Internationales

Palästina: Massenwiderstand und internationale Solidarität

Sebastian Kugler

Jeden Tag erreichen uns neue Horrormeldungen aus Gaza und dem Westjordanland, jeden Tag erreicht der völkermörderische Größenwahn des israelischen Regimes neue Ausmaße - vom organisierten Aushungern über die intensivierte Gewalt durch Siedler:innen, Polizei und Militär bis zu den Plänen einer Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und einer Annexion des Westjordanlandes. Währenddessen unterstützen imperialistische Mächte wie die USA und die EU inklusive Österreich aktiv diesen Genozid, sei es durch Waffen oder durch Diplomatie. Völlig hilflos wirken die Institutionen, die früher wenigstens den Schein einer rechtsbasierten Ordnung aufrecht erhielten: Die UNO kann die Hungersnot in Gaza nur beklagen, während Israel und die USA unter dem Deckmantel der “Gaza Humanitarian Foundation” als Essensausgaben getarnte Todesfallen aufbauen. Der Haftbefehl des Internationalen Gerichtshofs gegen Netanyahu & Co wird von Ländern wie Deutschland nicht einmal ignoriert. 

Nach nun zwei Jahren des Blutvergießens wird zwar zunehmend Kritik im österreichischen medialen und politischen Diskurs hörbar - Kritik, die noch vor wenigen Monaten heuchlerisch als “antisemitisch” diffamiert wurde. Das liegt einerseits daran, dass die Verbrechen zu offensichtlich geworden sind. Andererseits ist es ein Erfolg für die Solidaritätsbewegung. Ja, die “geduldete” Kritik von NGOs etc. reicht nicht einmal annähernd an die systemischen Wurzeln der Gewalt heran - vielmehr soll sie als hilflos-pazifistisches Ventil dienen. Dennoch haben sich Räume geöffnet, um eine konsequente anti-imperialistische Bewegung wieder nach vorne zu bringen, gerade auch vor dem Hintergrund wachsenden Widerstands in der Region selbst.

Widerstand, der Hoffnung gibt

In den letzten Wochen kam es vermehrt zu palästinensischem Widerstand, der an die Tradition der Massenkämpfe von der Ersten Intifada 1987-1993 über den Großen Marsch der Rückkehr 2018-2019 und den Würdestreik 2021 anknüpft: In Sachnin, einer mehrheitlich palästinensischen Stadt innerhalb der israelischen Grenzen von 1948 protestierten Tausende gegen den Genozid. Der Protest weitete sich aus, nun gibt es täglich Demonstrationen in allen palästinensich geprägten Städten in Israel. Dieser Widerstand wird auch im Westjordanland aufgegriffen, wo es vermehrt zu kollektiven Hungerstreiks kommt.

Das steigende palästinensische Selbstbewusstsein im Widerstand beeinflusst auch die breite Protestbewegung mehrheitlich jüdischer Israelis gegen die Regierung. Zwar scheint ein wirklicher gemeinsamer Kampf angesichts der immer noch verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber dem palästinensischen Leid selbst innerhalb der Protestbewegung noch in weiter Ferne - doch der Pol, der sich bewusst gegen das gesamte israelische Establishment und seine ideologische Basis stellt, wächst: von den Jugendlichen, die ihre Einberufungsbefehle öffentlich verbrennen, bis zu den Aktionen, die beim (von den Gewerkschaftsspitzen nicht unterstützten) Generalstreik am 17. August gegen den Genozid gesetzt wurden.

Sand ins Getriebe der Todesmaschine

Auch in Österreich sind wir nicht machtlos. Das bewiesen jene Aktivist:innen, die Ende August einen Protest beim Motorenhersteller BRP Rotax in Oberösterreich organisierten. Recherchen u.a. des “Falter” zufolge befinden sich Rotax-Motoren in israelischen Militärdrohnen - durch den öffentlichen Protest musste Rotax nun versichern, sein “Vertriebspartner” hätte Lieferungen an einen israelischen Rüstungskonzern “mittlerweile eingestellt”. Als vorwärts unterstützen wir diese und ähnliche Aktionen, wie bei den Salzburger Festspielen und beim ORF. Es gibt zahlreiche Unternehmen in Österreich, deren Bosse durch ihre Verbindungen mit dem israelischen militärisch-industriellen Komplex massive Profite mit dem Genozid machen. Hier können wir erfolgreich ansetzen, wie das Beispiel Rotax zeigt. Darüber hinaus muss es aber auch gelingen, die Beschäftigten dieser Unternehmen zu erreichen. Viele von ihnen sind selbst zweifelsohne gegen den Genozid. Sie haben die Macht, die Produktion und den Vertrieb für die Todesmaschinerie zu stoppen. In Italien, Frankreich und Griechenland haben diesen Sommer Hafenarbeiter:innen erfolgreich Schiffe blockiert, die Waffen für die israelische Armee liefern sollten. Das ist nur eine kleine Kostprobe der Macht, welche die internationale Arbeiter:innenbewegung hat, um das Morden zu stoppen.

 
 

Mehr zum Thema: 

Waffenstillstand in Gaza: Der Kampf gegen Genozid und Besatzung geht weiter!

Der Kampf für einen permanenten Waffenstillstand, ein Ende der Besatzung und Sicherheit, Wohlstand und Frieden für alle in der Region muss weitergehen.
von Christoph Glanninger

Die Nachricht über ein Waffenstillstandsabkommen wurde mit einem Ausbruch an Freunde nicht nur in Gaza, sondern auch in der Westbank und vielen Straßen weltweit gefeiert. Nach 471 Tagen Genozid und unerträglichem Leid endlich ein Hoffnungsschimmer. Es ist unvorstellbar, was die Menschen in Gaza in den 1,5 Jahren - unter Duldung des westlichen Imperialismus, unter anderem der österreichischen Bundesregierung - durchgemacht haben. Die Bilder von jubelnden Menschen in Gaza sind auch ein Symbol für die Widerstandskraft der palästinensischen Bevölkerung, die nach über 12.000 Bomben (Stand Anfang Dezember), die auf sie einschlugen, nicht aufgegeben haben. Hunderte palästinensische Verschleppte werden freikommen, die oft ohne Gerichtsurteil in israelische Foltergefängnisse geworfen werden, genauso wie die verbliebenen zivilen israelischen Geiseln. Obwohl gleichzeitig tausende - darunter viele Minderjährige in den israelischen Gefangenenlagern bleiben werden und es erste Berichte gibt laut denen, dass das Besatzungsregime schon damit beginnt willkürlich neue Palästinenser*innen aus der Westbank in Lager zu verschleppen. 

Besonders bitter an der aktuellen Situation ist, dass es sich bei dem angenommenen Deal um fast genau denselben handelt, der schon vor rund 8 Monaten auf dem Tisch lag. Aber Biden weigerte sich damals, Druck auf Netanjahu auszuüben, um ihn zu einer Annahme des Deals zu zwingen. Zehntausende Tote, Verwundete und Traumatisierte gehen damit direkt auf das Konto von Biden und allen anderen westlichen Mächten. Der internationalen Solidaritätsbewegung ist es zu verdanken, dass der Druck und die Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Genozid aufrecht erhalten wurde. Beides hat wahrscheinlich auch dazu beigetragen, dass Trump Druck in Richtung eines Deals gemacht hat. 

Die Feiern über den Waffenstillstand wurden auch schon von der Fortsetzung der israelischen Bombardierung überschattet. Zwischen Verlautbarung und Inkrafttreten des Waffenstillstandes ermordete die israelische Kriegsmaschinerie dutzende Menschen, darunter zahlreiche Kinder. Netanjahu hat den Deal sogar kurzzeitig wieder in Frage gestellt und die israelische Rechte mobilisiert bereits gegen den Deal. In der Westbank kommt es zu Pogromen rechtsextremer Siedler*innen. Der Finanzminister Smotrich kommentiert: “jetzt ist es Zeit mit aller Kraft weiterzumachen, den Streifen zu besetzen und zu reinigen und alle Schleusen der Hölle über Gaza zu öffnen bis Hamas komplett kapituliert und alle Geiseln zurück sind”. Und es ist keineswegs sicher, dass auf die erste Phase des Waffenstillstandes tatsächlich ein permanenter Waffenstillstand folgt. Das israelische Regime hat weiter das Ziel die Hamas zu zerstören und auch Trumps Aussagen rund um die Angelobung in denen er bezweifelt, dass der Waffenstillstand halten wird, deuten darauf hin, dass das israelische Besatzungsregime eine Wiederaufnahme des Genozids plant.

Heute Dienstag startete die israelische Armee die Operation “Iron Wall” im Westjordanland mit mehreren Todesopfern unter der palästinensischen Zivilbevölkerung. Das bestätigt nur die Spekulationen, dass Trump Netanjahu als Austausch für den Deal weitgehende Zugeständnisse bezüglich der Westbank gemacht hat.

Umso wichtiger ist es unseren Widerstand jetzt nicht aufzugeben. Es wird den Ausbau von internationalem Druck und den Aufbau einer Bewegung nicht nur gegen den Genozid, sondern auch gegen Besatzung und Apartheid brauchen um einen langfristigen Waffenstillstand und das Ende palästinensischer Unterdrückung, sowie die Befreiung Palästinas, zu erkämpfen. Weltweit - und auch in Österreich - hat der israelische Genozid, den alle online verfolgen konnten - einer neuen Generation das Außmaß an imperialistischer Ungerechtigkeit und Unterdrückung der palästinesischen Bevölkerung gezeigt. Jedes einzelne Opfer mahnt uns dazu, nicht wieder zum Status Quo zurückzukehren. Auch Aktivist*innen und die Proteste in Israel stehen jetzt vor einem Scheidepunkt: Entweder kämpfen Aktivist*innen auf israelischer Seite auch jenseits des Geiseldeals für einen permanenten Waffenstillstand und ein Ende von Besatzung und nationaler Unterdrückung als einzige Grundlage, um langfristig Frieden, Sicherheit und Wohlstand für alle zu erreichen. Oder man akzeptiert weiter den tagtäglichen Terror des Besatzungsregimes. 

Gerade in Österreich war die Bewegung nicht dazu in der Lage, entscheidenden Druck auf Regierung und Konzerne aufzubauen. Vor allem auch, weil eine großer Teil der Linken sich passiv verhalten hat oder sogar, wie im Fall der ÖH und anderer Teile der Linken, sich auf die Seite des israelischen Staates gestellt haben. Nie wieder dürfen wir Strukturen in unseren Reihen akzeptieren, für die palästinensische Leben nichts wert sind. Wir haben jetzt den Auftrag, weiter Druck für einen permanenten Waffenstillstand aufzubauen und gleichzeitig eine langfristige Palästina-solidarische Bewegung in der österreichischen Linken, feministischen und Gewerkschaftsbewegung zu verankern. Das wird auch im Kampf gegen den anti-muslimischen und anti-arabischen Rassismus von FPÖVP von zentraler Bedeutung sein. 

 

 

 

Südkorea: drohender Generalstreik beendet Kriegsrecht nach wenigen Stunden

von Serge Jordan (Projekt für eine revolutionäre marxistische Internationale)

Dramatische Ereignisse haben Südkorea in den vergangenen 24 Stunden erschüttert und das Land in eine schwere politische Krise gestürzt. Der rechtsgerichtete Präsident Yoon Suk Yeol verhängte am späten Dienstag das Kriegsrecht, beschuldigte Oppositionsparteien pro-nordkoreanischer Sympathien und versprach, „staatsfeindliche Elemente“ zu beseitigen. Doch dieses verzweifelte autoritäre Manöver schlug spektakulär fehl, als eine Welle der Opposition und der Aufruf zu einem unbefristeten Generalstreik durch die größte Gewerkschaft des Landes ihn dazu zwangen, die Anordnung über Nacht zurückzunehmen.

Yoon, der sein Amt 2022 antrat, sah sich großen Hindernissen bei der Durchsetzung seiner konservativen Agenda gegenüber. Das von der Opposition kontrollierte Parlament, kombiniert mit wachsender gesellschaftlicher Unzufriedenheit, hat seine Ambitionen zunichtegemacht. Seine Partei der Volksmacht (People Power Party) steckt in einer Sackgasse mit der liberalen Oppositionspartei Demokratische Partei (Democratic Party), da beide über den Budgetplan für das nächste Jahr streiten. Seine Zustimmungswerte fielen laut der neuesten Gallup-Umfrage auf fatale 19 %.

Die öffentliche Unzufriedenheit wächst aufgrund einer schwächelnden Wirtschaft, steigender Lebensmittelpreise und Angriffen auf demokratische Rechte. Zudem streiken seit Monaten Tausende Ärzt*innen gegen Regierungspläne, die Zugangsbeschränkungen an medizinischen Fakultäten zu erweitern. Gleichzeitig sah sich Yoon einer Reihe von Skandalen gegenüber und ignorierte arrogant Forderungen nach unabhängigen Ermittlungen zu Korruptionsvorwürfen gegen seine eigene Ehefrau. Dies schürte öffentliche Empörung, die Anfang dieses Jahres so groß wurde, dass eine Petition zu seiner Amtsenthebung die Website des Parlaments vorübergehend lahmlegte.

In diesem Kontext versuchte Yoon, das Kriegsrecht zu verhängen – ein unverhohlener Versuch seine Machtposition zu retten, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und die Opposition zu zerschlagen. Laut der Anordnung wurden alle politischen Aktivitäten verboten, Proteste untersagt und die Medien einer Zensur unterworfen. Der Kommandant des Kriegsrechts, Park An-su, gab folgende Erklärung ab:

„Alle politischen Aktivitäten sind in Südkorea nach der Verhängung des Kriegsrechts am Dienstag verboten, und alle Medien unterliegen der Überwachung durch die Regierung. Alle politischen Aktivitäten, einschließlich derjenigen der National-versammlung, lokaler Räte, politischer Parteien und politischer Vereinigungen sowie Versammlungen und Demonstrationen, sind strikt untersagt. Alle Medien und Publikationen unterliegen der Kontrolle des Kriegsrechtskommandos.“

Die arbeiter*innenfeindliche Natur dieses Schritts wurde weiter deutlich, als das Militär anordnete, dass streikende Ärzt*innen innerhalb von 48 Stunden wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren müssen. In einer grotesken Orwell'schen Verdreh-ung rechtfertigte Yoon diese autoritäre Maßnahme mit der Behauptung, sie diene dazu, die „verfassungsmäßige demokratische Ordnung zu schützen“ und die „Kontinuität eines liberalen Südkoreas zu gewährleisten“. Seine Rhetorik unterstrich nur die schamlose Heuchelei eines Präsidenten, der entschlossen war, genau die demokratischen Prinzipien zu zerstören, die er angeblich verteidigen wollte.

Da nicht sicher war, wohin der Wind wehen würde, wählte das Weiße Haus strategische Zweideutigkeit und erklärte lediglich, dass man die Situation in Südkorea „genau beobachte“. Als wichtiger Verbündeter der USA und zentraler Akteur zur Eindämmung des Einflusses von China und Nordkorea ist die Stabilität Südkoreas für Washington von entscheidender Bedeutung. Über 28.000 US-Soldaten sind dort dauerhaft stationiert, was den strategischen Wert des Landes unterstreicht. Doch die ausweichende Reaktion der US-Regierung, nach einer Phase enger geopolitischer Zusammenarbeit mit Yoon und einer angeblich „gemeinsamen Vision wertebasierter Diplomatie“, entlarvt erneut die hohle Fassade des US-Imperialismus und dessen Anspruch, im globalen Machtkampf gegen China die Demokratie, Menschenrechte und „Rechtsstaatlichkeit“ zu repräsentieren.

Die Erklärung des Kriegsrechts schlägt spektakulär fehl

Präsident Yoon Suk Yeols Versuch, das Kriegsrecht durchzusetzen, scheiterte in atemberaubender Geschwindigkeit und offenbarte die Fragilität seiner Herrschaft. Dieser Schritt erwies sich als katastrophale Fehleinschätzung, da ihm die dafür notwendige Basis fehlte. Diktatorische Maßnahmen berühren in Südkorea einen empfindlichen Nerv im kollektiven Gedächtnis. Das Land litt 18 Jahre unter der Militärdiktatur von Park Chung-hee.

Nach Parks Ermordung im Jahr 1979 entstand eine neue Militärdiktatur unter Chun Doo-hwan – einem Mann, über den Präsident Yoon vor drei Jahren lobende Bemerkungen machte und erklärte, der General habe „in der Politik gut gearbeitet“ - abgesehen von seinem Putsch und der brutalen Niederschlagung von Protesten. Das berüchtigtste Ereignis unter Chuns Herrschaft war der Gwangju-Aufstand im Mai 1980, bei dem das Militär pro-demokratische Proteste brutal niederschlugen und Hunderte, wenn nicht Tausende Zivilist*innen massakrierten. 1987 mobilisierte die Juni-Demokratiebewegung Millionen im ganzen Land und beendete schließlich die Militärherrschaft. Für viele Südkoreaner*innen, insbesondere Ältere, sind die Erinnerungen an die autoritäre Herrschaft und den hart erkämpften Kampf um demokratische Rechte noch lebendig. Die weitverbreitete Angst, dass autoritäre Maßnahmen eine Rückkehr in diese dunklen Zeiten signalisieren könnten, bedeutet, dass jede Einschränkung der Freiheiten – wie Yoons Kriegsrecht – Alarmglocken auslöst.

Die Gegenreaktion kam sofort und war überwältigend: Innerhalb weniger Stunden nach Yoons Ankündigung versammelten sich 190 der 300 Parlamentsmitglieder zu einer Notsitzung und verabschiedeten einen Beschluss zur Aufhebung des Kriegsrechts. Die Abstimmung war einstimmig und schloss sogar 18 Mitglieder von Yoons eigener „Partei der Volksmacht“ ein.

Vor dem Parlament versammelten sich Tausende und skandierten Slogans wie „Hebt das Kriegsrecht auf, schützt die Demokratie“ und „Klagt Präsident Yoon an“, während Polizei und Armee die Eingänge des Gebäudes blockierten. Han Dong-hoon, der Vorsitzende der Regierungspartei selbst, schwor öffentlich, sich der Verhängung des Kriegsrechts zu widersetzen, und erklärte, er werde „an der Seite des Volkes“ stehen.

Der Wendepunkt kam, als der koreanische Gewerkschaftsbund (KCTU), der 1,2 Millionen Arbeitnehmer*innen vertritt, einen unbefristeten Generalstreik ankündigte, bis das Kriegsrecht aufgehoben ist und das Regime von Yoon Suk Yeol zurücktritt. Das Schreckgespenst einer gelähmten Wirtschaft, von Massenprotesten und einer sich ausbreitenden Opposition innerhalb seiner eigenen Partei zwang Yoon zum Einlenken. Am frühen Mittwochmorgen verkündete er die Aufhebung des Kriegsrechts und wies die vor der National-versammlung stationierten Truppen an, in ihre Kasernen zurückzukehren. Die Ankündigung wurde mit Jubel vor dem Parlament aufgenommen.

Die Amtszeit von Yoon ist nur noch eine Frage der Zeit. In einem Leitartikel der konservativen Zeitung Joongang Ilbo hieß es heute Morgen: „Die bisher undenkbare Diskussion über ein Amtsenthebungserfahren gegen den Präsidenten ist nun unvermeidlich geworden.“ Die Opposition hat den Präsidenten zum Rücktritt und zur Anklage wegen Hochverrats aufgefordert und ein Amtsenthebungs-verfahren für den Fall eingeleitet, dass er nicht freiwillig zurücktritt. Innerhalb seiner eigenen Partei haben sich die Brüche vertieft; der Partei-vorsitzende entschuldigte sich in der Öffentlichkeit, forderte die Entlassung des Verteidigungsministers und drägte auf den Rücktritt des gesamten Kabinetts. Es sind Berichte aufgetaucht, wonach Yoons hochrangige Mitarbeiter, darunter sein Stabschef und sein nationaler Sicherheitsberater, ihren Rücktritt angeboten haben, was den Zerfall seiner politischen Basis unterstreicht.

Während dieser Artikel geschrieben wurde, ist die südkoreanische Bevölkerung in noch größerer Zahl wieder zurück auf die Straße und weigert sich, aufzugeben, bis Yoon Suk Yeol weg ist. Einer*m Reporter*in von The Guardians in Seoul zufolge ist „ein schnelles Amtsenthebungsverfahren in aller Munde“. Die KCTU hat unterdessen geschworen, den Generalstreik fortzusetzen, bis der Präsident ganz zurücktritt. Die unglückliche Verhängung des Kriegsrechts durch Yoon hat nicht nur das wahrscheinliche Ende seiner Präsidentschaft beschleunigt, sondern scheint auch die kollektive Macht der südkoreanischen Arbeiter*innenklasse neu entflammt zu haben. Die durch diesen Kampf erzeugte Dynamik stellt eine seltene Gelegenheit dar, die ergriffen werden muss, um eine breitere Massenbewegung aufzubauen - nicht nur für das Ende von Yoons Herrschaft, sondern um die tief sitzenden Missstände und Forderungen der südkoreanischen Arbeiter*innen und Jugend anzugehen, einschließlich höherer Löhne, einer Abkehr von der arbeiter*innenfeindlichen Politik und entschlossener Maßnahmen gegen die Epidemie geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt, die sich unter Yoons Regierung verfestigt hat. 

Yoons Versuch, hart durchzugreifen, wurde zwar vereitelt, doch dient er als Warnung: Solange der Kapitalismus fortbesteht sind demokratische Rechte niemals garantiert - ganz zu schweigen von einer echten Demokratie, in der der von der Gesellschaft geschaffene Reichtum nicht mehr von den Konzerneliten monopolisiert und ihr System von der Staatsmacht und ihren politischen Stripenzieher*innen geschützt wird.

 

Der beunruhigende Triumph Donald Trumps

von Rina und Christoph, ISA Wien

Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ist für viele ein Schock. Seine zweite Präsidentschaft bedeutet drohende Massendeportationen, landesweite Angriffe auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, Politik für Superreiche und eine Eskalation des Genozids in Gaza. Wie konnte ein Mann an die Macht kommen, der mit seiner menschenverachtenden Rhetorik und Politik so offen rassistische, frauenfeindliche, transphobe und kriegstreibende Positionen vertrat? Die Analyse des Wahlergebnisses zeigt, dass Trumps Sieg kein Zufall war, sondern Ausdruck tiefsitzender gesellschaftlicher Spannungen

Die Gefahr durch Trump 2.0

Trumps provokative Äußerungen wie der Ruf nach einem „Muslim Ban“, die offene Unterstützung des Genozids inklusive der Aufforderung an Netanjahu, „den Job zu Ende bringen“, und zahlreiche andere Äußerungen von ihm und seinen Unterstützer*innen offenbaren ein schockierend klares rassistisches Weltbild.

Trumps beunruhigende Vision für eine autoritärere, nationalistischere und restriktivere Politik offenbart sich nicht nur in seinen provokanten Äußerungen, sondern auch in seinem alarmierenden „Project 2025“. Dieses umfangreiche Programm zielt auf eine massive Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten ab, um eine rechts-nationalistische Agenda rücksichtslos durchzusetzen. Trumps rassistisches Weltbild spiegelt sich nun auch in konkreten Plänen wider – von einem Abbau von Umweltstandards und Sozialleistungen bis hin zu massiven Einschnitten bei Bürger*innenrechten, die vor allem marginalisierte Gruppen treffen würden. Besonders alarmierend sind Trumps konkrete Vorhaben in der Migrationspolitik. Dazu gehören die Aufhebung verschiedener Asylstatus, die Verweigerung staatlich geförderter Wohnungen für Familien mit unterschiedlichen Aufenthaltstiteln, eine massive Ausweitung der Abschiebepolitik mit Millionen von Abschiebungen sowie eine Aufstockung der Finanzmittel für Grenzschutzmaßnahmen gegenüber Mexiko. Diese Maßnahmen würden den Zugang zu Asylverfahren und staatlicher Unterstützung für viele Migrant*innen massiv einschränken, Menschenrechte systematisch verletzen und die gesellschaftliche Spaltung weiter vertiefen.

Trumps rückwärtsgewandte Vision bedroht aber nicht nur Migrant*innen, sondern auch die Rechte von Frauen und LGBTQIA+-Personen. So plant er, den Zugang zu Abtreibungspillen massiv einzuschränken, indem er deren Versand verbietet und die Zulassung durch die FDA weiter beschneiden will – ein schwerer Angriff auf das fundamentale Recht von Frauen auf reproduktive Selbstbestimmung. Genauso alarmierend ist Trumps Vorhaben, traditionelle Familienstrukturen auf Kosten der Rechte sexueller Minderheiten zu stärken. Damit würde er die ohnehin marginalisierte LGBTQIA+-Community noch weiter in die Defensive drängen und ihre hart erkämpften Fortschritte bei der gesellschaftlichen Akzeptanz und rechtlichen Gleichstellung zunichte machen.

Trump gelang es, sich erfolgreich als Verfechter der amerikanischen Arbeiter*innenklasse zu inszenieren, der gegen eine korrupte politische Elite kämpft. Seine reaktionäre Erzählung, obwohl moralisch verwerflich und oft von der materiellen Realität losgelöst, identifizierte klare Feinde und versprach, „mit ihnen fertig zu werden“ – mit allen Mitteln. Dass er selbst ein korrupter Milliardär ist, spielt in der zynischen Welt der amerikanischen Politik kaum eine Rolle. Seine Fähigkeit, Ängste und Ressentiments zu kanalisieren, erwies sich als entscheidend für seinen Wahlerfolg. Offensichtlich ist es ihm gelungen, gerade weiße und männliche Teile der Bevölkerung um ein reaktionäres, rassistisches Weltbild zu versammeln. Trotzdem ist festzuhalten, dass viele Trump aus Protest gegen die akute Situation in den USA und das Versagen der Demokrat*innen gewählt haben.

Demokrat*innen mit genozidalem, rassistischem und asozialem Kurs selbst verantwortlich

Während Donald Trumps eigene spaltende Rhetorik und populistische Appelle zweifellos seinen politischen Aufstieg befeuerten, tragen die Demokrat*innen erhebliche Mitschuld. Ihr Versäumnis, die Bedürfnisse und Sorgen der Arbeiter*innenklasse angemessen zu adressieren, ebnete den Weg für einen Demagogen wie Trump. Zu lange vernachlässigten sie es, den Wähler*innen eine überzeugende Vision und Hoffnung zu bieten – gerade jenen, die mit wirtschaftlicher Unsicherheit, Arbeitsplatzverlust und sinkenden Lebensstandards zu kämpfen hatten. Stattdessen verfolgten die Demokrat*innen eine zentristisch-wirtschaftsfreundliche Agenda, die viele Wähler*innen zurückließ und das Gefühl der Entfremdung verstärkte.

Besonders deutlich zeigt sich dies bei der bedingungslosen Unterstützung der Demokrat*innen für Israels Genozid an der palästinensischen Bevölkerung, selbst angesichts wiederholter UN-Resolutionen, die einen Waffenstillstand und einen Gefangenenaustausch forderten. Während Israel weiterhin amerikanische Waffen und Finanzhilfen erhielt und die palästinensische Bevölkerung weiterhin massakriert wurde, hinterließ die Komplizenschaft der Demokra*tinnen bei diesen Gräueltaten viele Wähler*innen frustriert und desillusioniert. Eine parteiübergreifende Mehrheit der US-Bevölkerung ist gegen die Unterstützung der israelischen Kriegsführung – gerade deshalb haben viele arabische und muslimische Amerikane*rinnen Harris nicht gewählt. Mit ihrer Weigerung, die Waffenlieferungen zu beenden, verdeutlichen die Demokrat*innen, dass ihnen imperialistische und genozidale Politik wichtiger war als Trump zu besiegen.

Der Kapitalismus als Nährboden für Trumps Aufstieg – der einzige Weg: Sozialismus

Trumps Wahlsieg stellt eine reale Bedrohung für Frauen, LGBTQIA+-Personen, Migrant*innen und BIPOC-Communities (Schwarze, Indigene und People of Color) dar. Um diese Gefahr zu verstehen, müssen wir erkennen, dass der Liberalismus im Kampf gegen Rechtsruck und Faschismus weitgehend wirkungslos ist. Der Grund dafür liegt in den systemischen Widersprüchen des Kapitalismus selbst. Der Liberalismus kann die grundlegenden Probleme des kapitalistischen Systems nicht lösen – die Verarmung der Arbeiter*innenklasse, die wachsende Ungleichheit und die Krise der gesellschaftlichen Verhältnisse. Eben diese Faktoren führen zu einer zunehmenden Hinwendung zu rechter Ideologie und Faschismus als vermeintlicher „Lösung“ für die Nöte der Menschen.

Anstatt Trump also lediglich als Symptom zu bekämpfen, müssen wir die tieferen Ursachen im kapitalistischen System selbst in den Blick nehmen. Nur eine grundlegende Umgestaltung hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung kann die Voraussetzungen für eine wirklich emanzipatorische Politik schaffen, die die Interessen der unterdrückten Gruppen in den Mittelpunkt stellt. Das erfordert ein tägliches Engagement im Kampf für soziale Gerechtigkeit – weit über parlamentarische Politik hinaus. Wie der Bürgerrechtler Kwame Ture sagte: „Sie wählen einmal alle vier Jahre, und das ist Ihre politische Verantwortung? Das ist der Gipfel bürgerlicher Propaganda, die die Menschen politisch unverantwortlich macht. Sie denken, ihre Verantwortung beschränkt sich auf eine einzige Stimmabgabe am Wahltag. Politik ist jeden Tag.“

Gleichzeitig sollten wir den Rechten nicht den Gefallen tun, in Pessimismus zu verfallen. Reaktionäre Kräfte versuchen gezielt, den Eindruck zu erwecken, dass es keine Möglichkeiten für Widerstand gibt. Doch die jüngere Geschichte zeigt ein anderes Bild: Während der letzten Trump-Präsidentschaft haben z. B. 2017 Massenproteste an Flughäfen und Streiks der New Yorker Taxifahrer*innen den Muslim-Ban abgewendet. 2019 beendete die Streikdrohung des Verbandes der Flugbegleiter*innen einen Regierungs-Shutdown mit der Forderung nach Finanzierung der Grenzmauer. Auch historisch wurde der Vietnam-Krieg während der republikanischen Nixon-Präsidentschaft beendet. Das alles zeigt: Widerstand kann auch einen autoritären Trump in die Knie zwingen!

Der Wahlsieg Trumps zeigt vor allem, dass dieses System und die etablierte Politik uns nichts anderes zu bieten haben als Rechtsruck, Armut und Genozid. Nur durch die Überwindung des kapitalistischen Systems und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung können wir die realen Ursachen für den Aufstieg des Faschismus beseitigen. Dafür braucht es den entschlossenen Kampf der Arbeiter*innenklasse und aller unterdrückten Gruppen. Nur so können wir eine Zukunft jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung erkämpfen.

Der Wahlsieg Trumps, genauso wie der Wahlerfolg der FPÖ in Österreich und der Rechtsruck international, sollte ein Weckruf sein, sich zu organisieren und Gegenmacht jenseits der extremen Rechten und des politischen Establishments aufzubauen. Als ISA wollen wir das tun, mach mit!

 

 

 

Bild: Montecruz Foto (2020) Creative Commons: Attribution Share Alike

Krawalle in Britannien: Bauen wir eine antifaschistische Bewegung & Widerstand auf!

Gegen die Lügen und die Gewalt der Rechtsextremen!
CW: Rassismus, antimuslimischer Rassismus, rassistische Gewalt, geschlechtsspezifische Gewalt

Stellungnahme der Socialist Party in Nordirland vom 6. August

Während der Fertigstellung dieser Erklärung wurde bekannt, dass in Nord-Belfast ein Haus angegriffen wurde. Unsere Gedanken sind bei allen Betroffenen. In der Gesellschaft darf kein Platz für rassistische Gewalt sein.

Am Samstag (3. August) reihte sich Belfast in die beunruhigend lange Liste der Orte ein, an denen es rechtsextremen Hetzer*innen gelang, zu mobilisieren. Das führte zu Szenen rassistischer Gewalt, die sich insbesondere gegen die muslimische Community richteten. Es folgten Angriffe auf das islamische Zentrum in Belfast am Montagabend und auf ein Geschäft in West Belfast am Dienstag sowie eine Reihe rassistischer Angriffe auf Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe. Wir sprechen allen Betroffenen unsere Solidarität aus, insbesondere Menschen of Color, Menschen mit Migrationsgeschichte und religiösen Minderheiten, die während und nach diesen Ereignissen zweifellos um ihre Sicherheit fürchteten. Da weitere Mobilisierungen von einer inzwischen ermutigten und selbstbewussteren rassistischen Minderheit geplant sind, muss dringend darüber diskutiert werden, wie wir eine Bewegung gegen die Lügen und die Gewalt der Rechtsextremen aufbauen können.

Rund 1.000 Menschen fanden sich kurzfristig zu der Aktion "United Against Racism" vor dem Rathaus ein, um gegen die rechte Mobilisierung zu protestieren. Gewerkschafter*innen waren anwesend, darunter Mitglieder von Unite, UCU und CWU, wobei die NIPSA besonders hervorstach. Ihnen schlossen sich antirassistische Aktivist*innen, sozialistische Feminist*innen und Palästina-Solidaritätsgruppen an. Gemeinsam stellten wir uns gegen die Rechtsextremen, von denen einige gesehen wurden, wie sie den Hitlergruß zeigten, was zu lauten Sprechchören wie "Nazi-Abschaum raus aus unseren Straßen" und "Geflüchtete sind hier willkommen" führte.

Dieser Gegenprotest reichte jedoch nicht aus, um Hunderte von Teilnehmer*innen der rechtsextremen Demo davon abzuhalten, rassistisch durch Botanic, die Holylands und Sandy Row zu marschieren. Cafés und Supermärkte, die Menschen of Color gehören - viele von ihnen sind wichtige Orte für migrantisierte Communities - wurden angezündet und beschädigt. Mehrere Menschen wurden angegriffen, und mindestens eine Person wurde niedergestochen. In Lower Ormeau organisierten sich etwa 100 Anwohner*innen spontan, um die rechtsextremen Schläger*innen abzufangen und sie daran zu hindern, durch das Gebiet zu marschieren. Auf diese Art von Aktionen sollten wir aufbauen und sie gemeinschaftsübergreifend wiederholen.

Fehlinformationskampagne führt zu rassistischen Ausschreitungen

Dies war Teil einer koordinierten Serie rassistischer Ausschreitungen in England und Nordirland die von einem Netzwerk faschistischer Anstifter*innen, darunter Gruppen wie die English Defence League, geplant wurden. Unmittelbar nach den schrecklichen Morden an der sechsjährigen Bebe King, der siebenjährigen Elsie Dot Stancombe und der neunjährigen Alice Dasilva Aguiar in einem Tanzkurs in Southport, der unter dem Motto "Taylor Swift" stand, nutzten rechtsextreme Kräfte diese Situation, um Fehlinformationen zu verbreiten und antimuslimischen Rassismus zu schüren. Das Ergebnis war, dass rechtsextreme Schläger*innen in die trauernde Gemeinde Southport eindrangen und rassistische Ausschreitungen verübten. Inmitten der Kampagne, die von rechtsextremen Einzelpersonen, Gruppen und den Medien geführt wird, ist das eigentliche Problem völlig untergegangen: Wie ist es möglich, dass ein 17-jähriger Junge so hasserfüllt war, dass er bereit war, eine Gruppe junger Schulmädchen mit einem Messer anzugreifen und dabei drei zu töten und weitere zu verletzen?

Wir leben in einer zutiefst gewalttätigen und frauenfeindlichen Gesellschaft - das muss aktiv bekämpft werden. Es ist auch klar, dass dieser Kampf ein antirassistischer Kampf sein muss, und einer, der antimuslimischen Rassismus, Transfeindlichkeit und all die Strategien der Rechten bekämpft. Die Ursachen für geschlechtsspezifische Gewalt sind Frauenfeindlichkeit, Machokultur, die Normalisierung von Gewalt und ein Gefühl der eigenen Überlegenheit. Diese Dinge sind in der Gesellschaft im Allgemeinen vorhanden und haben nichts mit der ethnischen Herkunft oder der religiösen Identität von Menschen zu tun. Sie sind Merkmale eines kapitalistischen Systems, in dem Unterdrückung eine zentrale Rolle spielt. Auf dem Schild eines Gegendemonstranten war am Samstag zu lesen: "Es geht nicht um 'Migrant*innen'. Es ist die herrschende Klasse. Es ist der Kapitalismus. Es geht um die Gewalt von Männern gegen Frauen.”

Unter dem Deckmantel des "Schutzes unserer Kinder" haben die Rechtsextremen Moscheen angegriffen, versucht, Asylbewerber*innen aus ihren Unterkünften zu vertreiben, und Bibliotheken, Schulen und Häuser in Arbeiter*innenvierteln geplündert, die bereits unter den Auswirkungen von Sparmaßnahmen und der Lebenshaltungskostenkrise leiden. In den sozialen Medien verbreiteten sich erschreckende Videos von rassistischen Mobs, die PoCs angriffen und teilweise skandierten, sie zu töten. Schockierend sind auch die Aufnahmen von Banden, die im Botanic-Viertel von Belfast umherziehen. Auf einem Video ist zu sehen, wie einer Frau, die sich den rassistischen Gesängen widersetzte, gesagt wird: "You'll be r*ped" (Du wirst vergewaltigt werden) - was einmal mehr die Unvereinbarkeit zwischen rechtsextremen Ideen und der dringenden Notwendigkeit des Kampfes gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt offenbart.

Während sie sich als Bewegung der Arbeiter*innenklasse ausgeben, besteht das einzige Ziel der Rechtsextremen darin, Hass, Gewalt und Spaltung in unsere Gemeinschaften zu tragen und das Leben aller Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, insbesondere derjenigen aus marginalisierten Gemeinschaften, unvorstellbar zu verschlechtern.

Das politische Establishment ist verantwortlich

Die Krawalle haben gezeigt, dass wir kein Vertrauen in die Fähigkeit der PSNI (Polizei in Nordirland) haben können, die Rechtsextremen zu stoppen. Am Rathaus waren die PSNI-Beamt*innen nicht in der Lage, den rechtsextremen Aufmarsch zu stoppen, als er begann, sich in Richtung Dublin Road und damit zum Belfaster Islamischen Zentrum zu bewegen. Es gelang ihnen nur, Teile der Menge am oberen Ende der Botanic Avenue zu zerstreuen, nachdem mehrere Geschäfte und ein Hotel, das als Unterkunft für Geflpchtete dient, beschädigt worden waren. Hier und anderswo erwies sich die Polizei als unfähig und desinteressiert, die Arbeiter*innenklasse wirklich zu schützen.

In Belfast wurde eine Person of Color von Rassist*innen angegriffen und gejagt, um dann von der Polizei festgenommen zu werden, weil sie weglief - währenddessen wurden Geschäfte und Cafés niedergebrannt. Beunruhigenderweise wird nun gegen die PSNI ermittelt, weil einige Beamt*innen, die bei den Protesten anwesend waren, angeblich Embleme der "Three Percenters" - einer amerikanischen rechtsextremen Miliz - trugen. Angesichts der Vorgehensweise der PSNI gegenüber BLM-Demonstrant*innen vor einigen Jahren ist es nicht überraschend, dass ihr Ansatz darin bestand, antirassistische Demonstrant*innen und die rechtsextreme Mobilisierung als dieselbe Störung von "Recht und Ordnung" zu behandeln, anstatt die tatsächliche Bedrohung für von Rassismus betroffene Menschen durch die Rechtsextremen anzuerkennen. Die PSNI verwarnte sogar Mitglieder der muslimischen Gemeinde und Unterstützer*innen, die sich am Montag zur Verteidigung des Belfaster Islamischen Zentrums mobilisiert hatten.

Diese Ereignisse waren für viele ein Schock. Doch in Wirklichkeit sind die Rechtsextremen seit Jahren auf dem Vormarsch, und migrantisierte Menschen in Belfast und darüber hinaus sind täglich mit Rassismus konfrontiert. Die Krise des Kapitalismus führt zu einer tiefen Polarisierung, und in Ermangelung einer starken Alternative aus der Arbeiter*innenklasse zum Status quo machen sich die Rechtsextremen die Angst und die Wut zunutze, die durch den sinkenden Lebensstandard sowie die Sorge um die existenzielle Krise des staatlichen Gesundheitsdienstes und die immer weiter eskalierende Wohnungskrise entstehen. In diesem Zusammenhang haben das politische Establishment und die Mainstream-Presse Migrant*innen und PoCs konsequent dämonisiert und ein rassistisches "feindliches Umfeld" für Geflüchtete durchgesetzt, während sie die Entbehrungen in den Arbeiter*innenvierteln übersehen haben, die zu tiefer Wut und Frustration geführt haben. Die Tories und die Labour-Partei wetteifern darum, welche Partei härter gegen Geflüchtete vorgehen kann, wobei der Slogan "Stoppt die Boote" nicht nur für die Rechtsextremen, sondern auch für Starmer im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielte! Dies schafft ein Umfeld, in dem der Rassismus in der Gesellschaft in Form von Belästigungen und Beschimpfungen auf der Straße, in Schulen und am Arbeitsplatz weiter geschürt wird. Insbesondere die Islamfeindlichkeit wird seit Jahrzehnten von Politiker*innen und Medien geschürt - bewusst gefördert, um imperialistische Interventionen im Nahen Osten zu rechtfertigen. Dies ist in die rechtsextreme Propaganda eingeflossen, die vor der Einwanderung "ungeprüfter Männer" im "militärischen Alter" warnt und dabei auf zutiefst rassistische Vorurteile zurückgreift, um migrantisierte Menschen fälschlicherweise als Bedrohung darzustellen.

Weder die Reaktion von Keir Starmer - der sich darauf konzentrierte, zu sagen, dass diejenigen, die sich an Gewalt beteiligen, verhaftet und strafrechtlich verfolgt werden - noch die Empörung über die Gewalt auf unseren Straßen seitens der Mainstream-Politiker*innen werden dazu beitragen, dieses Problem zu lösen. Wir müssen islamfeindliches, rassistisches und rechtsextremes Gedankengut anprangern und gleichzeitig verstehen, wie und warum es ein Echo findet, um die Rechtsextremen wirksam zu bekämpfen und zu verhindern, dass Menschen aus der Arbeiter*innenklasse in das einfache Narrativ hineingezogen werden, anderen unterdrückten Menschen die Schuld zu geben. Wir müssen entschlossen und konsequent mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die tatsächlich verantwortlich sind.

Die Konzernmedien, kapitalistischen Politiker*innen und Milliardär*innen sind mehr als glücklich, rassistische, einwanderungsfeindliche und transfeindliche Hetze zu verbreiten, um die Wut in der Gesellschaft von ihrem System weg und auf die am meisten Ausgegrenzten zu lenken. Indem sie Menschen aus der Arbeiter*innenklasse mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund oder unterschiedlicher Religion gegeneinander ausspielen, hoffen sie, von der Tatsache abzulenken, dass die Kapitalist*innenklasse - die Banker*innen, Bosse und Milliardäre - vom Leid aller Menschen aus der Arbeiter*innenklasse profitiert. Es sind diese Spaltungen, die ein fester Bestandteil des Kapitalismus sind, auf die sich rechtsextreme Anstifter*innen wie Nigel Farage und Tommy Robinson stürzen, um ihre Ideologie der weißen Vorherrschaft voranzutreiben und Rassismus und Gewalt zu schüren, um ihre reaktionäre Bewegung voranzutreiben. Während das politische Establishment schockiert auf die jüngsten Ausschreitungen reagiert hat, dienen die Rechtsextremen letztlich ihrer Agenda des "Teile und herrsche".

Die Rechtsextremen sind durch die Krise der Tory-Partei ermutigt worden, und der faschistische Kern der Bewegung versucht, sich nach der Wahl von Starmer schnell als politische Kraft zu etablieren. In Irland sind die Proteste gegen Einwanderer*innen in rassistische Ausschreitungen, Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte und willkürliche Gewaltakte gegen PoCs ausgeartet. Es ist bezeichnend, dass die Schläger*innen, die zu den Coolock-Krawallen beigetragen haben, nach Belfast kamen, um auch hier rassistische Ausschreitungen zu veranstalten. Die Rechtsextremen, die die irische Trikolore und die Unionsflagge vor einem "Coolock sagt Nein"-Transparent schwenkten, während sie die Bedford Street hinuntermarschierten und "p***** out" riefen, waren eine eindrucksvolle visuelle Erinnerung daran, dass diese Ideologie sowohl in nationalistischen als auch in unionistischen Gemeinschaften wächst und dass der Kampf gegen die Rechtsextremen über die konfessionelle Kluft hinweg geführt werden muss, um sie zu untergraben.

Nach den Unruhen verbrachten die rechtsextremen Schläger*innen aus dem Süden Berichten zufolge die Nacht mit der UDA, die ihnen einen "Heldenempfang" bereitete. Loyalistische Paramilitärs spielten eine Schlüsselrolle bei der Organisation der rassistischen Proteste, indem sie ihre Mitglieder dazu ermutigten, sich zu "maskieren" und die gewalttätigen Angriffe auf PoCs anzuführen. Die paramilitärischen Gruppen haben in letzter Zeit zugenommen und sind zunehmend bereit, die Situation zu beeinflussen. Das Potenzial für eine weitere Zunahme der organisierten rassistischen Gewalt muss ernst genommen werden.

Junge Menschen waren sowohl bei der anfänglichen rechtsextremen Mobilisierung vor dem Rathaus als auch später bei den Ausschreitungen dabei. Sie sind von der Politik der aufeinanderfolgenden Regierungen besonders betroffen, da unsere Zukunft buchstäblich bedroht ist - aber die Bedrohung geht nicht von der Einwanderung aus, sondern von der kapitalistischen Krise, vom Zusammenbruch des Klimas und auch von der ständigen Präsenz und den Aktionen paramilitärischer Kräfte, die jungen Menschen keine bessere Zukunft bieten.

Jamie Brysons Äußerungen, in denen er Loyalist*innen davor warnt, sich mit den Rechtsextremen im Süden zu verbünden, zeigen, dass Schlüsselfiguren innerhalb des Loyalismus die bestehende sektiererische Spaltung nutzen wollen, um die Dinge noch weiter zu polarisieren. Paramilitärs nutzen die Unruhen, um sich zu behaupten und um junge Menschen zu rekrutieren. Ihr Ziel ist es, die antirassistischen Gegendemonstranten als Vertreter*innen einer einzigen Gemeinschaft darzustellen, um Menschen mit protestantischem Hintergrund, die sich den Rechtsextremen entgegenstellen, auszugrenzen. Es ist absolut wichtig, dass jede antirassistische Bewegung jeden Ausdruck von Sektierertum vermeidet und darauf abzielt, auf einer echten gemeinschaftsübergreifenden Basis aufzubauen. Dies ist ein entscheidender Weg, um der extremen Rechten den Sauerstoff abzusaugen.

Rechtsextremismus wächst aus der kapitalistischen Krise

Es ist bezeichnend, dass ein Großteil der Ausschreitungen in hart bedrängten Arbeiter*innenvierteln stattfand, die die Last der jahrzehntelangen Sparmaßnahmen zu spüren bekommen haben, die von den Regierungen in Stormont und Westminster durchgesetzt wurden und die die Armut vertieft und unsere Gemeinden in Ödland verwandelt haben. Alle politischen Parteien, die sich an Kürzungen und Privatisierungen im öffentlichen Sektor beteiligt und zugelassen haben, dass Vermieter*innen und Unternehmen unsere Gemeinden ausbluten, tragen die Verantwortung für diese Krise. Der Hauptgrund für den Mangel an Sozialwohnungen beispielsweise liegt in den politischen Entscheidungen von 2002, die Housing Executive am Bau neuer und dringend benötigter Wohnungen zu hindern.

Aufrufe zum Gewaltverzicht seitens der etablierten politischen Parteien werden die Unterstützung für rechtsextreme und rassistische Ideen nicht untergraben. Dies erfordert eine bewusste Infragestellung der verbreiteten Lügen und gleichzeitig einen Kampf zur Veränderung der Bedingungen von Entbehrung, Angst und Mangel, die die perfekten Voraussetzungen für das Wachstum rechtsextremer und rassistischer Ideen bieten.

Die rechtsextreme Szene bedient sich überall rechter Argumente und Verschwörungstheorien, um ihre rassistische Ideologie zu verbreiten. Sie verbreiten Fehlinformationen und versuchen, Ängste und Vorurteile zu schüren, indem sie die Ängste und Verwirrungen der Menschen ausnutzen, um eine breitere Plattform für den Aufbau ihrer reaktionären Bewegung zu schaffen. Dazu nutzen sie die in der Gesellschaft vorhandene Wut aus, die Wut über die Lebenshaltungskostenkrise, über den Mangel an Sozialwohnungen, über unser unterfinanziertes Gesundheitswesen und über die endlose geschlechtsspezifische Gewalt. Aber sie wollen diese Wut auf marginalisierte Menschen lenken, die bereits die Hauptlast der Gewalt des Systems zu tragen haben, anstatt sie auf den wahren Feind zu richten: das kapitalistische System, das auf Profitgier, Ausbeutung und Unterdrückung beruht.

Migrantisierte Menschen sind nicht für den Mangel an öffentlichen Dienstleistungen und Wohnungen verantwortlich, sie sind Opfer dieser Dinge. Die Schuld liegt bei den Bossen, Vermieter*innen und Milliardär*innen, die durch niedrige Löhne, hohe Mieten, Privatisierungen und Profitstreben den Reichtum aus unseren Gemeinschaften herausziehen. Der Kapitalismus ist ein System, das auf einer künstlichen Knappheit für die Arbeiter*innenklasse beruht, während die Reichen uns ausbeuten und von dem Wohlstand leben, den wir für sie schaffen. Und dieselben Kapitalist*innen, die unsere Gemeinschaften hier ausbeuten, profitieren auch von den brutalen Kriegen, der wirtschaftlichen Verwüstung und der ökologischen Katastrophe, vor denen Flüchtlinge und Migranten fliehen.

Die Rechtsextremen haben keine Antworten auf die wirklichen Krisen, mit denen die Menschen der Arbeiter*innenklasse konfrontiert sind. Sie sagen nichts über den sozialen Wohnungsbau, die Profitgier der Vermieter*innen, über höhere Löhne oder Gewerkschaftsrechte oder darüber, dass die meisten Täter*innen von geschlechtsspezifischer Gewalt ihren Opfern bekannt sind. Während sie sich auf widerliche Weise als "Verteidiger*innen von Frauen und Kindern" ausgeben, züchtet ihre Bewegung in Wirklichkeit frauenfeindliche, rassistische und transfeindliche Gewalt, und ihre Ideologie ist eng mit den frauenfeindlichen Ideen der "Manosphere" verwoben.

Wie wir die faschistische Bedrohung bekämpfen können

Der Gegenprotest war zwar zahlenmäßig weitaus stärker als die Rechtsextremen, aber das war eindeutig nicht genug. Da sie in den kommenden Tagen und Wochen erneut versuchen werden, sich auf unseren Straßen zu organisieren, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Arbeiter*innenklasse mit ihrer ganzen Kraft mobilisiert. Die vielen Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, die den Opfern der Anschläge in Belfast, Southport und im gesamten Vereinigten Königreich durch Spenden und freiwillige Hilfe bei der Beseitigung von Schäden geholfen haben, sind ein Zeichen dafür, dass die große Mehrheit der Menschen in der Gesellschaft die Gewalt der Rechtsextremen ablehnt.

Den Gewerkschaften kommt eine zentrale Rolle zu, und die von einigen in der Bewegung unternommenen Schritte zur Einberufung von Versammlungen und zur Mobilisierung ihrer Mitglieder müssen weiter ausgebaut werden. Diskussionen über die Bedeutung des antifaschistischen Widerstands sollten in unserer gesamten Bewegung und an unseren Arbeitsplätzen geführt werden. Die Arbeiter*innenbewegung ist am besten in der Lage, sich gegen die krebserregende Ideologie der Rechtsextremen zu wehren, weil sie bereits Arbeiter*innen aus allen Schichten vereint. Entscheidend ist, dass der NIC-ICTU mit seiner Massenmitgliedschaft zu einer Demonstration gegen Rassismus aufruft und diese ordnungsgemäß organisiert, um menschenwürdige Arbeitsplätze, Wohnungen und Dienstleistungen für alle zu fordern. Mit der Autorität des NIC-ICTU könnte eine solche Demonstration, wie in der Vergangenheit, eine massive Reaktion hervorrufen und alle bisherigen Proteste in den Schatten stellen.

Leider hat die Führung von ICTU/TUC stets nur zögerlich auf die Bedrohung durch die Rechtsextremen reagiert und sowohl politisch als auch praktisch zu langsam gehandelt. Echte Maßnahmen gegen den Faschismus müssen von organisierten, politisch aktiven Arbeiter*innen und Gemeinschaften ausgehen. Dies kann in Form von Schnellreaktionsorganisationen geschehen, um schnell eine große Zahl von Menschen zu mobilisieren. Sie muss auch Diskussionen über effiziente und starke Ordnerdienste beinhalten, um die Sicherheit der Teilnehmer*innen an antifaschistischen Aktionen zu gewährleisten. Darüber hinaus muss den Botschaften der Rechten durch Informations- und Schulungsveranstaltungen für Gewerkschafts- und Gemeindeaktivisten wirksam begegnet werden. Die Gewerkschaftsbewegung muss auch den notwendigen Kampf für Wohnraum, Dienstleistungen und gegen geschlechtsspezifische Gewalt aufnehmen, um rassistischem und rechtsextremem Gedankengut die Grundlage für ein weiteres Wachstum zu entziehen. Wären solche Kampagnen bereits bewusst und konsequent an verschiedenen Arbeitsplätzen und in verschiedenen Sektoren durchgeführt worden, wäre die Basis für die Rechtsextremen, die schrecklichen Messerstechereien in Southport auszunutzen, geringer gewesen.

Tausende von Menschen haben in den letzten Monaten immer wieder zur Unterstützung Palästinas mobilisiert, wobei viele den Kampf gegen die israelische Besatzung mit einem Kampf gegen Imperialismus und Rassismus verbinden. Der Anstieg von antimuslimischem Rassismus steht im Zusammenhang mit dem vom westlichen Imperialismus unterstützten Genozids in Gaza sowie der jahrzehntelangen Entmenschlichung durch die Medien und das politische Establishment während des so genannten "Kriegs gegen den Terror". Die jungen Menschen und Arbeiter*innen, die für Palästina protestiert haben, können eine wichtige Rolle beim Aufbau einer Bewegung gegen die Rechtsextremen spielen.

Gegenproteste werden ein wichtiges Mittel des Kampfes sein, aber sie müssen nachhaltig und gut organisiert sein und sich auf das Ziel konzentrieren, die Rechtsextremen daran zu hindern, unsere Stadt zu terrorisieren. Der Sinn eines Gegenprotests besteht darin, die Faschist*innen zahlenmäßig deutlich zu übertreffen und sie durch ihr zahlenmäßiges Gewicht von der Straße zu vertreiben, was ein Schlag ist und sie demoralisiert. In Bristol mobilisierten die Gegendemonstrant*innen eine große Zahl von Menschen, um sich den Rechtsextremen entgegenzustellen und sie davon abzuhalten, Hotels anzugreifen, in denen Migranten untergebracht sind.

Um dies zu erreichen, müssen wir eine organisierte, vielfältige Widerstandskraft aufbauen, die in den Betrieben und Arbeiter*innengemeinschaften verwurzelt ist. Die Aktion der Anwohner*innen von Lower Ormeau, die schnell mobilisierten, um dem rassistischen Mob den Zugang zu ihrer Gemeinde zu verwehren, ist ein leuchtendes Beispiel für die Art der notwendigen Organisation. Die Anwohner*innen stellten daraufhin Patrouillen auf, um sicherzustellen, dass das Gebiet nachts sicher war, und in den folgenden Tagen organisierten Mitglieder der muslimischen Gemeinde die Verteidigung des islamischen Zentrums von Belfast. Die Quelle des Widerstands der Arbeiter*innenklasse gegen die Rechtsextremen liegt letztlich in unserer organisierten kollektiven Kraft. Wir müssen antirassistische Netze aller Menschen aus der Arbeiter*innenklasse aufbauen, sowohl in katholischen als auch in protestantischen Gebieten, um zu besprechen, wie wir die Rechtsextremen bekämpfen können, wann und wo immer sie auftauchen.

Die einzige Kraft, die die Rechtsextremen zurückdrängen kann, ist eine Bewegung der Arbeiter*innenklasse und der Jugendlichen, die organisiert und bereit ist, diese Bedrohung zu bekämpfen. Wir können uns von den Mobilisierungen gegen die Rechten in der ganzen Welt inspirieren lassen, von Italien bis Argentinien. In Frankreich haben Millionen junger Menschen aus der Arbeiter*innenklasse gegen die rassistische Agenda der Rechtsextremen mobilisiert, wobei junge Frauen und migrantisierte Menschen eine Schlüsselrolle gespielt haben. Ein Ausgangspunkt könnte die Einberufung einer Konferenz des Widerstands sein - mit Delegationen von Gewerkschaften und Arbeiter*innenorganisationen, die feministisch, antirassistisch und queer sind.

Aufbau einer Bewegung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Kapitalismus

Jede Kampagne gegen die extreme Rechte muss die Wohnungsfrage aufgreifen, und der beste Weg, um zu zeigen, dass die Krise nicht die Schuld der Geflüchteten ist, besteht darin, aufzuzeigen, wer dafür verantwortlich ist, nämlich die Regierung, die Vermieter*innen und die privaten Bauträger. Wir müssen lautstark verkünden, dass die kapitalistische Politik der Kern der Probleme ist, mit denen wir konfrontiert sind; dass es mehr als genug Reichtum und Ressourcen gibt, damit jeder das hat, was er braucht, und dass der Kampf nicht zwischen der Arbeiter*innenklasse, sondern zwischen uns und der superreichen Kapitalist*innenklasse stattfindet. Eine Kampagne gegen die extreme Rechte muss auch den Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Queerfeindlichkeit einschließen.

Wir fordern alle jungen Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, die nicht wollen, dass ihre Gemeinschaft terrorisiert und ihre Kolleg*innen angegriffen werden, auf, sich unserer Bewegung anzuschließen. Jetzt ist es an der Zeit, in die Arena des Kampfes einzutreten, die Rechtsextremen zurückzudrängen und eine mächtige Bewegung aufzubauen, die die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse vertritt, die ein Leben frei von Gewalt, Unterdrückung und Missbrauch für alle anstrebt.

Eine solche Bewegung muss zwangsläufig das kapitalistische System in Frage stellen, ein System, das im Wesentlichen auf Rassismus, Ungleichheit, Ausbeutung und Spaltung beruht. Der Aufstieg der Rechtsextremen ist ein globaler Trend, da die herrschende Klasse zunehmend auf reaktionäre Bewegungen zurückgreift, um ihre "Diktatur der Reichen" auf der ganzen Welt durchzusetzen. Die herrschende Klasse fördert bewusst den Rassismus und schürt bei jeder Gelegenheit Rassismus und Nationalismus, um eine extrem rechte, gegen die Arbeiter*innenklasse gerichtete Agenda durchzusetzen. Die Gefahr ist offensichtlich, aber die Fähigkeit, sie zu überwinden, liegt bei den Menschen der Arbeiter*innenklasse, die zusammenstehen. Die Verwirklichung dieses Potenzials ist jetzt eine wesentliche und dringende Aufgabe. Nicht warten - aktiv werden!

 

Massenaufstand zwingt Premierministerin Sheikh Hasina zur Flucht aus Bangladesh

von Serge Jordan

zuerst veröffentlicht am 7. August 2024 auf socialistindia.org, übersetzt aus dem Englischen

Bangladesch erlebt gerade eine spektakuläre Beschleunigung der Geschichte. Am Montag, 5. August, trat Premierministerin Sheikh Hasina zurück und floh in einem Militärhubschrauber aus der Hauptstadt Dhaka zum Luftwaffenstützpunkt Hindon in Delhi, Indien, während Millionen von Menschen auf die Straßen strömten, um das Ende ihrer Herrschaft zu feiern. Erst vor einem halben Jahr war sie für ihre vierte Amtszeit in Folge vereidigt worden. Trotz einer landesweiten Ausgangssperre stürmte eine riesige Menschenmenge ihren Palast und erinnerte damit an die Szenen, die sich vor zwei Jahren in Sri Lanka abgespielt hatten. Was als Protestbewegung von Studierenden begann, hat sich zu einem regelrechten Massenaufstand ausgeweitet.

Die Studierendenproteste brachen Anfang Juli wegen der Wiedereinführung eines seit langem bestehenden Quotensystems für Stellen im öffentlichen Dienst aus, das Nachkommen von "Freiheitskämpfer*innen" begünstigt, d. h. von Personen, die 1971 für die Unabhängigkeit des Landes von Pakistan gekämpft haben. Dieses Quotensystem, das die Regierung nach massiven Protesten im Jahr 2018 auf Eis gelegt hatte, wurde im Juni dieses Jahres durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs wieder in Kraft gesetzt. Obwohl die tatsächlichen Nachkommen der Freiheitskämpfer*innen weniger als 1% der Bevölkerung ausmachen, waren 30% dieser Stellen für sie reserviert. Diese Regelung war faktisch zu einem Deckmantel für die Vettern- und Klientelwirtschaft der Regierungspartei geworden, was in einer Situation, in der zwei Fünftel der bangladeschischen Jugend arbeitslos sind, für Wut sorgte.

Unter dem Druck der Massen wurden durch ein neues Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 21.Juli die meisten Quoten aufgehoben, die Quote für ehemalige Militärs von 30% auf 5% gesenkt und 93% der Stellen nach Leistung vergeben, wobei die verbleibenden 2% für “Minderheitengruppen” reserviert sind. Dieser erste Sieg der Studierenden, der die Wirksamkeit ihres Kampfes unter Beweis stellte, hatte einen bitteren Beigeschmack: Er wurde um den Preis einer blutigen Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte und gewalttätiger Übergriffe von Schlägern der regierenden Awami-Liga und ihres Studierendenflügels, der Chhatra-Liga, erreicht. Über 200 Menschen wurden dabei massakriert.

Die Zugeständnisse des Regimes und die gewaltsamen Maßnahmen, mit denen es versuchte, die Revolte unter Kontrolle zu bringen, haben die Bewegung nur noch mehr ermutigt und angeheizt und gleichzeitig eine breitere Unterstützung gefunden. Nach einer kurzen Pause ging die Bewegung wieder auf die Straße; Forderungen nach Gerechtigkeit für die Opfer der staatlichen Gewalt und nach dem Rücktritt der Premierministerin wie der Slogan "Ek dofa ek dabi, Hasina tui kobe jabi" ("Wir haben eine Forderung: Wann wirst du gehen, Hasina?") wurden zum Tagesgeschehen.

Von der "Sprachenbewegung" von 1952 gegen die Einführung von Urdu als alleiniger Landessprache im damaligen Ostpakistan über den Massenaufstand von 1969 gegen die autokratische Herrschaft von Ayub Khan bis hin zur Bewegung gegen die Militärdiktatur von Hussain Muhammad Ershad in den späten 1980er Jahren hat der studentische Aktivismus eine zentrale Rolle in der Geschichte Bangladeschs gespielt. Eine ähnliche Dynamik war auch dieses Mal im Spiel. Hasinas Sturz lässt sich jedoch nur durch die tiefere Welle des Zornes der Bevölkerung erklären, die sich wie eine Flutwelle aufbaute und fast alle Teile der Gesellschaft, einschließlich einer wachsenden Zahl von Arbeiter*innen, erfasste.

Ein verhasstes Regime

Hasina und ihre Regierungspartei, die Awami-Liga, regieren das Land seit fast zwei Jahrzehnten mit einer zunehmend autoritären Faust. Seit 2009 hat ihr Regime jeden Teil des Staatsapparats seinen Bedürfnissen untergeordnet und jedes ernsthafte Anzeichen von Dissidenz unterdrückt, auch durch gewaltsames Verschwindenlassen und Exekutionen ohne Gerichtsverfahren. Die meisten Medien des Landes sind im Besitz von Unternehmen, die mit der Regierungspartei verbunden sind. Oppositionsparteien wie die Bangladesh Nationalist Party (BNP) und die Jamaat-e-Islami (JeI) mussten ihre Spitzenpolitiker*innen ins Gefängnis oder ins Exil schicken. Alle drei aufeinanderfolgenden Parlamentswahlen - 2013, 2018 und 2024 - waren von Gewalt gegen die Opposition und Wahlfälschung geprägt. Bei den letzten Parlamentswahlen im Januar war die Wahlbeteiligung mit offiziell 40% rekordverdächtig niedrig, obwohl die tatsächliche Zahl vermutlich viel niedriger ist.

Hasina, die lange Zeit in ausländischen Hauptstädten als Vorzeigemodell für den Wiederaufstieg und die wirtschaftliche Entwicklung Bangladeschs und als dienstälteste weibliche Regierungschefin der Welt gefeiert wurde, hat ein Regime aufgebaut, das in einem Meer von Korruption schwimmt, von dem das Quotensystem nur eine Facette ist. Ihre Regierung leitete ein Wirtschaftswachstum, das in hohem Maße von einer exportorientierten Bekleidungsindustrie abhing, die zur Freude ausländischer multinationaler Unternehmen überwiegend weibliche Arbeitskräfte für Hungerlöhne ausbeutete. Als diese Arbeiterinnen Ende letzten Jahres in einer Streikwelle ein Leben in Würde forderten, wurden sie beschimpft, massenhaft verhaftet und von der Polizei getötet.

Die Behandlung, die den protestierenden Studendierenden in diesem Sommer zuteil wurde, war außerordentlich brutal. Die Repression des Regimes hatte die höchste Zahl von Todesopfern in Bangladesch seit dem Befreiungskrieg 1971 zur Folge - ganz zu schweigen von den weit verbreiteten Folterungen, Verletzungen und Verhaftungen. Die vollständige Abschaltung des mobilen Internets und der Breitbanddienste dauerte 10 Tage. Weit davon entfernt, die Revolte niederzuschlagen, wurde diese Gewalt zu einem gewaltigen Radikalisierungsfaktor, der den Sturz Hasinas beschleunigte.

Sonntag, der 4. August, war einer jener Tage, an denen, wie Lenin sagte, "Jahrzehnte vergehen". Es war der erste Tag einer Nichtkooperationskampagne, die von der Organisation "Students Against Discrimination" (Studierende gegen Diskriminierung) ins Leben gerufen wurde, die die Proteste anführt. Die Organisator*innen hatten die Menschen aufgefordert, ihre Steuern und Rechnungen nicht zu bezahlen, nicht zur Arbeit zu erscheinen und staatliche und private Einrichtungen, Büros, Gerichte, Mühlen, Häfen und Fabriken geschlossen zu halten. Viele Beschäftigte folgten diesem Aufruf und schlossen sich der Bewegung der Kooperationsverweigerung an, auch in der wirtschaftlich wichtigen Bekleidungsindustrie.

Obwohl der Sonntag in Bangladesch ein Werktag ist, blieben zahlreiche Geschäfte und Banken in Dhaka geschlossen. Die Forderung nach Hasinas Rücktritt fand von den Großstädten bis zu kleinen Dörfern Widerhall, und Millionen von Demonstrierenden gingen auf die Straße. Bei den sich verschärfenden Zusammenstößen zwischen regimetreuen Kräften und Demonstrant*innen wurden allein an diesem Tag mehr als 100 Menschen getötet, womit sich die Zahl der Todesopfer seit Beginn der Bewegung auf über 300 erhöhte. Unter den Opfern befanden sich mehr als ein Dutzend Polizist*innen und ein halbes Dutzend Anhänger*innen der Awami-Liga, da viele der jungen Leute bereit waren, sich zu verteidigen. Die Nachricht vom Tod weiterer hundert Menschen brachte noch mehr Demonstrant*innen auf die Straße, die sich der von der Regierung verhängten Ausgangssperre widersetzten. Am Montagmorgen, als die Studierenden gegen Diskriminierung als Reaktion auf diese neue Welle des Staatsterrors zu einem "Marsch nach Dhaka" aufgerufen hatten, strömten immer mehr Menschen in die Hauptstadt. Es wurde eine vollständige Internetsperre verhängt, die um 12.30 Uhr Ortszeit wieder aufgehoben wurde. Für Hasina war es jedoch bereits zu spät.

Die Rolle der Armee

Wie die indische Nachrichten-Website The Quint berichtet, stand Armeechef General Waker-uz-Zaman unter dem Druck seiner unterstellten Offiziere, das Feuer auf die Demonstrant*innen nicht anzuordnen, was auf zunehmende Unzufriedenheit und Unentschlossenheit unter den Truppen hindeutet - in einigen Gebieten sogar auf offene Sympathie für die Bewegung. Am Sonntag tauchten im Internet Videos auf, auf denen Soldat*innen zu sehen waren, die protestierende Studierende vor Angriffen der Awami-Liga schützten.

Am Montagmorgen wies Waker-uz-Zaman die Divisionskommandeure an, nicht zu schießen, obwohl die Premierministerin der Armee klare Anweisungen gegeben hatte, den Marsch auf ihr Büro mit allen Mitteln zu verhindern. Als klar wurde, dass die Streitkräfte ihr nicht zu Hilfe kommen würden, war das Schicksal von Sheikh Hasina besiegelt. Kurz nach Hasinas Rücktritt kündigte die Armeespitze an, dass eine neue Übergangsregierung gebildet und zu diesem Zweck Gespräche mit den Studierenden und den wichtigsten Oppositionsparteien aufgenommen werden würden. Im Fernsehen forderte Waker-uz-Zaman die Öffentlichkeit auf, sich in Geduld zu üben und der Armee weiterhin zu vertrauen. "Wir werden auch dafür sorgen, dass für jeden Todesfall und jedes Verbrechen, das während der Proteste begangen wurde, Gerechtigkeit geübt wird", sagte er. Das ist wie das Versprechen eines Fuchses, den Hühnerstall zu bewachen. Waker-uz-Zaman ist niemand anderes als Hasinas Schwiegeronkel! Ohne seine Hilfe und die des Militärs wäre Hasina nicht in der Lage gewesen, eine solche Tyrannei auszuüben.

Wie Revolutionär*innen von Tunesien über den Sudan bis nach Sri Lanka immer wieder auf die harte Tour gelernt haben, ist die Flucht oder der Sturz eines Regimekopfes zwar eine Initialzündung für revolutionäres Potenzial, aber noch lange kein Garant für dessen Verwirklichung. Die verrottete Maschinerie der früheren Regime klammert sich hartnäckig an ihre Macht, während die herrschende Klasse sich darum bemüht, ein neues Machtgefüge zu bilden, das ihnen nützt, und versucht, den Status quo wiederherzustellen, gegen den sich die Massen gerade erhoben haben.

Zu den Namen, die ursprünglich für die neue Übergangsregierung ins Spiel gebracht wurden, gehörte der pensionierte General Iqbal Karim Bhuiyan, der sich als Armeechef mit der Awami-Liga verschworen hatte, um die Parlamentswahlen 2014 zu manipulieren. Solche reaktionären und korrupten Figuren verkörpern den Versuch des alten Establishments, die Kontrolle zu behalten. Auch die wichtigsten Oppositionsparteien bieten keine echte Alternative: Ihre Bilanz zeigt, dass sie das gleiche System der Klientelwirtschaft und der engen Zusammenarbeit mit dem internationalen Großkapital aufrechterhalten wie die Awami-Liga. Die rechtsgerichtete BNP hat erst am 18. Juli ihre Unterstützung für den Kampf der Studierenden erklärt, in der Hoffnung, aus einer Bewegung, mit der sie nichts zu tun hat, opportunistisch Kapital schlagen zu können.

Führende Vertreter*innen der Studierenden gegen Diskriminierung schlugen eine Übergangsregierung unter der Leitung des Nobelpreisträgers Dr. Muhammad Yunus, dem so genannten "Vater des Mikrokredits", vor. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels wird berichtet, dass Yunus tatsächlich diese Interimsregierung führen wird. Diese Entscheidung ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Präsident Mohammed Shahabuddin, den Studierendenführer*innen, den Chefs des Militärs, Wirtschaftsführer*innen und Mitgliedern der "Zivilgesellschaft".

Dies ist ein großer Fehler der Studierendenführung, die sich aus allen derartigen Vereinbarungen mit der herrschenden Klasse heraushalten sollte. Wirtschaftsmagnaten, Militärgeneräle und ein Präsident, der während seiner gesamten Laufbahn eng mit der Awami-Liga verbunden war, sollten keinen Einfluss auf den Verlauf des Aufstandes haben! Die Verwicklung von Vertreter*innen der Bewegung in solche undemokratischen Machenschaften ist eine uralte Taktik, um den Manövern der Konterrevolution eine Fassade der Legitimität zu geben und den Kampf auf der Straße zu beschwichtigen. Außerdem ist Yunus, obwohl er die Studierendenbewegung rhetorisch unterstützt hat, nach wie vor ein Banker und Verfechter des "freien Marktes", dessen Modell der Mikrokredite mehr zur Kommerzialisierung der Armut beigetragen hat als zu ihrer Linderung. Seine Vorstellung von einem "selbstlosen Kapitalismus" ist ein Widerspruch in sich, da Gewinnmaximierung und Ausbeutung in der DNA des Kapitalismus verwurzelt sind.

Kein Vertrauen in Militärs und Politiker*innen, die keine Rolle beim Aufstand gespielt haben

Indem sie der schrecklichen Gewalt getrotzt und den Abgang von Sheikh Hasina erzwungen hat, hat die revolutionäre Bewegung einen wichtigen Sieg errungen, den Millionen von Menschen in Bangladesch und in der Diaspora zu Recht feiern. Viele internationale Machthaber*innen und große Unternehmen, die ein Interesse an den berüchtigten Sweatshops in Bangladesch haben, sind zweifellos darauf bedacht, den revolutionären Geist zu bändigen.

Zu ihnen gehört nicht zuletzt Modis Regierung. Da sie seit Jahren enge Beziehungen zu Hasinas Regime unterhält, fürchtet sie die geopolitischen Folgen einer Machtverschiebung in Bangladesch, sollte das Land der Awami-Liga entgleiten. Am wichtigsten ist vielleicht die Befürchtung, dass es innerhalb von zwei Jahren zu einer zweiten Massenrevolte kommen könnte, die einen autokratischen Herrscher direkt vor seiner Haustür stürzt. Das Beispiel, das die revolutionären Massen in Bangladesch gegeben haben, ist in der Tat eine mächtige Inspirationsquelle für Arbeiter*innen, Jugendliche und Unterdrückte in der Region und weltweit, die verteidigt und nachgeahmt werden sollte.
Doch der Sieg vom Montag wurde ausschließlich durch die eigene Kraft der Massenbewegung errungen, und diese wichtige Lehre, die aus dem Blut hunderter Märtyrer*innen gezogen wurde, muss auch in Zukunft beherzigt werden, um zu verhindern, dass dieser Sieg zunichtegemacht wird. Das revolutionäre Volk darf den Manövern hinter den Kulissen zur Bildung einer Regierung mit Persönlichkeiten, die in diesem heldenhaften Kampf keine Rolle gespielt haben, kein Vertrauen schenken und sich nicht darauf einlassen. Diese Manöver zielen darauf ab, dem Aufstand die Kontrolle zu entreißen und ihn letztlich zu zerschlagen.

Stattdessen muss die Bewegung ihre Dynamik an der Basis aufrechterhalten und vertiefen, indem sie ihre eigenen demokratischen Strukturen für eine echte revolutionäre Vertretung aufbaut, unabhängig von allen Fraktionen der herrschenden Kapitalist*innenklasse. Die Einrichtung von Komitees des Aufstands in allen Orten, Bildungseinrichtungen, Betrieben und Stadtvierteln würde dazu beitragen, Forderungen demokratisch zu diskutieren und Aktionen zu koordinieren, Angriffe von staatlichen Kräften abzuwehren und den korrupten Staatsapparat und die unterdrückerische Herrschaft der Fabrikmanager*innen systematisch in Frage zu stellen. Sie würde auch den Grundstein für eine revolutionäre Regierung legen, die aus echten Vertreter*innen besteht, die demokratisch von den Studierenden, Arbeiter*innen und allen kämpfenden Kräften des Aufstands gewählt werden und diesen gegenüber rechenschaftspflichtig sind.

Diese Kräfte haben bemerkenswerte Energie, Mut und organisatorisches Geschick bewiesen - Qualitäten, die in die Zukunft weisen. Am Dienstag, als die Polizei streikte, übernahmen Jugendliche und Studierende das Kommando, regelten den Verkehr und organisierten die Säuberung der Straßen. Diese Momentaufnahme zeigt das Potenzial für eine Gesellschaft, die in revolutionärer Demokratie und echter Solidarität verwurzelt ist. Aber dieses Potenzial muss wirksam genutzt und organisiert werden, sonst wird es untergehen.

Die Bewegung muss sich mobilisieren und mutig mit ihren eigenen Forderungen voranschreiten und ein Programm vorlegen, das alle fortschrittlichen Teile der Gesellschaft in den Kampf für einen revolutionären Wandel einbeziehen kann. Sie muss für echte Demokratie auf allen Ebenen kämpfen - das Recht zu streiken, Gewerkschaften zu gründen und zu protestieren, ohne Schikanen befürchten zu müssen, die sofortige Freilassung aller inhaftierten Studierenden, Demonstrant*innen und politischen Aktivist*innen, die Entwaffnung und Verhaftung all derer, die für die Tötung von Demonstrant*innen verantwortlich sind; sie könnte sich sogar dafür einsetzen, dass die Soldat*innen ihre eigenen Offizier*innen wählen und auf diese Weise die Willkür der Armeechefs in Frage stellen und die Entlassung der berüchtigtsten Figuren in den Streit- und Sicherheitskräften erleichtern.

Einigen Berichten zufolge wurden Hindus im Zuge der allgemeinen Unruhen von radikalen islamistischen Elementen ins Visier genommen. Während diese Berichte von der hinduistischen extremen Rechten und den Modi-Anhängern in Indien maßlos übertrieben werden, um den Aufstand in Bangladesch zu diskreditieren und Beispiele interreligiöser Solidarität (wie die Bewachung von Tempeln und Kirchen durch Muslime im ganzen Land) zu überschatten, bleibt die Gefahr des religiösen Kommunalismus real. Die Bewegung muss sich entschieden gegen jede Form der Unterdrückung und Verfolgung von Minderheiten und gegen jeden Versuch, die Spaltung der Gemeinschaften zu schüren, wehren und für die völlige Gleichberechtigung aller Teile der Gesellschaft eintreten. Wie ein von CNN zitierter Student erklärte: "Solange unsere religiösen und ethnischen Minderheiten nicht geschützt sind und ihnen nicht auch Gerechtigkeit widerfährt, ist die Nation nicht frei."

Natürlich sollte der Kampf für menschenwürdige Arbeitsplätze und einen an die Inflation angepassten, existenzsichernden Lohn für alle ganz oben auf der Tagesordnung der Bewegungen stehen. Aber diese Themen können nicht vom Gesamtbild getrennt werden: der Tatsache, dass der Reichtum Bangladeschs überwiegend einer kleinen Elite und ausländischen Unternehmen zufließt, während immer mehr Bangladescher*innen in bittere Armut, Hunger, Lohndruck und Arbeitslosigkeit gedrängt werden. Sheikh Hasina und ihre Familie besitzen selbst beträchtlichen Reichtum, mit großen Investitionen und Vermögenswerten in landwirtschaftlichen Flächen, Immobilien, Fischzucht und anderen. Das in New York ansässige Forschungsunternehmen Wealth-X hat Bangladesch als eines der fünf am schnellsten wachsenden Länder für "vermögende Privatpersonen" identifiziert. Laut dem Oxfam-Jahresbericht 2023 über Ungleichheit kontrollieren die reichsten 10% der Bevölkerung inzwischen 41% des Gesamteinkommens des Landes, während die unteren 10% nur 1,41% des Anteils erhalten.

Jede Übergangsregierung wird außerdem aufgefordert werden, die Spar- und Privatisierungsmaßnahmen fortzusetzen, denen die Hasina-geführte Regierung 2023 als Bedingung für ein 4,7 Milliarden Dollar schweres IWF-Rettungspaket zugestimmt hat - was die chronische Arbeitslosigkeit, die Armutslöhne, die Ungleichheiten und die schrecklichen Arbeitsbedingungen, die das Leben von Millionen Menschen bestimmen, nur noch verschlimmert. Der Aufstand muss für radikale Maßnahmen eintreten, um die systemische und parasitäre Ausplünderung der Wirtschaft zu bekämpfen, die den Kern der Bewegung ausmacht. Dies bedeutet, die armenfeindlichen Diktate des IWF abzulehnen und die strategischen Wirtschaftseinheiten des Landes - wie die Banken, den Energiesektor und die Bekleidungsindustrie - in demokratisches öffentliches Eigentum und unter Arbeiter*innenkontrolle zu stellen, mit dem Ziel, die Produktion zu planen und die Gesellschaft gemäß den menschlichen Bedürfnissen und nicht gemäß dem privaten Profit neu zu organisieren. Mit dem auf diese Weise kollektiv verwalteten Reichtum der Gesellschaft könnten eine allgemeine Verkürzung der Wochenarbeitszeit und umfangreiche öffentliche Investitionen in nachhaltige und gesellschaftlich nützliche Projekte vorgenommen werden. Diese Maßnahmen könnten Millionen von Arbeitsplätzen schaffen und die Lebensqualität aller Menschen erheblich verbessern. Eine revolutionäre sozialistische Umgestaltung ist der einzige Weg, um das endlose Leid zu beenden, das der Kapitalismus für die Studierenden, Jugendlichen, Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Armen in Bangladesch bereithält.

 

 

Kenia: Die Vorboten einer Revolution?

"Wir haben keine Arbeit und keine Zukunft, also haben wir alle Zeit der Welt, euch zu stürzen, und nichts zu verlieren, wenn wir euch bekämpfen." - 26-jähriger Protestierender im Juni, Nairobi
Bianca Boros

In Kenia überschlagen sich aktuell die Ereignisse. Der erst 2022 ins Amt berufene Präsident William Ruto löste Mitte Juli sein Kabinett aufgrund der eskalierenden Proteste gegen die von der Regierung geplante Steuerreform auf. Eine junge Generation an Protestierenden zieht schon seit Mitte Juni 2024 auf die Straßen, um gegen die Verabschiedung der Reform zu protestieren. (In Nigeria werden sogar aktuell auch bundesweite Proteste für die kommenden Wochen geplant, die an jene in Kenia anknüpfen!) In Nairobi gingen die Proteste so weit, dass das Parlament am 25. Juni besetzt und teilweise in Brand gesetzt wurde, nachdem Ruto die Protestierenden öffentlich “organisierte Kriminelle” nannte. Die Regierung antwortete mit dem härtesten aller Mittel: Der Einberufung des Militärs. Mindestens 50 Menschen haben in den aktuellen Protesten schon ihr Leben verloren, mehrere Hunderte wurden verletzt, abermals Hunderte verharren in Polizeigewahrsam. In Nairobi sind die Gefängnisse dermaßen überfüllt, dass sich sogar in ihnen Revolte entwickeln, u.a. initiiert von im Zuge der Proteste inhaftierten Frauengruppen.

Die “Generation Z” führt diese Proteste auf den Straßen von Nairobi, Mombasa, Kisumu und vielen weiteren Städten und Dörfern an. In Nairobi schreien junge Studierende lauthals “Ruto must go" und fordern seinen Rücktritt, während die von der Polizei zerstörten Barrikaden wieder aufgebaut werden. Obwohl die Protestierenden ehrenamtlich eigene kollektive Hospize, Notdienste und Rechtsberatungen eingerichtet haben, geht die Polizei weiterhin repressiv und mit Waffen, Wasserwerfern und Tränengas gegen sie vor. Die Kenianer*innen bleiben wütend und laut.

Was passiert in Kenia?

Was die Proteste politisch so einmalig macht, ist, dass sie weder von einer politischen Partei noch von einer zentralen (Nichtregierungs-)Organisation aus angeführt werden und ganz klar das Misstrauen der jungen Kenianer*innen als Klasse gegenüber dem Staat ausdrücken. Über die Sozialen Medien wird mittels den Hashtags #RejectFinanceBill2024 oder #TotalShutdownKenya eine Bewegung von wütenden jungen Massen getragen - und das nicht nur auf die Straße. Sie zeigt eine neue politische Perspektive auf, die revolutionäres Potential für die Organisierung der Arbeiter*innenklasse bedeuten kann - trotz ethnischer Konflikte und anderen dem Kapitalismus und Kolonialismus verschuldeten Unterdrückungen. 

Die Bewegung hat bis zum 3. Juli bereits 234.000 US-Dollar an Spenden eingenommen, die sie für die Versorgung der Protestierenden aufwendet. Krankenhausrechnungen der Verletzten, Beerdigungskosten für die von der Polizei Getöteten und selbstorganisierte Rechtsberatungen werden dadurch abgedeckt. Auf spontan erstelltem Flyer-Material wurden neben dem klaren Boykott der Steuerreform weitere Forderungen aufgestellt: Lebensmittelspenden für unterversorgte und verletzte Protestierende, die Besetzung von Bars und Clubs für die Mobilisierung, das Verbot, in Kirchen Politiker*innen Redebeiträge zu überlassen, Unterschriftenlisten gegen die Umsetzung der Reform und schließlich der Aufruf zu einem Generalstreik am 25. Juni, der aufgrund mangelnder Koordination und fehlender Unterstützung der Gewerkschaften nicht stattgefunden hat. Weil die Regierung aber zunehmend unter Druck geraten ist, rudert Ruto zurück, bremst die Steuerreform aus und sagt Mitte Juli, er wolle einen Schritt auf die Protestierenden zugehen. Wie sehr die Regierung unter Druck steht, zeigt die nun notwendig gewordene Auflösung des Kabinetts.

Das Parlament brennt und der IWF ist schuld

Stellt man sich die Frage nach dem Ursprung der Proteste, so müssen wir den Blick auf die aktuelle Regierung und ihre Staatskrise werfen. Neben anhaltenden Streiks im Gesundheitssektor ziehen seit Jänner schon Frauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt auf die Straßen der kenianischen Städte. Die Welle der Proteste gegen die Femizide hat den Weg für die aktuelle Bewegung geebnet. All diese Krisen zeigen, dass der 2022 gewählte Präsident Ruto seine Versprechen über die Verbesserung der Lebenssituation der Kenianer*innen nicht hält. Die Wahlbeteiligung war bei den unter 30-Jährigen unter 40%, was deren Enttäuschung in das Establishment klar zeigt. Ruto präsentierte sich damals noch als nicht korrumpierbarer Kandidat, der sich von den alteingesessenen, neoliberalen Politiker*innen abheben würde, sich aber tatsächlich nicht viel von den anderen neoliberalen Herrschenden unterscheidet. Die Regierung steht seit ihrem Bestehen dermaßen unter Druck, dass sie mittlerweile 60% ihrer Einnahmen für die Schuldentilgung dem IWF abtreten muss. Ein Drittel davon deckt nur die Rückzahlung der Kreditzinsen ab. Der kenianische Staatshaushalt hat insgesamt etwa $80 Milliarden Schulden. Davon gehören etwa $35 Milliarden ausländischen Gläubiger*innen, beispielsweise aus China, der Weltbank oder dem IWF selbst. 

Die immense Verschuldung ausländischer, kapitalistischer Institutionen gegenüber lässt sich auf einen Wirtschaftsboom der 2000er-Jahre zurückführen. Als die Regierung bei verschiedenen internationalen Gläubiger*innen Kredite aufnahm, um öffentliche Infrastrukturprojekte, die Förderung der Landwirtschaft und ihre Unternehmen zu finanzieren, kam es gleichzeitig zu in der Region üblichen und anhaltenden Krisen: Vom politischen Missmanagement um Covid19 bis zu Naturkatastrophen und ineffektiven, neoliberalen Steuerstrategien. Die Staatsverschuldung hat sich seit der Bankenkrise 2008 mehr als verdoppelt. Covid19 hat dann eine zusätzliche Finanzkrise ausgelöst, der ausbleibende (Getreide-)Handel mit der Ukraine seit dem Krieg unterstützt die wirtschaftliche Misere Kenias zusätzlich. Erst im Mai 2024 sorgte der letzte Tropensturm in Ostafrika für heftige Regenfälle und Überschwemmungen mit etlichen Toten. Der wirtschaftliche und infrastrukturelle Wiederaufbau nach diesen Krisen hat die Notwendigkeit der IWF-Kredite ausgelöst. Im Gegenzug für die Kredite hat sich die Regierung für die Privatisierung von staatlichen Unternehmen, die Streichung von Subventionen und Steuererhöhungen entscheiden müssen. 

Aus leeren Taschen ist nichts zu holen

Gerade junge Kenianer*innen sind seit Jahren schon mit der hohen (Jugend-)Arbeitslosigkeit, hohen Lebenshaltungskosten, der stagnierenden Wirtschaft, mit den Dürrekatastrophen, Nahrungsmittelkrisen und der korrupten, tatenlosen Regierung konfrontiert. Während Unterernährung und fehlender Zugang zu Wasser und Nahrungsmittel die Massen an einem guten Leben hindern, gehören die kenianischen Politiker*innen zu den mitunter bestbezahltesten Afrikas. Gleichzeitig sind sie mit Korruptionsskandalen konfrontiert und posten in den Sozialen Medien von ihrem luxuriösen Lebensstilen.

Was das Fass die letzten Wochen zum Überlaufen gebracht hat, ist die erwähnte Staatskrise, die nun die Kenianer*innen selbst ausbaden sollen: Die Staatskasse ist leer und der IWF zwingt die Regierung dazu, die Kredite aus der Vergangenheit zurückzuzahlen. Wie im Kapitalismus auch in neokolonialen Ländern wie Kenia üblich, leiden darunter die arbeitenden Massen: Geplant war eine 16%-ige Mehrwertsteuer und die Erhöhungen von Verbrauchs-, Einkommens- und Kraftfahrzeugsteuern. Das führt mitunter dazu, dass besonders die Preise von Hygiene- und Menstruationsartikeln, von Lebensmitteln wie Öl und Brot, aber auch digitalen Finanzüberweisungen angehoben werden sollten. Es ist eine Steuer, die auf die leistbare Alltagsversorgung der armen, ausgebrannten Bevölkerung abzielt, darüber hinaus aber besonders Kinder, Jugendliche und Frauen angreift. Die Steuerreform ist nicht nur ein gezielter Angriff der weiteren Unterdrückung gegen die wütenden Kenianer*innen. Dass die Steuereinnahmen auch über eine mögliche Vermögenssteuer auf die Bestverdienenden gehen könnten, haben die Regierenden natürlich nicht in der Reform berücksichtigt. Anstatt die Reichen zu besteuern und sich gegen die Rückzahlung der Kredite zu wehren, will man gerade auf Grundnahrungsmittel und Produkte des täglichen Bedarfs die Preise erhöhen. Was die Regierung damit erreichen will, ist klar: Die Schulden gegenüber dem IWF zu tilgen - auf dem Rücken der leidenden Massen.

Neokoloniale Politik und Kenias historischer Kampf gegen den Imperialismus

Das Problem hinter Krisen wie solchen ist die kapitalistische Logik und die Fortführung neokolonialer Politik u.a. durch die Strukturanpassungsprogramme gegenüber ehemals kolonisierten Ländern wie Kenia. Diese Strukturanpassungsprogramme sind zinsgünstige Kredite, die dazu verhelfen sollen, Strukturreformen durchzuführen. Diese Programme, aber auch die Schulden sind eines der vielen konkreten neokolonialen Werkzeuge von Institutionen wie dem IWF. Aber auch die blutige Geschichte der britischen Kolonialisierung hängt mit der anhaltenden Unterdrückung zusammen. Die deutsche und britische Kolonialherrschaft haben nach Jahrzehnten an systematischer Unterdrückung, Landraub, Ausbeutung und Versklavung erst dann zu einem Ende geführt, als sich 1952 eine Unabhängigkeitsbewegung von “unten” mobilisierte und so einer der blutigsten Kolonialkriege der britischen Kolonialregierung seinen Lauf nahm. Die Land and Freedom Army organisierte sich rund um Jomo Kenyatta, dem 1963 ersten Präsidenten Kenias (der Entkolonialisierungskampf Kenias ist aus britischer Sicht auch bekannt als “Mau Mau-Aufstand”) und setzte die Unabhängigkeit auf dem Papier um.

Die 1960er-Jahre zeichneten sich durch einen anhaltenden Kampf gegen die von den Kolonialherren indoktrinierten Eliten aus: Sozialistische Bewegungen wurden niedergeschlagen, Oppositionsparteien unterdrückt, jede de facto Organisierung der Jugend gegen die vom britischen Kapitalismus aufgebauten Eliten verboten oder mit Polizeirepression verhindert. Das erinnert uns stark an die Szenen der Proteste von heute. Die Unabhängigkeit hieß damals schon keine Befreiung. Das Problem bleibt heute bestehen. Weil sich die regierende Elite nach der Unabhängigkeit um Jomo Kenyatta (damals Befreiungskämpfer), ähnlich wie heute Ruto an den Verhandlungstisch mit den ehemaligen Kolonialherren setzte (die Familie Kenyatta ist heute übrigens eine der reichsten Familien Kenias), bleiben die kapitalistischen und imperialistischen Unterdrückungen heute aufrecht. 

Dasselbe Spiel spielt heute Ruto mit dem IWF: Ausländisches Kapital verbindet sich mit den herrschenden Klassen Kenias, indem es als “Vermittler” bei der Ausbeutung der Arbeiter*innen unterstützt, um die Ressourcen des Landes weiterhin für sich zu gewinnen und die Ausbeutungsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Das ist nicht erfunden, es ist nachweisbar: Heute saugen bis zu 100 britische Unternehmen den Ressourcenreichtum des Landes weiter ab. Der IWF hält die (un)sichtbare, neokoloniale Hand weiterhin über den Entwicklungen Kenias und nimmt sich, was er braucht. Kenianer*innen bleiben und werden so weiterhin heute zum Spielball westlicher, multinationaler Unternehmen und Organisationen. 

Was braucht es?

Wenn 2024 die Rückzahlung des IWF-Kredites die Erhöhung von kenianischen Steuereinnahmen bedeutet, dann heißt das gleichzeitig eine Kürzung von sozialen Dienstleistungen: Es wird an allem gespart, wovon die Kenianer*innen ohnehin zu wenig haben: Gesundheit, Bildung, Kinderbetreuung, Löhne, Gewaltschutz usw. Gerade letzteres kommt in Kenia zu kurz. Zwischen 2016 und heute kam es zu 500 gemeldeten Femiziden. Die Dunkelziffer ist wie in allen Fällen vermutlich noch viel höher. Alleine im Jänner 2024 wurden 10 Frauen ermordet. Ein 33-jähriger Serienmörder gesteht Mitte Juli, dass er in den letzten 2 Jahren 42 Frauen ermordet hat. Diese schrecklichen Femizide, jede Form der geschlechtsspezifische Gewalt, Rassismus, Queer- und Transfeindlichkeit und Sexismus sind die konkreten Auswirkungen der patriarchalen Strukturen, die der Kapitalismus in Kenia aufrechterhält. Obwohl schon über das Frühjahr hinweg die Protestierenden gegen geschlechtsspezifische Gewalt durch die Straßen zogen, bleiben feministische Forderungen und eine Verknüpfung vom Kampf gegen diese spezifischen Unterdrückungen mit dem Kampf gegen die Steuerreform leider noch aus. 

Schon 2023 kam es aber immer wieder zu militanten Ausschreitungen gegen die erhöhten Lebenshaltungskosten und die Inflation (von 6%). 2017 streikten Beschäftigte im Gesundheitsbereich für 100 Tage durchgehend und erst heuer im März gab es einen 56-tägigen Generalstreik der staatlichen Gesundheitsbeschäftigten. Dabei sind mehr als 7.000 Menschen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne auf die Straße gegangen. Leider gab es - ähnlich wie jetzt zu befürchten ist - ein Abkommen zwischen Gewerkschaften und Regierung mit unzureichenden Veränderungen für die Arbeiter*innen.

Noch nie war aber so klar, dass die verarmten, unterdrückten, arbeitslosen, hungernden Massen in Kenia ihre Wut in so eine Form von Widerstand gießen, die zu Straßensperren, einem brennenden Parlament und der Auflösung der Regierung führt. Was nötig wäre: Eine Verbindung all dieser Kämpfe von der neuen, wütenden und jungen Bewegung an Kenianer*innen. Wir sehen schon jetzt, dass sich diese fortgeschrittene Schicht unabhängig von Ethnie, Religion und Herkunft sehr spontan, mit notwendigen, wichtigen Forderungen an die Regierung, aber noch ohne politischen Rückhalt, organisiert. Die fehlende Unterstützung politischer Parteien mag ein Vorteil in der Flexibilität, Spontanität und dem klaren Widerstand gegen das etablierte Establishment sein, gleichzeitig fehlt es ihr derzeit aber noch an einer klaren marxistischen Organisation oder Partei, die die Bewegung unterstützen müsste. Es wäre die Aufgabe einer marxistischen Organisation, ein klares Programm aufzustellen, das den möglichen Sturz der Regierung im Zuge des notwendigen Sturzes des Kapitalismus als Wurzel der sozialen Miseren aufzeigt. Dazu braucht es als ersten Schritt die Verbindung all der unterschiedlichen Proteste gegen die Femizide, die Regierung und vor allem der Streikbewegungen am Arbeitsplatz. 

Das aktuelle, starke Bewusstsein dieser jungen kämpferischen Schichten zeigt sich anhand der Forderungen, die sie aufstellen, anhand des Drucks, den sie gegen die Regierung aufgebaut haben, und dem daraus resultierenden Erfolg, dass nun sogar der Präsident sein Kabinett auflösen musste. Eine so starke Bewegung von unten hat es in dieser Form seit dem Unabhängigkeitskampf nicht mehr gegeben. Ein Generalstreik Ende Juni hätte der gesamten Bewegung noch den nötigen Halt gegeben, um den Aufbau von Komitees an Arbeiter*innen, Studierenden und Schüler*innen in Betrieben, Universitäten und Schulen zu initiieren und sich als Arbeiter*innenklasse zu formieren. 

Diese neue revolutionäre Bewegung der Generation Z in Kenia bedarf unserer absoluten Solidarität. Was es jetzt bräuchte, ist nicht auf “bessere”, halbe Lösungen der Regierenden zu warten, sondern sich konkret kollektiv in den Städten und Dörfern Kenias in Komitees zu organisieren, um Streiks in allen Sektoren (aber v.a. im Gesundheitsbereich, wo ohnehin schon die letzten Monate gestreikt wurde), Proteste an die Universitäten zu bringen und nicht nur die Steuerreform zu boykottieren, sondern die gesamte Rückzahlung von IWF-Krediten, die zu einer weiteren Verarmung der Bevölkerung führen.

Der Erlass von Schulden des IWF und die Überführung der Banken und Finanzinstitutionen in öffentliches Eigentum sind damit verbunden auch unerlässlich, denn Institutionen wie der IWF selbst sind nicht reformierbar. So wenig wie eine neue Regierungsbildung den wütenden Arbeiter*innen in Kenia Hoffnung geben wird, so notwendig ist jetzt eine kollektive, strukturierte Organisierung der jungen Bewegung von unten. Ein Kampf gegen die Steuerreform und gegen die Regierung kann also zu einem Kampf gegen den Neokolonialismus, gegen imperialistische Eliten und für eine echte, sozialistische Alternative für ein besseres Leben in Kenia werden. Die aktuelle Bewegung in Kenia kann aber auch eine neue politische Perspektive für andere Länder Afrikas - von Südafrika bis zum Sudan - bieten, um sich von neokolonialen und kapitalistischen Unterdrückungen zu befreien. Unser Vertrauen in diese jungen, wütenden Massen ist groß. Wir schulden ihnen unsere Solidarität und unterstützen jeden Befreiungskampf gegen das neokoloniale, imperialistische System, das vom Kapitalismus gestützt wird!

Sitasimama waovu wakitawala!

Wir werden es nicht ertragen, wenn die Bösen herrschen.

(Einer der Chants, der sich bei den Protesten etabliert[e].)

 

Frankreich: Was bedeutet der Erfolg der Linken?

ISA-Redaktion

Die Niederlage der extremen Rechten in der zweiten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich wird von People of Color, Frauen, LGBTQIA+-Personen, Migrant*innen und jungen, linken Menschen aus der Arbeiter*innenklasse in ganz Frankreich, Europa und darüber hinaus gefeiert. Es zeigt, dass die Rechten besiegt werden können, wenn es Massenmobilisierungen und eine ernstzunehmende linke Alternative gibt. Das ist eine wichtige Erfahrung vor dem Hintergrund einer weltweit aufkommenden und ermutigten extremen Rechten.

Die „Neue Volksfront” (NFP), ein Linksbündnis, erreichte den ersten Platz. Zu ihrem Programm gehören die Senkung des Pensionsantrittsalters auf 60 Jahre, die Einführung einer Vermögenssteuer für Superreiche, die Anerkennung des Staates Palästina und das Verbot von Waffenlieferungen an den israelischen Staat, die Anhebung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst, die Kopplung der Gehälter an die Inflation sowie die Erhöhung der Wohn- und Jugendbeihilfen. Die „Rassemblement National“ (RN, ehem. „Front National“) kam auf den dritten Platz. Interessanterweise war die Wahlbeteiligung so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ganz im Gegensatz zu den Wahlen in Großbritannien vergangene Woche, wo die „Labour Party” mit gerade einmal 34% der Stimmen einen „lieblosen Erdrutschsieg” erlitt und die Wahlbeteiligung die zweitniedrigste seit 1885 war.

Die Anzahl der Stimmen für die RN ist dennoch eine ernsthafte Bedrohung, die sich in Zukunft noch verstärken kann. Wahlerfolge der Rechten bedeuten immer eine Gefahr für People of Color, Migrant*innen, queere Menschen und Frauen. Wie wir auch in Österreich sehen, führt das Erstarken dieser Kräfte zu einem Anstieg von Rassismus, Islamophobie, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus und Sexismus.

Nach dieser Wahl ist der Aufbau einer Bewegung gegen Rechtsextremismus, Unterdrückung und Kapitalismus umso dringender. Der Erfolg muss genutzt werden, um die Rechtsextremen, Rassismus und Sexismus weiter zurückzudrängen und den Kampf um echte soziale Verbesserungen und eine Systemalternative voranzutreiben. Dafür müssen demokratische, antifaschistische Komitees an Arbeitsplätzen, Schulen, Hochschulen und in Städten in ganz Frankreich aufgebaut werden, um die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu vereinen. Solche Strukturen an der Basis sind entscheidend, um die RN aber auch Macron zu besiegen.

Das muss mit dem Kampf für eine linke Regierung, die die Forderungen der NFP tatsächlich umsetzt, verbunden werden. Es darf keine Koalitionsvereinbarungen mit den rechten Parteien geben, um eine Regierung zu bilden. Diese Parteien schaden der Arbeiter*innenklasse und den Unterdrückten und haben erst die Bedingungen für das Erstarkender RN geschaffen. Sie haben die rassistische und islamfeindliche Hetze der RN übernommen, viele Menschen durch ihre Sparprogramme enttäuscht und sie so in die Hände der rassistischen, rechtsextremen Parteien getrieben. Macron wurde zu Recht als "Präsident der Reichen" bezeichnet, der die Renten brutal angriff, den genozidalen Krieg in Gaza unterstützte und die Rechte von Migrant*innen einschränkte.  

Eine linke Regierung, in Kombination mit einer Organisierung von unten und dem Kampf der Arbeiter*innenklasse, der Jugendlichen und der Unterdrückten in den Betrieben sowie auf den Straßen, muss die alltäglichen Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung mit der Notwendigkeit eines revolutionären, sozialistischen Wandels verbinden. Das bedeutet, mit der krisenhaften, ausbeuterischen und unterdrückerischen kapitalistischen Ordnung zu brechen und dafür zu kämpfen, dass die Schlüsselsektoren der französischen Wirtschaft in gesellschaftliches Eigentum unter Verwaltung der Arbeiter*innenklasse überführt werden. Ein sozialistisches Frankreich kann ein Leuchtfeuer der Hoffnung im Kampf für ein demokratisches, sozialistisches Europa sein, das so dringend nötig ist.

 

Belgien: Widerstand gegen Rechtsruck

von Jan Millonig

Die Lokalwahlen in Belgien am 9. Juni haben die politische Landschaft drastisch verändert. Auch wenn die Wahlergebnisse hinter den düstersten Prognosen zurückblieben, erzielten rechtsextreme und nationalistische Parteien beunruhigende Erfolge. “Vlaams Belang” erreichte 22% und die NVA wurde zur stärksten Partei in Flandern. Zusammen kontrollieren sie nun die Hälfte der Sitze im flämischen Parlament. Auch in Wallonien erzielten rechte Parteien insgesamt erstmals über 50%.

Diese Entwicklungen führten zu einer Welle von antifaschistischen Protesten, inspiriert durch die Bewegung in Frankreich. Die „Antifaschistische Koordination Belgien”, initiiert von Aktivist*innen der LSP/PSL (ISA in Belgien), bündelte linke Gruppen, Gewerkschaften und andere Organisationen, um dem Rechtsruck entgegenzutreten. Zwei Tage nach den Wahlen mobilisierten sie in Brüssel und Lüttich jeweils etwa 4000 junge Menschen. Eine weitere Großdemonstration mit 10.000 Teilnehmerinnen fand am Sonntag nach den Wahlen in Brüssel statt.

Ein bedeutender Faktor im Wahlkampf war die Hetze gegen Trans- und LGBTQI+-Rechte, was den Rechten sogar eher schadete. Dennoch ist mit Angriffen auf diese Rechte zu rechnen. Deswegen organisierte LSP/PSL bzw. ROSA Anfang Juli einen Pride-Protest in Gent und wird den Slogan “Pride is a Protest” auch in die Regenbogenparaden in Lüttich und Antwerpen tragen.

 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Bosnien und Herzegowina: der Balkan im ständigen Umbruch

von Bianca Boros

Die politische Frage zu Bosnien und Herzegowina (BiH) gehört zu einer der kompliziertesten Fragen in Bezug auf den europäischen Imperialismus heute. Lenins Analysen in  „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ sind dabei aber hilfreich: “So verschieden die Abhängigkeit der Länder sein kann, wie politisch formal sie auch bestehen mögen - in Wirklichkeit sind sie in einem Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit gefangen.” Warum und wie deutlich das im Fall von BiH zutrifft, erläutern wir in diesem Artikel.

Im März 2024 empfahl die EU-Kommission Beitrittsverhandlungen mit dem Westbalkan-Staat. Zentral bei den Verhandlungen ist die Situation um die EU-Außengrenzen und damit auch die Flüchtlingspolitik. Damit bemüht sich die EU aufgrund eigener Interessen um weiteren Einfluss am Balkan. Der Imperialismus wirkt im BiH heute nicht mehr als klassischer Kolonialismus, sondern viel mehr über seine aufgezwungene, ökonomische Abhängigkeit: Was sich früher durch militärische Besetzung des osmanischen Reiches oder der Habsburger-Monarchie zu eigen gemacht wurde, wird heute von 200 österreichischen Unternehmen, der größten saudischen Shoppingmall und ethno-nationalen, korrupten Parteien kontrolliert. Wo sie sich bereichern, schauen die Menschen durch die Finger: Die Arbeitslosenrate liegt seit 3 Jahren konstant bei über 30%, die Jugendarbeitslosigkeit bei 60%! Einer UN-Statistik aus 2020 zur Folge, wird die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung durch Abwanderung bis 2050 um 50% schrumpfen.

Bekannt für eines der kompliziertesten Regierungssysteme der Welt, teilt sich die geographische Region BiH zusätzlich in 2 Entitäten auf: 1. Bosnien  und die Herzegowina und 2. die Republika Srpska. Diese Aufteilung und die gespaltenen Regierungssysteme sind ein Erbe des Bosnien-Krieges der 1990er-Jahre. Die politischen Gegebenheiten heute sind das Erbe aus der Zeit Jugoslawiens, der verpassten Chance einer sozialistischen Föderation. Sehen wir uns die Lehren aus der Geschichte näher an:

Vom Sozialismus in einem Land zum Ethnonationalismus

Der Kampf gegen den Faschismus war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Massenbewegung unter Führung der Kommunistischen Partei von alleine über 400.000 Widerständigen in der Volksbefreiungsarmee geworden. So wurde Jugoslawien nach dem Ende des Krieges zu einem europäischen Sonderfall eines Vielvölkerstaates auf Basis einer verstaatlichten Wirtschaft, der verschiedenen Ethnien zunächst Minderheitenrechte zusprach und in den ersten Jahren  wirtschaftlich florierte. Im komplizierten Nachkriegs-Gefüge setzte Staatschef Tito zwar auf Unabhängigkeit von der stalinistischen Sowjetunion, aber auch auf ein Auskommen mit der NATO. Statt internationaler Revolution übernahm er die stalin’sche Formel des “Sozialismus in einem Land”; eine politische und ökonomische Sackgasse. Druck aus dem Ausland und Eigeninteressen der politischen Bürokratie an der Wirtschaft führten zu einer wirtschaftlichen Sackgasse. Die Reaktion der Regierenden in den Teilrepubliken war die Hinwendung zum Nationalismus, um von den Krisen abzulenken.

Die Zeit ab den 1980er-Jahren war geprägt von nationalistischer Hetze über “ethnisch Andere” und selektiver, manipulierender Geschichtsinterpretationen. Die neuen nationalistischen Parteien konnten an der Politik der Erinnerungs- und Identitätskonstruktion der Tito-Ära anschließen und sie für sich nutzen. Anfang der 1990er Jahre brach im Zuge der nationalistischen Ansprüche an unterschiedliche Teilregionen der Bosnien-Krieg aus. Wo 1991 noch 80.000 Menschen bei einem Konzert für den Frieden feierten, trug die politisch instrumentalisierte Hetze über Religionen, Herkunft, Name und Zugehörigkeit zu einem Freund-Feind-Schema bei, das zwischen 1992 und 1995 zu einem Genozid mit 100.000 Toten führte. 8.000 Bosniak*innen alleine wurden in Srebrenica ermordet. Fast 17.000, die als getötet gezählt werden, gelten bis heute als verschollen. 

Unabhängigkeit: Set up to fail?

Was nach dem Krieg auch heute noch in BiH zurückbleibt, ist eine tiefe Krise, die nach wie vor ethno-nationalistischen, neofaschistischen und imperialen Kräften aus Russland, China und Saudi-Arabien, aber auch Österreich den Weg für ihren Einfluss ebnet. So sind praktisch alle wichtigen Wirtschaftszweige des Landes unter Kontrolle ausländischer Konzere. 85% des Finanzsektors gehören zum Beispiel Banken aus Österreich. In jedem Klassenkonflikt in BiH stehen die Arbeiter*innen also nicht nur “ihrer” nationalen herrschenden Klasse entgegen, sondern immer auch ausländischen Konzernen. Dadurch bekommt jeder Klassenkampf eine nationale Note.

Ehemalige Kriegsverbrecher*innen werden von verschiedenen Seiten verherrlicht, sind teilweise heute immer noch in der Politik tätig. Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska leugnet den Genozid in Srebrenica und fordert den Aufbau eines Großreiches für Serbien.

Das Friedensabkommen von Dayton 1995 hat einen “Hohen Repräsentanten” für BiH festgesetzt, um für politische Stabilität zu sorgen. Der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt ist als Repräsentant Teil der bosnischen Staatsgewalt und kann ohne Unterstützung vom Parlament Gesetze erlassen und Behörden bewachen. 2022 haben tausende Menschen gegen Schmidt und sein Gesetz zur Budgetpolitik demonstriert. In diesem Gesetz wurden nicht nur die Politiker*innengehälter einmal mehr erhöht, Schmidt stellte auch direkt nach den Parlamentswahlen ein Gesetz, das serbische und kroatische Politiker*innen besser stellte. Das zeigt einmal mehr die direkten, neokolonialen Ansprüche in BiH.

Was braucht es?

Um eine internationale Einheit der Arbeiter*innenklasse aufzubauen, braucht es eine Aufarbeitung dieser traumatischen Geschichte und den Verbrechen, sowie eine Anerkennung der Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung. Es braucht eine Arbeiter*innenbewegung, die sich auch aus dem Bewusstsein einer internationalen Arbeiter*innenklasse in ihrer Forderung nach einem besseren Leben, Freiheit und Selbstbestimmung ergibt. Beispiele für solches Potential haben wir 2023 gesehen: Proteste für höhere Löhne der Gesundheitsbediensteten in Sarajevo, Demonstrationen in Banja Luka mit derselben Forderung im öffentlichen Dienst. Im ganzen Land demonstrieren Frauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt und die jüngsten Femizide.

Beim „bosnischen Frühling“ 2014 haben die Arbeiter*innen verschiedener privatisierter Fabriken in Tuzla, Sarajevo, Mostar und anderen kleineren Städten nach etlichen Jahren an Streiks für ihre Rechte gekämpft: Ihnen wurde über Monate, teilweise Jahre hinweg weder Lohn noch Sozialversicherung bezahlt. Arbeitslose, Pensionist*innen, Student*innen und die Arbeiter*innen selbst organisierten Plenarsitzungen, um Forderungen an die Politik zu stellen. Ein Arbeiter der Fabrik in Tuzla sagte im öffentlichen Treffen: „Wir sind nicht wie die Politiker[*innen], sie trennen die Leute. Wir, die Arbeiter*innen sind von verschiedenen Nationen und Ethnien, aber wir sind alle vereint.“ Die gemeinsame Organisierung zeigt Potential und Notwendigkeit einer geeinten Arbeiter*innenklasse für eine bessere Zukunft in BiH, aber auch international.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

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