*innen auszuschütten.

 

 

Impfstoff-Diplomatie und Impfstoff-Protektionismus

 

 

Der Wettlauf um Impfungen ist ein Abbild der zwischenimperialistischen Rivalitäten auf der ganzen Welt. Auf der einen Seite haben wir einen unheimlichen und rücksichtslosen Protektionismus der USA, der EU und Großbritanniens gesehen, die ihre Vorräte horten. Auf der anderen Seite gibt es eine ebenso unheilvolle Scheindiplomatie von China und Russland, die armen Ländern, die sie in ihrem globalen Wettbewerb mit westlichen Mächten, insbesondere den USA, umwerben, kostenlose Lieferungen von im Inland produzierten Impfstoffen zukommen lassen. Beide Ansätze, Impfstoff-Diplomatie und Impfstoff-Protektionismus, können letztlich als Impfstoff-Nationalismus kategorisiert werden, da sie beide enge nationale Interessen fördern.

 

 

Biden verfolgt im Allgemeinen die gleiche „America first“-Impfpolitik, die auch Trump vertreten hat, abzüglich der nationalistischen Rhetorik. Und die E.U. hat einen ähnlichen Ansatz gewählt. Ende Januar verhängte die EU Exportkontrollen für Impfstoffe und wies die Zollbehörden an, alle Impfstoffexporte in 100 Länder weltweit zu blockieren, sofern sie keine ausdrückliche Genehmigung von EU-Beamten erhalten. Darüber hinaus gibt es einen anhaltenden Streit zwischen der EU und Großbritannien über die Versorgung mit Impfstoffen. Die New York Times kommentierte dies mit den Worten: „Es gibt nicht nur zu wenig Impfstoff für viele ärmere Länder, um mit den Impfungen zu beginnen, sondern die wohlhabenden Länder können sich nicht einigen, wie sie die verfügbaren Dosen untereinander aufteilen sollen.“

 

 

Die Einführung des Impfstoffs in der EU war ein totales Desaster, nur 5% der Bevölkerung haben bis Anfang 2021 eine Dosis erhalten. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, musste dies zugeben, als sie sagte: „Wir haben die Zulassung zu spät erteilt, wir waren zu optimistisch, was die Massenproduktion angeht, und vielleicht waren wir uns auch zu sicher, dass die Bestellungen rechtzeitig geliefert werden würden.“

 

 

Der geradezu kriminelle Ansatz des Impfstoff-Protektionismus wird schlimme Folgen für die ganze Welt haben. Je länger es dauert, bis wir dieses Virus global bekämpfen, desto länger werden wir es auch im eigenen Land bekämpfen müssen.

 

 

Demgegenüber, und angesichts des Scheiterns des COVAX-Programms, sind die herrschenden Klassen Russlands und Chinas in Aktion getreten.

 

 

In einem „Soft Power“-Schritt bieten China und Russland ihre selbst hergestellten Impfstoffe – Russlands Sputnik V und Chinas Sinovec und Sinopharm – großen Teilen des Nahen Ostens, Afrikas und Lateinamerikas an. In einigen Fällen schicken sie hunderttausende Dosen „kostenlos“. Obwohl als Diplomatie getarnt, ist dies ein Versuch, Allianzen in ihrer andauernden Rivalität mit dem US-Imperialismus zu festigen. Die herrschenden Klassen Chinas und Russlands sind mehr daran interessiert, die Abhängigkeit der armen Länder von ihnen zu vergrößern, als die globale öffentliche Gesundheit zu garantieren.

 

 

Rollout-Chaos in den USA

 

 

Trump hat am Ende seiner Präsidentschaft große Versprechungen gemacht, unter anderem, dass 20 Millionen Amerikaner*innen bis Anfang Januar ihre erste Impfdosis erhalten würden. In Wirklichkeit waren zu Beginn des neuen Jahres weniger als drei Millionen Dosen verabreicht worden.

 

 

Die Nachricht, dass Joe Biden „Himmel und Erde in Bewegung setzen“ würde, um innerhalb seiner ersten 100 Tage im Amt 100 Millionen Impfungen zu verabreichen, war für viele Millionen Amerikaner*innen Musik in den Ohren. Als Joe Biden das Weiße Haus betrat, war die Impfstoff-Infrastruktur miserabel, schlampig und weitgehend unzureichend finanziert. Seine Regierung hat es geschafft, das Tempo der Impfungen auf 1,6 Millionen pro Tag zu erhöhen, was zwar eine ernsthafte Verbesserung gegenüber dem Jahresbeginn darstellt, aber immer noch unzureichend ist, da wir im Rennen sind, um die Coronavirus-Varianten auszustechen.

 

 

Trumps Versagen bei der Impfung

 

 

Wie Socialist Alternative in einem Artikel Anfang Dezember warnte:

 

 

„Eine enorme Herausforderung, vor der wir jetzt stehen, ist es, den Impfstoff von der Laderampe des Labors bis zu jedem Oberarm zu bringen. Das ist kein leichtes Unterfangen, besonders auf der Basis des Kapitalismus, wo logische Planung beim Streben nach Gewinnmaximierung zum Fenster hinausgeworfen wird.“

 

 

Und in der Tat wurde die logische Planung von Anfang an zum Fenster hinausgeworfen. Als die Impfstoffe von Pfizer und Moderna von der US Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurden, hatte die CDC noch keine Impfstoffrichtlinien herausgegeben, und den Bundesstaaten war kein Geld für den Aufbau einer Impfinfrastruktur zur Verfügung gestellt worden. Die COVID-Fälle stiegen weiter dramatisch an.

 

 

Es ist unmöglich, den enormen Druck zu unterzubewerten, der in dieser Krise auf die amerikanischen Arbeiter*innen im Gesundheitswesen ausgeübt wurde. Die COVID-Fälle häuften sich, während die Arbeiter*innen behelfsmäßige Intensivstationen mit gefährlichen Personalschlüsseln einrichteten. Und dann kam der Impfstoff. Ohne zusätzliches Personal, Ausbildung oder finanzielle Mittel wurde von den Arbeiter*innen erwartet, dass sie tausende Impfstoffdosen an noch nicht identifizierte priorisierte Gruppen verabreichen. Dies trug entscheidend dazu bei, dass viele der ausgelieferten Impfstoffdosen abgelaufen sind. Selbst jetzt laufen landesweit noch etwa 20 % ab, was ein absoluter Skandal ist. Im Gegensatz dazu hat es in Großbritannien das öffentliche Gesundheitssystem (National Health Service) trotz der schrecklichen Versäumnisse im Umgang mit der Pandemie geschafft, 25 % der Bevölkerung zumindest eine Dosis zu verabreichen.

 

 

Zu dem Chaos trug auch das völlige Fehlen einer Anleitung durch die Bundesregierung bei. Die CDC veröffentlichte am 20. Dezember einen abgestuften Plan zur Priorisierung. Aber bis dahin hatten keine zwei Staaten die gleichen Prioritätsgruppen oder Zeitvorgaben für die Verteilung des Impfstoffs. Da die CDC-Richtlinien nur Richtlinien und keine Vorschriften waren, hielten sich die Staaten in der Regel an ihre ursprünglichen Pläne und arbeiteten nach einem Flickenteppich unterschiedlicher Regeln.

 

 

Die Koordination zwischen Bundes- und Landesregierungen war ein totaler Witz. Während der gesamten Pandemie berichteten Gouverneur*innen von einem „Wildwest“-Szenario, bei dem die Bundesstaaten auf dem Markt für Schutzausrüstung und andere benötigte Materialien gegeneinander konkurrierten. Dieses Chaos hat sich bei der Impfkampagne in vielerlei Hinsicht wiederholt.

 

 

Auftritt links: Joe Biden

 

 

Joe Biden trat am 20. Januar sein Amt an und hat „Anstrengungen wie in Kriegszeiten“ angekündigt, um COVID unter Kontrolle zu bringen. Dazu gehört die Nutzung des Defense Production Act, um die Produktion zu beschleunigen, die Gewährung von Milliarden an direkter Hilfe für die Bundesstaaten, um deren Infrastruktur aufzubauen, die Einführung eines Jobprogramms für das öffentliche Gesundheitswesen und die Einstellung von Hunderttausenden von Arbeiter*innen im Gesundheitswesen, die Ausweitung der Impfstellen und der Start einer öffentlichen Aufklärungskampagne über die Vorteile des COVID-Impfstoffs.

 

 

Die Geschwindigkeit der Impfungen hat sich in der Tat erhöht, obwohl ein Teil davon nicht direkt auf die Intervention der Biden-Regierung zurückzuführen ist, sondern eher darauf, dass die staatlichen Systeme effizienter geworden sind. Eine Sache, die der Biden-Regierung gutgeschrieben werden muss, ist die Steigerung der Produktion aufgrund der Anwendung des Defense Production Acts  für Kriegszeiten, der es der Bundesregierung erlaubt, die Produktion der notwendigen Versorgungsgüter zentral zu steuern.

 

 

Die verbleibenden Komponenten von Bidens „Kriegsanstrengungen“, die noch verabschiedet werden müssen, sind für die Demokraten, die jetzt beide Häuser des Kongresses kontrollieren, durchaus in Reichweite. Sie können die dringend benötigten Hilfeleistungen mit in Haushaltsabstimmungen oder durch die Abschaffung der undemokratischen Filibuster-Regeln durchsetzen. Es scheint, dass sie diesen Prozess vorantreiben, wenn auch nicht mit ausreichender Geschwindigkeit und Entschlossenheit. Und selbst bei der Haushaltsabstimmung sind es die Demokraten selbst, die das Hindernis sein könnten. Wenn nur ein einziger demokratischer Senator sich weigert, Bidens 1,9 Billionen Dollar schweren Plan zu unterstützen, ist er gescheitert.

 

 

Intervention des Großkapitals

 

 

Es ist wichtig zu betonen, dass der Umfang von Bidens Vorschlägen nichts mit seinem Wohlwollen zu tun hat. Die Ausgaben und Interventionen in diesem Umfang stehen im Dienste des Großkapitals, das verzweifelt versucht, die Menschen wieder an den Arbeitsplatz zu bringen und seine Profitmaschine wieder in Gang zu setzen. Genau aus diesem Grund springt das Großkapital in das Vakuum, um die Impfbemühungen in den Bundesstaaten voranzutreiben.

 

 

In North Carolina bündeln Honeywell International, Atrium Health und Tepper Sports & Entertainment ihre riesigen Netzwerke, um ein von großen Unternehmen angetriebenes Pilotprogramm zur Impfung zu starten. Sie verwandeln den Charlotte Motor Speedway in eine privat geführte und betriebene Drive-Through-Impfstelle. Im Bundesstaat Washington steigt Starbucks in das Spiel ein. Und auf nationaler Ebene hat Amazons Vizepräsident für weltweite Operationen einen Brief an Biden geschickt, in dem er die „Betriebs-, Informationstechnologie- und Kommunikationsfähigkeiten“ des Unternehmens für die nationalen Impfbemühungen anbietet.

 

 

Biden hat Begeisterung über die Beteiligung des privaten Sektors signalisiert. Das ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Während die massiven Ressourcen der Konzerne in dieser Situation helfen können, weil es in ihrem Interesse liegt, ist das Endergebnis ein Wettlauf nach unten, wenn große Unternehmen an die Stelle öffentlicher Institutionen treten. Die Logik des Privateigentums ist, dass Gewinne an die Aktionär*innen ausgeschüttet werden müssen, anstatt sie in die Ausweitung und Verbesserung von Dienstleistungen zu investieren. Wir müssen die riesigen Ressourcen dieser Großkonzerne, wie Amazon, in demokratisches öffentliches Eigentum überführen und in den Aufbau eines qualitativ hochwertigen, transparenten öffentlichen Gesundheitssystems integrieren. Die Profite von Milliardär*innen wie Jeff Bezos dürfen keinen Platz in unserem COVID-Rettungsplan haben.

 

 

Die Notwendigkeit einer sozialistischen Welt

 

 

Der globale Kapitalismus befindet sich in einer totalen Krise. Wir haben eine klare Degeneration des Systems gesehen, sogar im Vergleich zu vor zwölf Jahren mit dem Crash von 2008-9. Die damalige Reaktion der herrschenden Klasse war völlig unzureichend, was sie jetzt mit der vorübergehenden Übernahme keynesianischer Maßnahmen weitgehend akzeptiert. Doch im Gegensatz zu heute war die globale herrschende Klasse 2008-9 zumindest einigermaßen geeint. Die Obama-Regierung koordinierte ihre Schritte mit China und der EU, im Gegensatz zu dem „Jeder für sich“-Nationalismus, den wir im letzten Jahr erlebt haben. Diese Herangehensweise wird in den kommenden Jahren immer katastrophaler werden, da wir mit mehr und möglicherweise schlimmeren Pandemien konfrontiert werden, ebenso wie mit der weitaus größeren Herausforderung des Klimawandels.

 

 

Die Herausforderung, vor der die herrschenden Klassen auf der ganzen Welt stehen, einschließlich der amerikanischen herrschenden Klasse, kann nicht unterschätzt werden. In Anerkennung dessen sind sie gezwungen, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft in einem Ausmaß zu nutzen, wie wir es seit den 1930er Jahren nicht mehr gesehen haben. Dies zeigt sich an den massiven Konjunkturausgaben in den USA sowie an den Plänen für große Investitionen in die Infrastruktur. Natürlich wird gleichzeitig der Großteil der Hilfen, die sie den einfachen Leuten geben, in nicht allzu ferner Zukunft auslaufen, und sie werden dann in vorhersehbarer Weise versuchen, die Arbeiter*innenklasse die Rechnung für die Krise zahlen zu lassen, die sie geschaffen haben.

 

 

Vor der Arbeiter*innenklasse der Welt liegen wirkliche Mammutaufgaben. Kurzfristig müssen wir einen globalen, öffentlichen Plan für Massenimpfungen einfordern. Das bedeutet die sofortige Aufhebung aller Patente und des Schutzes des „geistigen Eigentums“ an den COVID-Impfstoffen und die Überführung von Pfizer, Moderna, AstraZeneca und der gesamten großen Pharmaindustrie in demokratisches öffentliches Eigentum. Dies würde es uns ermöglichen, ihre enormen Ressourcen und Technologien zu bündeln und die Produktion und Verteilung der Impfstoffe auf der ganzen Welt schnell zu steigern.

 

 

In einem viel breiteren Kontext müssen wir entschlossen intervenieren, um noch schlimmere und weitere Katastrophen zu verhindern. Das bedeutet, kämpferische, linke Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse auf der ganzen Welt aufzubauen und zu entwickeln. Es bedeutet, eine internationale sozialistische Bewegung aufzubauen, um für eine Welt zu kämpfen, die auf Solidarität aufbaut und nicht auf den engen nationalistischen Interessen der globalen Kapitalist*innenklasse.

 

 

 

Den Artikel im Original lesen: https://internationalsocialist.net/en/2021/03/covid-19

 

 

Weltwirtschaft trotz Wachstumsprognosen tiefgreifend instabil

Die Kapitalist*innen sind inzwischen optimistisch, was die Chancen auf einen globalen Aufschwung 2021 angeht
Tom Crean

Die Auswirkungen des durch die Pandemie ausgelösten globalen Abschwungs im Jahr 2020 sind kaum zu unterschätzen. Es war der größte wirtschaftliche Einbruch seit der Großen Depression in den 1930er Jahren. Auf der ganzen Welt wurde die Arbeitszeit im Gegenwert von 255 Millionen Arbeitsplätzen abgebaut. Die Weltbank schätzt, dass die Zahl der Menschen in „tiefer Armut“, definiert als Leben mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag, um atemberaubende 119 - 124 Millionen Menschen angestiegen ist.

Aber nicht alle haben gelitten. Laut einer Analyse des Magazins Forbes wuchs das Vermögen der Milliardär*innen der Welt im Jahr 2020 um 1,9 Billionen Dollar! Die Ungleichheit ist sowohl innerhalb der Nationen als auch zwischen den reichen Ländern und der „sich entwickelnden“ Welt deutlich gewachsen.

Dennoch sind die Kapitalist*innen inzwischen optimistisch geworden, was die Aussichten auf eine globale Erholung im Jahr 2021 angeht. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostizierte kürzlich ein globales Wirtschaftswachstum von 5,6% im Jahr 2021 nach einem Rückgang von 3,5% im Jahr 2020. Diese Schätzung für 2021 liegt um 1,4% über der Prognose vom November. Ganze 1% des zusätzlichen geschätzten globalen Wachstums ist auf das 1,9 Billionen Dollar schwere Konjunkturprogramm zurückzuführen, das der US-Kongress Anfang des Monats verabschiedet hat.

Diese Schätzung basiert auf einer Reihe von sehr optimistischen Annahmen, die in Frage gestellt werden müssen. Sie lässt auch alle zugrundeliegenden Widersprüche des heutigen Kapitalismus unberücksichtigt. Der Aufschwung, der in hohem Maße auf noch nie dagewesenen und nicht nachhaltigen fiskalischen und monetären Finanzspritzen beruht, wird sehr ungleichmäßig verteilt sein und wahrscheinlich nur kurz andauern, bevor sich der depressive Trend in der Weltwirtschaft wieder durchsetzen wird.

Pandemie-Perspektiven

Die Prognosen für die Weltwirtschaft können natürlich nicht vom Verlauf der Pandemie und den Fortschritten bei der Impfung der Bevölkerung getrennt werden. Einige der wohlhabendsten Länder, insbesondere die USA und Großbritannien (sowie Israel), haben nach einem katastrophalen Versagen im Umgang mit der Pandemie große Fortschritte bei der Impfung ihrer Bevölkerung gemacht. Etwa ein Drittel der Erwachsenen in den USA und mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Großbritannien haben inzwischen mindestens eine Dosis eines Impfstoffs erhalten. Damit besteht die Aussicht auf eine umfassendere Öffnung und die "Rückkehr zur Normalität" bis zum Sommer.

Generell beruhen die Wachstumsprognosen der OECD auf optimistischen Annahmen über den weiteren Verlauf der Pandemie. Aber auch in den Wochen seit der OECD-Ankündigung sehen wir wieder, wie die Unfähigkeit zur Eindämmung des Virus und die Versäumnisse der Kapitalist*innen, einen vernünftigen globalen Plan für die Impfung zu entwickeln, weitere Gefahren für die Gesundheit der Weltbevölkerung und für die wirtschaftliche Erholung schaffen.

Die Situation in der Europäischen Union (EU) ist sehr aufschlussreich. Letzten Herbst feierten die kapitalistischen Medien die EU als eine vergleichsweise Erfolgsgeschichte unter den wohlhabenderen Nationen, insbesondere im Vergleich zu den USA und zu Großbritannien. Doch nun hinkt die EU im Wettlauf um die Impfung deutlich hinterher: So hat beispielsweise nur 12% der deutschen Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten. Dies ist zum Teil das Ergebnis von Lieferunterbrechungen, zusätzlich zu dem Versäumnis, die Versorgung in einem frühen Stadium zu sichern, verschlimmert durch einen extrem inkompetenten Verteilungsprozess. Dann kam die grob stümperhafte Panikmache um den Impfstoff von AstraZeneca in Europa, die dazu führte, dass die Impfung für mehrere Tage komplett gestoppt wurde, bevor sie wieder aufgenommen wurde, wobei mehrere europäische Länder die Verwendung des Impfstoffs immer noch einschränken oder blockieren. Dies hat nur noch mehr zu einer massiven Impfskepsis beigetragen. All dies kam inmitten einer neuen schlimmen Welle der Pandemie in Europa, die zu einer neuen Welle von Lockdowns führt.

Abgesehen davon, dass es ein großer Schlag für das Ansehen von EU-Politiker*innen wie Merkel und Macron ist, hat das Impfchaos in Verbindung mit der neuen COVID-Welle der europäischen Wirtschaft einen weiteren Schlag versetzt und ein großes Fragezeichen hinter die Fähigkeit gesetzt, den Tourismus in diesem Sommer wieder vollständig zuzulassen. Die EU-Wirtschaft wird nun im ersten Quartal 2021 voraussichtlich um 1,5% schrumpfen (revidiert von einem Rückgang um 0,8%), was bedeutet, dass sich die EU derzeit in einer „Double-Dip“-Rezession befindet.

Außerhalb der wohlhabenden Länder ist das Tempo der Impfung noch langsamer und hat in vielen Ländern noch nicht einmal begonnen. Bei dem derzeitigen Tempo würde es voraussichtlich Jahre dauern, bis die Weltbevölkerung geimpft ist. In Indien gibt es jetzt eine neue Welle der Pandemie, während in Brasilien die Ausbreitung gefährlicher neuer Mutationen und die kriminelle Nachlässigkeit des Bolsonaro-Regimes das Gesundheitssystem bis zum Zusammenbruch belasten.

Von Anfang an wurde die Bekämpfung der Pandemie durch den Zustand der Gesundheitssysteme erschwert, die selbst in relativ wohlhabenden Gebieten wie Norditalien durch jahrzehntelange neoliberale Kürzungen drastisch geschwächt sind. Hinzu kommt das völlige Fehlen eines weltweit koordinierten Vorgehens und einer Strategie für das Impfen. Die Imperialist*innen der EU, Großbritanniens und der USA haben die Profite und „geistigen Eigentumsrechte“ der Pharmariesen in ihren Ländern geschützt und sich geweigert, die Rezepturen für die Impfstoffe kostenlos mit dem Rest der Welt zu teilen, was die Impfkampagne massiv beschleunigen würde.

Ein solcher Schritt wäre nicht nur im Interesse der Gesellschaft, sondern auch im Interesse der Kapitalist*innen. Je länger die Pandemie in weiten Teilen der Welt ungebremst anhält, desto größer ist die Chance, dass sich noch gefährlichere Varianten entwickeln, die die Pandemie neu entfachen könnten. Doch dieses rationale Vorgehen wird durch die Konkurrenz zwischen den Imperialist*innen blockiert.

Stattdessen haben wir das Spektakel des „Impfstoff-Nationalismus“. Auf der einen Seite wird Impfstoff gehortet, wobei die EU Exportkontrollen verhängt und Indien, ein wichtiger Produzent von Impfstoffen, den Export vorerst verbietet. Die USA werden in den kommenden Monaten wahrscheinlich auf einem massiven Vorrat an Impfstoffen sitzen, haben aber nur sehr wenige Zusagen gemacht, den Überschuss mit anderen Ländern zu teilen. Unterdessen haben China und Russland die Bereitstellung von Impfstoff für spezielle Länder als Teil ihrer diplomatischen Offensive im neuen Kalten Krieg mit den USA genutzt. Die USA, Indien, Australien und Japan, die gemeinsam als "die Quad" in Sicherheitsfragen agieren, haben darauf mit einem Plan reagiert, eine Milliarde Dosen des Impfstoffs in Indien zu produzieren, der von den USA für Südostasien finanziert wird - offensichtlich ein Versuch, der chinesischen Impfstoffdiplomatie entgegenzuwirken.

Die Schwierigkeiten beim Aufbau einer Herdenimmunität aufgrund des völligen Fehlens eines globalen Ansatzes für eine globale Krise und die Gefahr weiterer tödlicher Mutationen weisen auf das Potenzial für ernsthafte Komplikationen mit der von der OECD skizzierten Wachstumsperspektive hin.

Der Einfluss des US-Konjunkturprogramms auf die Weltwirtschaft

Sofern keine katastrophalen kurzfristigen Entwicklungen eintreten, werden die wohlhabenden Länder – insbesondere diejenigen, in denen die Impfstoffe schnell eingeführt wurden – ihre Wirtschaft im Laufe des Jahres 2021 mehr oder weniger schnell wieder ankurbeln können, und ein deutlicher Aufschwung ist wahrscheinlich. Nach einem wirtschaftlichen Einbruch im Jahr 2020, von dem 93 Länder betroffen waren, werden die Wachstumszahlen beeindruckender aussehen, als sie tatsächlich sein werden.

Ein wichtiger Faktor bei den Prognosen für das globale Wachstum ist der Nachholbedarf in einer Reihe der wohlhabenden Länder. Teile der Bevölkerung, vor allem Teile der Mittelschicht, haben während der Pandemie gespart, weil sie von zu Hause aus arbeiteten und nicht reisten. Den größten Anteil am Nachholbedarf haben jedoch die massiven Konjunkturprogramme, die in einigen Ländern verabschiedet wurden. Während sich die Konjunkturmaßnahmen in den USA seit Beginn der Pandemie auf 27% des BIP belaufen, entsprechen die Maßnahmen in Deutschland 20% und in Japan vermutlich 30%.

Aber das neue US-Konjunkturpaket ist international von besonderer Bedeutung. Es entspricht schwindelerregenden 9% des US-BIP; die OECD prognostiziert für die US-Volkswirtschaft in diesem Jahr ein Wachstum von 6,5%, ein Niveau, das seit den frühen 80er Jahren nicht mehr erreicht wurde. Die Auswirkungen der gestiegenen Nachfrage in den USA auf wichtige Handelspartner der USA, darunter Kanada und Mexiko, aber auch China und die Europäische Union, sind ebenfalls erheblich. Im vergangenen Jahr trug die Nachfrage aus den wohlhabenden Ländern nach Schutzausrüstung, Computern, Sportgeräten und verschiedenen anderen langlebigen Konsumgütern massiv zu den chinesischen Exporten bei und ermöglichte es China, als einzige große Volkswirtschaft ein nominales Wachstum zu verzeichnen, auch wenn die Wirtschaftsleistung durch das Regime deutlich übertrieben dargestellt wurde. Basierend auf dem neuen US-Konjunkturpaket hat die UBS-Bank ihre Prognose für Chinas Exportwachstum in diesem Jahr von 10% auf 16% angehoben.

Auf den Finanzseiten der großen bürgerlichen Medien wird viel darüber diskutiert, ob das Konjunkturpaket zu einer höheren Inflation in den USA führen und die Federal Reserve zwingen wird, die Zinssätze zu erhöhen, um eine „überhitzte“ Wirtschaft zu bremsen. Das Biden-Konjunkturprogramm und frühere Konjunkturpakete im Jahr 2020 wurden alle ausschließlich durch Kredite finanziert. Nachdem jahrzehntelang das Gespenst der Inflation herhalten musste, um Sparmaßnahmen zu rechtfertigen, haben die Federal Reserve und das US-Finanzministerium eine 180-Grad-Wende vollzogen und erklären nun, dass die Inflation nicht länger ein großes Problem sei. Der Chef der US-Notenbank, Jerome Powell, sagt, dass selbst wenn es in diesem Jahr zu einer Inflation kommen sollte, diese nur vorübergehend sein wird und keine größeren Zinserhöhungen rechtfertigen wird, da ein Anstieg der Kreditkosten die nächste Rezession auslösen und Pläne für weitere Konjunkturmaßnahmen erschweren könnte. In der Tat werden wahrscheinlich weitere Maßnahmen notwendig sein, auch wenn sie zielgerichteter sind, während die unvermeidlichen Versuche, Konjunkturmaßnahmen durch Sparmaßnahmen zu ersetzen, die Weltwirtschaft in der nächsten Periode destabilisieren könnten.

Es muss betont werden, dass die Fähigkeit der USA, solche schwindelerregenden Summen zu leihen, auf historisch niedrigen Zinssätzen und niedriger Inflation sowie auf der Position des Dollars als globale Reservewährung beruht. Der US-Imperialismus befindet sich in der privilegierten Lage, auf scheinbar unbegrenzte Mittel zugreifen zu können und sehr wenig dafür zu bezahlen. Wie Leo Trotzki über die Politik des New Deal in den 1930er Jahren sagte, war sie „eine amerikanische Politik par excellence“, die den meisten Ländern nicht zur Verfügung stand und schon gar nicht den armen Ländern. Und während es für ärmere Länder einen gewissen Aufschwung durch die Konjunkturmaßnahmen der reichen Länder geben kann, wird dies auch dazu führen, dass Investitionen weiter von den armen Ländern weggelenkt werden und ihre eigenen drohenden Schuldenkrisen noch verschärft werden.

Biden hat nun einen weiteren massiven, zweistufigen Infrastrukturplan in Höhe von 3 bis 4 Billionen Dollar vorgestellt, von dem er behauptet, dass er durch eine Erhöhung der Körperschaftssteuer und der Steuern für Wohlhabende finanziert werden soll. Dieser Plan wird zwar als Teil einer Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels und als Beschäftigungsprogramm zur Beseitigung historischer Ungerechtigkeiten dargestellt, ist aber auch ein Teil der sich vertiefenden Konkurrenz des Kalten Krieges mit dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus. Doch während ein Teil der herrschenden Klasse eine höhere Körperschaftssteuer als notwendigen Preis für das Erreichen bestimmter strategischer Ziele sehen wird, wird dies auf erheblichen Widerstand von Teilen stoßen, die höhere Steuern mit religiösem Eifer ablehnen.

Die Abkehr von der neoliberalen Politik

Das Ausmaß der Maßnahmen, die von der herrschenden Klasse in den USA in dieser Krise ergriffen wurden, stellt eine große Richtungsänderung dar. Unter Bezugnahme auf das Ausmaß der fiskalischen Intervention und der Impfkampagne wies die Financial Times (13.3.21) kürzlich darauf hin:

„Zusammengenommen erinnert dieser Ausbruch von Regierungsaktivismus an Franklin Delano Roosevelts „New Deal“ während der Depression und an Lyndon Johnsons Reformen der „Great Society“ in den 1960er Jahren.

Der US-Präsident und viele Demokraten hoffen auch, dass es eine kraftvolle Widerlegung von Ronald Reagans totemistischer Bemerkung im August 1986 werden kann, dass „die neun furchterregendsten Worte in der englischen Sprache sind: ‚I’m from the government and I’m here to help.‘“ („Ich bin von der Regierung und ich bin hier, um zu helfen.“)

„Dieses Mantra läutete eine Periode der Deregulierung, niedriger Steuern, begrenzter Inlandsausgaben und des Glaubens an freie Märkte als Hauptpfeiler der amerikanischen Wirtschaftspolitik ein. Diese Glaubenssätze begannen nach der globalen Finanzkrise in Frage gestellt zu werden, obwohl sie während der Regierung von Donald Trump teilweise wiederbelebt wurden. Dennoch konnten sie dem Ansturm der Pandemie nicht standhalten, die Amerikaner*innen sehnten sich nach einem stärkeren Engagement Washingtons und boten Biden die Chance, diese Lücke zu füllen.“

Die Abkehr der US-Elite von der neoliberalen Politik, die die Financial Times beschreibt, ist das Ergebnis mehrerer Faktoren, wie die International Socialist Alternative dargelegt hat. Erstens ist dies die zweite große Krise, die der Kapitalismus innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt erlebt. Während der Finanzkrise 2008/9 lag der Fokus auf der Geldpolitik, die Geld (insbesondere durch Quantitative Easing) in die Finanzmärkte pumpte, um das Bankensystem zu stützen. Aber wie die Zentralbanker*innen selbst zugeben, wäre eine ausschließliche Fokussierung auf die Geldpolitik dieses Mal katastrophal gewesen. Durch nationale Lockdowns drohte ein Nachfrageeinbruch und Massenverelendung, die nur durch fiskalische Interventionen in einem seit dem New Deal nicht mehr gekannten Ausmaß verhindert werden konnten.

Zweitens besteht bei der Biden-Regierung die Entschlossenheit, „die Lehren“ aus 2008/9 zu ziehen. Nach Ansicht vieler liberaler Ökonom*innen haben die begrenzten Konjunkturimpulse in Kombination mit den massiven Sparmaßnahmen in der EU und den USA damals dazu geführt, dass die anschließende Erholung viel langsamer und flacher verlief.

Schließlich hat die herrschende Klasse in den USA gesehen, dass massenhafte Ungleichheit und extreme politische Polarisierung zur BLM-Bewegung im letzten Sommer und dann zu Trumps drohendem Putsch und dem Angriff auf das Kapitol am 6. Januar beigetragen haben. Sie haben erkannt, dass sie in Gefahr waren, die Kontrolle über die Situation zu verlieren, und dass es daher notwendig ist, Schritte zur Wiederherstellung des Vertrauens in den Staat zu unternehmen, um der nächsten sozialen Eskalation zuvorzukommen.

Die Situation bleibt zutiefst instabil

Ist der wahrscheinliche Aufschwung der Weltwirtschaft der Beginn eines allgemeineren Aufschwungs? Einige in den bürgerlichen Medien haben die Situation mit den Nachwehen des Ersten Weltkriegs und der verheerenden Grippeepidemie von 1918-20 verglichen, auf die die „roaring 20s“ in den USA und Europa folgten.

Solche Erwartungen sind fehl am Platze. Die eigentliche Ursache der aktuellen Krise und der Krise in den Jahren 2008/9 ist der zunehmend parasitäre und sklerotische Charakter des Kapitalismus. Während der neoliberalen Ära, beginnend mit dem Ende des Nachkriegsbooms in den späten 70er Jahren, stellte die Kapitalist*innenklasse ihre Profitabilität wieder her, indem sie den öffentlichen Sektor und den Lebensstandard der Arbeiter*innen angriff. Sie profitierte auch von der Öffnung der neuen Märkte nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Dies führte zu einem massiven Anstieg der Ungleichheit und untergrub die Möglichkeiten der arbeitenden Menschen am produzierten Wohlstand teilzuhaben. Das Ergebnis war ein schrumpfendes Feld für profitable Erträge aus produktiven Investitionen und ein sinkendes Produktivitätswachstum, wobei überschüssiges Kapital in das Finanzkasino gesteckt wurde.

Der Aufschwung, angeheizt durch massive Staatsausgaben, würde keines dieser Probleme lösen. Selbst in den USA könnte der Aufschwung zwar Millionen wieder in Arbeit bringen, aber er wird weit davon entfernt sein, die durch die Krise von 2020 verursachten Schäden zu beseitigen, einschließlich der massiven Verschuldung großer Teile der Arbeiter*innenklasse, des starken Rückgangs der Erwerbsbeteiligung von Frauen und der Hunderttausende von Kleinbetrieben, die nicht wiedereröffnet werden.

Der Aufschwung wird auch durch eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung bezahlt, die in den USA inzwischen ein Ausmaß erreicht hat, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr der Fall war. Das ist nicht nachhaltig, zumal es keine Aussicht auf eine längere Periode signifikanten Wachstums gibt. Stattdessen wird die herrschende Klasse wie in jeder vorherigen Krise versuchen, die Rechnung für die Krise in der nächsten Periode der Arbeiter*innenklasse zu präsentieren, was nur zu noch größerer Verelendung und Ungleichheit führen wird.

Darüber hinaus ist die Annahme, dass die Inflation und die Zinssätze weiterhin super niedrig bleiben werden, was eine solch massive Verschuldungsspirale ermöglicht hat, ahistorisch. Die Inflation könnte gegen Ende des Jahres zunehmen, obwohl der Gesamtkontext weltweit deflationär bleibt. Unabhängig von den aktuellen Beteuerungen der Fed könnte ein starker Inflationsschub, auch wenn er nur vorübergehend ist, einen Anstieg der Zinssätze erzwingen und den Aufschwung zu einem schnellen Ende bringen.

Neben der Möglichkeit einer „Überhitzung“ in der Realwirtschaft droht eine Finanzkrise, die auch durch die massive Liquiditätsspritze in die Finanzmärkte angeheizt wird, mit denen seit März letzten Jahres eine Implosion verhindert wurde. Dies hat zu Spekulationsblasen bei Aktien und anderen Vermögenswerten, einschließlich Immobilien, geführt.

Ein weiterer Auslöser der nächsten Phase der Weltwirtschaftskrise könnte von den sich abzeichnenden Zahlungsausfällen einer ganzen Reihe armer Länder ausgehen, die nicht über die geld- und fiskalpolitischen Instrumente verfügen, die den Imperialist*innen zur Verfügung stehen, und die im Allgemeinen weitaus härter vom Wirtschaftsabschwung getroffen wurden. Besonders extrem ist die Situation im Libanon, wo zügellose Korruption und Misswirtschaft im Staatsapparat einen Bankenkollaps und eine Hyperinflation ausgelöst haben. Weite Teile der Bevölkerung sind verarmt. So könnte das Schicksal vieler Länder in der nächsten Periode aussehen.

Kurzum: Es gibt keine Grundlage auf der der Kapitalismus zu einer stabilen Situation zurückkehren könnte. Die Regierungen haben eine beispiellose monetäre Feuerkraft eingesetzt, um einen vollständigen Zusammenbruch 2008/9 abzuwenden. Jetzt setzen sie eine beispiellose fiskalische und monetäre Feuerkraft ein, um mit dieser Krise fertig zu werden. Was werden sie tun, wenn die nächste Krise kommt?

Die ISA hat diese Periode als depressiv bezeichnet. Das bedeutet nicht, dass alle Trendlinien ständig nach unten zeigen müssen, sondern dass es für den Kapitalismus keinen Weg zu stabilem Wachstum gibt. Und eine depressive Periode bedeutet nicht, dass es keine temporären Aufschwünge geben kann, wie es sie sogar in der Großen Depression der 1930er Jahre gab.

Deglobalisierung

Der depressive Trend wird durch den Trend zur Deglobalisierung noch verstärkt. Die Pandemie hat die globalen Versorgungsketten unter enormen Druck gesetzt und massive Probleme mit dem „just in time“-Produktionsmodell offengelegt, insbesondere im Gesundheitswesen, da Länder und Regionen darum rangen, sich den Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Gütern zu sichern. In jüngster Zeit wurde das Containerschiff Ever Given, das eine Woche lang im Suezkanal festsaß und eine lebenswichtige Handelsader mit Milliardenkosten blockierte, zum Sinnbild für diese Belastungen.

Die strategische Rivalität zwischen den USA und China hat den Prozess der wirtschaftlichen „Abkopplung“ zwischen den beiden Ländern beschleunigt. Seit Jahren hat China bewusst versucht, mit staatlichen Investitionen seine Stärke in der Spitzentechnologie auszubauen. Es hat versucht, sich die Versorgung mit wichtigen Rohstoffen weltweit zu sichern und die  strategische Industrien zu stärken. Die USA werden nun in die gleiche Richtung gehen. Bereits jetzt hat ein Mangel an elektronischen Bauteilen eine Reihe von Fertigungslinien in den USA vorübergehend stillgelegt, was die Diskussion darüber anheizt, wie die Versorgung der USA mit diesen kritischen Komponenten für die Produktion gesichert werden kann. All dies deutet eher auf mehrere regionale Lieferketten als auf ein integriertes globales System hin.

Unter Trump verhängten die USA umfangreiche Zölle auf chinesische Importe. Einige erwarteten, dass diese unter Biden rückgängig gemacht oder reduziert werden würden. Doch bisher gibt es keine Anzeichen dafür. Stattdessen verhängten die USA, Kanada, Großbritannien und die EU kürzlich Sanktionen gegen chinesische Beamte wegen ihrer Politik gegenüber der uigurischen Minderheit in Xinjiang, was zu Gegensanktionen durch China führte. Nun scheint ein neues Investitionsabkommen zwischen China und der EU in Gefahr zu sein. Inzwischen gibt es in China staatlich sanktionierte Boykotte gegen ausländische Einzelhändler, die die chinesische Politik kritisiert haben.

Es wird nun häufig der Vergleich mit dem Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Aber das war ein Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Gesellschaftssystemen, die nicht Teil eines verflochtenen Weltmarktes waren. Außerdem fand er während des größten Wirtschaftsaufschwungs in der Geschichte des Kapitalismus statt. Die Situation, in der wir uns heute befinden, ist eher mit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen von 1918 bis 1939 zu vergleichen, einer Zeit der allgemeinen Stagnation des Kapitalismus mit zunehmenden und sich verschärfenden globalen Rivalitäten.

Ein hohes Maß an Protektionismus war ebenfalls ein bestimmendes Merkmal der Zwischenkriegszeit, insbesondere der 1930er Jahre. Natürlich ist es richtig, dass die Weltwirtschaft heute viel stärker verflochten ist, und das lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Aber die Trendlinie ist das, was wichtig ist. Das Wiedererstarken nationaler Interessen und die zunehmende Zerrissenheit der Länder in zwei "Lager" wird die Art von vernetzter Weltwirtschaft, wie sie in den letzten Jahrzehnten bestand, weiter aushöhlen. Die zunehmende Hinwendung der kapitalistischen Regierungen zu staatlicher Intervention und nationalistischer Wirtschaftspolitik wird aber ebenso wenig wie in den 1930er Jahren weitere Krisen abwenden oder lösen können.

Kein Ausweg im Kapitalismus

Während neue Mutationen oder weitere Probleme mit Impfkampagnen das Ausmaß der wirtschaftlichen Erholung in diesem Jahr beeinträchtigen können, werden sie sie wahrscheinlich nicht vollständig stoppen. Aber der Aufschwung wird nur vorübergehend sein, und es gibt eine Reihe von Faktoren, die die nächste Welle der Krise auslösen können. Und natürlich werden die Vorteile weltweit sehr ungleichmäßig verteilt sein.

Ein vorübergehender Aufschwung kann sich jedoch positiv auf den Klassenkampf in vielen Ländern auswirken und den Arbeiter*innen mehr Selbstvertrauen geben, aktiv zu werden. In einem Land nach dem anderen haben wir bereits gesehen, dass Arbeiter*innen im Gesundheitswesen und Erzieher*innen bereit waren, trotz ihrer Erschöpfung aufzustehen.

Es gibt eine massive Wut über die Art und Weise, wie degradierte Gesundheitssysteme so viele Todesopfer verursacht haben, und über das Versagen, Arbeiter*innen an vorderster Front während der Pandemie zu schützen. Jeder Versuch, Leistungen und Schutzmaßnahmen rückgängig zu machen, die die Menschen vor der Verelendung bewahren, wird ernsthaften Widerstand hervorrufen. Die Forderung nach dauerhaften Veränderungen, die der Masse der Bevölkerung zugute kommen, wird wachsen.

Die Nachfrage nach grundlegenden Veränderungen wird noch stärker werden, wenn sich die Auswirkungen des Klimawandels verschlimmern. Dies ist die andere und noch tiefere Krise, die durch die Pandemie und die Wirtschaftskrise vorübergehend in den Hintergrund gedrängt wurde.

Wenn man sieht, wie weit der Kapitalismus bereit ist zu gehen, um dieses verfallende System zu retten, werden sich zig Millionen Menschen fragen, warum wir den Kapitalismus nicht ganz abschaffen können. Alle gegenwärtigen Entwicklungen weisen auf die dringende Notwendigkeit hin, einen vernunftorientierten demokratischen und weltweiten Plan in Kraft zu setzen, der auf öffentlichem Eigentum an den wichtigsten Wirtschaftssektoren basiert, um die Herausforderungen zu bewältigen, denen wir als Spezies gegenüberstehen.

Original: https://internationalsocialist.net/en/2021/04/ready-for-a-rebound

China/Hongkong: Die ISA startet eine neue Kampagne!

Seit den Hongkonger Massenprotesten 2019 hat sich die Situation völlig verändert. Die Diktatur von Xi Jinping und der falsch benannten Kommunistischen Partei (KPCh) hat mit extremer und ungekannter Unterdrückung der demokratischen Rechte geantwortet, die darauf abzielt, die Bewegung zu zerstören und jegliche zukünftige Massenbewegungen in Hongkong und China zu verhindern.

Angesichts dieser Angriffe auf die demokratischen Rechte in Hongkong und der zunehmenden Repression in China startet die ISA die Kampagne „Solidarität gegen Repression in China & Hongkong“ (engl. „Solidarity Against Repression in China & Hong Kong“). Das Ziel dieser Kampagne ist es, das Bewusstsein dafür zu schaffen, was wirklich in China und Hongkong passiert und die Solidarität von einfachen Menschen, Arbeiter*innen und Jugendlichen zu organisieren.

Diese Kampagne wird sich in wichtigen Aspekten von verschiedenen bestehenden Solidaritätsinitiativen unterscheiden. Die ISA hat Genoss*innen, Sozialist*innen, in China und Hongkong. Sie sind direkt von der staatlichen Repression bedroht und betroffen, was dies zu einem sehr greifbaren Kampf macht.

Unsere Solidaritätskampagne wird sich auf die Situation der unterdrückten Schichten in China und Hongkong konzentrieren: Arbeiter*innen, junge Menschen, Frauen und ethnische Minderheiten. Wir werden uns von Initiativen fernhalten, die von verschiedenen Regierungen und Wirtschaftsinteressengruppen gestartet wurden, die ihre eigene Tagesordnung verfolgen. Sie können weder für die Unterdrückten sprechen, noch kann man ihnen trauen, wenn es um Fragen von demokratischen Rechten und Rechten der Arbeiter*innen geht. Dies ist besonders wichtig in der Ära des neuen Kalten Krieges zwischen den Herrscher*innen der USA und Chinas, in der beide Seiten versuchen, die globale öffentliche Meinung als Teil ihres imperialistischen Machtkampfes zu manipulieren.

Die Ziele der Kampagne sind Aufklärung, Intervention und die Organisation von Solidarität. Solidarität bedeutet ganz praktisch und unmittelbar, Unterstützung für die Opfer staatlicher Repression zu zeigen und Informationen über ihre Situation so weit wie möglich zu verbreiten. Die Kampagne hofft, das Bewusstsein in der Gewerkschafts- und Arbeiter*innenbewegung weltweit zu schärfen, indem sie Resolutionen verfasst, Videos dreht und Fotos von Aktionen zur Unterstützung der Rechte der Arbeiter*innen und der demokratischen Rechte in China und Hongkong teilt.

 

Studierende und Proteste

Während viele Demonstrationen aufgrund der Coronavirus-Pandemie pausiert wurden, kann sich „Solidarität gegen Repression in China & Hongkong“ auf die Beteiligung an Mahnwachen, Protesten und Versammlungen vorbereiten, wo immer das Thema der politischen Rechte in China und Hongkong auftaucht.

An Universitäten in aller Welt, an denen fast eine Millionen Studierende aus China und Hongkong eingeschrieben sind, kann die Kampagne ein großes Publikum finden. Allein in Großbritannien gab es vor der Pandemie 120.000 chinesische Student*innen und in den USA 370.000.

Chinesische und asiatische Studierende und Migrant*innen sind in westlichen Ländern einem erhöhten Risiko rassistischer Angriffe ausgesetzt, was auf das rassistische Schuldzuweisungsspiel von Politiker*innen wie Donald Trump und die Kalter-Krieg-Rhetorik nicht nur westlicher Regierungen zurückzuführen ist, aber auch auf die nationalistische und chauvinistische „Wolfskrieger“-Propaganda des chinesischen Regimes. Die KPCh organisiert nationalistische Student*innengruppen an ausländischen Universitäten, sowohl um nationalistische Propaganda zu verbreiten, als auch um jegliche oppositionelle Sympathien unter chinesischen Studierenden zu überwachen. Das erschwert es regimekritischen Studierenden, ihre Meinung zu äußern. Solidaritätskampagnen auf dem Campus müssen daher die Themen staatliche Repression und demokratische Rechte mit antirassistischen Initiativen und einem gemeinsamen Kampf verbinden.

In den kommenden Monaten hofft „Solidarität gegen Repression in China & Hongkong“ gemeinsam mit den ISA-Sektionen eine Reihe von Online-Treffen in verschiedenen Teilen der Welt und in mehreren Sprachen zu organisieren. Die Kampagne ist dabei, ein Kampagnenpaket mit Flugblättern, einer Mustergewerkschaftsresolution und anderen Hilfsmitteln für Solidaritätsaktionen zu erstellen.

Befreit „Long Hair“ Leung Kwok-hung

Ein entscheidender Teil dieser Solidaritätsarbeit ist es, den Fall des inhaftierten ehemaligen Hongkonger Abgeordneten „Long Hair“ Leung Kwok-hung zu thematisieren. Zusammen mit über vierzig anderen Kandidat*innen für den inzwischen aufgelösten Legislativrat (Legco) der Stadt wird er im Gefängnis festgehalten, angeklagt wegen Subversion unter dem Gesetz zur nationalen Sicherheit der Diktatur, für das die Höchststrafe lebenslange Haft ist.

 

Wir fordern die Freilassung aller politischen Gefangenen in Hongkong, weil das Verfahren gegen sie ein abgekartetes Spiel ist, auch wenn wir mit den meisten ihrer politischen Ideen nicht einverstanden sind. Einige der Angeklagten spielten nur eine untergeordnete Rolle bei den Massendemonstrationen und junge Demonstrant*innen waren sehr skeptisch gegenüber der Kompromissbereitschaft einiger dieser politischen Anführer*innen. Diese politischen Differenzen haben keinen Einfluss auf unsere Forderung nach ihrer sofortigen Freilassung. Wir wollen „Long Hair“ als eine der bekanntesten Protestfiguren Hongkongs besonders betonen, weil er der einzige Vertreter der Linken unter den prominentesten Vertreter*innen der Demokratiebewegung ist. „Long Hair“ hat sich aktiv für die Belange der Arbeiter*innen in China und Hongkong, für Frauen-, LGBTQ- und Geflüchtetenrechte und gegen den US-Imperialismus eingesetzt. Es ist widerlich, wenn einige Internet-„Linke“ in anderen Ländern die Massenproteste in Hongkong als eine von den USA unterstützte „Farbrevolution“ abtun (mit ähnlichen Argumenten für Myanmar und Xinjiang) und die grausame Repression, die jetzt stattfindet, unterstützen.

„Solidarität gegen Repression in China & Hongkong“ hofft, Solidaritätsbotschaften aus Übersee für „Long Hair“ im Gefängnis zu organisieren. Genoss*innen in verschiedenen Ländern können kurze Solidaritätsbotschaften schreiben, in denen sie angeben, woher sie kommen, und diese an uns schicken (Adresse unten). Es gibt strenge Regeln für die Post der Gefangenen und deshalb muss dies sorgfältig abgestimmt werden: Bitte schreibt keine politischen Slogans oder Forderungen, sonst wird der Brief von den Wachen zerstört, aber ihr könnt über aktuelle Angelegenheiten schreiben. Es ist wichtig, dass ihr außer eurem Namen keine persönlichen Angaben macht. Verwendet nur schwarze oder blaue Stifte und einfaches Papier ohne jegliche Verzierungen.

Ortsgruppen und Studierendenvereine können auch ein Banner aus Papier oder Plastikfolie mit dem Slogan „Free political prisoners in HK“ anfertigen und an Ihren öffentlichen Ständen aufhängen. Bittet die Öffentlichkeit zu unterschreiben und kurze Grüße auf das Transparent zu schreiben. Diese Banner können in Fotobotschaften verwendet werden und über unsere Kampagne an „Long Hair“ und andere Gefangene geschickt werden.

Der Hintergrund

Im Juni 2020 verhängte Chinas Diktator Xi Jinping über Hongkong ein Gesetz zur nationalen Sicherheit mit drakonischen Strafen. Anklagen wegen „Subversion“ und „Separatismus“ können mit lebenslanger Haft oder sogar der Auslieferung zum Prozess auf dem chinesischen Festland bestraft werden, wo für solche Vergehen immer noch die Todesstrafe gilt.

Das Ziel dieses harten Vorgehens ist es, den demokratischen Kampf der Massen in Hongkong zu zerschlagen und hart erkämpfte demokratische Rechte zu beseitigen: Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht, politische Parteien zu gründen und bei Wahlen zu kandidieren, gewerkschaftliche Rechte – einschließlich des Streikrechts. All diese Dinge sind in China verboten. Hongkong war einst die Ausnahme, die Xi Jinping nun abschaffen will. Zwei Hongkonger Gewerkschaftsführer*innen sind unter denen, die in Haft sind und wegen Subversion angeklagt werden.

Auf Chinas Nationalem Volkskongress (NPC) im März 2021 hat die Diktatur Hongkong neue Wahlregeln auferlegt. Diese Regeln ersetzen das halbgewählte Legco durch ein „verbessertes“ Legco –  eingeschränkter, autoritärer und mit mehrheitlich von einem Komitee unter der Kontrolle der Diktatur ernannten Mitgliedern. Es wird für keine echte Oppositionsgruppe mehr möglich sein, an den Wahlen teilzunehmen. Nur Handlanger der KPCh werden zugelassen werden. Das bisher recht offene Wahlsystem als Plattform zu nutzen, um sich für die Rechte der Arbeiter*innen und gegen den Kapitalismus einzusetzen, wie es die ISA 2011 und 2015 getan hat, ist nun unmöglich. Die meisten Menschen in Hongkong werden die Wahlen aufgrund dieser Veränderungen wahrscheinlich boykottieren.

Xi Jinpings Regime betreibt gleichzeitig die härteste Niederschlagung in China seit der Zerschlagung der demokratischen Massenbewegung von 1989. Arbeiter*innenproteste werden in China routinemäßig von der Polizei angegriffen, Aktivist*innen verschwinden und werden gefoltert, ein monströser Hightech-Polizei-Überwachungsstaat übersteigt Orwellsche Ausmaße, Minderheiten, insbesondere Muslime, leiden unter unmenschlicher Repression, rassistischen Gesetzen und Masseninhaftierungen.

Xi Jinpings Plan ist es, ein Leben lang zu regieren. Die Konterrevolution in Hongkong wird von den Erfordernissen seiner Diktatur angetrieben, jede Opposition unter den Massen in China – und nicht nur in Hongkong  – im Keim zu ersticken. Der Hongkonger Massenkampf von 2019 für Demokratie und gegen Polizeibrutalität brachte Millionen auf die Straße. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, dass Hongkongs ultrakapitalistische und von Peking eingesetzte Regierung jeder echten sozialen Basis entbehrte; sie konnte nur weiter regieren, weil sie von Chinas massivem Polizeistaat gestützt wurde.

Globale Schockwellen

Der Kampf in Hongkong inspirierte Menschen auf der ganzen Welt und brachte das totalitäre System von Xi Jinping in eine Krise. Es war ein globales PR-Desaster und untergrub Chinas Bemühungen, „Soft Power“ international zu kommunizieren. Die KPCh befürchtete, dass der „politische Virus“ von Hongkong auf das Festland übergreifen und die superausgebeutete chinesische Arbeiter*innenklasse anspornen könnte, den Weg des Klassenkampfes einzuschlagen. Der Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen haben sich in China inmitten der Weltwirtschaftskrise verschlechtert, während die wirtschaftsfreundliche Politik der KPCh jede Woche fünf neue Milliardär*innen hervorbringt.

Der Massenkampf in Hongkong war ein Beispiel für unglaublichen Trotz und Furchtlosigkeit gegen eine scheinbar allmächtige Diktatur. Das Xi-Regime will dieses Beispiel der Rebellion vor den Augen der ganzen Welt auslöschen. Hongkong ist auch zu einer entscheidenden Frontlinie im sich beschleunigenden Kalten Krieg zwischen dem chinesischen Imperialismus und dem US-amerikanischen/ westlichen Imperialismus geworden. Xi Jinpings Abwürgen der demokratischen Rechte in Hongkong soll als Machtdemonstration seines Regimes gegenüber dem „demokratischen“ Westen dienen.

„Solidarität gegen Repression in China & Hongkong“ unterstützt keine der beiden Seiten in diesem Konflikt. Wir glauben nicht, dass eine dieser Regierungen wirklich für demokratische Rechte eintritt. Ihre Handlungen und ihre Politik basieren auf ihren geostrategischen Interessen: ein skrupelloser Konkurrenzkampf um Märkte, Quellen billiger Arbeitskräfte und Rohstoffe. Der US-China-Konflikt hat absolut nichts mit „Demokratie“ und „Menschenrechten“ zu tun, wie eine Seite behauptet, oder mit „Patriotismus“ und „nationaler Sicherheit“, wie beide Seiten behaupten.

Internationalismus der Arbeiter*innenklasse

Unsere Kampagne zielt darauf ab, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was in China und Hongkong wirklich passiert. Dies basiert auf unserer Interaktion mit Arbeiter*innen, jungen Sozialist*innen und Aktivist*innen in China und Hongkong. Eine grundlegende Schwäche des Massenkampfes in Hongkong war die Unfähigkeit, trotz unglaublichen Heldentums, die Bewegung auf China auszudehnen und besonders die Arbeiter*innenklasse anzusprechen. Dies hätte ein klareres Programm erfordert, das auf Internationalismus anstatt auf Nationalismus/Regionalismus basiert und die Rolle des Kapitalismus als integraler Bestandteil des totalitären Systems in China/Hongkong versteht.

Während wir ein Ende aller Unterdrückung und Freiheit für alle politischen Gefangenen fordern, wird unsere Kampagne die Stimmen derjenigen in den Vordergrund stellen, die für die Rechte der Arbeiter*innen kämpfen und den demokratischen Kampf mit dem Kampf gegen das an sich undemokratische System des Kapitalismus und des Imperialismus verbinden.

In Myanmar, Thailand, Hongkong, Xinjiang sowie in den USA und anderen „Demokratien“ wurden echte demokratische Rechte von den herrschenden Klassen nie gewährt; sie können nur durch einen breiten Kampf zur Veränderung des Systems erreicht werden – und bestehende Rechte verteidigt werden.

Für den Anfang könnt ihr eure Solidarität mit dem Kampf für demokratische Rechte in Hongkong, China und weltweit zeigen, indem ihr uns auf Facebook und Twitter liked und folgt, indem ihr an einem Online-Solidaritätstreffen teilnehmt, das wir in den kommenden Wochen in eurer Sprache/ Zeitzone abhalten werden, indem ihr unseren Muster-Gewerkschaftsantrag anpasst, um ihn auf eurer Gewerkschaftsversammlung zur Sprache zu bringen, und indem ihr eine/n Redner*in von „Solidarität gegen Repression in China & Hongkong“ einladet, in eurer Ortsgruppe der ISA zu sprechen. Wenn ihr in eurer Gegend Kundgebungen zur Solidarität mit den demokratischen Rechten in Hongkong/China findet, lasst es uns bitte wissen. Wir werden euch bei der Mobilisierung unterstützen, um daran teilzunehmen.

 

    Solidarität gegen Repression in China & Hongkong auf Facebook

    Solidarität gegen Repression in China & Hongkong auf Twitter

    Adresse, um Solidaritätsbriefe an „Long Hair“ Leung Kwok-hung zu senden: P.O. Box No. 72622, Kowloon Central Post Office, Hongkong

Gamestop: Das System austricksen?

Sorry, die Welt kann nicht am Finanzmarkt verbessert werden, egal wie clever man trickst…
Peter Hauer

Ende Jänner explodierte die Aktie des Spiele-Händlers Gamestop. Der Grund: Die Investment Firma Melvin Capital spekulierte auf einen Fall der GameStop-Aktie. Aber auf dem Online-Forum Reddit „organisierten“ sich Kleinanleger*innen und kauften kollektiv über die Trading-App Robinhood Aktien. Dadurch stieg die Gamestop-Aktie von ca. 18$ auf 347$. Für Melvin Capital bedeutet das einen Verlust von 12,5 Milliarden $ und man musste von Investment-Firmen gerettet werden. Als Reaktion auf den massiven Anstieg sperrte Robinhood die Aktie, um Anleger*innen und sich selbst vor Schaden zu bewahren. Der wahre Grund ist eher, dass Robinhood, auch wenn es der Name suggeriert, nicht eine Umverteilung von Unten nach Oben zum Ziel hat (Kleinanleger*innen verlieren im Schnitt ca. 1/4 des eingesetzten Kapitals).
Der Coup sorgte für verständliche Schadenfreude gegen „die Großen“ – endlich hatten mal die „Kleinen“ profitiert. So stellt sich die Frage ob Apps wie Robinhood die Möglichkeit für eine gerechtere Verteilung des Reichtums bieten? Kann man egoistische Finanzhaie in den Griff bekommen, indem man sie mit ihren eigenen Waffen schlägt? Die kurze Antwort: Nein.
1. Kam die Trade-Initiative nicht „von unten“. Vielmehr nutzte Keith Gill, ein YouTuber und „zufälligerweise“ lizenzierter Finanzprofi, die Reddit-User und ihre Wut über die „großen“ für kurzzeitige Profite (und hat jetzt wegen Verstößen gegen das Wertpapiergesetz Ermittlungen am Hals).
2. Die Umverteilung war nur punktuell und nur einzelne Akteur*innen konnten Profit machen, andere erlitten enorme Verluste. Der 20 jährige Student Alex Kearns fiel auf die Propaganda herein, dass jedeR mit Aktien reich werden könne – und zerbrach am Horror-Minus am Konto.
3. Auch wenn sich hier Kleinanleger*innen organisierten, so fehlt Arbeiter*innen das Geld, um sich Aktienpakete zu kaufen. Das fette Geld geht nur mit großen Paketen und Reserven, um einen Kurssturz aussitzen zu können. Die „kleinen“ aber haben monatliche Ausgaben fürs Überleben und keine Rücklagen – ihre Einlagen sind Spielgeld für die „Großen“.
4. Im Gegensatz zu Arbeiter*innen verfügt der Aktienmarkt über Bailout-Mechanismen, die die Kapitalist*innen vor Schaden und „unachtsamem Gambling“ schützt.
5. Aktuell werden die Blasen auf den Finanzmärkten wieder größer. Aktien repräsentieren kaum reale Werte, sondern Wetten von Kapitalist*innen darauf, wie sich etwas entwickelt. 
Nach „ethischen Aktien“ (viel Öko, keine Waffen) ist das jüngste Beispiel eines, das Illusionen schürt, man könne dem System ein Schnippchen schlagen. Der Aktienmarkt als Instrument für eine Gesellschaft, in der man frei von irgendwelchen Zwängen leben kann, ist eine Illusion. Dass auch die Reddit-Gambler*innen keine soziale Ader haben, zeigte sich, als wenige Tage später im selben Forum vorgeschlagen wurde, Süd-Afrika für Profite finanziell zu ruinieren.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Nachrichten aus der ISA

ROSA in Deutschland

Am 5. März, dem 150. Geburtstag Rosa Luxemburgs, wurde in Deutschland von der SAV (ISA in Deutschland) eine eigene ROSA als Teil der internationalen sozialistisch-feministischen Kampagne der ISA gegründet. In Kassel organisierte die SAV einen antikapitalistischen Block mit ROSA auf der 8. März-Demo, in Köln gibt es Aktionen in mehreren Stadtteilen und eine ROSA Aktion "Sexismus hat System".  Am 11. März wurde die erste bundesweite Veranstaltung „Relevant aber prekär?! Organize and fight back against sexism!“ auf Zoom abgehalten. Frauen der Arbeiter*innenklasse haben den höchsten Preis für die Corona-Krise zu zahlen, deshalb kämpft ROSA u.a. für Investitionen in Bildung, Gesundheit und Pflege und ganz zentral auch gegen das Profitsystem, das dahinter steht.
sozialismus.info
fb.com/rosa.germany

Fora Bolsonaro!

Brasilien unter dem rechtsextremen Bolsonaro eilt von einem traurigen Corona-Höhepunkt zum nächsten. Dennoch will die Regierung die Schulen wieder öffnen. Mitglieder von Liberdade, Socialismo e Revolução (ISA in Brasilien) fordern massive Investitionen ins Gesundheitswesen und haben eine führende Rolle in einem Streik der Lehrkräfte in São Paulo gegen die geplante Schulöffnung gespielt.
lsr-asi.org

Generalstreik in Südafrika

Am 24. Februar waren in ganz Südafrika Millionen auf der Straße: Arbeiter*innen, Basisorganisationen und Jugendliche gingen gegen das Sparprogramm der ANC-Regierung auf die Straße und legten die Arbeit nieder. Dazu aufgerufen hatte die Gewerkschaft SAFTU, darunter auch Lebohang Phanyeko, National Organiser und Mitglied der Workers‘ and Socialist Party (WASP, ISA in Südafrika). Die WASP beteiligte sich auch an der Organisierung der Demonstrationen in Johannesburg, Tshwane, Kapstadt und Bloemfontein. Auch wurden weiterreichende Forderungen wie Wohnraum, Klimagerechtigkeit und das Ende der Arbeitslosigkeit gefordert. Der Klassenkampf in Südafrika ist im Aufschwung, die WASP fordert daher einen nationalen Arbeiter*innengipfel unter Einbeziehung aller Gewerkschaften und Sektoren.
socialist.org.za

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Der Kapitalismus bietet nur leere Versprechen – kämpfen wir für eine sozialistische Alternative!

von Philipp Chmel

Antikapitalistische Massenmobilisierung für die COP 26

Der nächste globale Klimastreik findet am 19. März statt und die ISA wird wie immer ein Teil davon sein. Die neue, weltweite Klimabewegung hat sich zur größten Jugendbewegung seit den 1960er Jahren entwickelt. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte sie in den gigantischen Klimastreiks im September 2019. Es ist bemerkenswert, dass die Bewegung, zwei Jahre nach dem ersten globalen Klimastreik, immer noch aktiv ist, vor allem angesichts der zusätzlich erschwerten Bedingungen, durch die Pandemie, wie Isolation und Einschränkungen bei öffentlichen Versammlungen. Das zeigt sowohl, dass insbesondere die junge Generation die zunehmende Schwere der Klimakrise und die dringende Notwendigkeit eines radikalen Wandels versteht, als auch ihr tiefes Misstrauen und ihre Wut gegenüber dem System.

Die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Bewegung und eines Wiederauflebens im Jahr 2021 ist mehr als deutlich. Aber trotz der beeindruckenden Massenmobilisierungen des Jahres 2019, die das Bewusstsein der Menschen in Bezug auf den Klimawandel enorm beeinflusst haben, und den jüngsten dramatischen Auswüchsen der schrecklichen Folgen der Klimakrise – die Dürren in Afrika, die Buschbrände in Australien und Kalifornien, die Taifune in Südostasien und die Hurrikane in Amerika – ist die herrschende Klasse absolut nicht in der Lage, die notwendigen Veränderungen voranzutreiben.

Infolgedessen versteht ein wichtiger und wachsender Teil der Bewegung immer mehr, dass die kapitalistische Herrschaft und Produktionsweise die Wurzel der Klima- und Umweltkrise ist. Dieses Verständnis spiegelt sich in immer radikaleren Formen des Protests wider – und diese müssen wiederum mit radikaleren, das heißt antikapitalistischen und sozialistischen, Inhalten und einer Strategie gefüllt werden, um die Bewegung im Jahr 2021 weiter aufzubauen. Dabei ist es entscheidend, dass sich die Bewegung nicht von etablierten (auch "grünen") Parteien und NGO-ähnlichen Taktiken vereinnahmen lässt, sondern sich auf die Basisarbeit und den Bewegungsaufbau konzentriert.

Als revolutionäre Sozialist*innen sind wir Teil der Bewegung und erkennen den Mut, die Energie und das Engagement der Aktivist*innen und die Errungenschaften der Bewegung an. Wir wollen aber auch einen Weg über die aktuellen Grenzen der Bewegung hinaus aufzeigen und erklären, warum es dringend notwendig ist, den Kampf gegen die Klimakrise mit dem Kampf gegen das kapitalistische System zu verbinden, und konkrete Vorschläge machen, um die Bewegung voranzubringen.

Der Slogan für diesen globalen Klimastreik – keine leeren Versprechungen mehr – ist genau richtig. Jetzt ist es mehr denn je an der Zeit, die Art von politischem und wirtschaftlichem Druck aufzubauen, die die notwendigen Veränderungen erzwingen kann. Wie wichtig wirtschaftliche Streiks der Arbeiter*innen sind, haben wir bei den Aufständen in Belarus, in Chile, in Myanmar und vielen anderen Ländern gesehen. Das Gleiche gilt für das Klima: Kämpfen und streiken für Umwelt- und Naturschutz in Kombination mit sozialen Verbesserungen ist die mächtigste Methode, um Veränderungen zu erreichen. Die historischen Siege der Arbeiter*innenbewegung, wie der 8-Stunden-Arbeitstag, das Frauenwahlrecht und demokratische Rechte, sind Beispiele dafür. Diese Errungenschaften wurden nicht dadurch errungen, dass man "nicht zu radikal" war und an die Medien und die politischen Entscheidungsträger appellierte, sondern durch kollektive Streik- und Protestaktionen.

Viele argumentieren, dass eine Veränderung des Systems unrealistisch ist und zu lange dauert und wir uns daher auf die Verbesserung des Systems konzentrieren sollten. Doch während die Veränderung des Systems zweifelsohne eine große Herausforderung ist, ist die Lösung der Klimakrise innerhalb der Grenzen des Kapitalismus schlichtweg unmöglich. Im Kapitalismus müssen Unternehmen kurz- und langfristig nach dem maximalen Profit streben, was unweigerlich zur Ausbeutung von Mensch und Umwelt führt. Um die Profite zu steigern, versuchen Unternehmen zwei Dinge: 1) ihre Produktion und ihren Marktanteil zu erhöhen – der Vorstandsvorsitzende von BMW sagte während der Autoverkaufskrise in den 1970er Jahren, es gäbe “vielleicht zu viele Autos auf dieser Welt, aber nicht genug BMWs" – und 2) ihre Kosten zu senken. Das bedeutet: Löhne drücken; gegen höhere Steuern und strengere Umwelt- und Arbeitsschutzmaßnahmen lobbyieren; oft die Produktion in Länder mit niedrigeren Umweltstandards und Arbeitskosten verlagern.

Diese Dynamik, die durch den Wettbewerb verstärkt wird, kann nicht einfach durch ein netteres und umweltfreundlicheres Management überwunden werden. Wenn die Chefs von Shell oder Apple plötzlich beschließen würden, die Interessen der Arbeiter*innen, der Gesellschaft und der Natur über die privaten Gewinne der Aktienbesitzer*innen zu stellen, wären sie ihren Job bald los. Und auch "grüner" Kapitalismus kann die Klimakrise sicherlich nicht lösen, sondern zielt darauf ab, neue Märkte zu erschließen, einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen  – "grün" verkauft sich besser – und die Legitimität des Systems wiederherzustellen, also das Vertrauen der jungen Generation zurückzugewinnen. Darum kämpfen wir natürlich immer für Verbesserungen im Hier und Jetzt, müssen dies aber auch mit Forderungen, Kampfmethoden und einem Programm verbinden, das über das kapitalistische System hinausführt. Nur eine demokratische sozialistische Gesellschaft ermöglicht die notwendigen Veränderungen zur Lösung der Klima- und Umweltkrise.

Den Kampf von unten aufbauen – mit den Methoden der Arbeiter*innenklasse!

Neben der Klimakatastrophe ist das kapitalistische System auch auf Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung angewiesen und reproduziert diese ständig wieder. Es gibt nicht nur keinen Kapitalismus ohne Rassismus, wie Malcom X feststellte, sondern es gibt den Kapitalismus auch nicht ohne Sexismus, Unterdrückung, Gesundheitsdesaster und Klimakatastrophe. Die Antwort auf diese Vielzahl von Problemen und Katastrophen ist die Überwindung unserer Spaltungen, indem wir unsere Kräfte bündeln und Kämpfe miteinander verbinden. Wir alle sind Teil der 99% – derjenigen, die arbeiten müssen, um zu überleben, der Arbeiter*innenklasse und anderer unterdrückter Gruppen.

Während die nationalen herrschenden Klassen, die die Interessen ihrer jeweiligen nationalen kapitalistischen Elite vertreten, die internationalen Konflikte und die imperialistische Konkurrenz nicht überwinden können, muss unsere Antwort international sein. An vielen Stellen haben wir bereits gesehen, wie sich junge Menschen in der Klimabewegung zusammengeschlossen und solidarisiert haben: Viele Aktivist*innen gingen auch zu Black Lives Matter-, Geflüchtetensolidaritäts- und 8. März-Protesten. In den USA hat das Sunrise Movement offiziell für Black Lives Matter-Proteste mobilisiert, und kürzlich haben die indische Klimaaktivistin Disha Ravi, Greta Thunberg und andere die Protest- und Streikbewegung der indischen Bauern und Bäuerinnen unterstützt.

Dies weist in die notwendige Richtung – die Klimabewegung muss Kooperation und Solidarität mit anderen sozialen Bewegungen aufbauen. Der nächste Schritt ist nun, diese Zusammenarbeit und Solidarität mit der Arbeiter*innenbewegung aufzubauen, und zwar nicht in erster Linie durch Strategietreffen mit den Gewerkschaftsführungen, sondern vor allem durch die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von bestehenden Basisorganisationen der Arbeiter*innenklasse, die bereits Kämpfe führen, zum Beispiel im Sozial- und Gesundheitsbereich. Menschen aus der Arbeiter*innenklasse sind nicht nur am stärksten von der Klimakrise betroffen, sondern sie sind auch die Expert*innen, die wissen, wie man die Produktion so verändern kann, dass sie nachhaltig und ökologisch ist. Und was am wichtigsten ist: sie haben die Macht, die kapitalistische Maschinerie zu stoppen. Die herrschenden Klassen versuchen, unsere Arbeitsplätze gegen die Umwelt auszuspielen. Gewerkschafter*innen und Vertrauensleute müssen dieser Lüge entgegentreten, indem sie erklären, dass nicht die klimafreundliche Produktion, sondern die profitorientierte Ausbeutung die Arbeitsplätze bedroht – und indem sie die Kämpfe miteinander verbinden.

Als Teil des Aufbaus der Bewegung im Jahr 2021 ist eine antikapitalistische Massenmobilisierung für die COP 26 (internationaler Klimagipfel im November) der Schlüssel um die Straßen zurückzuerobern, mit einem massiven Gegengipfel in Glasgow sowie Massenprotesten auf der ganzen Welt. Lasst uns den globalen Klimastreik jetzt nutzen und die Bewegung in den kommenden Monaten um eine Reihe von antikapitalistischen Forderungen herum aufzubauen, die das System herausfordern! Und laden wir alle sozialen Bewegungen, insbesondere die Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung, ein, mit ins Boot zu kommen!

Vorschläge für Forderungen

Während die Bewegungen in verschiedenen Ländern und Regionen jeweils ihre eigenen spezifischen Forderungen haben werden, gibt es dennoch einige universelle Kernpunkte, für die wir global kämpfen müssen. In einem früheren Artikel haben wir sieben allgemeine Forderungen aufgestellt, die immer noch sehr relevant sind; hier wollen wir zwei davon hervorheben.

Die Corona-Krise hat die tiefste Wirtschaftskrise seit 100 Jahren ausgelöst. Aber anstatt zum "Normalzustand" zurückzukehren, kann das auch eine Chance sein, komplett zu verändern was und wie produziert wird. Es ist deutlich geworden, welche Bereiche für die Gesellschaft wichtig sind und welche nicht. Während wir zum Beispiel im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und im öffentlichen Verkehr viel mehr Personal brauchen, brauchen wir auch eine Verkürzung des Arbeitstages ohne Lohneinbußen. Das würde nicht nur das Leben der Arbeiter*innenklasse direkt verbessern, sondern auch helfen, klimaschädliche Emissionen zu senken, und würde den Menschen mehr Zeit für Freizeit, Kultur und politische Aktivitäten geben.

Ein gutes Leben für alle bei gleichzeitigem Schutz des Planeten ist sicherlich machbar, aber um es möglich zu machen, müssen wir dringend die Schlüsselsektoren – wie Energie, Mobilität und Verkehr, Soziales und Gesundheit, Landwirtschaft und Pharma – in demokratisches öffentliches Eigentum überführen. Wir müssen den Profitzwang aus der Gleichung nehmen und stattdessen die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellen und das Marktchaos durch demokratische Planung ersetzen. Die wahnsinnigen Preiserhöhungen der texanischen Energiekonzerne in den letzten Wochen und die Konflikte um Patente für Corona-Impfstoffe sind nur die jüngsten Beispiele für das endlose Versagen des profitgetriebenen Marktsystems.

Um diese Forderungen und vieles mehr durchzusetzen, müssen wir die Gewerkschaften zurückgewinnen und Arbeiter*innen-Massenparteien aufbauen, die kompromisslos für die notwendigen Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen sowie gegen Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzabbau und für soziale Verbesserungen kämpfen. Das Geld ist da - lassen wir die Reichen zahlen! Das ist die Aufgabe von uns allen, von jungen Menschen, von Frauen, von LGBTQI+-Menschen, von Schwarzen, Indigenen und People of Color, von Antifaschist*innen, von Gewerkschafter*innen – gemeinsam sind wir die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten, gemeinsam haben wir eine Welt zu gewinnen.

 

Schließe dich unserem Kampf an – tritt der SLP bzw. der International Socialist Alternative bei!

 

Myanmar: Wie kann die Revolution gewinnen?

Generalstreiks zeigen das Potenzial den Putsch zurückzuschlagen. Die Bewegung muss anfangen die Gesellschaft zu organisieren.
von Geert Cool, LSP/PSL (ISA in Belgien)

Mehr als einen Monat nach dem Militärputsch unter der Führung von Min Aung Hlaing geht der Kampf zwischen dem Volk und dem Militär Myanmars weiter. Streiks legen das tägliche Leben lahm. Die Generalstreiks am 22. Februar und 8. März waren die bisherigen Höhepunkte der Bewegung. Die Armee, die Tatmadaw, reagierte nach dem 22. Februar mit noch mehr Gewalt, die viele Tote forderte.

Das bekannteste Opfer dieser tödlichen Repression ist die 19-jährige Angel Kyal Sin. Sie wurde am 3. März in Mandalay, der zweitgrößten Stadt des Landes, getötet, während sie ein T-Shirt mit dem Slogan trug: „Alles wird gut.“ Mit 38 Toten war der 3. März der bisher blutigste Tag. Das erste Todesopfer war die 20-jährige Studentin Mya Thwate Khaing, die am 9. Februar angeschossen wurde und zehn Tage später starb.

Diese Märtyrer*innen der Bewegung sind junge Frauen, wie auch viele der Anführer*innen der Bewegung. Die Arbeiter*innenklasse nimmt eine zentrale Stellung ein: Der Streik ist die Hauptwaffe der Bewegung und erweist sich einmal mehr als besonders effektiv. Zu den ersten Gruppen, die in den Streik traten, gehörten Arbeiter*innen aus Sektoren, die bereits in den letzten Jahren bestreikt worden waren. Arbeiter*innen aus dem Gesundheitswesen standen nach einem Jahr der Gesundheitskrise an vorderster Front. Lehrer*innen und Jugendliche hatten 2014–15 gegen eine Bildungsreform gestreikt und eine stärkere Bildungsgewerkschaft gegründet. Arbeiter*innen des schnell wachsenden Textilsektors, in dem mittlerweile bis zu 900.000 Arbeiter*innen, die meisten von ihnen Frauen, beschäftigt sind, streikten bereits 2019 für bessere Arbeitsbedingungen. Die globale Pandemie und die sinkende Nachfrage nach Textilien durch große Bekleidungsmarken führten in letzter Zeit zu Entlassungen und neuen Protesten.

Die Generalstreiks zeigen das Potenzial, den Putsch zu besiegen. Wenn das arbeitende Volk alles lahmlegt, hat die Armeeführung keine Chance mehr. Um sie wirklich zu entmachten, muss die Bewegung selbst damit beginnen, die Gesellschaft auf der Grundlage der Interessen und der Beteiligung der Mehrheit der Bevölkerung zu organisieren. Ein Sieg dieser revolutionären Bewegung würde internationale Konsequenzen haben. So wie diese Bewegung den „Hunger Games“-Drei-Finger-Gruß international verbreitet hat, kann sich das Beispiel einer starken und siegreichen Streikbewegung von Myanmar aus in der ganzen Region und darüber hinaus ausbreiten.

Generalstreiks

Im Vorfeld des Generalstreiks vom 22. Februar gab es mehrere Protestaktionen, die das tägliche Leben störten. Am 17. Februar zum Beispiel täuschten die Menschen Autopannen vor und brachten so den gesamten Verkehr in den großen Städten wie Yangon zum Erliegen. In den Dörfern wurden Baumstämme quer über die Straßen gelegt, um Armeefahrzeuge an der Durchfahrt zu hindern.

In der ersten Phase des Protestes gegen den Militärputsch vom 1. Februar übernahmen Arbeiter*innen im Gesundheits- und Bildungswesen die Führung. Sie traten in den Streik, und diesem Beispiel folgten bald viele andere Branchen.

Es gibt keine lange Tradition von Gewerkschaften in Myanmar. Die Gewerkschaften wurden 1988 in der Bewegung gegen die Militärjunta wiedergegründet und operieren erst seit 2011 legal. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund (General Confederation of Trade Unions) hatte 2018 nur 65.000 Mitglieder – bei einer Bevölkerung von 54 Millionen. Es gibt einige besonders kämpferische Gewerkschaften, die aus Arbeiter*innen-Aktionen entstanden sind. Das ist zum Beispiel in der Bekleidungsbranche der Fall, die in den letzten Jahren besonders schnell gewachsen ist und in der die Arbeiter*innen begonnen haben, ihren Anteil vom Kuchen einzufordern. Im Jahr 2019 gab es eine Welle von Streiks für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen. Darauf folgten 2020 Streiks gegen willkürliche Entlassungen von Gewerkschaftsmitgliedern, und für sichere Arbeitsbedingungen während der Gesundheitskrise. Im Zuge der aktuellen Proteste gegen den Putsch wachsen die Gewerkschaften und es entstehen neue.

Am 22. Februar traten Millionen Menschen in den Streik. Nicht nur in Sektoren, in denen bereits gestreikt wurde, sondern in allen Teilen der Wirtschaft. Von Minen und Fabriken bis zu Restaurants und informellen Straßenverkäufer*innen. Den ganzen Tag stand alles still und blieb still. Hunderttausende gingen in allen Städten und auf dem Land auf die Straße. Dieser Generalstreik wurde die „22222-Revolution“ genannt, nach den fünf Zweien, die in dem Datum 22. Februar 2021 vorkommen. Die Nachrichtenseite Irrawaddy.com berichtete, dass in Mandalay, der zweitgrößten Stadt des Landes, buchstäblich alle Einwohner*innen bei einer Demonstration auf die Straße zu sein schienen, die nach Aussage von Veteran*innen der Protestbewegung von 1988 noch größer war als diese historische Demonstration. Selbst in Naypyidaw, einer Stadt, die zwischen 2002 und 2012 künstlich errichtet wurde, um als „sichere“ Hauptstadt für das Regime zu dienen, gab es Streiks und Demonstrationen.

Ein Streik, der so allumfassend ist, bringt das ganze Land zum Erliegen. Das hat Folgen. Die Aktionen der Bankbeschäftigten machten es den Anführer*innen des Putsches unmöglich, die Löhne des Militärs zu zahlen, während sie die Unterstützung der einfachen Soldat*innen dringend brauchen, um sich an der Macht zu halten. Hunderte von Angestellten privater und öffentlicher Banken schlossen sich den Gewerkschaften an und beteiligten sich an der Bewegung des zivilen Ungehorsams (CDM). Wegen des Streiks haben Unternehmen und die Regierung kaum Zugang zu Geld. Es erinnert ein wenig an den reaktionären Kapp-Putsch in Deutschland 1920, als die rechten Putschisten keine Druckerei finden konnten, die nicht streikte, und deshalb die offiziellen Verlautbarungen des Putsches nicht drucken lassen konnten.

Das bedeutet natürlich nicht, dass es „Game Over“ ist. Die Verschärfung der Repression durch die Armeeführung ist ein Ausdruck von Verzweiflung, die äußerst gefährlich werden kann. Der erneute Generalstreik am 8. März bestätigte das Potenzial der Bewegung und das Scheitern der Repression. Wenn zwei Generalstreiks nicht ausreichen, um das Regime zu stürzen, muss ein Generalstreik von unbestimmter Dauer ausgerufen werden. In einer Reihe von Branchen streiken die Arbeiter*innen bereits seit Anfang Februar.

Bewegung des zivilen Ungehorsams

Die Bewegung des zivilen Ungehorsams spielt eine wichtige Rolle in der Bewegung und treibt sie von unten gegen die Militärdiktatur voran. Das ist eine bemerkenswerte Besonderheit der Situation. Früher wurde Aung San Suu Kyis National League for Democracy (NLD) allgemein als die zentrale Organisation der Opposition gegen das Militär angesehen. Ihre Beteiligung an der Regierung in den vergangenen Jahren und die Zusammenarbeit mit der Armee untergruben jedoch die Autorität der NLD. Die Protestbewegung wurde von Gesundheitsarbeiter*innen, Lehrer*innen und anderen Arbeiter*innen ins Leben gerufen. Sie gründeten die Bewegung für zivilen Ungehorsam als Facebook-Seite, die über 300.000 Follower*innen hat.

Die Arbeiter*innen des Gesundheitswesens nehmen nach der globalen Gesundheitskrise, die auch Myanmar getroffen hat, eine besondere Rolle ein. Zusätzlich gibt es einige gewerkschaftliche Organisator*innen in diesem Bereich. Im Bildungssektor gibt es eine relativ starke Gewerkschaft, die „Myanmar Teachers‘ Federation“, die inzwischen nach eigenen Angaben 100.000 Mitglieder hat. Das Ausmaß der Protestbewegung hat sogar dazu geführt, dass eine Reihe von Arbeitgeber*innen und internationalen Unternehmen ihre Zusammenarbeit mit der Regierung beendet haben. Es ist auch der Druck der Bewegung und die Isolierung des Putschregimes in Myanmar, die internationale Regierungschef*innen wie Biden dazu veranlasst hat, Erklärungen gegen das Militär abzugeben und Sanktionen zu verhängen.

Die Macht der Streiks ist wichtig, aber gleichzeitig muss sie durch die Organisation von Streikkomitees und regionalen Aktionskomitees gebündelt werden. In der Bewegung von 1988 spielten Streikkomitees und „Volkskomitees“ eine wichtige Rolle. Solche Gremien werden auch jetzt gebraucht. Sie waren damals wichtig, um sicherzustellen, dass die Protestbewegung nicht von alten „Krokodilen“ gekapert wurde. Jetzt, da die Mehrheit der Bevölkerung in Myanmar darauf schaut, wie sie das Militärregime vollständig loswerden kann, wird es notwendig sein, dass die Bewegung ihre eigenen Organisationen und Kampfinstrumente aufbaut und kontrolliert. Das Generalstreikkomitee, das für den Streik vom 22. Februar eingerichtet wurde, war ein vielversprechender Anfang. Es wäre jedoch besser, das Generalstreikkomitee auf der Grundlage lokaler Komitees in den Betrieben und in den Stadtvierteln zu gründen, die sich auf nationaler Ebene koordinieren, als andersherum zu beginnen.

Lehren aus der Geschichte – ein Programm für echten Wandel ist nötig

Trotz der Existenz von Illusionen in Konzepte wie „führungslose“ Bewegungen, gibt es immer die Tendenz, dass ein Führungsvakuum gefüllt wird. Wenn die Arbeiter*innen und armen Bauern und Bäuerinnen es nicht von unten füllen, wird es immer Kandidat*innen geben, die von oben hereinstoßen. In der Bewegung von 1988 versuchte der ehemalige Premierminister U Nu dies, aber sein Versuch wurde durch die schnelle Entwicklung einer neuen politischen Partei aus der Bewegung heraus vereitelt: die National League for Democracy (NLD). Diese Partei betrachtete Aung San Suu Kyi, die damals gerade zurückgekehrte Tochter eines ehemaligen Freiheitskämpfers, als ihre neue Anführerin.

Heute befindet sich Aung San Suu Kyi in einer ähnlichen Position wie U Nu im Jahre 1988. Ihre NLD spielte keine zentrale Rolle bei der Organisation des Protestes und das Regime, dem sie angehörte, ist eindeutig gescheitert. Dennoch hat das Fehlen eines politischen Programms der Massenbewegung und die durch Repression erlangte Autorität es der NLD ermöglicht, wieder auf die Beine zu kommen. Am 2. März gründete ein Komitee von NLD-Abgeordneten das „Cabinet of Committee Representing Pyidaungsu Hluttaw“ (CRPH, Pyidaungsu Hluttaw ist der Name des Parlaments). Dies ist eine alternative Regierung mit vier Minister*innen: drei NLD-Politiker*innen und ein unabhängiger Akademiker, Dr. Zaw Wai Soe, der als Rektor der medizinischen Universität eine zentrale Rolle im Kampf gegen Covid-19 in Yangon spielte. Er rief sofort alle Staatsbediensteten auf, sich der Bewegung des zivilen Ungehorsams (CDM) anzuschließen. Die CDM fordert explizit die Anerkennung des CRPH und übergibt damit eigentlich die Initiative an die NLD zurück.

Es ist normal, dass es in der Bevölkerung Illusionen in die CRPH gibt und die Proteste fordern zu Recht die Freilassung aller politischen Gefangenen. Die Frage ist jedoch, welche Politik die CRPH vorschlägt, welche Taktik gegen die Armee und was für eine Alternative geschaffen werden soll, wenn die Putschist*innen vertrieben wurden. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen von früher ist keine adäquate Antwort auf die Sorgen der Bevölkerung. Eine Zusammenarbeit mit der Armee zum Beispiel wird nicht akzeptiert werden.

Um die Armee loszuwerden, muss der Kampf nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der wirtschaftlichen Ebene geführt werden. Die Armeespitzen spielten eine aktive Rolle bei den Privatisierungen, die nach 1988 über die Wirtschaft hereinbrachen. Viele wichtige Unternehmen sind in Militärhand, darunter die Myanmar Economic Corporation (MEC) oder die Myanmar Economic Holding Ltd (MEHL), die in der Privatisierungswelle einige lukrative Teile der Wirtschaft aufkauften. Das wird in der Bewegung instinktiv verstanden: So werden z.B. Bier von Myanmar Beer oder Produkte des Telekommunikationsbetreibers MyTel (beide Teil der MEC) massiv boykottiert.

Die Protestbewegung braucht ein Programm, um der Bevölkerung wirklich die Macht zu geben. Das bedeutet nicht nur demokratische Wahlen, sondern die Kontrolle des Volkes über die Schlüsselsektoren der Wirtschaft, um eine demokratische Kontrolle des enormen Reichtums des Landes zu ermöglichen. Dies wird nicht durch die CRPH geschehen, selbst wenn dieses Gremium unter dem Druck der Bewegung ein radikaleres Profil annehmen muss, als das, was bisher von der NLD befürwortet wurde. Die Politik der Zusammenarbeit mit der Armee ist gescheitert, deshalb muss die NLD sich davon abwenden. Aber selbst das reicht nicht aus, um einen grundlegenden Wandel herbeizuführen.

Internationale Reaktionen

Es gibt ein instinktives Verständnis in der Bewegung, dass Solidarität sowohl im Inland als auch international wichtig ist. Es gibt eine gesunde Einstellung zur nationalen Frage und zu den Rechten der vielen Minderheiten im Lande. Mit englischsprachigen Protestschildern rufen die Demonstrant*innen explizit zu internationaler Solidarität auf. Sie zielen nicht so sehr auf die internationalen Institutionen und Anführer*innen, sondern auf die einfachen Menschen mit einem besonderen Augenmerk auf frühere Bewegungen in Thailand und Hongkong. Hier und da werden Illusionen über die Rolle der USA geäußert, aber das scheint derzeit innerhalb der Bewegung eher marginal zu sein.

Die internationalen Kapitalist*innen haben nie ein Interesse an der Mehrheit der Bevölkerung in Myanmar gezeigt. Als Aung San Suu Kyi freigelassen wurde und die NLD ankündigte, 2012 an Nachwahlen für 45 Sitze teilzunehmen, strömte das internationale Establishment nach Myanmar in der Hoffnung, lukrative Geschäfte zu machen. Dass es etwas zu holen gab, war schon nach den Privatisierungen und der Öffnung der Wirtschaft nach 1988 klar geworden: So stiegen TotalChevron und die thailändische PTT in das Öl- und Gasunternehmen Myanma Oil and Gas Enterprise ein.

Politiker*innen wie Hillary Clinton traten sich beinahe gegenseitig auf die Füße, um als erste mit Aung San Suu Kyi Tee zu trinken, als sie Regierungsverantwortung übernahm. Das Wall Street Journal bemerkte zu der Zeit: „Das Potenzial Myanmars ist für einige Investor*innen zu groß, um es zu ignorieren. Als einer der letzten grossen Grenzmärkte in Asien ist es reich an Öl, Gas, Holz und Edelsteinen und hat das Potential, ein wichtiger Exporteur von Reis und Meeresfrüchten zu werden.“ („Firms See Myanmar as Next Frontier“, WSJ 30. November 2011).

Außerdem wollten die USA und Europa den Einfluss Chinas begrenzen. Im Jahr 2010 gab es bereits chinesische Investitionen im Wert von 12,3 Milliarden Dollar in dem Land. Das chinesische Regime hofft, durch Myanmar Zugang zum Indischen Ozean zu bekommen, was für die „Belt and Road“-Initiative wichtig ist. Heute versucht die Militärführung – dieselbe, die in den 1960er Jahren ein diktatorisches Regime nach dem Vorbild von Maos China errichtete – verzweifelt, die chinesische Unterstützung für den Putsch aufrecht zu erhalten. Das chinesische Regime weigert sich, den Putsch zu verurteilen und spricht von einer „Umbildung des Kabinetts“. Der chinesische Botschafter in Myanmar, Chen Hai, musste jedoch zugeben, dass die gegenwärtige Situation „absolut nicht das ist, was China sehen möchte.“

Es besteht kein Zweifel, dass Chen Hai damit meint, dass das chinesische Regime es vorziehen würde, keine Massenproteste in der Region zu sehen. Der Außenminister Singapurs, eines wichtigen Handelspartners Myanmars, sagte, er hoffe, dass der asiatische Block ASEAN eine „diskret konstruktive Rolle“ spielen könne, um Myanmars „Rückkehr zur Normalität und Stabilität“ zu erleichtern. Der indische Premierminister Modi, der in der Vergangenheit gute Beziehungen zum Armeechef Min Aung Hlaing unterhielt, hält sich über die Ereignisse in Indiens östlichem Nachbarland so weit wie möglich zurück.

Die imperialistischen und regionalen Mächte mögen unterschiedliche Haltungen gegenüber den Militärputschist*innen haben, aber sie eint das Interesse an einem möglichst schnellen Ende der Massenbewegung.

Was ist nun zu tun?

Die aktuelle Bewegung zeigt die Macht der Arbeiter*innenklasse, selbst in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist. Die Arbeiter*innenklasse in Aktion spielt die führende Rolle und zieht die Landbevölkerung zur Unterstützung hinter sich. Sie demonstrieren vor allem für demokratische Forderungen und gegen die Militärdiktatur, aber es ist klar, dass jede demokratische Forderung bald einen sozialen Charakter annimmt. Die Macht der Militärführung zu brechen, bedeutet zwangsläufig auch, ihre wirtschaftliche Position zu brechen und das gesamte System in Frage zu stellen.

Die Öffnung der Wirtschaft für privates Unternehmertum und ausländische Firmen ab 1988 bedeutete für die Mehrheit der Bevölkerung keinen sozialen Fortschritt. Das gesamte System muss in Frage gestellt werden. Nur eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft kann den Forderungen der Bewegung wirkliche Substanz verleihen. Zu diesem Zweck müssen die Schlüsselsektoren der Wirtschaft, einschließlich der natürlichen Ressourcen, verstaatlicht werden. Nicht Verstaatlichungen wie die nach 1963, die von einer kleinen Clique an der Spitze kontrolliert wurden, sondern Verstaatlichungen unter der demokratischen Kontrolle des Volkes.

Um der Bewegung eine Richtung zu geben, muss es eine Diskussion darüber geben, welche Forderungen gestellt werden sollen und eine Alternative zum derzeitigen System, in dem die Armee eine zentrale Rolle spielt. Streik- und Aktionskomitees in den Betrieben, Stadtteilen und Dörfern sind notwendig, um die nächsten Schritte des Protestes demokratisch zu diskutieren und mit größtmöglicher Beteiligung zu organisieren. Solche Komitees sind auch notwendig, um die Selbstverteidigung gegen Repression zu organisieren. Diese Komitees sollten auf lokaler und nationaler Ebene koordinieren, aber auch die Verwaltung wichtiger Aspekte des täglichen Lebens der Arbeiter*innen und Armen übernehmen, wie die Verteilung von Lebensmitteln, medizinischer Versorgung und anderen dringenden Bedürfnissen. Ein klares Programm und eine klare Führung der Bewegung würden die einfachen Polizist*innen und Soldat*innen auf die Seite des Volkes ziehen. So eine demokratisch Organisation der Bewegung könnte den Grundstein für eine andere Art von Gesellschaft legen. Eine Konstituierende Versammlung, die von der Arbeiter*innenklasse, der Landbevölkerung und den Unterdrückten durch solche demokratischen Strukturen gewählt würde, könnte einen Plan zur grundlegenden Veränderung der Gesellschaft beschließen.

Die dringendsten Schritte in dieser Phase der Bewegung sind ihre Strukturierung und die Diskussion von Forderungen und Alternativen. Beide Elemente gehen Hand in Hand: Einerseits wird die Strukturierung der Bewegung unweigerlich zu Diskussionen über ihren Inhalt führen, und andererseits ist es zur Veränderung der Gesellschaft notwendig, Hebel zu entwickeln, um diese Veränderung zu erreichen. Revolutionär*innen, wie die Mitglieder der ISA, würden natürlich eine aktive Rolle in einem solchen Prozess spielen, indem sie für sozialistische Veränderungen eintreten. In einer Massenbewegung kann ein sozialistisches Programm schnell ein breites Publikum finden, aber es braucht eine Organisation von Revolutionär*innen, um es zu entwickeln, auszuarbeiten und in die Bewegung hineinzutragen, damit es zu einem tatsächlichen Faktor wird.

Die Bewegung ist stärker, wenn sie auf jeden Versuch, zu spalten und zu herrschen, mit einem vereinten Kampf antwortet. Das bedeutet, dass die Beachtung von nationalen Forderungen und Sensibilitäten wesentlich ist, besonders in einem Land mit über 135 ethnischen Gruppen. Das Militärregime hat eine lange Tradition der Gewalt gegen Minderheiten, von der Vertreibung hunderttausender Tamilen in den 1960er Jahren unter Ne Win bis hin zur Verfolgung der Rohinya-Muslime im Nordwesten des Landes, die seit 2015 bis zum Extrem betrieben wird.

Die NLD von Aung San Suu Kyi hat sich bei der Unterdrückung von Minderheiten mitschuldig gemacht. Die Protestbewegung muss sich dem entgegenstellen. Die Einheit der Arbeiter*innen und Unterdrückten der Bamar-Mehrheitsbevölkerung mit Shan, Karan, Rakhine, Chines*innen … macht die Bewegung stärker. Diese Einheit erfordert Respekt und damit die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung. Wir sind zwar nicht dafür, einfach nationale oder regionale Fahnen zu schwenken, aber es war an sich positiv, dass während des Generalstreiks am 22. Februar explizit Fahnen verschiedener nationaler Minderheiten von den Aktivist*innen getragen wurden. Ein Programm, das das Recht auf Selbstbestimmung anerkennt, kann dieses instinktive Gefühl so formen, dass es zu einem starken Argument wird, um die Bewegung unter allen ethnischen Gruppen weiter zu stärken.

Dies sind einige der zentralen Elemente unseres sozialistischen Ansatzes, der darauf abzielt, den Kapitalismus zu stürzen und ihn durch eine sozialistische Gesellschaft mit einer demokratisch geplanten Wirtschaft zu ersetzen, in der der enorme Reichtum des Landes und das enorme Potenzial seiner kreativen und jungen Arbeiter*innenklasse zum Nutzen der gesamten Bevölkerung voll ausgeschöpft werden können. Ein solcher Schritt würde sofort ein enormes Gehör in der Region und dem Rest der Welt finden.


Wie es dazu kam – Geschichte Myanmars

Um die aktuelle Situation zu verstehen, ist es hilfreich, sich einige Aspekte des historischen Kontextes in Erinnerung zu rufen.

Von der britischen Kolonie zur Unabhängigkeit        

Das Gebiet des heutigen Myanmar wurde von den Briten kolonisiert und war Teil Indiens. Die Briten waren Meister der Teile-und-Herrsche-Methode, die die Mehrheitsbevölkerung im damaligen Burma benachteiligte. Der antikoloniale Widerstand, der besonders unter den Studierenden stark war, zwang die Briten 1937 dazu, Burma nicht mehr als Teil Indiens, sondern als eigene Kolonie auszuweisen.

Einer der bekanntesten Anführer*innen des Widerstandes gegen die britische Kolonialmacht in Burma war Bogyoke Aung San, der Vater von Aung San Suu Kyi. Auch der Diktator der 1960er Jahre, Ne Win, war ein prominenter Kämpfer. Die Führung des antikolonialen Kampfes beschränkte sich auf eine nationalistische Vision und hatte keine grundlegende Antwort für die sozialen Bedingungen der Mehrheit der Bevölkerung. Soziale Fragen wurden nur in Worten, nicht in Taten, angegangen.

Aung San war in den 1930er Jahren Mitbegründer der Kommunistischen Partei im Lande, zögerte jedoch zusammen mit anderen nicht, im Zweiten Weltkrieg Japan gegen die Briten zu unterstützen. Die Tatsache, dass Japan, das Burma während des Krieges besetzte, auf der Seite der Nazis stand und dazu überging, die lokale Bevölkerung brutal zu unterjochen, wurde mit dem Argument „gerechtfertigt“, dass wenigstens die Briten weg seien. Der Feind meines Feindes ist mein Freund, war das Argument für den Schulterschluss mit dem asiatischen Verbündeten des Faschismus. Unter der japanischen Besatzung wurde die „Death Railway“ („Todeseisenbahn“) von Burma nach Thailand gebaut, ein Unterfangen, das Zehntausende tötete und später durch den Roman „Die Brücke am Kwai“ berühmt wurde. 

Die Tatsache, dass die Japaner das Marionettenregime in Burma absetzten – weil es zu stur war und auf der Beibehaltung einer gewissen Unabhängigkeit bestand – sowie der Vormarsch der Alliierten im Weltkrieg, veranlasste Aung San und seine Nationalist*innen, das Lager zu wechseln. Sie gründeten die „Antifaschistische Organisation“, die später in die „Antifaschistische Volksbefreiungsliga“ umgewandelt wurde. Sie wandten sich gegen die Japaner und begannen Verhandlungen mit den Briten. Die Briten kehrten 1945 nach Burma zurück, konnten aber nicht mehr die gleiche wirtschaftliche und militärische Rolle spielen. Die USA und die Sowjetunion gingen als dominierende Weltmächte aus dem Krieg hervor. Zudem verschwand der antikoloniale Widerstand nicht.

In Burma kam es 1946 zu einem Generalstreik als Teil der Welle von allgemeinen Aufständen in den Kolonien. Das Britische Empire musste der Unabhängigkeit zustimmen. Im Januar 1947 unterzeichnete Aung San ein Abkommen mit den Briten, um das Land innerhalb eines Jahres unabhängig zu machen. Aung San wurde noch vor der formellen Unabhängigkeitserklärung am 4. Januar 1948 ermordet. Für viele Burmesen bleibt Aung San ein Held des Unabhängigkeitskampfes. Dass er in dem Chaos nach der Unabhängigkeit keine Rolle spielen konnte, verstärkte dieses Bild.

Aung San und die Nationalist*innen waren in einer Reihe von grundlegenden Punkten besonders uneindeutig. Das Abkommen von 1947 sah vor, dass Burma eine Union mit Rechten für ethnische Minderheiten bilden würde, die das Recht haben sollten, die Union nach zehn Jahren zu verlassen. Das Volk der Karen, das die sofortige Unabhängigkeit forderte, wurde jedoch nicht in das Abkommen einbezogen! Aung Sans Nachfolger, U Nu, versuchte, einen zentralisierten Einheitsstaat ohne Rechte für die Minderheiten durchzusetzen. Dies führte zu ethnischer Guerillakriegsführung, die auch heute noch eine Rolle im Lande spielt. 

Ein weiteres grundlegendes Problem war das Fehlen einer Alternative zum Kapitalismus. Die Nationalist*innen behaupteten, für eine „sozialdemokratische Politik“ zu stehen, bei der Teile der Industrie verstaatlicht wurden. In der Praxis bedeutete dies jedoch ein gemeinsames Eigentum der Regierung und großer ausländischer Unternehmen an der Industrie. Der Reis-Export erreichte nie wieder das Vorkriegsniveau. Die Wirtschaft sank tiefer und tiefer, während die Armee mehr und mehr Ressourcen bekam. Ende der 1950er Jahre flossen 30% der Staatsausgaben in das Militär.

Dies ist der Hintergrund, vor dem der Militärputsch von General Ne Win im Jahr 1962 stattfand. Der Versuch, ein stabiles, kapitalistisches, unabhängiges Burma zu etablieren, hatte im Zeitalter des Imperialismus keine Chance.

Militärdiktatur nach chinesischem und russischem Vorbild 

Ein Teil der Militärführung um General Ne Win suchte einen Ausweg aus dieser Sackgasse und Instabilität. Sie stützten sich auf das ruinierte Bürgertum in den Städten und auf die Landbevölkerung. Sie orientierten sich an Maos Modell in China, das seinerseits 1949 auf einer Karikatur des russischen Stalinismus basierte, und nicht auf dem Modell der Bolschewiki von 1917. Dies war keine bewusste Entscheidung, eine „sozialistische“ Gesellschaft zu errichten, sondern eher ein Versuch, einen Ausgleich zwischen den Klassen zu schaffen, um eine größere Stabilität zu erreichen. Elemente einer bürokratischen Planwirtschaft wurden mit einem Regime der „Ordnung und Disziplin“ gekoppelt, in dem demokratische Rechte beiseite geschoben wurden, einschließlich der Rechte nationaler Minderheiten. Ein Einparteienstaat wurde unter der Führung der Burmesischen Sozialistischen Programmpartei (BSPP) errichtet.

Unter dem Regime von Ne Win wurden alle ausländischen Firmen, Banken und Großbetriebe verstaatlicht. Der Kapitalismus wurde beseitigt. Die Machthaber sprachen vom „burmesischen Weg zum Sozialismus“, aber es war eine Karikatur des Sozialismus. Es war eine Nachahmung des Stalinismus in der Sowjetunion und China, ergänzt durch buddhistische Rhetorik und Nationalismus. Eine kleine Elite hielt alle Fäden in der Hand, die Opposition wurde unterdrückt.

Das Regime von Ne Win baute eine beeindruckende Armee auf. Anfänglich genoss das Regime breite Unterstützung auf dem Land. Der Erlass aller Schulden der Bauern und Bäuerinnen bei den Banken, staatliche Kredite für Bauern und Bäuerinnen, der Import von Traktoren aus der Tschechoslowakei und andere Maßnahmen sicherten diese Unterstützung. Auch die Bildung wurde gestärkt; 1986 konnten 86% der Männer und 74% der Frauen lesen und schreiben.

Doch gleichzeitig blieben die Widersprüche zwischen ländlicher und industrieller Entwicklung bestehen und es gab keine Antwort auf die nationale Frage. Die einzige Antwort des Regimes auf die bestehenden Widersprüche war Repression in Kombination mit extremem Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Die wirtschaftliche Isolation und die sehr primitive Planung der Wirtschaft mit bürokratischer Kontrolle hemmten jede weitere Entwicklung.

Als in den 1980er Jahren die Rohstoffpreise zu fallen begannen, wurde die Situation völlig unhaltbar. Ne Win nahm eine Abwertung der Währung vor, es kam zu einer Inflation zwischen 200–500%. Das war der Hintergrund, vor dem der Aufstand von 1988 stattfand.

Studierendenaufstand und Generalstreik von 1988

Im März 1988 wurde ein Student von der Armee getötet. Sofort brachen Proteste an der Universität von Yangon aus. Die Polizei reagierte mit tödlicher Repression, 41 Studierende starben an Erstickung in Polizeiautos, als sie ins Gefängnis gebracht wurden. Die darauf folgende Protestbewegung sollte das Überleben des Regimes bedrohen.

Den ganzen Frühling und Sommer hindurch gab es große Proteste für Demokratie, Wirtschaftsreformen und die Strafverfolgung der Mörder des Militärs. Unterstützt wurden die Studierenden von Gewerkschafter*innen, die in den Betrieben Arbeiter*innenkomitees bildeten. Auch Mönche und Beamt*innen wurden aktiv.

Ne Win versuchte, den Protest zu stoppen, indem er als Parteichef zurücktrat und versprach, ein Referendum über das Einparteiensystem abzuhalten. Hinter den Kulissen zog er weiterhin die Fäden. Der Protest ging weiter und baute sich auf.   

Am 8. August 1988 brachte ein Generalstreik das Land zum Stillstand und Millionen Demonstrant*innen gingen auf die Straße. Hunderte von Menschen wurden verletzt und getötet. Doch der Aufstand ging mit Demonstrationen, Streiks und Unruhen weiter. Das Regime geriet zunehmend unter Druck; die Unterdrückung des Aufstands war nur durch den Einsatz von Soldaten*innen aus anderen Volksgruppen gegen die Demonstrant*innen möglich. Der Sold der Soldat*innen wurde um 45% erhöht, um ihre Unterstützung aufrecht zu erhalten. Unter dem Druck der Proteste versprach das Regime wirtschaftliche Reformen.

Diese Ankündigungen wurden mit Freude aufgenommen, aber die Demonstrationen gingen weiter. Ende August gab es einen weiteren Generalstreik von unbestimmter Dauer. In mehreren Dörfern und Städten übernahmen „Volkskomitees“ die Kontrolle. Die Generäle waren machtlos, die Straße übernahm die Kontrolle. Das Problem war ein Mangel an Koordination und alternativer Führung. Dem Aufstand fehlten eigene organisierte Wege und eine politische Führung, die ihn mit einem demokratischen sozialistischen Programm ausstattete.

Eine Reihe von prominenten Persönlichkeiten reagierte auf die Bewegung. Die meiste Unterstützung erhielt Aung San Suu Kyi, eine zufällige Führerin der Bewegung. Sie war gerade aus Großbritannien nach Burma zurückgekehrt, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Wegen der Autorität ihres Vaters und dem Fehlen jeglicher Verbindung zum Militärregime oder dessen demokratischem Vorläufer, der keinen Wandel herbeigeführt hatte, war Aung San Suu Kyi ein ideales Symbol.

Die Ankündigung von Wahlen führte zur Gründung einer neuen Partei: der National League for Democracy, geführt von Aung San Suu Kyi. Die NLD genoss massive Unterstützung in allen Teilen des Landes. Welche Alternative die Partei bieten wollte, war jedoch alles andere als klar. Von Anfang an betonte Aung San Suu Kyi die Ideen von „Einheit“ und „Dialog“ mit dem Militärregime. Die Zugeständnisse der Diktatur zielten nicht auf einen Dialog ab, sondern darauf, Zeit zu gewinnen, um die Kontrolle über das Land wiederzuerlangen. Die einzige „Ideologie“ des Regimes war immer der Erhalt der eigenen Macht.   

Veränderungen nach 1988            

Da die Revolution unvollendet blieb, konnte das Militär die Dinge wieder in die Hand nehmen. Wichtige Führungspersönlichkeiten der Opposition wurden verhaftet. Ein neuer starker Mann, Saw Maung, der Ne Win nahe stand, tauchte auf. Die neue Militärführung nahm den Namen SLORC (State Law and Order Restoration Council = Staatlicher Rat für Recht und Ordnung) an, der später in State Peace and Development Council (SPDC, Staatlicher Rat für Frieden und Entwicklung) umbenannt wurde. Der SLORC entfernte alle Hinweise auf den Sozialismus und benannte das Land in Myanmar um. Die Wahlen von 1990 ergaben einen Sieg für die NLD (die Partei erhielt 60% der Stimmen), aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Militärführung nach dem Ende der aktiven Protestbewegung ihre Position wiedererlangt und erkannte das Wahlergebnis nicht an.

Die Militärdiktatur wurde wiederhergestellt. Auf wirtschaftlicher Ebene gab es jedoch große Veränderungen: Das Land wurde für ausländische Kapitalist*innen geöffnet, die Interesse an den enormen natürlichen Ressourcen des Landes zeigten. Thailändische Firmen konnten in den riesigen Teakwäldern florieren. Später folgten Firmen aus Japan, Singapur, China usw. Die Ölgesellschaft wurde an mehrere Firmen verkauft, darunter der französische Konzern TotalChevron aus den USA und die thailändische PTT. Die Armeechefs selbst sorgten dafür, dass ihre wirtschaftliche Position bei den Privatisierungen erhalten blieb.

Die „neue ökonomische Politik“ führte nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Die fehlende Infrastruktur, die Korruption und die Unmöglichkeit, auf dem bereits von imperialistischen Mächten dominierten kapitalistischen Weltmarkt Fuß zu fassen, spielten alle eine Rolle. Das führte zu Spannungen an der Spitze, die durch neue Proteste von unten ergänzt wurden. Im Jahr 2007 gab es Aktionen gegen die steigenden Energiepreise. Daraus entwickelten sich landesweite Demonstrationen, die von buddhistischen Mönchen angeführt wurden. Auch hier kam es zu Repressionen, bei denen mindestens 31 Menschen getötet wurden.

Wahlen in den Jahren 2010–12 und Öffnung der internationalen Beziehungen

Wie schon 1988 wurde auf die Bewegung von 2007 mit dem Versprechen von Wahlen geantwortet. Und wieder fanden diese Wahlen erst einige Jahre später statt. Nach 1988 wurden erst 1990 Wahlen abgehalten; auf die Bewegung von 2007 folgten die Wahlen von 2010. Diese wurden vollständig von der Armee kontrolliert und daher von der NLD boykottiert. Bei Nachwahlen für 45 Sitze (von 664) im Jahr 2012 nahm die NLD zum ersten Mal seit 1990 wieder teil und gewann 41 Mandate. Die Union Solidarity and Development Party (USDP) von Thein Sein war die Partei der Armee.

Nach Jahren des Hausarrests zog Aung San Suu Kyi ins Parlament ein und vereinbarte mit dem Militär die Bildung einer gemeinsamen Regierung. Mit der NLD als kleinem Partner war dies für die Armee noch akzeptabel. Aung San Suu Kyi öffnete internationale Türen, die zuvor verschlossen geblieben waren, und darüber hinaus war die Beteiligung der NLD an der Macht eine starke Waffe, um den internen Protest im Lande zu stoppen. Die größte Schwäche der NLD war wieder einmal das Fehlen einer Alternative: die Partei verfolgte eine neoliberale Politik, die auf die Profite des Großkapitals ausgerichtet war, einschließlich der Firmen, die vom Militär und dessen Marionetten geführt werden. Außerdem unterstützte sie die Repression gegen Minderheiten, die NLD brachte zunehmend einen nationalistischen Diskurs ein.

Bei den Wahlen 2015 gewann die NLD eine Mehrheit im Parlament, obwohl ein Viertel der Sitze automatisch vom Militär eingenommen wurde. Die NLD bildete eine Regierung ohne Thein Seins USPD, arbeitete aber weiterhin mit dem Militär zusammen. Die Wahlen 2020 bestätigten die Position der NLD, die bei der Anzahl der Sitze leicht zulegen konnte. Dieser Sieg zeigte die große öffentliche Opposition gegen das Militär.

Den Artikel im Original auf Englisch lesen.

Bild: Ninjastrikers, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

 

Verlangsamung des Golfstrom – ein Kipppunkt im Klimakollaps

Von Sam Belton (Socialist Party, ISA in Irland)

Der Klimawandel gleicht immer weniger einem graduellen, linearen Prozess. Vielmehr nimmt die Steigerungsrate von extremen Wetterereignissen zunehmend exponentiell zu. Das lässt sich durch Klima-Rückkopplungsschleifen erklären. So führen z.B. steigende Temperaturen, die aus den CO2-Emissionen der industriellen Prozesse resultieren, zu trockenerem Klima. Dadurch steigt die Häufigkeit von Waldbränden, durch die wiederum noch mehr CO2 freigesetzt wird. Ein vergleichbarer Effekt ist es, wenn steigenden Temperaturen dazu führen, dass in der Arktis eingeschlossenes Methangas freigesetzt wird, weil der Permafrostboden auftaut.

 

 

Eine alarmierende Folge der rasanten Erderwärmung beschrieb eine kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Nature Geosciences veröffentlichte Studie. Die Autor*innen berichteten, dass sich die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation – auch bekannt als Golfstrom –  seit Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert stetig verlangsamt hat. Besorgniserregend ist jedoch, dass die derzeit rapide steigenden Temperaturen uns noch in diesem Jahrhundert an einen Kipppunkt bringen könnten, durch den das System irreversibel zusammenbrechen könnte.

 

Große klimatische Auswirkungen

 

Der Golfstrom führt warmes Wasser aus dem Golf von Mexiko entlang der Ostküste der Vereinigten Staaten hinauf und hinüber in den Nordatlantik, wo es abkühlt und entlang der Westküste Europas wieder nach Süden zurückkehrt. Somit spielt der Strom eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des Klimas, sowohl im Osten der Vereinigten Staaten als auch in Westeuropa.

 

Die Autor*innen erklären, dass wärmere Temperaturen den Golfstrom wahrscheinlich verlangsamen, weil das Süßwasser von den schmelzenden Eisschilden im Norden den Salzgehalt des Ozeans (die Menge der gelösten Salze im Wasser) verringert. Dies ist ein massives Problem, da die Strömung des Golfstroms durch „Tiefenkonvektion“ angetrieben wird, bei der warmes Wasser im Norden abkühlt, dadurch dichter wird und in südliche Richtung sinkt. Wenn der Salzgehalt im Norden jedoch abnimmt, wird das Wasser weniger dicht, wodurch die Konvektion und der Golfstrom selbst verlangsamt werden. Die Folgen werden mit ziemlicher Sicherheit vermehrte Überschwemmungen an der Ostküste Amerikas sowie deutlich kältere Winter und wärmere Sommer in Westeuropa sein.

 

Klimawandel und Covid 

Wie die Verlangsamung des Golfstroms war auch die Covid-19-Pandemie kein unvorhersehbarer Akt Gottes. Vielmehr sind beide unausweichliche Ergebnisse eines globalen Wirtschaftssystems, das mit dem Klima des Planeten und seinen fein abgestimmten Ökosystemen nicht schlechter vereinbarer sein könnte. Es ist die innere Logik des Kapitalismus, eines anarchischen, vom Streben nach kurzfristigem Profit getriebenen Systems, das es für Unternehmen als zu kostspielig ansieht, die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die Umwelt zu minimieren.

 

Infolgedessen werden diese Auswirkungen externalisiert, um von der breiteren Gesellschaft bewältigt zu werden, wobei die Ärmsten der Welt am stärksten betroffen sind. Schließlich kann ein*e Superreiche*r einfach aus einer überschwemmungsgefährdeten Region wegziehen oder eine private Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen, wenn die unterfinanzierten öffentlichen Krankenhäuser mit Opfern von Pandemien überfüllt sind, die durch die Umweltzerstörung ausgebrochen sind.

 

Die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen

Der Versuch, ein System, das im Kern auf der Ausbeutung unseres Planeten und seiner Bewohner*innen basiert, einfach „gerechter zu machen“, ist mehr als aussichtslos. Ein solcher reformistischer Ansatz geht davon aus, dass die Kapitalist*innen Maßnahmen tolerieren werden, die ihre Profite beeinträchtigen. Er geht davon aus, dass ein übermäßiges Maß an Macht zur Beeinflussung von Politiker*innen und Wahlen nicht in den Händen der Kapitalist*innen verbleiben wird. Er geht davon aus, dass kapitalistische Politiker*innen die Last der Klimaschutzmaßnahmen nicht auf den Rücken der kämpfenden Arbeiter*innenklasse abwälzen werden. Letztlich geht dieser Ansatz davon aus, dass eine Strategie der langwierigen und mühsamen schrittweisen Reformen ausreichen wird, um die dringenden Lösungen zu schaffen, die notwendig sind, um die Klimakatastrophe abzuwenden.

 

Im Juni letzten Jahres hat eine Studie, die in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht wurde, eindeutig gezeigt, dass es der Überfluss ist, der einer kapitalistischen Wirtschaft innewohnt, der der Haupttreiber des Klimawandels ist. Die Studie kam im Wesentlichen zu dem Schluss, dass nichts weniger als eine sozialistische Planwirtschaft in der Lage sein dürfte, die Produktion radikal so umzugestalten, dass sie in Einklang mit den ökologischen Grenzen der Natur gebracht wird - im Gegensatz zu einer reformierten freien Marktwirtschaft.

 

Mit anderen Worten: Nur ein entschiedener revolutionärer sozialistischer Wandel – der unweigerlich eine Massenpartei der Arbeiter*innenklasse erfordert, um den Kapitalismus und seine politischen Vertreter*innen zu besiegen – kann die Art von Wandel herbeiführen, die notwendig ist. 

 

 

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch: https://socialistparty.ie/2021/03/gulf-stream-slowing-down-a-tipping-poi...

 

Warum ich den Democratic Socialists of America beitrete

„Ich glaube, dass die sozialistische Bewegung beide Arten von Organisationen braucht, und deshalb freue ich mich, Mitglied sowohl der Socialist Alternative als auch der Democratic Socialists of America zu sein.“ – Kshama Sawant
Von Kshama Sawant, Stadträtin in Seattle (Socialist Alternative, ISA in den USA)

Das Wiederaufleben einer sozialistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten und das schnelle Wachstum von Organisationen wie Democratic Socialists of America (DSA) und Socialist Alternative (SA) ist von enormer historischer Bedeutung. Nicht nur, weil der Marxismus beginnt, auf dem harten Boden des US-Kapitalismus wieder Wurzeln zu schlagen, sondern auch wegen der enormen Herausforderungen, vor denen die Arbeiter*innenklasse in dieser Zeit steht.

 

 

Der Kapitalismus befindet sich inmitten seiner schlimmsten Krise seit fast einem Jahrhundert, und es ist eine mehrschichtige Krise – wir stehen nicht nur vor der tödlichen COVID-19-Pandemie und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, sondern auch vor der kommenden Klimakatastrophe. Die Katastrophen, die wir im letzten Jahr gesehen haben, könnten noch viel schlimmer werden, wenn sich Sozialist*innen und die Arbeiter*innenklasse nicht den vor ihnen liegenden historischen Aufgaben stellen.

 

Die sozialistische Linke steht sowohl vor Herausforderungen als auch vor Chancen. Wir brauchen eine Massenpartei der Arbeiter*innenklasse, eine stärkere Arbeiter*innenbewegung und siegreiche Kämpfe in unserem anhaltenden Kampf gegen die Milliardär*innenklasse. Meiner Meinung nach müssen wir, um voranzukommen, die marxistischen Ideen befördern, die notwendig sein werden, um sowohl unmittelbare Erfolge in der gegenwärtigen Krise als auch einen endgültigen Sieg über die Ausbeutung und Unterdrückung des Kapitalismus zu erringen.

 

Wegen der Dringlichkeit, eine breitere sozialistische Bewegung aufzubauen, trete ich jetzt der DSA bei, bleibe aber zugleich Mitglied der Socialist Alternative. Andere Mitglieder meiner Organisation tun dasselbe, wie wir in unserem Artikel vom letzten Dezember erklärt haben. Menschen aus der Arbeiter*innenklasse ziehen in den Kampf, und die sozialistische Linke wird geduldige Debatten führen müssen, um politische Klarheit zu erreichen; ich hoffe, in der DSA zu diesem Prozess beizutragen und freue mich, meine Erfahrung als offen marxistische gewählte Vertreterin einzubringen.

 

Massenbewegungen im Entstehen

 

Es ist kein Zufall, dass neben dem Wiederaufleben der sozialistischen Ideen auch Massenproteste und soziale Bewegungen entstanden sind. Es gab die großen Frauenmärsche, die, obwohl sie zeitlich befristet und in ihren Forderungen begrenzt waren, den größten einzelnen Protesttag in der Geschichte der USA mit sich brachten.

 

In diesem Sommer brachen die historischen und tiefgreifenden Black Lives Matter-Proteste infolge der brutalen Polizeimorde an George Floyd und Breonna Taylor aus. Die BLM-Protestbewegung 2020 war die größte in der Geschichte der USA, mit geschätzten 20 Millionen Teilnehmer*innen. Unser Kampf gegen Rassismus und Polizeimorde wird in den kommenden Jahren ein andauernder Kampf sein, da bisher nur wenige zentrale Forderungen unserer Bewegung erfüllt wurden, geschweige denn der systemische Rassismus beendet wurde. Eine zentrale Frage, die sich uns stellt – welche Strategien bringen Sozialist*innen in diese Bewegung ein? Es gibt natürlich konkurrierende Ideen, wie z.B. eine Neuentwicklung der Ideen des Black Capitalism (eine Idee nach der Schwarze in Amerika im Kapitalismus zu Wohlstand gelangen können, Anm. d. Übers.), die, wenn sie die Oberhand gewinnen, die Möglichkeiten schwächen werden, den Rassismus effektiv zu bekämpfen. Ich stimme mit dem Black Panther-Führer Fred Hampton überein, der sagte: „Wir denken nicht, dass man Feuer am besten mit Feuer bekämpft; wir denken, dass man Feuer am besten mit Wasser bekämpft. Wir werden den Rassismus nicht mit Rassismus bekämpfen, sondern mit Solidarität. Wir sagen, wir werden den Kapitalismus nicht mit Schwarzem Kapitalismus (Black Capitalism) bekämpfen, sondern wir werden ihn mit Sozialismus bekämpfen.“

 

Wir sehen die Anfänge des Wiederauflebens einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung, die nach Jahrzehnten gegen den, leider immer noch dominaten, Einfluss der verheerenden bürokratischen Gewerkschaftsführungen aufbegehrt. Wir haben das bei den Lehrer*innenstreiks in den „Red States“ (Staaten mit Mehrheiten für republikanische Kandidierende bei Wahlen, Anm. d. Übers.) gesehen, die von West Virginia ausgingen, wo sich von der Basis aus eine klassenbewusste Arbeiter*innenführung entwickelte und einen entscheidenden Sieg errang, der sich auf andere Südstaaten und darüber hinaus ausweitete. Und es muss gesagt werden, dass die Lehrer*innen in West Virginia ihren historischen Streik nur deshalb gewonnen haben, weil sie den Insider-Deal der höheren Gewerkschaftsfunktionär*innen entlarvten, diesen Deal ablehnten und weiter kämpften.

 

Wir sehen junge Menschen an der Spitze all dieser Bewegungen, natürlich einschließlich der historischen Klimaproteste im Jahr 2019.

 

Heute blicken arbeitende Menschen im ganzen Land auf die unglaubliche Organisationsleistung der Arbeiter*innen in Bessemer, Alabama, die dafür kämpfen, eine erste Gewerkschaft bei Amazon zu gründen. Ein Sieg in diesem Kampf könnte das ganze Land erschüttern und den notwendigen Prozess zum Wiederaufbau einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung enorm vorantreiben. Er kommt zu einer Zeit, in der Milliardär*innen wie der ehemalige Amazon-CEO Jeff Bezos mehr als 1,1 Billionen Dollar in der Pandemie verdient haben, während arbeitende Menschen mit unsicheren Bedingungen, Massenarbeitslosigkeit und Schuldenbergen konfrontiert sind.

 

Mit diesen Schritten nach vorne haben sich auch in der aufstrebenden Sozialist*innen- und Arbeiter*innen-Bewegung wichtige Debatten entwickelt, und wir sind zunehmend unter Druck geraten. Wir sehen bereits heftige Angriffe auf unsere Bewegung von außen, insbesondere von Anführer*innen der Demokratischen Partei. Nach den Wahlen im November machte die Kongressabgeordnete Abigail Spanberger mit Nachdruck die linke Politik für den Verlust von Sitzen im Repräsentantenhaus verantwortlich und sagte zu Mitgliedern der Demokratischen Partei: „Sagt nie wieder Sozialismus.“ Hinter verschlossenen Türen wurde zweifellos viel Schlimmeres gesagt. Wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, dass die konzerngesteuerte Demokratische Partei mit Biden im Weißen Haus zögern wird, ihre Angriffe auf Sozialist*innen und Bewegungen der Arbeiter*innenklasse zu verstärken, besonders inmitten dieser Flitterwochen der Illusionen in die neue Regierung und mit so vielen, die Angst haben, sie in Frage zu stellen. Biden und die Demokratische Partei sind gezwungen, einige Konjunkturprogramme und andere Maßnahmen durchzuführen, um den Zusammenbruch ihres Systems abzuwenden, aber sie werden immer darauf abzielen, die Arbeiter*innenklasse für die Krise zahlen zu lassen.

 

In Seattle sehen wir die Abberufungskampagne der Rechten gegen mein Stadtratsmandat, die im Wesentlichen ein Versuch des Großkapitals und des politischen Establishments ist, nicht nur unsere demokratische Wahl zu kippen, sondern auch die vielen Siege unserer Bewegung für arbeitende Menschen und marginalisierte Gruppen. Wenn sie erfolgreich ist, wird sie als Sprungbrett für weitere Angriffe auf die Linke benutzt werden, nicht nur in Seattle, sondern landesweit, und deshalb ist es entscheidend, dass wir sie abwehren.

 

Wir werden uns gegen Angriffe wehren müssen, wo immer wir ihnen begegnen, ob in Massenbewegungen, in der Arbeiter*innenbewegung, in Wahlkämpfen oder in der sozialistischen Bewegung selbst. Ob Sozialist*innen das tun oder nicht, ist keine abstrakte Grundsatzfrage, sondern kann über den Ausgang wichtiger Kämpfe entscheiden. Die sozialistische Bewegung ist in der Vergangenheit leider schon viele, viele Male entgleist: Wenn sie sich nicht klar gegen die Ideen und Kräfte auf Seiten des Establishments stellte; wenn sie danach strebte, sich mit mächtigen „fortschrittlichen“ Individuen gut zu stellen; wenn es an Klarheit über marxistische Ideen mangelte; und wenn Karrierist*innen in unseren Reihen Einfluss hatten.

 

Prinzipientreue Einheit

 

Die Einheit der sozialistischen Bewegung, basierend auf festen Prinzipien, wird entscheidend sein. Wir müssen ernsthafte und manchmal scharfe Debatten darüber führen, wie wir uns wehren können und wie wir effektive Strategien und Taktiken in die entstehenden Kämpfe einbringen können, um sie voranzutreiben und zum Sieg zu führen.

 

Wie einige, die dies lesen, zweifellos wissen, bin ich ein langjähriges Mitglied von Socialist Alternative und wurde 2013 als offene Sozialistin gewählt, noch vor Bernie Sanders' Kampagnen für das Präsidentenamt oder den Wahlen von Squad-Mitgliedern wie AOC (The Squad ist eine Gruppe linker Demokraten im Representantenhaus, zu der auch Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) gehört, Anm. d. Übers.). In Seattle haben wir unser gewähltes Amt als Hebel für die Arbeiter*innenklasse und marginalisierte Gruppen genutzt, um Bewegungen aufzubauen und historische Siege zu erringen.

 

Der Sieg, Seattle zur ersten Großstadt zu machen, die einen Mindestlohn von 15 Dollar verabschiedet, basierte auf einer sozialistischen, klassenkämpferischen Strategie – auf dem Aufbau von Massenbewegungen, nicht auf dem Aufbau von Beziehungen zu fortschrittlichen Demokraten oder NGO-Anführer*innen. Anstatt mit dem Establishment der Stadt zu verhandeln, organisierten wir uns unermüdlich, um die stärkstmögliche Kraft für $15/h aufzubauen. Wir starteten die 15 Now-Kampagne und -Koalition, die nicht nur die erbitterte Opposition des Großkapitals und der Konzern-Demokraten überwand, sondern auch die vorsichtigen Bedenken der wichtigsten Anführer*innen der Gewerkschaften, die sich nicht mit dem Establishment anlegen wollten. Socialist Alternative und die 15 Now-Kampagne organisierten eine Reihe großer, demokratisch geführter Konferenzen, gründeten „Nachbarschafts-Aktionsgruppen“, hielten Demonstrationen ab und beschlossen dann demokratisch, aus der Bewegung heraus eine Wahlinitiative einzureichen, damit wir das Thema vor die Wähler*innen bringen könnten, falls die demokratischen Stadtratsmitglieder nicht handeln würden.

 

Wir haben dieselbe klassenkämpferische Strategie benutzt, um eine Reihe wichtiger Siege in Seattle zu erringen, von der Amazon-Steuer im letzten Jahr zur Finanzierung von bezahlbarem Wohnraum und Green New Deal-Programmen über bahnbrechende Gesetze für die Rechte von Mieter*innen bis hin zum landesweit ersten Verbot des Einsatzes von Tränengas, Gummigeschossen und anderen sogenannten „Crowd Control Weapons“ durch die Polizei im letzten Jahr. Viele DSA-Mitglieder haben wichtige Beiträge zu diesen Kämpfen geleistet.

 

Doch auch wenn dies wichtige Siege sind, die Herausforderungen, vor denen unsere Klasse steht, sind enorm, und wir müssen unseren Blick auf das richten, was notwendig ist – nämlich transformative Veränderungen auf nationaler und globaler Ebene zu erringen und für ein Ende des Kapitalismus und für eine sozialistische Welt zu kämpfen. Unmittelbare Fragen stellen sich uns in Bezug auf Bernie Sanders' Kampagnen und die breitere sozialistische Bewegung.

 

Wie erkämpfen wir „Medicare for All“, einen „Green New Deal“, einen bundesweiten Mindestlohn von 15 Dollar, die Streichung von Studienkrediten und ein Ende von Polizeibrutalität und systemischem Rassismus? Wir haben enorme Unterstützung für die Forderungen gewonnen, aber ohne eine sozialistische Strategie könnten sie auch tragischerweise bloße Slogans bleiben. Was ist der beste Weg, um die Gegenwehr der herrschenden Klasse und ihrer Vertreter*innen in beiden Parteien zu besiegen, um z.B. den Kampf für 15 Dollar voranzubringen? AOC wies den Aufruf zu #ForceTheVote für Medicare for All zurück und sagte, wir sollten uns auf „erreichbare“ Forderungen konzentrieren, wie einen landesweiten Mindestlohn von $15. Jetzt wird $15 von Biden fallen gelassen, der einer Gruppe von Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen letzte Woche im vertraulichen Rahmen sagte, dass die Mindestlohnerhöhung auf $15 wahrscheinlich nicht kommen wird.

Ich denke, die Erfahrung der sozialistischen Bewegung in Seattle in den letzten Jahren spricht Bände zu diesen Fragen, und wir müssen diese Erfahrung in diese nationalen Kämpfe einbringen. Wir werden diese Erfahrungen in einem viel größeren Maßstab anwenden müssen – um mächtige Bewegungen von Millionen von Menschen hinter einer sozialistischen Strategie zu vereinen, um diese transformativen Forderungen durchzusetzen.

Wenn Sozialist*innen keine klaren Strategien und Taktiken vorlegen und stattdessen die Squad und andere Anführer*innen weiterhin zögern eine Konfrontation mit der Demokratischen Partei zu riskieren, werden wir verlieren. Wenn Sozialist*innen keine kraftvollen und furchtlosen Bewegungen für einen landesweiten Mindestlohn von 15 Dollar, Medicare for All und einen Green New Deal aufbauen, wird sich die Arbeiter*innenklasse woanders nach Führung umsehen.

Wir werden den gefährlichen Aufstieg des Rechtspopulismus und der extremen Rechten in den USA und weltweit nicht besiegen, wenn wir nicht eine linke Alternative für die Massen aufbauen. Denn während Trump weg ist, ist der Trumpismus lebendig und kann unter der gegenwärtigen Regierung schnell wachsen, da Biden von seinen progressiven Versprechen abrückt und die Interessen des Großkapitals verteidigt.

Es gibt eine lange Geschichte von Organisationen in der sozialistischen Bewegung, in denen verschiedene politische Tendenzen vertreten waren. Die DSA sind heute die zweitgrößte sozialistische Organisation in der Geschichte der USA und der gegenwärtige Ausdruck des „Big-Tent“-Sozialismus, in dem sich einige politische Strömungen als marxistisch identifizieren (mit unterschiedlichen Interpretationen) und andere nicht. Socialist Alternative ist explizit eine revolutionäre, internationalistische, marxistische Organisation, die Teil der International Socialist Alternative ist, die Schwesterorganisationen in 30 Ländern der Welt hat.

Ich glaube, dass die sozialistische Bewegung beide Arten von Organisationen braucht, und deshalb freue ich mich, Mitglied sowohl der Socialist Alternative als auch der DSA zu sein.

Debatten in der sozialistischen Bewegung

Innnerhalb der DSA in Seattle sowie auf nationaler Ebene finden im Moment wichtige Debatten statt. Kürzlich, in einer Diskussion über das Programm der DSA Seattle, argumentierten einige Anführer*innen eines Zusammenschlusses in der Organisation gegen die Aufnahme einer Forderung nach demokratischem öffentlichen Eigentum an großen Energiekonzernen. Obwohl ich bei dieser Debatte nicht anwesend war, war ich sehr enttäuscht, als ich von dem Abstimmungsergebnis hörte, diesen wichtigen Punkt nicht aufzunehmen. Ich denke, das ist etwas, was der Ortsverband noch einmal überdenken sollte. Die Forderung nach der Überführung von großen Konzernen in demokratisch kontrolliertes öffentliches Eigentum ist seit langem absolut zentral für sozialistische Ideen, und das aus gutem Grund. Und im Fall der großen Energiekonzerne haben wir ohne demokratische Arbeiter*innenkontrolle keine Hoffnung, die Klimakatastrophe zu vermeiden. Wir haben dies Anfang dieses Monats mit dem Zusammenbruch des profitgetriebenen, deregulierten Stromnetzes in Texas brutal gezeigt bekommen.

Das Ziel von Marxist*innen ist natürlich nicht nur das Eigentum an dem einen oder anderen Konzern, sondern an der Spitze der gesamten Wirtschaft und für eine rational geplante, nachhaltige sozialistische Wirtschaft, die von den Arbeiter*innen selbst demokratisch geführt wird. Wir wissen, dass der Kapitalismus niemals dazu gebracht werden kann, im Interesse der arbeitenden Menschen, der marginalisierten Gruppen oder des Planeten zu funktionieren. Er ist ein System der Krisen, und zwar eines, das die menschliche Zivilisation mit hoher Geschwindigkeit auf den Rand eines Abgrunds zu führt.

Als Marxist*innen kämpfen wir für ein vollständiges Ende dieses Systems und seines repressiven Staates – der kein neutrales oder reformierbares Gebilde ist, sondern im Wesentlichen ein gewalttätiger Apparat von „Körpern bewaffneter Männer“, darunter natürlich auch rassistische Polizeikräfte. Stattdessen müssen wir eine klassenlose Gesellschaft aufbauen, die auf Solidarität und Gleichheit basiert, mit einer Wirtschaft, die demokratisch geplant und geführt wird, in der es keine Kapitalist*innenklasse gibt, die den von den Arbeiter*innen geschaffenen Reichtum stehlen kann.

Die Frage des demokratischen Gemeineigentums ist eine entscheidende, und diejenigen, die dagegen argumentieren, müssen erklären, ob sie glauben, dass der Kapitalismus reformiert werden kann.

Ich glaube, Sozialist*innen brauchen auch eine Diskussion auf nationaler Ebene darüber, wie eine neue Partei für die arbeitenden Menschen in den USA aufgebaut werden kann, denn wir brauchen eine viel breitere Organisation der Arbeiter*innenklasse über die sozialistische Linke hinaus. Die Unterstützung für eine dritte Partei ist laut einer neuen Gallup-Umfrage auf dem höchsten Stand seit Beginn der Umfragen. Und es besteht echte Handlungsnotwendigkeit, denn wenn wir keine Partei für die arbeitenden Menschen aufbauen, wird der kommende Verrat der Demokratischen Partei im Namen des Großkapitals, wenn es eine linke Alternative fehlt, dem Wachstum der extremen Rechten weiteren Auftrieb geben.

Der Aufbau einer neuen Massenpartei wird nicht einfach sein, aber er ist absolut notwendig, weil die Demokratische Partei in der festen Hand der Kapitalist*innenklasse ist. Die von einem Teil der Linken verbreitete Vorstellung ist, dass Sozialist*innen „die Partei übernehmen können.“ Aber das ist eine fatale Unterschätzung sowohl der Wehrhaftigkeit des Establishments als auch der Tatsache, dass die Partei völlig undemokratisch ist und es keine Mechanismen gibt, sie zu übernehmen.

Wir haben gesehen, was die Anführer*innen der Demokratischen Partei bereit waren zu tun, um Bernie Sanders und seinen Aufruf zu einer „politischen Revolution“ zu stoppen (zweimal!). Wir haben auch gesehen, wie fest sie alle Hebel der Macht innerhalb der Partei kontrollieren.

Wir haben in Seattle aus nächster Nähe all die faulen Taktiken des städtischen Establishments zur Verteidigung von Amazon und des Großkapitals gesehen, ebenso wie die Angriffe auf unsere Bewegungen wie etwa gegen Black Lives Matter im letzten Sommer. Wir sehen jetzt, wie die Demokraten sowohl in Seattle als auch in Olympia im Einklang sind in ihren Bemühungen, die Amazon-Steuer zu untergraben oder abzuschaffen.

Ich glaube, unsere Bewegung muss anstreben, unsere Differenzen – basierend auf den sich stellenden Fragen und in einer unter Genoss*innen angemessenen Weise – zu diskutieren. Wir müssen versuchen, politische Klarheit und Einigkeit zu finden, wo es möglich ist, und uns dabei immer auf die Bedürfnisse der Arbeiter*innenklasse und der marginalisierten Gruppen stützen und darauf, wie wir unsere Bewegungen am effektivsten aufbauen können.

Ich freue mich auf die kommenden Diskussionen, in Seattle und auf nationaler Ebene, während wir uns den historischen Herausforderungen, die uns bevorstehen, zuwenden. Wir müssen in dieser Zeit der tiefgreifenden Krise dringend zusammenarbeiten, um für transformative Veränderungen zu kämpfen und das Bewusstsein und das Vertrauen unserer Klasse in den Kampf für eine andere Art von Gesellschaft zu stärken.

 

Diese Erklärung erschien zuerst im englischen Original

 

8M POLEN: Die Welle der Bewegung ebbt ab, bereiten wir uns auf die nächste vor!

von Tiphaine Soyez, ROSA Polska

Im Herbst 2020 wurde Polen von einer Massenbewegung gegen die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung bei Missbildungen erschüttert. Angesichts des Widerstands entschied sich die konservative Regierung zu warten, bis die Bewegung abebbt. Im Januar, zweieinhalb Monate nach einer Demonstration mit 100.000 Teilnehmer*innen in Warschau, trat die Entscheidung schließlich in Kraft.

Innerhalb weniger Stunden, und trotz der eisigen Kälte, wurden in den großen Städten Demonstrationen organisiert. Aber sie waren nicht der Beginn einer neuen Welle.

Das Phänomen von spontanen Demonstrationen in kleinen Provinzstädten und Arbeiter*innenvierteln, das im Herbst zu beobachten war, hat sich aber nicht wiederholt.

Die Stimmung ist aber auch nicht die einer endgültigen Niederlage. Es gibt sicherlich eine gewisse Demoralisierung unter einigen der Aktivist*innen, aber der Hauptgrund, warum die Bewegung nicht wieder aufgeflammt ist, ist, dass sie nicht weiß, wie es weitergehen soll.

Anstatt die eigenen Truppen aufzurütteln und zu mobilisieren, wenden sich die Anführer*innen der Bewegung (OSK) immer weiter vom Kampf ab.

Während sie skandieren "Wir werden nicht in den Untergrund gehen", promoten sie eine Organisation - Abtreibung ohne Grenzen -, welche einzelnen Schwangeren die eigentlich gesetzlich verbotene Abtreibung verschaffen kann. Diese temporäre Lösung wird zwar Leben retten - und in ihren Anfängen bot die ROSA Irland mit den "Abortion Buses" und dem "Abortion Train" auch illegale Mittel zur Abtreibung an. Aber das war Teil einer in den Arbeiter*innenvierteln verwurzelten Kampagne, die Legalisierung der Abtreibung zu erkämpfen, und auf diese Weise konnte das irische Referendum im Jahr 2018 gewonnen werden.

Im Gegensatz dazu schlagen die OSK-Führer*innen die extralegale Abtreibung als Übergangslösung vor, während sie auf Wahlerfolge von Abtreibungsbefürworter*innen warten. Sie nähern sich Karrierepolitiker*innen und Parlamentarier*innen an und ignorieren die Bedürfnisse und Hoffnungen der Basis.

Ein "Bürgerprojekt" wurde ins Leben gerufen - eine Petition für einen Gesetzentwurf zur Legalisierung von Abtreibung, der im Parlament diskutiert werden soll. Aber dies wurde bereits in der Vergangenheit versucht und das Parlament hat den Text damals abgelehnt, ohne ihn überhaupt zu lesen. Um solch ein Gesetz zu verabschieden, müsste die Petition nicht nur die nötige Anzahl Unterstützer*innen finden, sondern auch durch eine Bewegung unterstützt werden, die Druck auf die Parlamentarier*innen ausübt.

Mangels richtiger Führung hat die Bewegung jetzt also den Rückwärtsgang eingelegt und ihre Energie ist verpufft. Aber sie könnte jederzeit neu ausbrechen, zum Beispiel wenn sich wegen der Politik der sexistischen, konservativen Politiker*innen eine Tragödie ereignet.

 

Das Abtreibungsverbot und die "Gewissensklausel" (die Tatsache, dass Ärzt*innen sich auch in gesetzlich vorgesehenen Fällen weigern können Abtreibungen durchzuführen) haben dramatische Folgen. Frauen sind gestorben oder erlitten dauerhafte Schäden, weil Ärzt*innen sie über ihre Schwangerschaft belogen haben, um sie von einer Abtreibung abzuhalten. Andere sind durch ungeplante Schwangerschaften in schrecklich prekären Verhältnisse gekommen und sehen ihre Lebenspläne ruiniert. "Hölle für Frauen" ist einer der beliebtesten Slogans der Bewegung, und auch "Die PiS hat Blut an den Händen" ist zu hören.

Die Hölle für LGBTQI+.

Polen ist auch für LGBTQI+ Menschen die Hölle. Etwa ein Viertel des Landes wurde von lokalen Politiker*innen zur "LGBT-Ideologie freien Zone" erklärt. Homophobie wird offiziell gefördert und homophobe Angriffe sind an der Tagesordnung. In diesem Sommer wurden LGBTQI+-Aktivist*innen von der Polizei schikaniert, während die reaktionär-katholische Organisation Ordo Iuris ungestraft eine abscheuliche, homophobe Kampagne durchführte.

Ordo Iuris stand bereits 2016 hinter dem Gesetzesentwurf zum Abtreibungsverbot. Im Februar 2021 griffen sie erneut an, mit einem Projekt, das "Ja zur Familie, nein zum Gender!" heißt. Deren Ziel ist Polens Austritt aus der Istanbul-Konvention, einer Konvention des Europarates gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt.

Stattdessen schlägt Ordo Iuris einen Text vor, der das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe bekräftigt, "exzessive staatliche Eingriffe" in die Familie verbietet und die Rolle der Frau als Mutter im Haushalt fördert. All das, während sie das Schreckgespenst "Gender" an die Wand malen und homophoben Unfug propagieren.

Ihre Thesen wären nur lächerlich, wenn die polnische Regierung nicht unter dem Einfluss dieser Lobby stehen würde - und wenn diese Lobby nicht über enorme finanzielle Mittel verfügen würde, um ihr Gift zu versprühen. Sozialistische Feminist*innen müssen aber nicht nur gegen diese Angriffe kämpfen, sondern auch gegen LGBTQI+-Phobie in der Linken (wo Transphobie mit der "TERF"-Ideologie hineingebracht wird) eintreten.

Bereiten wir uns auf die nächste Phase des Kampfes vor

Auch wenn die Bewegung für den Moment eine Pause einlegt, könnte ein Drama, das durch die Anti-Choice-Politik ausgelöst wird, oder eine x-te PiS-Provokation, die Bewegung wiederbeleben.

Letzten Herbst haben wir durch unsere ROSA Polska Kampagne gesagt, dass ein Generalstreik möglich bzw. notwendig sei, um das Recht auf kostenlose Abtreibung auf Nachfrage zu erkämpfen. Um diesen Generalstreik aufzubauen, riefen wir zur Bildung von demokratischen Streikkomitees auf, die die Bewegung von unten organisieren und ihr eine echte Führung geben sollten.

Zurzeit ist die Atmosphäre in der polnischen Arbeiter*innenklasse nicht mehr geeignet für einen Generalstreik mit dem Recht auf Abtreibung als zentrale Forderung. Der Moment, in dem eine Bewegung einen Rückzieher macht, kann frustrierend und demoralisierend sein. Aber eine Analyse des Kampfes, die fortlaufend diskutiert und aktualisiert wird, macht es möglich, diesen Bewusstseinsstand zu überwinden und diese ruhigere Periode zu nutzen, um sich auf den nächsten Aufschwung der Bewegung vorzubereiten. Deshalb organisiert ROSA Polska am 13. März ein öffentliches Treffen, um all diejenigen einzuladen, die unsere feministisch-sozialistische Vision teilen, um mit uns für den Aufbau eines Arbeiter*innenflügels der Abtreibungsrechtsbewegung zu kämpfen.

 

 

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