Internationales

Müllfreie Wirtschaft?

„Das Ziel ist Null: Kein Müll, Keine Emissionen, Kein ökologischer Fußabdruck“ (C2C, S.67)
Margarita Wolf

Michael Braungart und William McDonough haben 2002 mit dem „Cradle2Cradle-Prinzip“ (C2C) einen wichtigen Input in die Umweltbewegung geleistet. Die Idee: Alle Materialen, die in der Natur existieren oder vom Menschen erzeugt werden, dürfen nie als Müll enden. Wie das funktionieren soll? Das Modell geht von zwei Kreisläufen aus, dem biologischen und dem technischen, in denen alle Stoffe zirkulieren, nicht an Wert verlieren und immer wieder verwendet werden können, egal ob im Endverbrauch oder der Herstellung. Eine Idee ist auch, Produkte nicht mehr zu kaufen, sondern zu leasen, also nach Gebrauch wieder zurückzugeben bzw. umzutauschen.

Die Realität heute: Waren werden mit Sollbruchstellen produziert, eine Reparatur ist meist teurer als ein neues Produkt, das alte landet auf dem Müll und wird im besten Fall teilweise recycelt. Recyclen ist wichtig, aber nicht ausreichend, um die Müllberge zu minimieren. Im Kapitalismus wird auch mit Müll und Recycling Geld gemacht und das nicht zum Wohle der Menschheit. Da werden Müllmengen verkauft und um die halbe Welt transportiert (lt. ZDF exportierte 2018 Deutschland 4 Millionen Tonnen zustimmungspflichtige Abfälle, davon 17% nach Malaysien). Das bedeutet eine Verlagerung des Müllproblems und keine nachhaltige Entsorgung.

Die Idee: C2C geht darüber hinaus, bloß die bestmögliche Form des Recyclings zu sein. Es geht darum, schon vor der Produktion darüber nachzudenken, welche Materialien, Energie verwendet werden und wie diese in einem ständigen Kreislauf bleiben können. Sie sollen weder verunreinigt werden noch als Müll enden. Das Ziel heißt: „Zurück-zur-Natur“ aber nicht als Gegensatz zu Industrie und Fortschritt, sondern auf Basis hochentwickelter Technologie und Ausschöpfung aller Möglichkeiten.

Ist das Umsetzbar? Das wird nur in einer geplanten Wirtschaft, die sich an den Bedürfnissen von Planet und Menschen orientiert, möglich sein. Eine Wirtschaft mit tiefgreifenden demokratischen Strukturen, die solche Ideen nachhaltig umsetzen könnte. Die Gründer des C2C Prinzip sehen das anders. Sie versuchen, kapitalistische Firmen im hier und jetzt davon zu überzeugen, nach dem C2C Prinzip zu produzieren. Ihr Argument dabei ist oft, dass die Herstellung nachhaltig billiger werden würde, dass sich ein marktwirtschaftlicher Vorteil erzielen lässt. Doch die kapitalistische Wettbewerbswirtschaft basiert auf der Ausbeutung von Mensch und Natur. Was in Summe sinnvoll ist, scheitert am notwendigen und systemimanenten Konkurrenzprinzip. Und die Politik folgt den Notwendigkeiten des Profits, nicht des Planeten. Radikal-ökologische Konzepte wie C2C haben spannende Ansätze, die eine radikale Umwälzung der Gesellschaft und der Wirtschaft brauchen, um in die Tat umgesetzt zu werden. Es reicht nicht, das kapitalistische System, das der Umweltverschmutzung zu Grunde liegt, zu recyclen, wir müssen es auf den Müll werfen.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Wer hat eine Lösung für die Klimakrise?

Rebecca Green, (Socialist Alternative, ISA in den USA)

In einem Artikel mit dem Titel „Verstehen, welche Herausforderung es ist, eine entsetzliche Zukunft abzuwenden“ kommen 17 Klimaforscher*innen aus unterschiedlichen Ländern zu dem Schluss: „Das Ausmaß der Bedrohungen für die Biosphäre und all ihre Arten, darunter auch die Menschheit, ist derart groß, dass es selbst für gut unterrichtete Expert*innen schwierig ist es zu erfassen“.

Dass die Temperaturen global ansteigen werden, ist uns allen bekannt. Die o.g. Wissenschaftler*innen haben nun aber eine wesentlich längere Liste an Symptomen vorgelegt, die uns als Folge einer ungehemmten Klimakatastrophe bevorstehen: massenweises Artensterben, ein nie dagewesenes Ausmaß an Migrationsbewegungen, Zunahme von Pandemien, extreme Wetterphänomene sowie Lebensmittel-, Trinkwasser- und Bodenknappheit. Zu dieser vielschichtigen Mehrfach-Krise wird es kommen, wenn wir nicht von oben bis unten für eine Grunderneuerung der Gesellschaft und das Ende des profitgetriebenen Wirtschaftssystems namens Kapitalismus kämpfen.

Unter der Zwischenüberschrift „Politisches Unvermögen“ liefern diese Wissenschaftler*innen Details zur widersprüchlichen Realität einer sich rapide verschlechternden Klimasituation und der verstärkten Kollision von Landesinteressen, die – sollten sie weiter fortbestehen – der Art von internationaler Zusammenarbeit im Wege stehen, die nötig ist, um eine ausgewachsene Klimakatastrophe zu verhindern.

Die Lage ist derart gravierend, dass sich ein Teil der herrschenden Klasse schon zum Handeln gezwungen sieht. So wurde das „Weltwirtschaftsforum 2020“ vom Magazin „Time“ bereits zur „Klimakonferenz“ hochstilisiert. US-Präsident Biden hat seine vom Klimawandel geprägten Vorschläge für ein Infrastruktur-Programm vorgelegt und Unternehmen haben Zusagen zur Reduzierung ihrer Emissionen gemacht. Für manche ist all dies Grund zur Hoffnung. Doch selbst, wenn Einigkeit herrschen würde, dass man gegen den Klimawandel kämpfen muss, geht der Wandel, der auf Grundlage einer auf Wettbewerb basierenden freien Marktwirtschaft möglich ist, viel zu langsam vonstatten. Wir brauchen eine sozialistische Transformation der Gesellschaft auf ökologischer Grundlage, die nur durch eine echte Revolte der weltweiten Arbeiterklasse erreicht werden kann.

Das Klima – eine Situationsbeschreibung

Die Marke von einem Grad Celsius weltweiten Temperaturanstiegs im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter ist bereits durchbrochen. Aktuell befinden wir uns auf dem Weg, zwischen 2030 und 2052 die Anstiegsmarke von 1,5°C zu erreichen. Selbst wenn die Ziele zur Reduzierung der Emissionen aus dem viel gepriesenen Pariser Klimaabkommen erreicht werden (was bisher fast nirgendwo der Fall ist), würden wir im Jahr 2100 bei einem Temperaturanstieg von 2,6°C bis 3,1°C liegen. Angaben der „international scientific community“ (Wissenschaftsgemeinschaft) zufolge wäre aber alles über der 1,5°C-Marke eine Katastrophe.

Mit der durch die Kohle befeuerten industriellen Revolution und dem Aufstieg des britischen Kapitalismus haben die Mengen an ausgestoßenem CO2, Methan und Stickstoff (drei langlebige Treibhausgase, die zur Erderwärmung beitragen) seit 1750 begonnen dramatisch zuzunehmen. Der Imperialismus hat dann die Methoden der Verbrennung fossiler Energieträger, des Ressourcenabbaus und der industriellen Produktion auf den gesamten Globus ausgeweitet.

Heute sind die Strom- und Wärmeerzeugung die größten Quellen für Treibhausgase. Mit weltweit 25 Prozent tragen sie vor allem zur Erwärmung des Planeten bei, gefolgt von der Land- und Forstwirtschaft und anderen Formen der Bodennutzung (24 Prozent) sowie der Industrie mit 21 Prozent. Seit 1992 haben die CO2-Emissionen der Energiewirtschaft und der Industrie um 60 Prozent zugenommen. Von 1990 bis 2005 sind die Emissionen in der Landwirtschaft um 17 Prozent gestiegen. Der absolute Großteil dieser Treihausgas-Emissionen seit dem Aufstieg des Kapitalismus bis heute stammt unmittelbar von den Konzernen.

Wissenschaftler*innen haben davor gewarnt, dass wir eine Reihe von entscheidenden Momenten entweder erreicht oder schon überschritten haben, bei denen es sich im Klimasystem um „unumkehrbare Wegmarken“ handelt – mit nicht mehr vermeidbaren dramatischen Folgen. Die Umwandlung des Regenwalds am Amazonas in eine Savannenlandschaft, das Abschmelzen des Eisschilds in der westlichen Antarktis und der völlige Zusammenbruch des Golfstroms sind bereits in vollem Gange. Die Konsequenz ist ein Kollaps der Biodiversität, riesige Kohlenstoff- und Methanablagerungen in der Atmosphäre, ein extremer Anstieg des Meeresspiegels sowie nicht mehr zu kontrollierende Wetterverhältnisse.

In den letzten 20 Jahren hat die Anzahl an klimarelevanten Extremwetter-Phänomenen weltweit um 83 Prozent zugenommen, wodurch 1,23 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Große Überschwemmungen sind doppelt so oft vorgekommen, und um 40 Prozent häufiger zu verzeichnen waren schwere Stürme. Im vergangenen Jahr kam es im Westen zur schlimmsten Waldbrandperiode seit Aufzeichnung der Wetterdaten. Der Südosten hat alle Rekorde bei der Anzahl der Tropenstürme und Hurrikane gebrochen.

All dies wird sich exponentiell noch zuspitzen. Gerade jetzt erleben die Menschen an der Westküste die schlimmste Dürre seit 1.200 Jahren. Ausbleibender Regen und eine zu geringe Schneedecke (gefrorene Reservoirs, aus denen im Frühjahr und Sommer Wasser abgegeben wird) deuten darauf hin, dass uns die schlimmste Saison bevorsteht, die es jemals gegeben hat. Und schon jetzt wüten jeweils zwei Flächenbrände in Kalifornien, Arizona und Neu Mexiko. Mit einer Erwärmung des Klimas und immer schlimmeren Dürren wird es den Prognosen der Bundesregierung zufolge bis 2040 westlich des Missouri „nahezu flächendeckend“ zu extremer Wasserknappheit kommen. Der Grundwasserleiter Ogallala Aquifer, der fast ein Drittel der Grundwassermengen des Landes liefert und von dem ein Sechstel der weltweiten Getreideproduktion abhängt, könnte bis Ende des Jahrhunderts versiegen.

Als Reaktion auf die Dürren haben die Behörden des Bundesstaats New Mexico die Landwirt*innen, die Wasser aus dem Rio Grande und anderen Flüssen entnehmen, angewiesen, den Anbau von Getreide zu unterlassen, wenn es nicht absolut nötig ist. Überschwemmungen, Dürren, Stürme, Flächenbrände und die globale Erwärmung stellen eine dramatische Bedrohung für unsere Wohnungen, unsere Wohnviertel und unsere Wasser- und Lebensmittelversorgung dar. Weltweit leben bereits eine halbe Milliarde Menschen an Orten, die aufgrund zerstörerischer landwirtschaftlicher Praktiken und der Erwärmung zu Wüsten werden. Dadurch werden die Möglichkeiten eliminiert, überhaupt noch etwas anbauen zu können. Was die Lebensmittelversorgung angeht, hängen weltweit eine Milliarde Menschen von Korallenriffen ab. Jetzt droht ihnen wegen der Erwärmung der Meere die Vertreibung.

Der auf das Schmelzen des Polareises zurückzuführende Anstieg des Meeresspiegels wird extreme Überschwemmungen, den Verlust bisheriger Küstenbereiche für die Lebensmittelproduktion und die Umsiedlung ganzer Siedlungsflächen nach sich ziehen. Bis 2060 geht man von 13 Millionen Menschen aus, die allein in den USA gezwungen sein werden, die dann überschwemmten Küstenbereiche zu verlassen. Das entspräche der größten Migrationswelle innerhalb des Landes in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

2019 haben wetterbedingte Gefahrenlagen 24,9 Millionen Menschen in 140 Ländern zum Wegzug gezwungen. Schätzungen gehen davon aus, dass es bis 2050 mit Bezug auf die dauerhafte Lebensmittel- und Wasserknappheit zu einer umweltbedingten Migrationswelle kommen wird, von der 200 Million bis eine Milliarde Menschen betroffen sein werden. Das bedeutet, dass im schlimmsten Fall einer von sieben Menschen weltweit gezwungen sein wird, wegen des Klimawandels in den nächsten 30 Jahren seinen angestammten Wohnort zu verlassen. In den USA ist bereits jetzt ein historischer Andrang an Menschen an der Südgrenze zu verzeichnen, der größtenteils auf verheerende Hurrikane und anhaltende Dürren in El Salvador und Honduras zurückzuführen ist.

Eine massive Abwanderung wird darüber hinaus zum Rückgang der zur Verfügung stehenden Ressourcen beitragen. Ein Beispiel: Es ist möglich, dass Atlanta (Bundesstaat Georgia) bis zum Jahr 2100 eine Viertel Million mehr Einwohner*innen haben wird, die nur aufgrund des steigenden Meeresspiegels in die Stadt getrieben werden. Doch bis dahin könnte Atlanta seine Wasservorräte wegen der Dürren verlieren und von sich verschlimmernden Flächenbränden betroffen sein, die wegen steigender Hitze auftreten.

Und als ob all dies noch nicht schlimm genug wäre, drohen zunehmend bevölkerte Städte in vielen Ländern und eine durch klimabedingte Migration angespannte öffentliche Daseinsvorsorge zu wesentlich dramatischeren Verläufen im Falle künftiger Ausbrüche von Krankheiten zu führen. Wissenschaftler*innen warnen schon jetzt vor viel mehr Todesfällen durch Pandemien in der Zukunft, was sie vor allem mit großflächiger Entwaldung und der Verringerung der Biodiversität in Verbindung bringen.

Eine der erschreckendsten und medial nur wenig beachteten Wahrheiten ist, dass wir uns „wissenschaftlich unbestreitbar“ bereits auf dem Weg in die sechste große Welle des Artensterbens befinden. Eine Million (von sieben bis 10 Millionen existierenden) Gattungen sind unmittelbar vom Aussterben bedroht. 40 Prozent der Pflanzen gelten als vom Aussterben bedroht und bei den Insekten (darunter auch Bestäuber, die bei der Befruchtung und somit bei der Lebensmittelproduktion unverzichtbar sind) ist ein rapider Rückgang festzustellen. Ein Artensterben dieses Ausmaßes wird tiefgreifende und komplexe Konsequenzen für die globalen Ökosysteme haben. Dadurch wird die Erwärmung weiter verstärkt, die Lebensmittelknappheit verschärft, die Luft- und Wasserqualität verringert, Überschwemmungen und Flächenbrände werden an Häufigkeit und Intensität zunehmen und der Gesundheitszustand der Menschen somit noch mehr beeinträchtigt.

Die Kosten der Klimakrise

All diese beängstigenden Folgen des hemmungslosen Verbrauchs fossiler Brennstoffe sind den Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Unternehmensvorständen seit Jahrzehnten bekannt. Doch als die Wissenschaftler*innen in den frühen 1980er Jahren tatsächlich begannen, Alarm zu schlagen, führte die Deregulierung der Industrie und die globale Expansion unter der Ägide des Neoliberalismus dazu, dass der CO2-Ausstoß auf ein Höchstmaß gesteigert wurde. Die regelrecht schrankenlose Plünderung der Umwelt durch den Kapitalismus im Namen der Profite ist so weit gegangen, dass sie nun zur Bedrohung der eigenen ökonomischen und politischen Sicherheit führt.

Der Kapitalismus hat die Folgen für die Umwelt in die Berechnung seiner Profite nie mit einbezogen. Und das, obwohl es eine Tatsache ist, dass all der Reichtum erst aus den Rohstoffen der Erde und der Arbeit entsteht, die die Arbeiter*innen leisten. Einem kürzlich veröffentlichten Bericht der UNO ist zu entnehmen, dass kein Unternehmen mehr profitabel wäre, würde es die Kosten für den Schaden an der Umwelt übernehmen, den es angerichtet hat. Seit Jahrhunderten schon herrscht ein schwerwiegendes Klima-Problem. Doch unser ökonomisches und politisches System hat diese Tatsache offenkundig ignoriert, weil eine nachhaltige Lebensweise fundamental dem Drang des Kapitalismus entgegensteht, konstant zu expandieren, Kosten zu senken und Profite zu maximieren.

Schätzungen gehen davon aus, dass in Folge klimabedingter Extremwetter-Ereignisse in den letzten 20 Jahren weltweit ökonomische Kosten i.H.v. 2,97 Billionen US-Dollar entstanden sind. Folgt man den extremsten Szenarien zur Erderwärmung, so könnten allein den USA aufgrund von Schäden durch den Klimawandel Kosten i.H.v. 520 Milliarden Dollar jährlich entstehen. Lebensmittel- und Wasserknappheit, zerstörte Infrastruktur, noch schlimmere und mit wesentlich stärkerer Verbreitung auftretende Krankheiten und damit einhergehende Instabilität, der Kollaps der Tourismusbranche und weitere zu erwartende Folgen werden außerordentliche Kosten verursachen.

Die „Internationale Energiebehörde“ (IEA), die die Politik weltweit in Klimafragen berät und die bis dato immer dazu geraten hat, auf fossile Brennstoffe zurückzugreifen, hat diesen Monat einen schockierenden Bericht veröffentlicht, in dem das Ziel definiert wird, die CO2-Emissionen bis 2050 auf Netto-Null zurückzufahren. Das bedeutet demnach, ab dem Jahr 2035 den Verkauf von neuen PKW mit Verbrennungsmotor zu verbieten, bis 2040 sämtliche mit Kohle und Öl betriebenen Anlagen stillzulegen und neue Investitionen in Öl oder Erdgas bereits in diesem Jahr zu unterbinden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Entwicklung von erneuerbaren Energietechnologien auf ein massiv höheres Niveau anzuheben und neue zu schaffen. Um die gigantische Veränderung zu illustrieren, die dazu erforderlich wäre, so wird weiter ausgeführt, müsste für den Bereich der Solarenergie „der zur Zeit weltgrößte Solarpark so gut wie jeden Tag neu in Betrieb“ genommen werden. Dazu wäre bis 2030 eine weltweite Verdreifachung der Investitionen in saubere Energien auf dann rund vier Billionen Dollar nötig.

Leider hat sich die IEA selbst mitschuldig gemacht, indem sie eine globale Wirtschaft aufrecht erhalten hat, deren Grundlage die fossilen Energieträger sind. Wie also, fragt man sich, können wir das Ruder noch herumreißen?

Reaktionen auf internationaler Ebene

Im April hatte Joe Biden zu einem Klimagipfel geladen, an dem die wichtigsten Regierungs- und Staatschef*innen dieser Welt teilgenommen haben. Fast alle von ihnen repräsentieren Länder, die ihre völlig unzulänglichen Zusagen aus dem Pariser Klimaabkommen nicht eingehalten haben. Das hat sie jedoch nicht daran gehindert, sich selbstdarstellerisch an Diskussionen darüber zu beteiligen, wie schlimm doch die Klimakrise sei.

Xi Jinping, der Staatspräsident Chinas, nahm ebenfalls an diesem Gipfeltreffen teil und erneuerte sein Versprechen, vor dem Jahr 2030 die Emmissionen seines Landes herunterzufahren und bis 2060 einen neutralen CO2-Haushalt zu erreichen. Kurz danach ließ allerdings sein Außenminister Wang Yi eine Erklärung veröffentlichen, in der es heißt: „Wenn die Vereinigten Staaten nicht weiter in die inneren Angelegenheiten Chinas eingreifen, dann können wir zu einer angenehmeren Art der Kooperation kommen, die zu mehr Vorteilen für beide Länder und die Welt führen kann“. Bezogen auf das Klima ist die Kooperation Chinas mit Biden im Wesentlichen nur ein Baustein in den allgemeinen Beziehungen beider Staaten. Und diese verschlechtern sich gerade wegen der inner-imperialistischen Rivalität.

Um die Zusage von Xi Jinping zur CO2-Neutralität bis 2060 einzuhalten, müsste China bis dahin 21 Billionen US-Dollar investieren, damit den Brennstoff Kohle nicht mehr Bestandteil des Energiesystems des Landes ist. Zur Erreichung dieses Ziels ist der Bereich der „Öko-Finanzierung“ in China rapide ausgeweitet worden. In den vergangenen fünf Jahren ist dieser Bereich zum zweitgrößten der Welt nach den USA geworden. Das Klima könnte tatsächlich zum wesentlichen Feld werden, auf dem die beiden Länder um die globale Dominanz kämpfen.

In den USA hat Biden einen Vorschlag für ein Infrastrukturpaket im Umfang von 2,25 Billionen Dollar vorgelegt. Damit werden Gelder versprochen, mit denen die Infrastruktur erneuert und klimaunabhängig gemacht, die Wende weg vom Verbrennungsmotor geschafft und die Forschung und Entwicklung von erneuerbaren Energietechnologien etc. beschleunigt werden soll. In seiner Rede, mit der er diesen Plan bekanntgab, erwähnte Biden China sechs Mal und stellte das Ganze als Versuch dar, die Produktion in den USA und die Wirtschaft derart zu gestalten, dass damit der wachsende ökonomische Einfluss Chinas untergraben wird.

Das Wirtschaftsmodell Chinas umfasst ein sehr hohes Maß an staatlicher Intervention. Das hat der herrschenden Klasse des Landes einen gewissen Vorteil verschafft, um die wesentlichen Bereiche auszubauen. Dies vor Augen schlägt Biden nun ein Maß an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft vor, die es in den USA seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Von einem Teil der Konzernvertreter*innen wird dies akzeptiert, da man erkennt, dass es angesichts des Ausmaßes der Krise die einzige Option darstellt.

Wie sind aber die anderen Länder aufgetreten? Für ärmere Länder, die aufgrund der von der Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise drastisch betroffen sind und in denen es weiterhin zu neuen Ausbrüchen kommt, weil die reichen Länder ihre Impfstoffe zurückhalten, ist es schlicht und ergreifend keine Option, Billionen von Dollar in Programme zur Rettung des Klimas zu stecken.

Bidens Infrastruktur-Paket ist weit davon entfernt, das zu erreichen, was nötig wäre, um der Klimakrise in den USA zu begegnen. Historisch betrachtet ist das Land der größte Produzent von Treibhausgasen weltweit. Und Bidens Versprechungen, 2,5 Milliarden Dollar zur Finanzierung von Klima-Projekten im Ausland bereit zu stellen, ist eine ebenso große Beleidigung wie seine Zusage, 20 Millionen Impfdosen an andere Länder abzugeben. Armen Ländern, von denen viele eine Volkswirtschaft haben, die (wie Nigeria, Venezuela und der Irak) vollständig von herrkömmlichen Energieträgern abhängig sind, wurden mit Beginn des Jahres 2020 Finanzhilfen von 100 Milliarden Dollar jährlich versprochen. Doch dabei handelt es sich nur um ein weiteres Pariser Klimaversprechen, das nicht eingehalten worden ist.

Dass die armen Länder, die als Folge von Imperialismus und Kolonialismus unter einer immensen Schuldenlast zu leiden haben, bei der Bekämpfung der Klimakrise (und aktuell im Kampf gegen die Pandemie) allein gelassen werden, entspricht der mörderischen Logik des Kapitalismus, der auf dem Nationalstaat basiert. Die Herangehensweise an die Klima-Problematik unter dem Motto „America first“ ist zum Scheitern verurteilt und wird nur zur Verstärkung massiver Wanderungswellen führen. Millionen verarmter und arbeitender Menschen aus dem Süden suchen an der Türschwelle der entwickelten kapitalistischen Länder eine sichere Bleibe.

Divergierende Reaktionen der herrschenden Klasse

Schon das reichlich beschränkte Infrastruktur-Paket von Biden steht vor großen Herausforderungen. Die „Demokraten“ werden absolut geschlossen auftreten (somit ihren nach rechts tendierenden Parteikollegen Joe Manchin überzeugen müssen, der mit West Virginia den zweitgrößten Kohleproduzenten unter den US-Bundesstaaten vertritt) und somit auf das Mittel eines speziellen Prozesses namens „budget reconciliation“ zurückgreifen müssen, um das Gesamtpaket in seiner ursprünglichen Fassung durchsetzen zu können. Die „Republikaner“ – und vor allem diejenigen unter ihnen, die von fossilen Brennstoffen abhängige Bundesstaaten wie Texas vertreten, haben bereits signalisiert, heftigen Widerstand dagegen leisten zu wollen.

Die Kostenfrage, die angesichts der Klimakrise zunehmend auf die Tagesordnung kommt, bringt Teile der herrschenden Klasse dazu, über das „Wie weiter?“ nachzudenken. Das hat sich an der Debatte gezeigt, die anlässlich des Infrastruktur-Pakets von Biden begonnen hat. Viele Banken, die seit Jahrzehnten stark in die großen Umweltverschmutzer investiert haben, werden zur Frage der Energiewende wie Bremsklötze auftreten, weil das Abschreiben dieser Investitionen zu herben Verlusten in ihren Bilanzen führen würde.

Allerdings macht sich allmählich sogar unter den Giganten des Finanzkapitals die Erkenntnis breit, dass der Klimawandel unfassbare geldpolitische Risiken mit sich bringt. „BlackRock“, der weltgrößte Vermögensverwalter, geht davon aus, dass der Klimawandel zu einer „fundamentalen Umgestaltung des Finanzsektors“ führen wird. Ähnlicher Gestalt ist das Verhalten von Konzernen wie Amazon, Coca-Cola und Microsoft, die für die nächsten Jahrzehnte schon Zusagen zur CO2-Neutralität abgegeben haben. Für diese Unternehmen stellen die katastrophalen Klima-Szenarien die größte Bedrohung für ihre mittel- und langfristigen Profite dar, was bedeutet, dass sie gewillt sind, umgehend und offensiv zu investieren. Biden wurde durch die Gefahr, den Kalten Krieg gegen China verlieren zu können und in Erwägung ziehen zu müssen, dass der US-Imperialismus global weiter geschwächt wird, dazu gebracht ebenfalls zu handeln.

Im Juni 2020 hat „Goldman Sachs“ angekündigt, dass die Ausgaben für erneuerbare Energien in Kürze die Investitionen in die Gas- und Ölförderung überflügeln werden und dass saubere Energieträger für Investitionsmöglichkeiten bis 2030 i.H.v. 16 Billionen Dollar stehen. Auch wurde auf die steigenden Kosten bei der Förderung fossiler Brennstoffe verwiesen (die umso mehr zunehmen, wenn die Subventionen für fossile Energieträger – wie in Bidens Infrastrukturplan vorgesehen – aufgehoben werden). Das könnte zu höheren Öl- und Gaspreisen führen sowie stärkere Investitionen in die Erneuerbaren in Gang setzen. Es ist möglich, dass wir noch Politiker*innen und Großkonzerne erleben, die sich den erneuerbaren Energien zuwenden, um den völligen Klima-Kollaps zu verhindern und in einen Wachstumsmarkt einzusteigen.

Beklatschen sollten wir solche Unternehmen und Politiker*innen dafür natürlich nicht. Sie haben so lange gewartet bis klar, dass sie ansonsten Geld verlieren. Und wir sollten keine großen Illusionen haben, dass ihre Maßnahmen irgendwie ausreichen würden.

Was nun?

Um diese Krise ganz konkret angehen zu können, ist ein globaler Plan zur vollständigen Neuausrichtung der Energieversorgung nötig, die im kommenden Jahrzehnt zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energieträgern basieren muss. Die Produktion von KFZ mit Verbrennungsmotor muss beendet werden, die Produktion von Elektro-Fahrzeugen ist drastisch auszuweiten und das öffentliche Verkehrsnetz muss massiv ausgebaut werden. Für Flugzeuge, die Eisenbahn und Frachtschiffe steht die Entwicklung alternativer Antriebssysteme an, die Abhängigkeit von fossilen Kraftstoffen muss definitiv aufhören. Wohnraum muss umweltgerecht umgerüstet und klimafest gemacht werden. Um Extremwetter-Phänomenen standzuhalten und angesichts der zu erwartenden Klima-Flüchtlinge müssen neue umweltgerechte Wohnungen gebaut und eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden. Es muss ein weltumfassendes Aufforstungsprogramm her und unser System der Lebensmittelproduktion muss von Grund auf überholt werden. Großflächige landwirtschaftliche Monokulturen müssen durch lokale biologische Alternativen ersetzt werden. Die Investitionen in bisher noch unbekannte Technologien müssen auf ein historisch hohes Niveau angehoben werden, damit wir neue Unterstützung bekommen im Umgang mit der Krise in den Bereichen der Wasseraufbereitung und -knappheit, der Infektionskrankheiten, der Korallenriffe und des Kollapses bei den Populationen bestäubender Insekten. Es gibt noch etliche weitere Aufgaben, die hier nicht alle aufgezählt werden können.

Trotz sich verändernder Herangehensweise, die innerhalb der herrschenden Klasse festzustellen ist, wird sich deren Ansatz um einiges zu langsam verändern. Der Grund dafür ist die Logik des Kapitalismus. Inner-imperialistische Rivalitäten führen dazu, dass Länder klimagerechte Technologien in Konkurrenz zueinander entwickeln und patentieren, anstatt zu einer Zusammenarbeit zu kommen, die Voraussetzung für eine rasche Produktion und den notwendigen Austausch an den besten Innovationen wäre. Und die armen Länder werden wieder einmal zurückgelassen. Konzerne werden ihre Profite weiterhin an den Finanzmärkten investieren, anstatt ihre Produktionspotentiale in die Richtung auszuweiten, die die Menschheit braucht. Die im Einklang mit den fossilen Energieträgern stehenden Interessen, die Agrarindustrie, weitere große Umweltsünder und die ihnen gegenüber loyal eingestellten Politiker*innen werden sich mit aller Heftigkeit dafür einsetzen, die Wende in eine nachhaltige Zukunft zu blockieren. Auch wenn wir global zunehmend mehr an staatlicher Intervention feststellen können, so werden die Niveaus, die zur Milderung einer Engpass-Lage nötig wären, mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit nicht erreicht. Dasselbe gilt für das Tempo, das an den Tag gelegt werden müsste, auf diese Weise aber bestimmt nicht geschafft wird.

Deshalb müssen wir die Dinge in die eigene Hand nehmen. Es waren die Massenproteste gegen den Klimawandel, die dazu geführt haben, dass das Thema überhaupt auf der Agenda gelandet ist. Und wir müssen alles dafür tun, um diese Bewegung drastisch auszuweiten. Sobald die Schulen nach den Sommerferien wieder aufmachen, sollten Schulstreiks geplant und koordiniert werden. Bestandteil dieser Planung sollte sein, immer mehr Schüler*innen, Lehrer*innen und das gesamte Schulpersonal mit einzubeziehen. Die von den jungen Leuten angeführte Bewegung muss auch dringend den Bezug zur gesamten Arbeiter*innenklasse herstellen. Kurzfristig kann das so aussehen, dass streikende Schüler*innen sich mit Aufrufen an Gewerkschaftsgliederungen vor Ort richten, um sie zur Teilnahme an Demonstrationen und Aktionstagen einzuladen.

Entscheidend wird die Einbeziehung von Beschäftigten der klimaschädlichen Branchen sein. Unmittelbar arbeiten zehn Millionen Menschen weltweit direkt für die fossile Brennstoff-Industrie. Zahlreiche weitere Arbeiter*innen hängen mit ihren Arbeitsplätzen von diesen und anderen höchst umweltschädlichen Industriezweigen ab. Um eine ausreichend starke Bewegung mit genügend politischer und ökonomischer Macht aufzubauen, müssen die Forderungen, die das Klima und die Umwelt betreffen, mit Forderungen verknüpft werden, diese Arbeiter*innen ohne Lohneinbußen oder Verlust an sonstigen Leistungen und mit der Garantie über hohe Löhne und gewerkschaftliche Vertretung in neue nachhaltige Arbeitsfelder zu übernehmen.

Mit dieser Art des organizing sind entscheidende Erfolge zur Ausweitung der erneuerbaren Energien, für ein Aufforstungsprogramm und den generellen Schutz der Ressourcen möglich. Auf diese Weise können wir Zeit gewinnen. Entscheidend wird allerdings sein, diese Auseinandersetzungen wieder und wieder und mit massenhafter Beteiligung zu führen, um die vielschichtigen und komplexen Dynamiken der Klimakrise angehen zu können, die auf ein System zurückzuführen sind, das auf der Ausbeutung von Arbeitskräften und unserer Erde basiert.

Auf langfristige Sicht besteht die Lösung der Klimakrise in der Tat darin, die Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage komplett neu zu strukturieren. Das kann nur von der internationalen Arbeiterklasse geleistet werden, die sich in eine mächtige Auseinandersetzung begeben und den Kampf gegen das kapitalistische System führen muss.

Soll die Klimakrise im nötigen Zeitrahmen abgeschwächt werden, dann muss das System beendet werden, das sich an der Profitmaximierung orientiert. Es muss ersetzt werden durch eine demokratisch geplante Wirtschaft, die von den Beschäftigten selbst verwaltet wird. Das bedeutet, die Energiebranche, das Transportwesen, Schlüsselbreiche der Produktion und die Finanzwirtschaft vollständig in öffentliches Eigentum zu überführen. Auf dieser Basis ist es möglich, Millionen von Menschen wieder in Lohn und Brot zu bringen, die dann beim Aufbau einer umweltgerechten Wirtschaft mithelfen können. Der von den umweltschädlichen Industrien angehäufte Reichtum steht somit für umweltgerechte und gesellschaftlich produktive Projekte zur Verfügung. Wissenschaftliche Innovation würde als globales Gemeinschaftsprojekt auf ganz neue Füße gestellt und nicht mehr Mittel nationalstaatlicher Konkurrenz sein. Statt Profite für wenige zu erzeugen würde die gesamte wirtschaftliche Aktivität darauf ausgerichtet sein, den Bedürfnissen aller Menschen der Welt zu entsprechen. Dazu zählt auch der Kampf zur Eindämmung der Klimakrise.

In dieser Gesellschaft haben Entscheidungen auf wirtschaftlicher Ebene notwendigerweise Folgen für die Menschen und die Umwelt. Auf dieser Grundlage wahrhaft demokratisch organisierter Wirtschaftsabläufe sind wir in der Lage, schnell Entscheidungen darüber zu treffen, wie die Ressourcen der Gesellschaft eingesetzt werden sollen, und alles daran zu setzen, die ganze Macht der internationalen Arbeiterklasse zu vereinen, um die Klimakrise von Grund auf anzugehen. Wollen wir diese Gesellschaft übernehmen, dann ist dazu der größte vereinte Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus nötig, den es je gegeben hat. Auch wenn diese Aufgabe riesig ist, so hängt doch die Zukunft der Menschheit von ihr ab.

Myanmar: Programm um zu gewinnen!

Keine Rückkehr zu einem Kompromiss mit Militär oder Kapital

Anfang des Jahres brach nach dem Militärputsch in Myanmar massiver Widerstand aus. Die “Kampagne des zivilen Ungehorsams“ breitete sich rasch von Arbeiter*innen im medizinischen Sektor aus. Ein Streik folgte dem anderen bis hin zu Generalstreiks, die das Land lahmlegten. Den vorläufigen Höhepunkten im März folgte massive Repression seitens der Armee, die die Bewegung aber nicht stoppen kann. Ausgangspunkt der Proteste war der Widerstand gegen den Militärputsch, rasch folgten soziale Forderungen. International Socialist Alternative, die Internationale der SLP, hat die Ereignisse in Myanmar von Beginn an verfolgt. „Marxist*innen überlassen die Diskussion über Demokratie nicht den ´liberalen´ Flügeln der herrschenden Klasse, sondern sind Teil des Kampfes, als die konsequentesten Demokrat*innen. Sie verbinden demokratische Forderungen mit der Notwendigkeit des revolutionären Kampfes für einen sozialistischen Wandel.“ (ISA 13.2.)

Deswegen haben wir „Revolutionary Workers' Solidarity with #Myanmar“ ins Leben gerufen. Eine Solidaritätskampagne, mit der wir Kontakte zur Bewegung herstellen und ein revolutionäres und sozialistisches Programm vorschlagen und umreißen. „Die Macht der Streiks ist wichtig, aber gleichzeitig muss sie durch die Organisation von Streikkomitees und regionalen Aktionskomitees gebündelt werden.“ und „Die Generalstreiks zeigen das Potenzial, den Putsch zu besiegen. Wenn das arbeitende Volk alles lahmlegt, hat die Armeeführung keine Chance mehr. Um sie wirklich zu entmachten, muss die Bewegung selbst damit beginnen, die Gesellschaft auf der Grundlage der Interessen und der Beteiligung der Mehrheit der Bevölkerung zu organisieren.“ (ISA 16.3.)

Schnell kam die Bewegung an einen Punkt wo klar war, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Militärregime endgültig loswerden möchte. Doch wie kann das erreicht werden? Ein wichtiger Schritt wäre, „dass die Bewegung ihre eigenen Organisationen und Kampfinstrumente aufbaut und kontrolliert. (...) Die Protestbewegung braucht ein Programm, um der Bevölkerung wirklich die Macht zu geben. Das bedeutet nicht nur demokratische Wahlen, sondern die Kontrolle des Volkes über die Schlüsselsektoren der Wirtschaft, um eine demokratische Kontrolle des enormen Reichtums des Landes zu ermöglichen.“ (ISA 16.3.). Der Sturz von Militär und Kapitalismus ist nötig. Aber allein die Notwendigkeit führt das noch lange nicht herbei. Und auf welchen Strukturen kann die „neue“ Gesellschaft gegründet werden? „Um der Bewegung eine Richtung zu geben, muss es eine Diskussion darüber geben, welche Forderungen gestellt werden sollen (...) Streik- und Aktionskomitees in den Betrieben, Stadtteilen und Dörfern sind notwendig, um die nächsten Schritte des Protestes demokratisch zu diskutieren und mit größtmöglicher Beteiligung zu organisieren. (...) Eine Konstituierende Versammlung, die von der Arbeiter*innenklasse, der Landbevölkerung und den Unterdrückten durch solche demokratischen Strukturen gewählt würde, könnte einen Plan zur grundlegenden Veränderung der Gesellschaft beschließen.“ (ISA 16.3.)

Im Laufe der Auseinandersetzung sah sich das Militär einer rasch gebildeten „Regierung“ der Nationalen Einheit gegenüber. Doch in dieser sind jene bürgerlichen Kräfte um Aung San Suu Kyin zusammen, die vor dem Militärputsch Kompromisse mit diesem eingegangen waren und auch für neoliberale Angriffe verantwortlich waren. "Die Arbeiter*innenklasse und die Jugend - das Rückgrat des Kampfes - sind kaum vertreten. Die Arbeiter*innen und alle, die sich am Kampf beteiligen, brauchen eine unabhängige Organisierung mit einer eigenen politischen Partei, anstatt diesen selbst ernannten Führern hinterherzulaufen. Nur so kann ein revolutionäres Programm umgesetzt werden, das die Macht des Militärs brechen und die imperialistische Ausbeutung beenden kann." (ISA 30.5.) Die Hoffnungen in diese „Regierung“ schwinden zu Recht. Wir kämpfen für den Aufbau einer Partei, die grundlegend demokratisch organisiert sein muss. Diese darf sich weder mit dem Militär noch dem Kapital arrangieren. Zentral ist auch die Anerkennung der Rechte der unterdrückten nationalen Minderheiten bis hin zum Recht auf nationale Selbstbestimmung. Dazu gehört such das Recht auf Selbstverteidigung: "Die Kämpfe weiten sich über das ganze Land aus, da lokale, hauptsächlich ethnisch basierte Milizen gegen die Macht des Militärs antreten." (ISA 30.5.) Die Gefahr eines Bürgerkrieges ist real. Die Bewegung und die Arbeiter*innenklasse muss dem entschieden entgegenwirken und braucht „einen demokratisch organisierten Kampf und Selbstverteidigung auf der Basis der streikenden Arbeiter*innen, der Jugend und der unterdrückten Minderheiten.(ISA 14.4.). Das ist nötig für ein „wirkliches freies und demokratisches sozialistisches Myanmar.“ (ISA 30.5.)

www.internationalsocialist.net
FB/RevWorkersSolidarityMyanmar
Zusammengestellt von Margarita Wolf

 

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Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Eine unglückliche und unnötige Trennung von der ISA

Erklärung der Internationalen Leitung der International Socialist Alternative

Am Abend des 24. Juni 2021 haben die griechischen und zypriotischen Sektionen sowie einige Mitglieder in der Türkei und dem spanischen Staat ihren Austritt aus der ISA (International Socialist Alternative) öffentlich erklärt. Diese bedauerliche Entscheidung wurde trotz eines Appells des Internationalen Komitees (IK) der ISA getroffen, „die Einheit zu erhalten, demokratische und klärende politische Diskussionen zu führen und eine verfrühte, unnötige Beschädigung unserer revolutionären Internationale und der jahrzehntelangen Arbeit ihrer Aktivist*innen zu vermeiden“.

Die Entscheidung für die Spaltung fiel, bevor wichtige Debatten innerhalb der ISA über verschiedene Aspekte der Perspektiven und des Organisationsaufbaus abgeschlossen oder überhaupt richtig begonnen wurden. Zum Beispiel gab es bis zum Austritt der Genoss*innen keine einzige Debatte über diese Fragen in Zypern oder der Türkei, in der die Mitglieder die Möglichkeit gehabt hätten andere Positionen als die ihrer jeweiligen Führung zu hören.

Wir sind gegen die Entscheidung dieser Genoss*innen zu gehen, nicht nur weil wir Mitglieder verlieren, die in der Vergangenheit unter oft schwierigen Umständen eine wichtige Rolle gespielt haben, sondern auch, weil wir eine Gelegenheit verlieren, über ihre Beiträge zu den wichtigen Diskussionen nachzudenken, die weiter notwendig bleiben: darüber, wie wir die aktuelle Weltlage einschätzen und wie wir zum Wiederaufbau einer kämpfenden Arbeiter*innenbewegung beitragen und starke revolutionäre Organisationen auf der ganzen Welt aufbauen können.

Im Laufe des letzten Jahres haben lebhafte und wichtige Diskussionen in der ISA zu verschiedenen Fragen unser Verständnis vertieft. Diese Debatten waren notwendig, um unsere Interventionen in den über 30 Ländern, in denen wir arbeiten zu verbessern, etwa in den USA, Nigeria, Brasilien und Russland, um nur einige zu nennen, und um auf die Entwicklungen in anderen Ländern wie Indien, Belarus, Kolumbien und Myanmar zu reagieren. Lebendige, dynamische und demokratische Diskussionen sind ein wichtiges Merkmal einer gesunden marxistischen Organisation.

An diesen Debatten und Diskussionen zu Perspektiven und Taktik hat eine beispiellose Zahl unserer Mitglieder aus vielen verschiedenen Sektionen teilgenommen. Sie wurden in unzähligen internationalen und nationalen Treffen sowie in internen Bulletins organisiert und strukturiert, die allen Mitgliedern zugänglich sind. Dabei wurden der Minderheit, die sich während der Debatte entwickelte und sich nun zum Austritt entschlossen hat, volle demokratische Rechte zuerkannt. Die Behauptung derjenigen, die die ISA verlassen, dass jemand aus der ISA „verdrängt“ wurde oder dass es einen „undemokratischen Ansatz“ gibt, stimmt nicht mit der Realität überein. Die Tatsache, dass sich diejenigen, die sich in diesem übereilten und falschen Schritt abgespalten haben, auf solche Vorwürfe konzentrieren, zeigt ein mangelndes Vertrauen in ihre politischen Argumente zu den diskutierten Fragen.

Eine widersprüchliche und schwierige Weltsituation

Marxist*innen arbeiten heute in einer Situation mit großen Anzahl von Möglichkeiten. In den knapp zwei Jahren seitdem sich die ISA umbenannt und mit ihrem Wiederaufbau als eigenständige Internationale begonnen hat, haben wir ermutigende Fortschritte gemacht. Einige unserer Sektionen, zum Beispiel in den USA, England/ Wales/ chottland, Brasilien und Russland haben im Kontext einer zunehmenden antikapitalistischen Radikalisierung unter großen Teilen insbesondere der Jugend ein beeindruckendes Mitgliederwachstum erreicht. Trotz der enormen Herausforderungen durch die Pandemie und die Lockdowns konnten wir wichtige internationale Initiativen und Kampagnen durchführen und mit den „Virtual Marxist Universities“ im Juli 2020 und Januar 2021, an denen über 1.500 Genoss*innen aus über 35 Ländern teilnahmen, die beiden größten Veranstaltungen unserer Geschichte abhalten. Wir haben lehrreiches und hochwertiges politisches Material produziert, sowohl auf internationalsocialist.net als auch in unserer wöchentlichen Youtube-Show, World to Win.

Aber die Lage stellte uns auch vor Herausforderungen. Die Weltsituation ist gelinde gesagt chaotisch. In einem „perfekten Sturm“ der kapitalistischen Krisen hat die internationale Arbeiter*innenklasse begonnen, ihre Stärke und ihr Potential zu zeigen. Die Welle der Revolten, die 2019 um die Welt ging, wurde 2020 nach einer kurzen Pause wegen der Pandemie mit voller Kraft wieder aufgenommen. Um nur einige der vielen Massenbewegungen zu nennen: Argentinien, Belarus, Chile, Kolumbien, Hongkong, Libanon, Myanmar, Nigeria, Israel/ Palästina, Peru, Russland, Thailand, die globalen BLM- und Klimabewegungen und natürlich die Radikalisierung unter Frauen… sie alle zeigen das enorme Potential und die Kraft der Arbeiter*innenklasse. Aber wie alle Sozialist*innen wissen, hat das noch nicht zur Entwicklung von revolutionären Massenorganisationen geführt, die internationale Arbeiterbewegung steht größtenteils unter der Kontrolle schlechter Führungen und ist weiterhin zu schwach. Es ist dringend notwendig, diese Bewegungen zu antikapitalistischen und sozialistischen Schlussfolgerungen zu führen.

Für Sozialist*innen mit unserem Verständnis der Notwendigkeit einer revolutionären Massenpartei ist das eine Herausforderung. Die Lage in Griechenland, wo die Arbeiter*innenklasse im letzten Jahrzehnt enorme Niederlagen und Rückschläge erlitten hat und wo sich daher die Arbeit für Marxist*innen besonders schwierig gestaltet, war zweifellos ein materieller Faktor, der sich auf die Entwicklung der Debatte in der ISA ausgewirkt hat.

Die Welt steht an einem Wendepunkt. In so einer Situation stellen sich immer Fragen, um zu einem Verständnis der neuen Realität zu kommen, und es gibt Diskussionen darüber, wie Revolutionär*innen am besten reagieren sollten. Vor diesem Hintergrund haben die Debatten in der ISA stattgefunden.

Debatten zu weltweiten Perspektiven

In der ersten dieser Debatten ging es um Weltperspektiven und die Charakterisierung der neuen Phase. Anfangs standen dabei die Weltwirtschaft und die internationalen Reaktionen der Kapitalist*innenklasse auf die aktuelle Krise im Vordergrund. Beim ISA-Weltkongress im Januar 2020, noch vor Beginn der Coronakrise, erkannten wir eine sich entwickelnde weltweite Wirtschaftskrise, die potentiell noch tiefer werden könnte als die von 2008/ 9 und die so die Kapitalist*innen weltweit zwingen würde, noch weiter über die Grenzen ihrer neoliberalen „Komfortzone“ zu treten um ihr System zu retten. Unsere Perspektive war, dass es einen Rückzug von der neoliberalen Orthodoxie der vergangenen Jahrzehnte geben würde. Wir betonten auch die riesigen geopolitischen und ökonomischen Folgen der wachsenden Spannungen zwischen den beiden größten imperialistischen Blöcken – den USA und China – die sich auf einen neuen Kalten Krieg zubewegen.

Das wichtigste daran für Marxist*innen ist, dass diese neue Periode der Instabilität auch zu vermehrten Protesten und Klassenkämpfen geführt hat. Trotz aller bestehenden Komplikationen – vor allem der Schwäche der Führung, der mangelnden Organisation und des Bewusstseins der Arbeiter*innenklasse, gepaart mit dem Aufschwung des reaktionären Rechtspopulismus – gibt es eine deutliche Linksverschiebung im Bewusstsein von Millionen. Diese wurde in der Welle der Massenkämpfe 2019 deutlich sichtbar. Diese Prozesse wurden durch Ausbruch und Entwicklung der Corona-Krise beschleunigt und vertieft.

Während es auf nationaler Ebene Unterschiede, Begrenzungen und Ausnahmen davon gibt, geht der Trend in der kapitalistischen Politik international weg von der neoliberalen Hegemonie, was sich am deutlichsten in Bidens massiven Konjunkturprogrammen zeigt.

Die Diskussion darüber war sehr bereichernd. Obwohl wir nicht mit ihrer Kritik übereinstimmen, haben die Genoss*innen, die die ISA verlassen haben, dabei eine wertvolle Rolle gespielt, indem sie unsere Analyse kritisierten und uns zwangen, sie weiter zu vertiefen, zu verfeinern und zu entwickeln.

In der Debatte erklärten diese Genoss*innen, dass wir den Rückzug der Bourgeoisie vom Neoliberalismus übertrieben darstellen würden. Unserer Meinung nach machten sie auch den Fehler, die Bedeutung des neuen Kalten Krieges zu unterschätzen. Und obwohl sie zustimmten, dass es weitere Proteste geben würde,übertrieben sie dabei die Schwierigkeiten und unterschätzten das revolutionäre Potential einer Situation, in denen der Arbeiter*innenklasse und der Jugend keine andere Möglichkeit bleibt als sich zu wehren. Während wir den radikalisierenden Einfluss der Pandemie auf das Massenbewusstsein betonten, betonten sie das Gegenteil – dass die Pandemie ein „verkomplizierender“ Faktor werden und den Kapitalist*innen eine Ausrede für eine neue Welle der Krisen bieten würde.

Sie kritisierten die Mehrheit für die Aussage, dass unter Arbeiter*innen im Gesundheitsbereich „die Kampfbereitschaft schon vor der Pandemie gewachsen ist, aber jetzt werden diese Arbeiter*innen nicht bereit sein zur ‚Normalität‘ zurückzukehren. Sie werden bessere Arbeitsbedingungen, Lohnerhöhungen, mehr Personal und mehr Ressourcen für die Pflege verlangen … sie könnten zur Avantgarde der globalen Arbeiter*innenbewegung gehören, nachdem die Lockdowns aufgehoben werden.“ Diese vor über einem Jahr verfasste Perspektive wurde durch Proteste und Streiks von Arbeiter*innen im Gesundheitswesen in über 80 Ländern bestätigt, vielleicht am deutlichsten durch die heroischen Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen in Myanmar, die die Massenbewegung gegen den Militärputsch initiiert haben. Anstatt eine falsche Position zu korrigieren, bestand die Minderheit weiter darauf, dass unsere Erwartung von Massenkämpfen „überoptimistisch“ sei, trotz wachsender Belege für das Gegenteil.

Während sie der abstrakten Aussage zustimmten, dass es fundamentale Veränderungen gebe, konzentrierten sich die jetzt ausgetretenen Genoss*innen darauf, zu beweisen, dass die Dinge mehr oder weniger beim Alten bleiben würden. Der wichtigste Streitpunkt war aber, dass diese Genoss*innen die Entschlossenheit der herrschenden Klasse überschätzten, die Arbeiter*innenklasse mittels neoliberaler Politik für jede Krise bezahlen zu lassen und die Fähigkeit der Arbeiter*innenklasse unterschätzten, diese Versuche abzuwehren. Die Angst der herrschenden Klasse vor möglichem Widerstand ist ein wesentlicher Faktor in den Überlegungen pro-kapitalistischer Politik.

Wenn wir die objektive Situation analysieren und versuchen, Perspektiven aufzustellen,gibt es unweigerlich Differenzen und verschiedene Betonungen von Faktoren, besonders in der neuen und dramatischen Situation, in der der Kapitalismus heute steckt. Es ist notwendig, diese Fragen auf demokratische, konstruktive und solidarische Weise zu diskutieren.

Sozialistischer Feminismus und eine Null-Toleranz-Politik gegen Übergriffe

In der Spaltungserklärung wird eine weitere Frage angesprochen, über die es in der ISA während des letzten Jahres eine scharfe Debatte gab: wie können die Rechte und die Sicherheit von Mitgliedern in Arbeiter*innenorganisationen und einer revolutionären Partei gewährleistet werden?Die Beschreibung dieser Debatte in der Erklärung ist vollkommen unehrlich und zeigt einen deutlich tiefer gehenden Pessimismus und eine Bereitschaft, in dieser Frage viel niedrigere Standards zu akzeptieren als die, die heute von der ISA vorgeschlagen werden.

Eine der wesentlichen politischen Fragen in der Debatte, aus der die ISA entstanden ist, war unsere Betonung des sozialistischen Feminismus und der Bedeutung von Frauenkämpfen. Wir stehen auch für die Anwendung klarer sozialistisch-feministischer Prinzipien innerhalb unserer Organisation und bei Fragen, die Frauen und LGBTIQI+-Menschen in der ISA betreffen. Das bedeutet, auf allen Ebenen Diskussionen zu führen, um eine Kultur zu schaffen, die Fälle von Gewalt, sexualisierter Belästigung und Übergriffen so weit wie möglich verhindert. Wenn es dennoch dazu kommt, wird ein klares und eindeutig definiertes Procedere mit einer gründlichen und ernsthaften Untersuchung stattfinden, um die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Die ISA hat einen Verhaltenskodex erarbeitet, der als klarer politischer und praktische Leitfaden für den Umgang mit solchen Situationen dienen soll.

Die ehemaligen Genoss*innen haben diesen Verhaltenskodex abgelehnt, mit Argumenten, die sich unter anderem auf „kulturelle Unterschiede“ in verschiedenen Ländern beziehen. Wir sehen darin den Ausdruck eines fehlenden Verständnisses der grundlegenden Bedeutung dieser Frage für Marxist*innen und einer gewissen Angst davor, sich damit und mit der tödlichen Gefahr für revolutionäre Parteien auseinanderzusetzen, die einige der übelsten Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft, wie Sexismus und Misogynie, darstellen.

Volle Minderheitenrechte wurden garantiert

Während dieser Diskussionen innerhalb der ISA stellte die gewählte Führung, das Internationale Komitee (IK, 51 Mitglieder aus 18 Ländern) sicher, dass eine demokratische Debatte über die umstrittenen Fragen stattfinden kann. Über ein Jahr lang gab es Dutzende von internationalen Treffen, um diese Fragen zu diskutieren. Genoss*innen von beiden Seiten hatten jeweils gleich viel Zeit, ihre Argumente vorzutragen. Texte der Minderheit wurden ohne irgendwelche Beschränkungen in unseren internen Bulletins veröffentlicht. Genoss*innen der Minderheit wurden gebeten, wichtige politische Aufgaben zu übernehmen und an weiteren Debatten mit jeweils gleicher Redezeit bei der bevorstehenden Virtual Marxist University der ISA im Juli teilzunehmen.

Bei unseren sehr erfolgreichen VMUs wurde der Minderheit viel Platz für ihre Argumente gewährt, einschließlich Einleitungsreferaten in vielen wichtigen Diskussionen. Viele Sektionen haben bereits Debatten auf verschiedenen Ebenen abgehalten, um sich die Positionen der Minderheit anzuhören, obwohl sie die ISA verlassen haben, bevor Sektionen in vielen Teilen der Welt die Gelegenheit hatten, an der Debatte teilzunehmen. Der ISA-Mehrheit wurden die gleichen demokratischen Rechte in Zypern, der Türkei und dem spanischen Staat nicht eingeräumt, dort fanden keine Debatten statt.

Interne Demokratie

Wir wissen, dass die ehemaligen Genoss*innen ein Bild von zu wenig Demokratie in der ISA zeichnen – aber die Fakten beweisen das Gegenteil. Unserer Meinung nach stecken hinter diesem falschen Narrativ tiefgreifende Differenzen darüber, welche Art von internationaler Organisation wir aufbauen müssen.

Nachdem sich eine Minderheit 2019 vom Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) abgespalten hatte (https://www.slp.at/artikel/ein-b%C3%BCrokratischer-putsch-wird-die-mehrheit-des-cwi-nicht-vom-aufbau-einer-starken), versuchte die Mehrheit, die sich 2020 in ISA umbenannte, die besten politischen und organisatorischen Traditionen des CWI wiederzubeleben. Gleichzeitig waren wir aber auch entschlossen, die Arbeitsweise der Organisation zu verändern, in der in den letzten Jahren vor der Spaltung eine zunehmend autoritäre, überalterte und den Bezug zur Realität verlierende Führung von einem Land aus agierte und die verschiedenen Sektionen zunehmend sich selbst überlassen wurden, während gemeinsame Diskussionen und Initiativen zum Organisationsaufbau nicht stattfanden oder an Bedeutung verloren.

Seitdem gibt es eine fortgesetzte Diskussion darüber, wie dieser Wandel erreicht werden kann.

Die Genoss*innen, die die ISA jetzt verlassen haben, argumentierten stark für eine internationale Führung, die vorwiegend aus führenden Mitgliedern der einzelnen Sektionen bestehen sollte – einen „Bund der Generalsekretär*innen“ – die es faktisch unmöglich machen würde, jüngere Mitglieder einzubeziehen und die sich auf ihre internationalen Rolle nicht ausreichend konzentrieren könnte, weil sie einen zu starken Fokus auf die Arbeit in den jeweiligen Ländern hätte.

Die Mehrheit hat sich immer für eine gewählte und rechenschaftspflichtige internationale Führung ausgesprochen, die multinational zusammengesetzt ist und aus erfahrenen und jüngeren Mitgliedern besteht. Wir haben geschafft, mehr jüngere und weibliche Mitglieder in die Führung einzubeziehen. Wir versuchen auch, eine wirklich internationale Führung zu entwickeln, mit Mitgliedern, die sowohl in der Aufbauarbeit der Sektionen verankert, als auch von Aufgaben auf nationaler Ebene „freigestellt“ sind, um sich auf den Aufbau der internationalen Organisation zu konzentrieren.

Die Führungsgremien der ISA haben regelmäßige Treffen, um politische Analysen, Strategien und Taktiken zu erarbeiten, neben ihrer Arbeit zum Aufbau der Internationale als gemeinsame Kraft. Diese Herangehensweise funktioniert nur mit der maximal möglichen Beteiligung aller Mitglieder. Und diese ist nur durch einen transparenten und demokratisch strukturierten Diskussions- und Entscheidungsprozess möglich. Nur so kann eine dynamische Organisation mit politischer Klarheit aufgebaut werden.

Unserer Ansicht nach haben die Ausgetretenen bei ihrer Argumentation gegen diese Herangehensweise wichtige politische Fehler gemacht. Demokratische Diskussion ist notwendig und trägt zu einem besseren Verständnis bei. Aber ohne formale Entscheidungen und Schlussfolgerungen und ohne Einheit in der Aktion wäre Demokratie fast sinnlos. Zumindest sollten, wenn eine Entscheidung getroffen wurde, alle bereit sein, den von der Mehrheit unterstützen Kurs auszuprobieren, während die Minderheit das volle Recht behält, interne Kritik zu üben.

Sogenannte „horizontale Demokratie“ auf der Grundlage informeller Diskussionen statt klarer und rechenschaftspflichtiger Entscheidungsprozesse für gemeinsame Debatten und Beschlüsse führt in der Praxis eher dazu, dass wenige Individuen ihre Ansicht durchsetzen, auch wenn das Gegenteil behauptet wird. Die Bedeutung der Beteiligung aller Mitglieder wird vernachlässigt, weil diejenigen bevorzugt werden, die mehr Zeit, bessere Sprachkenntnisse und genügend Internetzugang haben, um an Diskussionen in sozialen Medien teilzunehmen. In der Argumentation der Genoss*innen wurde auch die Idee der „Transparenz“ missbraucht, um vertrauliche und sicherheitsrelevante Informationen zu verbreiten. Wir glauben, dass die Erfahrung von Organisationen, die diese falsche Herangehensweise nutzen, gezeigt hat, dass die Mitgliedschaft keine demokratische Kontrolle über die Entscheidungsfindung und keine rechenschaftspflichtige Führung hat, stattdessen agiert die Führung von oben herab und die Effektivität und politische Klarheit der Organisation wird geopfert.

Die zentrale Aufgabe

Die aus der ISA Ausgetretenen sagen, dass eine revolutionäre Masseninternationale „in der Lage sein muss, alle verschiedenen revolutionären Richtungen zu vereinen“ und dass sie durch „offenen und demokratischen Dialog mit anderen Gruppen, Strömungen und einzelnen Genoss*innen“ aufgebaut wird. Das steht im Gegensatz zur zentralen Aufgabe von revolutionären Sozialist*innen heute – dem Aufbau einer klaren, kohärenten revolutionären Organisation aus den Massenbewegungen von Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen zur Vorbereitung auf kommende revolutionäre Möglichkeiten. Für den echten Marxismus ist eine Partei notwendig, und auch Netzwerke und breite Bündnisses – sie spielen unterschiedliche Rollen und können einander nicht ersetzen.

Die ISA war und ist offen für Diskussionen mit allen wirklich revolutionären Arbeiter*innen- und linken Gruppen und Einzelpersonen, die bereit sind, mit uns in Kampagnen und Kämpfen zusammenzuarbeiten. Im Allgemeinen geht es beim Aufbau der Internationale in der aktuellen Phase aber darum, neue, junge Schichten aus der Arbeiter*innenklasse in unsere Reihen zu bekommen, die durch die Verhältnisse gezwungen werden in den Kampf einzutreten. In einer vorrevolutionären Situation wird jede „Fusion“ revolutionärer und anderer Strömungen in eine größere revolutionäre Internationale nur möglich sein, wenn es uns heute gelingt eine Organisation mit einem einheitlichen politischen Programm und gemeinsamen Methoden aufzubauen.

Die ISA durchläuft einen Prozess des Wiederaufbaus einer Internationale auf den Grundlagen der besten Traditionen der revolutionären Bewegung. Dazu gehört der Wiederaufbau einer internationalen Führung. Die ISA hat in einer Periode beispielloser globaler Ereignisse politische Stärke gezeigt. Unsere Analyse der Pandemie, der ökonomischen, Klima- und sozialen Krisen, des neuen Kalten Krieges und der Welle von Massenrevolten ist etwas Besonderes. Wir sind an Kämpfen beteiligt und treten mit breiteren Schichten der kämpfenden Jugend und Arbeiter*innenklasse in Dialog. Wir beginnen, unsere in mehreren neuen Ländern aufzubauen, wir haben eine neue Schicht von jungen Genoss*innen, die sich entwickeln und eine führende Rolle sowohl in den Sektionen als auch in der Internationale spielen. Wir haben große Schritte nach vorn gemacht, und obwohl diese Spaltung ein Rückschritt ist,werden wir uns davon nicht zurückwerfen lassen. Wir sind zuversichtlich, dass wir weitergehen und neue Aktivist*innen gewinnen werden, die bereit sind die notwendigen Opfer zu bringen, um eine revolutionäre Masseninternationale aufzubauen. Die ISA bleibt in über 30 Ländern aktiv und präsent, entschlossen im Kampf für eine revolutionär-sozialistische Weltpartei.

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Fairy Creek: Ein neuer Krieg in den Wäldern

von Amanda Elaine Wood, Socialist Alternative (ISA in Kanada)

Die Rainforest Flying Squad, eine Gruppe von freiwilligen Aktivist*innen und Organisator*innen, hat ihr Lager aufgeschlagen, um eine Holzfällerfirma davon abzuhalten, in der Gegend von Fairy Creek bei Port Renfrew an der Westküste von Vancouver Island Holz zu schlagen.

Seit letztem August haben Aktivist*innen zahlreiche Blockaden errichtet, um gegen die Abholzung von altem Baumbestand im Flusseinzugsgebiet des Fairy Creek zu protestieren. Die "Rainforest Flying Squad", eine Gruppe von freiwilligen Aktivist*innen und Organisator*innen, schlug ihr Lager auf, als die Regierung von British Columbia (BC) dem in der Region ansässigen Holzunternehmen Teal-Jones die Genehmigung erteilte, im Fairy Creek-Gebiet in der Nähe von Vancouver Island Holz zu schlagen. Dieser Lebensraum beherbergt einige der letzten verbliebenen alten, außertropischen Regenwälder der Erde und wird von Umweltwissenschaftler*innen als „das Seltenste vom Seltenen“ bezeichnet. Er ist ein wesentlicher Bestandteil für den Erhalt der bereits durch den Klimawandel bedrohten Artenvielfalt in BC.

Die Forstwirtschaft trägt mit 32 Milliarden Dollar jährlich zur Wirtschaft der Region bei und Altholz ist ein begehrtes Gut: Seine dichte Maserung macht es ideal für Zäune, Bauholz und Terrassendielen, da es beim Trocknen nicht bricht. Aus altem Holz wird auch das weichste Toilettenpapier hergestellt. Trotz des Wahlkampfversprechens von Premier John Horgan, altes Holz zu schützen, vergibt die Regierung weiterhin Lizenzen für die Abholzung großer alter Bäume und stellt Managementpläne zur Verfügung, die angeblich diese wertvolle Ressource schützen sollen. In einer kürzlich erschienenen, unabhängigen Untersuchung wurde die Regierung von BC jedoch dabei erwischt, wie sie ihre Angaben über die Menge des verbleibenden alten Baumbestandes um Hunderttausende von Hektar aufhübschte - in Wirklichkeit gibt es nur noch etwa 35.000 Hektar echten alten Baumbestandes. Da mehr als 80% der alten Wälder in BC im letzten Jahrhundert abgeholzt wurden, besteht die Gefahr, dass diese nicht erneuerbare Ressource aufgrund von Misswirtschaft und Profitgier für immer verschwindet.

Einer der Ältesten der Pacheedaht (indigene Ureinwohner*innen, denen das Gebiet gehört, Anm. d. Übers.), Bill Jones, hat seine Unterstützung für die Arbeit der Rainforest Flying Squad (RFS) in Fairy Creek zum Ausdruck gebracht. Er rief indigene und nicht-indigene Menschen gleichermaßen dazu auf, im Kampf um die Rettung von BCs altem Baumbestand zusammenzustehen und machte auf die Konflikte zwischen den Mitgliedern der indigenen Gemeinden aufmerksam, die durch Meinungsverschiedenheiten über die Rohstoffgewinnung auf indigenem Land entstehen. Die Union of BC Indian Chiefs (UBCIC) (Vereinigung der indigenen Ureinwohner*innen BCs, Anm. d. Übers.) verabschiedete 2020 eine Resolution, in der sie die Provinz aufforderte, alle Projekte zur Abholzung von altem Baumbestand zu verschieben. Aber im April dieses Jahres, sieben Monate nachdem die RFS ihren Protest begonnen hat, gaben Frank Queesto Jones und Ratsvorsitzender Jeff Jones eine Erklärung heraus, in der sie die Blockaden als "unwillkommene, ungefragte Einmischung" in ihr Gebiet bezeichneten und zum Ausdruck brachten, dass das Eigentum der Nation an dem Gebiet und ihre Rolle als Verwalter*innen des Landes respektiert werden müsse.

Die Pacheedaht, in deren Territorium der Fairy Creek liegt, verlässt sich seit Jahrzehnten auf die Abholzung von altem Baumbestand, um das Einkommen ihrer Gemeinde zu sichern und erneuerte Anfang des Jahres ihr Gewinnbeteiligungsabkommen mit der Provinz BC. Das Abkommen besagt, dass die Regierung die Pacheedaht in allen Fragen der forstwirtschaftlichen Entwicklung konsultieren muss und zweimal im Jahr eine Zahlung an die Nation leistet. Obwohl das Abkommen explizit kein Vertrag ist, befinden sich die Pacheedaht in Phase 5 des BC-Vertragsprozesses und in Verhandlungen, um einen Vertrag abzuschließen. Gleichzeitig besagt das Revenue-Sharing-Abkommen, dass die Pacheedaht an einen Artikel der "Nichteinmischung" gebunden sind - was bedeutet, dass sie keine Aktionen oder Kampagnen gegen den Holzeinschlag unterstützen oder daran teilnehmen können, selbst wenn sie es wollten. Das bringt die Pacheedaht in eine schwierige Situation - jeder Widerstand gegen den Holzeinschlag bringt sie in finanzielle Bedrängnis. Und angesichts der historischen Misshandlung, Vernachlässigung und des Missbrauchs der Ureinwohner*innen im ganzen Land durch die kanadische Regierung, ist es verständlich, wenn sie die Gelegenheit ergreifen, um ein gewisses Maß an Unabhängigkeit über den Ressourcenabbau in ihrem Gebiet zu erlangen.

Die Deklaration der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker (UNDRIP), die 2019 von der Regierung von BC verabschiedet wurde, enthält mehrere Artikel, die sich auf den Rohstoffabbau beziehen; insbesondere die Artikel 4, 26 und 32, die alle besagen, dass indigene Gemeinschaften ein inhärentes Eigentumsrecht über ihr Gebiet und seine Ressourcen haben. Es scheint, dass die Regierung von BC mit der Umsetzung eines Gewinnbeteiligungsabkommens ihr Versprechen einhält, die UNDRIP einzuhalten - aber die Realität ist, dass selbst bei Abkommen wie diesem indigene Gemeinschaften immer im Nachteil sind. Kanadas koloniales Erbe hat tiefgreifende soziale, kulturelle, spirituelle und wirtschaftliche Auswirkungen auf indigene Gemeinschaften - 25% der indigenen Erwachsenen und 40% der indigenen Kinder leben in Armut. Fast 40% der Indigenen leiden unter Nahrungsmittelknappheit und 73% ihrer Wasserversorgung versorgen die Gemeinden nicht mit sauberem Wasser. Viele indigene Völker stehen vor einer unmöglichen Wahl: Entweder mit dem kolonialen Staat zu kooperieren und eine Entschädigung für die in ihrem Gebiet abgebauten Ressourcen zu erhalten oder weiter mit den Auswirkungen der anhaltenden Unterdrückung durch die neokoloniale Regierung Kanadas zu leben.

Im April dieses Jahres erließ der Oberste Gerichtshof von BC eine einstweilige Verfügung gegen die Landverteidiger*innen und forderte sie auf, das Gebiet zu räumen und Teal-Jones den Zugang zum Flussgebiet zu ermöglichen. Die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) wurde hinzugezogen, um die einstweilige Verfügung durchzusetzen. Mit Dutzenden von Verhaftungen in den letzten Wochen hat die Polizei nun eine "Medienausschlusszone" geschaffen, die eine Medienberichterstattung über die Aktion „an der Front“ verhindert und eine Koalition von kanadischen Journalist*innen zu rechtlichen Schritten veranlasst hat. Filmmaterial von Polizeigewalt und (illegalen) Verhaftungen von legalen Beobachter*innen verbreiten sich über Social Media Plattformen, während der RCMP-Muskel die privaten Interessen der Kapitalist*innenklasse und das koloniale Projekt Kanadas schützt.

Der Kampf in Fairy Creek geht um mehr als nur Bäume - es ist der Kampf gewöhnlicher Menschen, die für eine Zukunft kämpfen, in der die wertvollsten Ressourcen unseres Planeten nicht verscherbelt und vom Meistbietenden aus der Stadt gekarrt werden. Wir müssen BCs Industrien aus den Händen privater Unternehmen wie Teal-Jones nehmen und Kanadas neokoloniale Aktionen auf indigenem Territorium im ganzen Land beenden. Schließe dich dem Kampf für eine sozialistische Umwandlung der Gesellschaft an, tritt der Socialist Alternative bei!

Nach der Waffenruhe: Der israelische Staat geht gegen die palästinensische Jugend vor

Kämpfen wir für internationale Solidarität und eine sozialistische Lösung!
von Socialist Struggle Movement in Israel/Palästina, erschienen am 27.Mai auf https://internationalsocialist.net/en/2021/05/after-the-ceasefire

Der Aufstand der palästinensischen Jugend auf beiden Seiten der "Grünen Linie" (Grenze vor 1967) im Westjordanland und in Israel, das Massaker in Gaza und die Solidaritätsdemonstrationen in Israel haben die Unterdrückung der Palästinenser*innen in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Diese wird mit der Waffenruhe nicht verschwinden, sondern sich fortsetzen und vertiefen. Jetzt hat der israelische Staat ein hartes Vorgehen gegen palästinensische Jugendliche eingeleitet, die im vergangenen Monat an Protesten teilgenommen haben.

Die massiven "Nakba"-Mobilisierungen, die vergangenen Monat auf der ganzen Welt stattfanden und die zahlreichen spontanen Mobilisierungen seither deuten darauf hin, dass die palästinensische Unterdrückung wieder zu einem wichtigen Faktor bei der Radikalisierung junger Menschen weltweit wird. Dies geschieht in einer Zeit, in der sich junge Menschen weltweit verstärkt gegen alle Formen der Unterdrückung auflehnen, wie es zuvor im massiven Charakter und der internationalen Verbreitung des Kampfes gegen Rassismus während der Black Lives Matter-Bewegung und im Kampf gegen Sexismus zum Ausdruck kam.

Elf Tage lang hat der israelische Staat den Gazastreifen bombardiert. Mindestens 248 Menschen wurden in Gaza getötet, darunter 66 Kinder. Mehr als 1.900 Menschen wurden verwundet, Krankenhäuser waren unzugänglich, wenn sie nicht bombardiert wurden. Fast 2.000 Häuser wurden zerstört. Im Zusammenhang mit diesem Blutbad wurden auch mindestens 12 Menschen, darunter Kinder, durch Raketen getötet, die aus Gaza abgefeuert wurden, darunter Palästinenser*innen, Jüd*innen und Geflüchtete.

Die Tatsache, dass dies inmitten der Covid-Pandemie geschah, macht die Sache noch schlimmer und hat zweifellos zu den internationalen Protesten und der Radikalisierung beigetragen. Israel ist international führend bei der Impfung, aber im Westjordanland und Gaza hat die Impfung kaum begonnen. Die Tatsache, dass nun ein Waffenstillstand geschlossen wurde und vorerst zu halten scheint, ist eine Erleichterung, aber sie hat keines der grundlegenden Probleme gelöst. Die Besetzung des Westjordanlandes, die Blockade des Gazastreifens, Arbeitslosigkeit, Armut, Elend und Diskriminierung gehen weiter, ebenso wie die Revolte der palästinensischen Jugend. Ob die jüngste Razzia mit Hausdurchsuchungen nach palästinensischen Jugendlichen, die an den Protesten teilgenommen haben, und Massenverhaftungen in Ost-Jerusalem und anderen Gemeinden die Stimmung dämpfen oder weiteren Widerstand entfachen wird, ist noch schwer zu beurteilen.

Krisensituationen wie die, die sich seit April entwickelt hat, mit vielen plötzlichen Wendungen und scharfen Veränderungen, sind ein Test für alle gesellschaftlichen Kräfte: für das Regime in Israel, die Palästinensische Autonomiebehörde und die palästinensischen politischen Gruppen in erster Linie, aber auch für die US-Außenpolitik unter Präsident Biden und jene arabischen Regime, die kürzlich im Rahmen der "Normalisierung" diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen haben. Sie stellt das Machtgleichgewicht in der Region in Frage, einschließlich der wachsenden Allianz zwischen einigen sunnitisch-arabischen Diktaturen und dem israelischen Regime, teilweise als Gegengewicht zum rivalisierenden iranischen Regime und seinen Verbündeten. Diese Situation stellt aber auch die Arbeiter*innenbewegung und die Jugendbewegungen international und in der Region sowie die ISA und ihre Sektion in Israel/Palästina vor enorme Herausforderungen, sowohl auf ihren Prinzipien zu beharren als auch in ihrem Vorgehen ausreichend flexibel zu sein.

Provokationen führten zu Jugendrevolte

Die unmittelbaren Auslöser für den von palästinensischen Jugendlichen angeführten Aufstand waren die Enteignungen von 19 palästinensischen Familien im Viertel Sheikh Jarrah, um rechtsextreme jüdische Siedler*innen unterzubringen - als Teil der sogenannten "Judaisierung" Ost-Jerusalems - und die Provokationen des israelischen Regimes während des Ramadan, als die Polizei die Al-Aqsa-Moschee stürmte und das Damaskustor absperrte.

Es besteht kein Zweifel, dass zynisches politisches Kalkül des israelischen Premierministers Netanjahu bei diesen Provokationen eine Rolle spielte. Er steht wegen verschiedener Korruptionsvorwürfe vor Gericht, die im letzten Jahr ein Brennpunkt für eine massive Protestbewegung in Israel waren, und er kämpft um sein politisches Überleben. Bei vier Wahlen in zwei Jahren ist es ihm nicht gelungen, eine Mehrheitskoalition in der Knesset (Parlament) zu bilden. Er hat alle Register gezogen, die rechtsextremen Kahanisten gestärkt und ein Bündnis mit ihnen geschlossen, während er sich gleichzeitig als "Abu Yair" (Vater von Yair, Netanjahus ältestem Sohn) ausgab, um Stimmen von arabisch-palästinensischen Bürgern Israels zu gewinnen und um Unterstützung von der Vereinigten Arabischen Partei des Islamisten Mansour Abbas zu werben.

Die Provokationen in Ost-Jerusalem untergruben die Chancen auf die Bildung einer alternativen Anti-Netanjahu-Regierung um den von Lapid und dem noch rechteren Bennet geführten "Block für den Wandel", unter Beteiligung der "linken" Meretz, der “Arbeiterpartei” und der Vereinigten Arabischen Partei. Die Tatsache, dass die Führer*innen des "Blocks für den Wandel", einschließlich Labour, Netanjahu bei seiner Unterdrückung der Palästinenser*innen und anschließend beim Krieg gegen Gaza eindeutig unterstützt haben, entlarvt ihre bürgerliche Täuschung, wenn sie sich als Alternative ausgeben.

Aber die Wurzeln der Krise liegen tiefer als Netanjahus zynisches Kalkül: in der systematischen und orchestrierten Politik der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Status quo der Besetzung des Westjordanlandes und des annektierten Ost-Jerusalem, der Siedlungen, der Belagerung des Gazastreifens, der nationalen Diskriminierung, der "Teile und herrsche"-Methoden und der Armut. Dieser Status quo trifft in der Post-Trump-Ära und mit einer langwierigen Regierungskrise in Israel auf zunehmenden Mut und Widerstand einer neuen Generation von Palästinensern, die bereit sind, sich dem israelischen Regime entgegenzustellen.

Der Massenaufstand der palästinensischen Jugend erzwang eine Reihe wichtiger Erfolge: Die Anhörung des Obersten Gerichtshofs im Fall Sheikh Yarrah wurde verschoben, die Blockade des Damaskus-Tors wurde aufgehoben und eine provokative rechtsextreme Flaggenparade wurde umgeleitet. Im Wesentlichen handelt es sich um eine beginnende dritte "Intifada", einen Aufstand für nationale Befreiung gegen Unterdrückung, Enteignung, Armut und Elend.

Von der Revolte zum Krieg

Palästinensische Jugendliche haben die Zügel selbst in die Hand genommen. Sie sehen die Palästinensische Autonomiebehörde und die Fatah-Führung bestenfalls als machtlos an, meist als Kollaborateure mit der Besatzung. Ihr Vertrauen in die palästinensischen politischen Fraktionen ist gering und der Ruf nach Abbas' Rücktritt wird immer lauter, besonders seit dem Waffenstillstand, an dem er keinen Anteil hatte. Marwan Barghouti, ein Gegner von Abbas, der früher aus einem israelischen Gefängnis heraus mit einer eigenen unabhängigen Liste bei den palästinensischen Wahlen kandidierte, muss die veränderte Stimmung gespürt haben. Doch die palästinensischen Wahlen, die ersten seit 15 Jahren, wurden erneut auf unbestimmte Zeit verschoben.

Trotz der taktischen Siege, die die palästinensische Jugend vor Ort errungen hat, hält es die Hamas-Führung weiterhin für naiv und vergeblich zu glauben, dass Massenaktionen, ziviler Ungehorsam und Volkskampf dem israelischen Regime entscheidende Schläge versetzen und bedeutende Zugeständnisse erreichen können. Sie lobt den Aufstand der Jugend, traut ihnen aber nicht zu, das Kräfteverhältnis vor Ort zu verändern, ohne dass sich die Hamas-Miliz einmischt. Das Ultimatum, das ihr militärischer Flügel auf dem Höhepunkt der Jugendrebellion an Israel stellte, ist ein Symptom für ihre allgemeine Vision, dass der Massenkampf der militärischen Feuerkraft untergeordnet ist.

Die Intervention der Hamas war auch ein politischer Schachzug. Sie steht unter Druck, weil das Leben unter der Blockade unhaltbar ist und sie keinen Ausweg findet. Das führt zu Unzufriedenheit von unten, die sich in Zwietracht an der Spitze niederschlägt. Die Hamas wusste, dass eine militärische Konfrontation mit Israel einen hohen Preis in Form von Menschenleben haben würde, aber es war ein kalkuliertes Glücksspiel, um die Einheit in Gaza wiederherzustellen, die Stärke ihrer Milizen zu demonstrieren und sich als Führer des palästinensischen Befreiungskampfes zu etablieren, auch in der Westbank und Jerusalem.

Bis zu einem gewissen Grad hat die Hamas, sobald die erste Raketensalve abgefeuert wurde, ihre unmittelbaren politischen Ziele erreicht. Nach dem Waffenstillstand, der nicht nur in Gaza, sondern auch unter den Palästinenser*innen im Allgemeinen als Sieg gefeiert wird, dominierten grüne Hamas-Fahnen nicht nur in Gaza, sondern waren auch in Ost-Jerusalem und sogar in Ramallah, der Bastion der Fatah, zu sehen.

Die palästinensische Bevölkerung hat das Recht, für ihre Befreiung und gegen Unterdrückung zu kämpfen. Das geht Hand in Hand mit dem Recht, sich zu verteidigen, auch mit Waffengewalt. Aber wahllose Raketenangriffe aus dem Gazastreifen gaben dem rechten israelischen Regime die Möglichkeit, seine Unterdrückung eines Aufstandes in einen sogenannten Verteidigungskrieg zu verwandeln. Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Es besteht kein Zweifel, dass die Feuerkraft der palästinensischen Milizen ein Schlag für das Prestige des israelischen Regimes war, dessen "Eisenkuppel" (Raketenabwehrsystem) auf eine harte Probe gestellt wurde. Es erschütterte die vom israelischen Regime verbreitete Illusion, dass es über eine undurchdringliche Abschreckungsmacht verfügt. Gleichzeitig war dieser Krieg sehr "einseitig": Ein Krieg gegen die Palästinenser*innen, der von vielen korrekt als Staatsterror bezeichnet wird. Er hat sowohl in der Region als auch international enorme Empörung ausgelöst.

Die Bedingungen haben sich geändert

Dieses Mal war die Situation ganz anders als beim letzten Gaza-Krieg im Jahr 2014. Damals dauerte das Gemetzel 51 Tage lang an. Es fand statt, nachdem sich die Konterrevolution, die auf die Revolutionen des sogenannten Arabischen Frühlings folgte, in einer Reihe von benachbarten arabischen Ländern konsolidiert hatte. Diesmal kam es fast sofort zu Massenprotesten, unter anderem in Tunesien, Irak und Jordanien. Zum ersten Mal seit 2011 wurde die Grenze zum Libanon und zu Jordanien kurzzeitig durchbrochen. Die palästinensische Diaspora geriet in Aufruhr, Milizen im Libanon feuerten Geschosse nach Israel.

Dieses Ausmaß des palästinensischen Aufstandes auf beiden Seiten der Grünen Linie hatte es seit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 nicht mehr gegeben. Das israelische Regime sah sich mit einem Kampf an vier Fronten konfrontiert: Im Gazastreifen, im Westjordanland, im annektierten Ost-Jerusalem und in den Straßen der sogenannten gemischten Städte Israels. Die Illusion, dass es Israel gelingen würde, die Palästinenser*innen zu isolieren und sie in ihrem Kampf um nationale Befreiung zu entmutigen, indem es die Beziehungen zu einer Reihe von arabischen Diktaturen in der Region stärkt, hat sich nun zerschlagen. Der "Normalisierungs"-Prozess hatte sich ohnehin verlangsamt, drohte aber erheblich zurückgeworfen zu werden, wenn Israel eine Bodeninvasion gestartet hätte.

Dreimal blockierte Biden eine von China geführte Verurteilung der anhaltenden Gewalt im UN-Sicherheitsrat, ebenso wie er sich einem französischen Vorschlag widersetzte. Er tat dies trotz des Drucks der linken Demokrat*innen und der öffentlichen Meinung in den USA, die in der Situation der Palästinenser*innen Ähnlichkeiten mit der Notlage der schwarzen Bevölkerung in Amerika sieht. Im Gegenzug machte er dem israelischen Regime zweifellos klar, dass es einen schnellen Waffenstillstand ohne zusätzliche Bedingungen zu schlucken hätte. Die internationalen Solidaritätsdemonstrationen, besonders am Nakba-Gedenktag, auch in der Region selbst, haben den Druck dafür erhöht.

Elemente eines Bürgerkriegs

Ein wichtiger Faktor ist das relativ gestiegene Gewicht der extremen Rechten in Israel. Netanyahu selbst half drei rechtsextremen Gruppen, sich auf einer Liste zu vereinen, und mobilisierte eine Masse seiner eigenen Anhänger*innen, taktisch für sie zu stimmen, damit sie die Wahlhürde erreichen, um seinen Rechtsblock zu sichern. Dieser künstliche Auftrieb verschaffte ihnen mehr Zugang zu den Medien, ließ sie wählen und verschaffte ihnen Selbstvertrauen. Es führte zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Krawallen in einer ganzen Reihe von Städten und Gemeinden.

Banden rechtsextremer Kahanisten, darunter bewaffnete Siedler*innen, zogen kreuz und quer durch die Gemeinden und machten Jagd auf Palästinenser*innen. Die Polizei, die palästinensische Proteste brutal unterdrückt, schaute meist nur zu. Es wurden regelrechte Lynchmorde verübt. In Lydda wurde ein Palästinenser erschossen. Einige dieser Lynchmorde wurden von den Medien aufgegriffen. Sie erregten Abscheu. Im Zusammenhang mit der organisierten Gewalt gegen die Palästinenser*innen kam es auch zu palästinensisch-nationalistischen Angriffen und Lynchversuchen. Dies ermöglichte es Netanyahu, die Anwendung von Gewalt "von beiden Seiten" zu verurteilen.

Im Allgemeinen führte diese Situation jedoch zu einer landesweiten Solidaritätsbewegung zwischen Jüd*innen und Palästinenser*innen unter Slogans wie "Juden und Araber weigern sich, Feinde zu sein". Als Reaktion auf diese Konfrontationen legten "Superbus"-Busfahrer, die in der Gewerkschaft "Power to the Workers" organisiert sind, ihre Arbeit nieder, und jüdische Fahrer begleiteten ihre palästinensischen Kollegen sicher nach Hause. In Jerusalem erklärten Lehrer*innen ihre Solidarität mit einem Proteststreik palästinensischer Studierenden. Die Gewerkschaft der Sozialarbeiter*innen veröffentlichte eine Erklärung, in der es hieß, sie vertrete "alle Sozialarbeiter in Israel, aller Nationalitäten und Religionen und mit einer Vielzahl von Philosophien." Selbst Politiker*innen der harten Rechten sahen sich durch den Druck gezwungen, Lippenbekenntnisse gegen die Gewalt abzugeben, und einige Unternehmen versuchten, mit ähnlichen Erklärungen an die Öffentlichkeit zu gelangen. Natürlich ist dies noch keine klare Opposition gegen Krieg und Besatzung, höchstens eine Botschaft zur Unterstützung der "Koexistenz", aber es ist dennoch eine Entwicklung, die nicht unterschätzt werden sollte.

Lokale Komitees und palästinensischer Streik

Provokationen in Jaffa, der historischen palästinensischen Stadt, die jetzt ein Stadtteil von Tel Aviv geworden ist und immer noch eine bedeutende palästinensische Bevölkerung hat, führten zur Bildung eines "Verteidigungskomitees" gegen Waffengewalt und Kahanisten. In der kommenden Periode wird es wichtig sein, den Kampf gegen die Besatzung, die Blockade, Diskriminierung, Armut und den Kapitalismus auf beiden Seiten der Grünen Linie weiter zu entwickeln, mit mehr Demonstrationen, mehr Streiks und mehr Aktionen des zivilen Ungehorsams. Das erfordert auch die Bildung, Ausweitung und Koordinierung von demokratischen Aktions- oder Verteidigungskomitees, von denen einige bereits existieren.

Dies ist nicht nur eine Frage der Organisation, sondern auch der demokratischen Diskussion und der Ausarbeitung eines Programms. Denn der Sieg über die israelische Militärmaschinerie ist in erster Linie eine politische Frage, eine Frage, welches Programm die Arbeiter*innenklasse und die Jugend am effektivsten in einem gemeinsamen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung vereinen kann.

Ein besonders wichtiger Moment war der palästinensische Streik am Dienstag, den 18. Mai. Er wurde unter dem Druck von unten vom "Hohen Arabischen Folgekomitee" ausgerufen, einer Dachorganisation aller palästinensischen politischen Parteien in Israel, die nach dem Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Schatilla bei Beirut (1982) gegründet wurde. Dies ist nicht das erste Mal, dass dies geschieht. Das Komitee ruft regelmäßig zu solchen Streiks auf, aber dieses Mal war die Mobilisierung außergewöhnlich.

In Ost-Jerusalem, im Westjordanland, in den drusischen Dörfern im Golan-Gebiet und in vielen so genannten gemischten Städten Israels wurde der Streikaufruf massenhaft befolgt. Dies geschah trotz der Drohung, entlassen zu werden, trotz der Tatsache, dass viele auf einer schwarzen Liste landen werden, trotz der Tatsache, dass etwa 1.500 Palästinenser*innen verhaftet wurden und Kahanisten auf Facebook-Seiten nach Streikenden suchten, um ihre Entlassung zu fordern.

Es war ein aktiver Streik, mit Streikposten und an einigen Orten Barrikaden. Laut Haaretz verdeutlichte er die Abhängigkeit Israels von palästinensischen Arbeiter*innen, und der Streik soll etwa 40 Millionen Dollar gekostet haben. Der Präsident der Reinigungsgewerkschaft erklärte: "Ohne sie können wir unsere Arbeit nicht machen, sie sind ein Teil von uns". Der israelische Bauverband erklärte, dass nur 150 der 65.000 palästinensischen Bauarbeiter auf israelischen Baustellen arbeiteten. Nach Angaben des Verkehrsministeriums sind 10% aller Busfahrer*innen nicht erschienen. Das Folgekomitee schätzte die Zahl der Streikenden auf mehr als die Hälfte der arabischen Bevölkerung.

Es wurde eine Machtdemonstration, die zumindest einige jüdische Arbeiter*innen auch verstanden und in diesem Sinne eine Entwicklung, die alle Arbeiter*innen stärkte. Die Führung der Histadrut (der wichtigste israelische Gewerkschaftsverband) weigerte sich, den Streik anzuerkennen und rief die Hafenarbeiter*innen sogar zum Boykott italienischer Schiffe auf, als Reaktion auf die Weigerung der Hafenarbeiter*innen aus Livorno, militärische Ausrüstung für Israel umzuschlagen. Das Arbeiter*innenkomitee der Elektrizitätsgesellschaft rief sogar reaktionär dazu auf, keine Stromleitungen nach Gaza zu verlegen. Aber es gab auch einige Solidaritätserklärungen von jüdischen Arbeiter*innen mit ihren Kolleg*innen. Es wurde sofort klar, welche wirtschaftliche Macht die palästinensischen Arbeiter*innen besitzen.

Ein ultimativer Test

Eine Krisensituation wie diese ist auch eine ultimative Prüfung für revolutionäre Parteien. Es geht darum, dem patriotischen Druck zu widerstehen, der mit solchen Entwicklungen einhergeht, der demoralisierenden Wirkung, die er haben kann, der Tendenz, einen Klassenansatz aufzugeben und sich von einer Flut der "nationalen Einheit" unter den Unterdrückten mitreißen zu lassen, sogar mit reaktionären und bürgerlichen Kräften. Und der Tendenz zu widerstehen, dass der Hass auf den Unterdrücker sich in einen Hass auf die Arbeiter*innenklasse der unterdrückenden Nation verwandelt.

Wir müssen oft gegen den Strom schwimmen, aber in einer solchen Situation kann das unerträglich schwer sein. Kontinuierlich politische Arbeit um ein sorgfältig ausgearbeitetes Programm herum zu leisten, das einen sensiblen Ansatz verfolgt und gleichzeitig prinzipientreu bleibt, und dieses Programm in konkrete Aktionen umzusetzen, ist eine große Herausforderung. Socialist Struggle (ISA in Israel/Palästina) war bei dieser Herausforderung auf beiden Seiten der Grünen Linie erfolgreich, was uns heute in eine günstigere Position bringt.

Unser Programm basiert natürlich auf einer Reihe von unmittelbaren Forderungen: ein Ende des Krieges durch Massenmobilisierung, der polizeilichen und militärischen Repression gegen Proteste, der Angriffe auf Zivilist*innen, des Einsatzes von Sicherheitskräften in Al Aqsa, der rechtsextremen Provokationen, der Enteignungen in Sheikh Jarrah und der Vertreibung der palästinensischen Bewohner*innen von Ost-Jerusalem. Wir verbinden dies mit der Notwendigkeit, die Siedlungspolitik zu beenden, drücken unsere Solidarität mit den Kriegsopfern aller Gemeinschaften aus und fordern ein Ende der Belagerung und Blockade des Gazastreifens und der kollektiven Bestrafung seiner Bevölkerung.

Wir betonen, dass Frieden ohne einen Kampf gegen Besatzung, Armut und Ungleichheit, gegen korrupte Eliten und für Gesundheitsversorgung, Lebensunterhalt und Soziales für alle in der Region unmöglich ist. Wir rufen auf zur Einheit unter Arbeiter*innen und Jugendlichen, zur Solidarität an Arbeitsplätzen und Universitäten gegen nationalistische "Teile und herrsche"-Methoden, gegen die extreme Rechte und gegen Eskalation. Wir sind für die Bildung von Aktionskomitees zur Selbstverteidigung und die demokratische Organisation und Verbreitung des Kampfes. Wir sind gegen die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser*innen, für ein unabhängiges sozialistisches Palästina mit seiner Hauptstadt in Ost-Jerusalem und für einen sozialistischen Wandel in Israel und der gesamten Region.

Die Entwicklung unseres Programms

Ein sozialistisches Programm muss auf die konkrete Situation reagieren. Da sich die Situation ständig ändert, muss auch das Programm ständig an die konkreten Erfordernisse eines bestimmten Augenblicks angepasst werden. Im Jahr 1948 waren Marxist*innen gegen die Gründung Israels. Denn die Antwort der Zionist*innen auf die "jüdische Frage", ein Heimatland für Jüd*innen in Palästina, bedeutete, den Palästinenser*innen dasselbe Recht zu verweigern. Das konnte nur durch die gewaltsame Vertreibung der arabischen Bevölkerung geschehen. Ein solcher jüdischer Staat müsste, um zu überleben, zwangsläufig übermilitarisiert und ein Instrument des Imperialismus sein. Das Verbrechen des Antisemitismus führte also zum Verbrechen des Zionismus, einem Verbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung.

Die arabischen Führungseliten wurden vom Imperialismus gespalten und gegeneinander ausgespielt. Sie manövrierten untereinander und teilten nur ihre rhetorische Verurteilung Israels. Auf dieser Grundlage konnte sich Israel konsolidieren und 1967 unter anderem das Westjordanland und Jerusalem erobern. Das war keine Lösung, sondern schürte nur noch mehr Hass unter den arabischen Massen. Unsere Vorläufer*innen schrieben 1967, dass es nur unter der Führung der Arbeiter*innenklasse möglich sei, eine demokratische Föderation aller arabischen Staaten aufzubauen, einschließlich Israel als autonome Region und mit vollen gleichen Rechten für alle Minderheiten, einschließlich des Rückkehrrechts für palästinensische Geflüchtete, die dies wünschen.

In der Zwischenzeit sind Generationen von Jüd*innen in Israel aufgewachsen, einer Gesellschaft, die von der Klassenspaltung zerrissen ist, geplagt von Diskriminierung, Arbeitslosigkeit, einer Wohnungskrise und Armut. Die reaktionäre Idee, "die Jüd*innen ins Meer zu treiben", ist militärisch indiskutabel, und ihre Existenz stärkt nur den Griff der zionistischen Reaktion über die jüdische Bevölkerung.

Auf einer kapitalistischen Basis sind sowohl ein einziger binationaler Staat als auch eine Zweistaatenlösung utopisch. Die israelische herrschende Klasse hat kein Interesse daran, Millionen von Palästinenser*innen gleichen Zugang zu ihrem Staat zu gewähren, und ein palästinensischer Staat wäre bestenfalls ein Vasallenstaat, unfähig, die Probleme der fortgesetzten nationalen Unterdrückung, Armut und Arbeitslosigkeit für die palästinensischen Massen zu lösen. Die Ausdehnung der Kolonien im Westjordanland hat das Gebiet in separate Enklaven aufgeteilt, mit dem Ziel, die Hoffnungen der Palästinenser*innen auf einen eigenen Staat zu zerschlagen.

Unter diesen Umständen kann nur ein Massenkampf für nationale und soziale Befreiung einen Ausweg bieten. Der palästinensische Jugendaufstand und der Generalstreik zeigen, wie dieser Kampf entwickelt und auf alle palästinensischen Gemeinschaften innerhalb der Grenzen von 1967 und 1948 und in der gesamten Region ausgeweitet werden könnte. Diese Bewegung kann Arbeiter*innen, Jugendliche und unterdrückte Gemeinschaften innerhalb der israelischen Gesellschaft ansprechen und helfen, den Kampf gegen den israelischen kapitalistischen Staat, seine repressiven Maßnahmen, seine "Teile und herrsche"-Politik, die Angriffe auf Arbeiter*innen und das soziale Elend zu entwickeln. Ein sozialistischer palästinensischer Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt und ein sozialistisches Israel als Teil einer sozialistischen Konföderation im Nahen Osten ist der einzige Weg, Besatzung, Diskriminierung, Armut, Ausbeutung und Krieg zu beenden. In der Vergangenheit haben wir Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt befürwortet, aber die Politik der Enteignung palästinensischer Familien und der jüdischen Siedlungen macht es notwendig, die Notwendigkeit eines gleichberechtigten Status zweier nationaler Hauptstädte in Jerusalem noch mehr zu unterstreichen.

Eine sozialistische, demokratische Planwirtschaft für die gesamte Region und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gemeinschaften würde es ermöglichen, die Rückkehr der Palästinenser*innen, die dies wünschen, zu organisieren, die Grenzen demokratisch zu diskutieren, einschließlich einer Erweiterung des Territoriums von Palästina, und die Siedlungen im Westjordanland aufzulösen. Nur dann wären Frieden in der Region und Wohlstand für alle möglich.

31.05. - Internationaler Aktionstag gegen Repression in China und Hongkong

Sozialistische LinksPartei

Am Montag, den 31. Mai, werden 'Long Hair' Leung Kwok-hung und 46 weitere Angeklagte wegen "Anstiftung zur Subversion gegen die Staatsmacht" vor Gericht stehen. Die Kampagne Solidarity Against Repression in China & Hong Kong und die International Socialist Alternative organisieren am 31.05. einen Internationalen Protesttag in Solidarität mit den Genoss*innen, Aktivist*innen und Arbeiter*innen in China und Hongkong, die unter der Repression zu leiden haben. In Wien gibt es eine Kundgebung um 15 Uhr vor der Botschaft der VR China.

Wir stehen an der Seite der Feminist*innen in der Volksrepublik, die von Staat und sexistischen Rechten angegriffen werden.

Wir stehen an der Seite der chinesischen Arbeiter*innen, die unter Bedingungen der Illegalität Streiks organisieren.

Wir stehen an der Seite der Demokratiebewegung in Hongkong, die gegen die Abschaffung der letzten demokratischen Rechte kämpfen.

In Zeiten zugespitzter Widersprüche innerhalb wie auch zwischen China und den USA stehen wir auf der Seite der Arbeiter*innen in allen Ländern und gegen autoritäre Regierungen, Nationalismus, Imperialismus und den neuen Kalten Krieg.

Hier geht's zu einem ausführlichen Artikel der Solidaritätskampagne über den Fall 'Long Hair' Leung Kwok-hung.

Hier geht's zu einem Artikel über die Solidaritätskampagne.

Video der Kampagne (englisch).

 

Weitere wichtige Texte (englisch):

Mehr zum Thema: 

"Subversions"-Prozess in Hongkong – Internationaler Protesttag am 31. Mai

Freiheit für "Long Hair" und alle politischen Gefangenen in Hongkong
von Solidarity Against Repression in China and Hong Kong

Am Montag, den 31. Mai, werden 'Long Hair' Leung Kwok-hung und 46 weitere Angeklagte wegen "Anstiftung zur Subversion gegen die Staatsmacht" vor Gericht stehen. Dies ist die zweite Vernehmung im bisher größten Prozess unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz, das letztes Jahr von Xi Jinpings KPCh-Diktatur eingeführt wurde. Wird er für schuldig befunden, drohen ihm bis zu lebenslange Haft.

Die erste Vernehmung in diesem Fall, der am 1. März begann, stellte eine düstere Warnung dar, wie das neue Gesetz zur Unterdrückung politischer Abweichung eingesetzt werden wird. Sechsunddreißig der 47 Angeklagten, darunter auch "Long Hair", wurde die Kaution verweigert und sie wurden in Gewahrsam genommen, während die Polizei ihre "Ermittlungen" fortsetzte. Bisher wurde in Hongkong normalerweise Kaution gewährt, außer in sehr schweren Fällen wie Mordprozessen, nach dem Prinzip, dass der Angeklagte unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist. Die Anhörung im März zog sich über vier Tage hin, wobei den Angeklagten die Möglichkeit verweigert wurde, zu duschen oder sich umzuziehen. Zehn der Angeklagten fielen in Ohnmacht und vier wurden ins Krankenhaus gebracht, darunter "Long Hair", der an einem Herzleiden leidet.

Mit diesem Subversionsprozess hat das chinesische Regime fast die gesamte Riege der Oppositionsführer*innen und der vorgeschlagenen Kandidat*innen aus dem gesamten regierungskritischen Spektrum ausgeschaltet, darunter Gewerkschafter*innen, pro-westliche Liberale und rechte Lokalist*innen (eine antichinesisch-nationalistische Bewegung in Hongkong). Unter ihnen sind ehemalige Abgeordnete wie "Long Hair", der fünfmal in den nun entmachteten Legislativrat (Legco, Hongkonger Scheinparlament) gewählt wurde. Xis Regime hat ein neues politisches System eingeführt, nach dem vier Fünftel der Sitze im Legislativrat von einem von der KPCh kontrollierten Komitee oder von Wirtschaftsgruppen vergeben werden, und alle Kandidat*innen zunächst von der Geheimpolizei überprüft werden, um sicherzustellen, dass nur "Patrioten" kandidieren können. Die Definition von "Patrioten" ist jene, die sklavisch Xis Regime gehorchen und niemals seine repressive Politik kritisieren.

Der Vorwurf der Subversion gegen die 47 Angeklagten basiert auf ihrer Teilnahme an einer inoffiziellen "Vorwahl" im Juli 2020 nur wenige Wochen, nachdem das Gesetz zur nationalen Sicherheit verhängt wurde. Mehr als 610.000 Wähler*innen, eine unglaublich hohe Wahlbeteiligung, gaben ihre Stimmen in dieser "Vorwahl" ab, um zu entscheiden, welche pro-demokratischen Kandidat*innen bei den (später abgesagten) Legco-Wahlen im September 2020 antreten sollten. Die KPCh behauptet, die "Vorwahl" sei eine Verschwörung zum Sturz der Hongkonger Regierung gewesen.

Sowohl Gewinner*innen als auch Verlierer*innen werden wegen Subversion angeklagt. 'Long Hair' hat seinen Vorwahlkampf nicht gewonnen und wäre somit nach dem Ergebnis vom Juli kein Kandidat gewesen. Die Tatsache, dass ein Kämpfer mit einer nachgewiesenen Erfolgsbilanz im Kampf ausgeschaltet wurde, zeigt das widersprüchliche - sogar chaotische - politische Bewusstsein der Hongkonger Demokratiebewegung. Die Massenproteste des Jahres 2019 erreichten unglaubliche Höhepunkte mit bis zu zwei Millionen Menschen auf den Straßen. Sie zeigten eine enorme Kreativität und Tapferkeit gegen riesige Risiken.

Lehren aus 2019

Die Jugend, die die treibende Kraft der Kämpfe war, lehnte die kompromissbereiten pan-demokratischen Politiker*innen, die zuvor die Oppositionspolitik dominierten, aber zunehmend als "zu weich" und als Bremse des Kampfes angesehen wurden, weitgehend ab - eine richtige Einschätzung. Unglücklicherweise führte die Konzentration der Bewegung auf militante "Aktion" unter Ausschluss von Politik und ihr Glaube an "Spontanität" auf Kosten des Aufbaus organisierter Massenstrukturen (demokratischer Komitees, Gewerkschaften, Streikkomitees und einer politische Partei der Arbeiter*innenklasse) zum Aufstieg vieler "neuer", aber politisch sehr begrenzter und diffuser Figuren und Gruppierungen (die zwar radikal klingen, aber keine Strategie oder Vorstellung davon haben, was zum Sieg nötig ist).

Zur letzteren gehörten auch Gruppen, deren einzige "Strategie" vor allem in den späteren Phasen, als die Bewegung sich erschöpfte, darin bestand, ihre Hoffnungen auf (eigentlich oberflächliche) Sanktionen der USA und der rechten westlichen Regierungen zu setzen. Statt eines effektiven Weges nach vorne stellt dies eine völlige Sackgasse und ein gefährliches Missverständnis dessen dar, worum es bei ausländischen kapitalistischen Regierungen wirklich geht.

Solidarität gegen Repression in China und Hongkong und Internationale Socialist Alternative rufen unsere Genoss*innen und Sympathisant*innen auf, aus Anlass des Prozesses am 31. Mai mit Solidaritätsprotesten in Städten und Gemeinden auf der ganzen Welt auf die Straße zu gehen. In Großstädten wären Proteste vor den Botschaften oder Konsulaten Chinas eine geeignete Option, aber auch die Büros der Anglo-Hongkonger Megabank HSBC könnten in einigen Ländern in kleineren Städten und Ortschaften ein guter Schwerpunkt für Proteste sein (die HSBC-Bosse sind mitschuldig an der Einführung des Gesetzes zur nationalen Sicherheit - der Asien-Pazifik-Chef von HSBC, Peter Wong Tung-shun, ist Mitglied der CPPCC der Diktatur und hat sich für das Gesetz eingesetzt).

Wir fordern die Abschaffung des Nationalen Sicherheitsgesetzes für Hongkong und die Freilassung der politischen Gefangenen. Wir betonen die Notwendigkeit, den revolutionären Massenkampf gegen die Diktatur wiederaufzubauen und den Kampf auf China auszuweiten und dies mit dem Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu verbinden, der überall die demokratischen Rechte bedroht.

 

Wir dokumentieren hier den Text eines neuen Flugblattes von Solidarität gegen Repression in China und Hongkong:

Stoppt die Repression in China und Hongkong

Für Solidarität von unten und Internationalismus - Kein Vertrauen in Politiker*innen und Regierungen des Big Business

In Hongkong wurden seit Ausbruch der Massenproteste gegen die Regierung im Jahr 2019 10.200 Menschen verhaftet. Über 600 wurden bisher wegen politischer Vergehen wie "Aufruhr" und "ungesetzliche Versammlung" verurteilt, viele erhielten extrem hohe Haftstrafen von fünf Jahren oder mehr. Die chinesische Diktatur (KPCh) bezeichnet die Demonstrant*innen als "Terroristen" und "ausländische Agenten" und hat ein neues Nationales Sicherheitsgesetz erlassen, um die Demokratiebewegung zu zerschlagen. Nach diesem Gesetz beträgt die Höchststrafe lebenslange Haft.

Hongkong war einst der einzige Teil Chinas mit einigen begrenzten demokratischen Rechten. Seit dem Erlass des nationalen Sicherheitsgesetzes ist die Stadt de facto zu einem Polizeistaat geworden. Chinas Diktator Xi Jinping will den "Virus" der Demokratie ausrotten, von dem er befürchtet, dass er sich von Hongkong auf das Festland ausbreitet, aber er will auch Härte gegenüber den USA und den westlichen Regierungen in ihrem sich verschärfenden Konflikt des Kalten Krieges zeigen.

Unterdrückung in Hongkong

Leung Kwok-hung alias Long Hair ist in Hongkong wegen "Subversion" angeklagt. 

Über 100 Aktivist*innen wurden bisher wegen schwerer Vergehen unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz angeklagt. Die Meinungsfreiheit wird unter diesem Gesetz massiv unterdrückt. Der Slogan "Beendet die Einparteienherrschaft", der seit vielen Jahren eine Hauptforderung der Demokratiebewegung und der millionenstarken Märsche ist, wird nun als Subversion eingestuft - bestraft mit lebenslanger Haft.

Der 4. Juni, der Jahrestag des Massakers von 1989 am Platz des Himmlischen Friedens, als Hunderte von der Armee abgeschlachtet wurden, ist in China ein verbotenes Thema. Der 4. Juni wurde bisher nur in Hongkong begangen, wo 2019 180.000 Menschen an der Mahnwache teilnahmen. 2021 ist die Mahnwache in Hongkong zum zweiten Mal in Folge verboten worden.

Die Gewerkschaften in Hongkong sind Zielscheibe der chinesischen Repressionen. Die 3.000 Mitglieder zählende Gewerkschaft für neue Beamte wurde im Januar aufgelöst. Zwei Gewerkschaftsführer*innen, Carol Ng Man-yee von der HKCTU und Winnie Yu Wai-ming von der HAEA, wurden wegen Subversion angeklagt. Ng ist als Gewerkschaftsvorsitzende zurückgetreten und hat ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei abgebrochen, um ihre Strafe zu verringern. Mehrere andere Angeklagte haben ebenfalls alle ihre politischen Verbindungen gekappt.

Der altgediente Linke und Demokratieaktivist Leung Kwok-hung, genannt "Long Hair", ist unter denjenigen, die unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz angeklagt sind. Er wurde bereits zu 18 Monaten Gefängnis wegen "ungesetzlicher Versammlung" nach einem Gesetz aus der britischen Kolonialzeit verurteilt - eine Erinnerung daran, dass Chinas Regierung kein Monopol auf repressive Gesetze hat.

Repression in China

Die Situation in China ist noch schlimmer. Gewerkschaften sind illegal, abgesehen von einer staatlichen Pseudo-Gewerkschaft, dem ACFTU, der nie (nicht ein einziges Mal) einen Arbeiter*innenstreik unterstützt hat. Arbeiter*innen werden oft ins Gefängnis geworfen, wenn sie streiken oder protestieren, besonders wenn sie versuchen, sich zu organisieren. Anführer*innen werden beschuldigt, "von ausländischen Kräften manipuliert" zu sein. Feminist*innen werden auch als "unpatriotisch" und "von ausländischen Ideen korrumpiert" angegriffen.

Im Jahr 2018 wurden im berühmten Jasic-Kampf Dutzende von linken Jugendlichen und selbsternannten Maoist*innen inhaftiert und gefoltert, weil sie Solidarität mit streikenden Fabrikarbeiter*innen organisiert hatten. Eine Diktatur, die fälschlicherweise behauptet, "kommunistisch" zu sein, attackiert und inhaftiert also tatsächliche Kommunist*innen und Arbeiter*innen, nicht nur liberale Politiker*innen und Demokratieaktivist*innen wie in Hongkong.

In Xinjiang, der Heimat von 12 Millionen uigurischen Muslim*innen, finden im Namen der Bekämpfung des "Terrorismus" grausame Repressionen statt. Die chinesische Diktatur unterstützte den "Krieg gegen den Terror" des Westens nach 2001 und nutzte dies, um ihr eigenes Vorgehen gegen die muslimische Minderheit zu erleichtern und ihre Kontrolle über das ressourcenreiche Xinjiang zu festigen. Die Uigur*innen werden mit diskriminierenden rassistischen Gesetzen und einem massiven High-Tech-Überwachungssystem einschließlich Masseninternierungslagern regiert. Xis Regime leugnete zunächst die Existenz der Lager, änderte dann aber seine Haltung, als die Beweise unbestreitbar wurden - und nannte sie "Berufsschulen"!

In den Städten Xinjiangs gibt es überall Kontrollpunkte – Muslim*innen müssen Schlange stehen, um durchsucht zu werden, nicht aber Han-Chines*innen. 

Solidarität gegen Repression in China und Hongkong (SARCHK) ist eine internationale Kampagne, die von der International Socialist Alternative (ISA) und unseren Genoss*innen in China, Hongkong und Taiwan ins Leben gerufen wurde. Wir haben eine Erfolgsbilanz im Kampf für demokratische Rechte und zur Unterstützung von Arbeitskämpfen.

SARCHK entlarvt die wahre Rolle der chinesischen Diktatur, die von Milliardär*innen dominiert wird - China hat jetzt mehr Milliardär*innen als die USA - und eine der schlechtesten Bilanzen der Welt in Bezug auf die Rechte der Arbeiter*innen hat. Wir entlarven auch die Heuchelei der Anti-China-Rhetorik westlicher Regierungen, die oft benutzt wird, um Rassismus zu schüren, um Spaltung zu verursachen und leere Behauptungen zur Förderung von "Demokratie" und "Menschenrechten" aufstellt.

Demokratie vs. Diktatur

  • - Die USA gewähren 73% der Diktaturen der Welt Militärhilfe. China kann das nicht toppen!
  • - Großbritannien hat Hongkong 154 Jahre lang regiert und nicht ein einziges Mal eine Wahl abgehalten.
  • - Regierungen in "demokratischen" Ländern unterstützen und stützen immer die Regime, die es ihnen ermöglichen, Profite zu machen. Wie Myanmar zeigt, ist zur Bekämpfung der Diktatur ein revolutionärer Massenkampf von Arbeiter*innen und jungen Menschen notwendig.

Die USA, die EU und andere westliche Regierungen und ihre Großkonzerne arbeiteten viele Jahre lang Hand in Hand mit Chinas Diktatur. Gemeinsam verschweigen sie Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen und halfen Chinas Polizeistaat sogar bei der Entwicklung einiger seiner fortschrittlichsten Überwachungstechnologien. Ihr einziges Anliegen war es, aus Chinas unorganisierter Belegschaft Profit zu schlagen und Chinas wachsenden Markt zu erschließen. Der neue Kalte Krieg markiert das Ende dieser angenehmen Beziehung, die einer wachsenden Feindschaft zwischen dem westlichen und dem chinesischen Kapitalismus weicht.

Der Kampf für Demokratie - für demokratische Rechte wie Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht, sich in Gewerkschaften und politischen Gruppen zu organisieren, zu streiken, bei freien Wahlen zu kandidieren oder abzustimmen und eine Regierung rauszuwerfen - diese Rechte wurden immer nur durch Massenkämpfe errungen, insbesondere durch Kämpfe der Beschäftigten mit der kapitalistischen Klasse auf der gegenüberliegenden Seite der Barrikaden, wie es heute in Hongkong der Fall ist.

Einziger Weg: Klassenkampf

Demokratische Rechte wurden noch nie von einer herrschenden Gruppe oder einem Regime verliehen, und noch nie von einer ausländischen Regierung oder einer "internationalen Gemeinschaft". Das liegt daran, dass echte demokratische Rechte und der dafür notwendige Klassenkampf eine ernsthafte Bedrohung für das kapitalistische System darstellen, in dem eine winzige Minderheit die gesamte reale Macht innehat.

Deshalb baut Solidarität gegen Repression in China und Hongkong eine aktive Solidarität an der Basis mit dem antiautoritären Kampf in China und Hongkong auf und lehnt es entschieden ab, sich auf die Seite einer kapitalistischen Regierung zu stellen oder diese zu unterstützen. Die Arbeiter*innenbewegung, Bewegungen von Frauen, Jugendlichen und unterdrückten Minderheiten, das sind die einzigen Kräfte, die repressive Regimes besiegen können.

Um unsere Kampagne zu unterstützen, Aktionen zu diskutieren und Informationen über unsere Aktivitäten in eurem Land und an eurem Ort zu erhalten, schreibt uns unter hk.repression@gmail.com.

Wofür wir stehen:

  • Nein zum Nationalen Sicherheitsgesetz für Hongkong.
  • Freiheit für politische Gefangene in Hongkong und China. Wiederaufbau und Verbreitung des Kampfes für Massendemokratie.
  • Schluss mit Masseninhaftierung, Zwangsarbeit und Diskriminierung von Uigur*innenen und nationalen Minderheiten. Für eine geeinte multiethnische Bewegung gegen die Diktatur.
  • Für unabhängige Gewerkschaften und das Recht auf Streik. Organisiert mit uns gewerkschaftliche Solidarität mit den Arbeiter*innen in China und Hongkong.
  • Internationale Solidarität - Nein zu Nationalismus, Imperialismus und dem neuen Kalten Krieg.

Jerusalem brennt wieder

Provokationen durch Polizei und Rechtsextreme haben zu einer gefährlichen Eskalation mit vielen Toten und Verletzten geführt, gleichzeitig gibt Netanjahu grünes Licht für weitere Polizeigewalt.
Ein Interview mit Yasha Marmer (Socialist Struggle, ISA in Israel und Palästina), erschienen am 12. Mai 2021 auf der Website der ISA.

Bidens Außenpolitik und die arabischen Regierungen, die am Normalisierungsprozess beteiligt sind, im Zuge dessen sie Israel als Staat anerkannt haben, stehen vor einer großen Herausforderung, nachdem friedliche Proteste von Palästinenser*innen, die ihre Häuser und ihr Versammlungsrecht verteidigten, durch Polizei- und rechtsextreme Gewalt in ein Blutbad verwandelt wurden. Die Situation hat auch das israelische politische System unter Druck gesetzt, das gerade versucht, eine neue Koalitionsregierung mit dem rechtsextremen Naftali Bennet am Steuer zu schmieden, an der sowohl die „Labour Party“ als auch die linke Meretz beteiligt sind. Unter dem Druck der Ereignisse wurde die Arabische Partei bereits gezwungen, sich aus den Verhandlungen zurückzuziehen. Von nicht geringerer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Wahlen der Palästinensischen Autonomiebehörde verschoben wurden, da die Fatah-Fraktion des regierenden Präsidenten Mahmud Abbas Angst hatte, die Abstimmung zu verlieren.

International Socialist Alternative erörtert die Situation und erklärt wie revolutionäre Sozialist*innen darin intervenieren mit Yasha Marmer von Socialist Struggle.

ISA: Wie würdest du die aktuelle Situation beschreiben?

YM: Das Ganze begann ursprünglich, als Palästinenser*innen versuchten, sich gegen Siedler*innen zu wehren, die versuchten, sie aus ihren Häusern im Stadtteil Sheikh Jarrah zu vertreiben, eskalierte aber, als die israelischen Streitkräfte versuchten, Palästinenser*innen daran zu hindern, sich während des Ramadan zu versammeln. Die Proteste haben viele fortschrittliche Elemente, sie begannen als eine populäre Bewegung von Jugendlichen gegen die Unterdrückung und haben einige Elemente mit früheren Protesten gemeinsam.

Sie haben sich zu einem breiten Aufstand entwickelt zu einem Zeitpunkt, an dem es eine ernsthafte Regierungskrise gibt, die Corona-Krise (obwohl Israel eine hohe Impfrate angibt, wurden die palästinensischen Massen weitgehend ignoriert) und eine ernsthafte Besorgnis im gesamten Nahen Osten, da die Regierungen, die ihre Beziehungen zu Israel „normalisiert“ haben, mit den Auswirkungen im eigenen Land konfrontiert sind. Es ist auffällig, dass die Regierungen von Marokko und Sudan, die sich Ende letzten Jahres angeschlossen haben, bisher geschwiegen haben. Am Freitag gab es eine Massendemonstration in der jordanischen Hauptstadt Amman und an anderen Orten in Solidarität mit den palästinensischen Demonstrant*innen.

Zugleich sollten wir die reaktionären Aspekte der Situation nicht ignorieren. Die Situation hat sich qualitativ verändert, als die Hamas begann, Raketen auf Israel zu feuern.

Die Zahl der Toten in Gaza steigt rapide an. Es sind bereits 48, darunter 14 Kinder. Es gibt Hunderte von Verwundeten. Augenzeugen in Gaza berichten, dass israelische Kampfflugzeuge Wohnhäuser angegriffen haben, und es wurde jetzt berichtet, dass ein Hochhaus brennend eingestürzt ist. Als die Angriffe der israelischen Armee weitergingen, antwortete die Hamas gestern mit dem Abschuss von Hunderten von Raketen auf den Süden Israels, wobei zwei israelische Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass wir jetzt in eine länger andauernde militärische Eskalation eintreten, die nicht innerhalb der nächsten zwei oder drei Tage enden wird. Die israelische Armee hat die Mobilisierung von weiteren 5000 Soldat*innen angekündigt. Diese wären nicht für eine sofortige Bodeninvasion, sondern für verschiedene Unterstützungsaufgaben. Das ist ein sehr beunruhigendes Zeichen.

Aber was wichtig zu verstehen ist, ist, dass sich das Gleichgewicht zwischen den progressiven und reaktionären Elementen ständig verändert.

ISA: Wie konnte die Situation so eskalieren?

Es ist der Monat Ramadan. Die Polizei wollte offensichtlich nicht, dass sich die Jugendlichen vor dem Damaskustor in der Altstadt versammeln, welches normalerweise ein Ort für nächtliche Feiern ist, wenn Muslime ihr tägliches Fasten brechen. Die Jugendlichen stellten sich der Polizei mit Demonstrationen entgegen, und es kam sogar zu Zusammenstößen, bis die Entscheidung außer Kraft gesetzt wurde. Dies war ein Sieg mit einigen Parallelen zu dem, was 2017 geschah. Aber es hat nicht gereicht, um die Situation zu beruhigen.

In Ostjerusalem selbst hatten wir in den letzten Tagen und über Nacht Hunderte von Verletzten, es gab Demonstrationen und weitere Zusammenstöße, nicht nur in der Stadt selbst, sondern an verschiedenen Kontrollpunkten sowie in Ramallah in den besetzten Gebieten. Auch innerhalb Israels kam es zu Demonstrationen, hauptsächlich von Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft. Im Laufe des Tages haben die Demonstrationen an Größe zugenommen, was positiv ist, denn das israelische Regime fürchtet sie eindeutig. Aber parallel dazu gab es auch Angriffe auf Polizeifahrzeuge in Israel und, wie vielleicht berichtet wurde, auf religiöse Gebäude. Tatsächlich stand die religiöse Einrichtung in Verbindung mit den rechtsextremen Siedlern. Das war zwar nicht einfach wahllose nationalistische Gewalt gegen Israelis, aber könnte sich in wenigen Tagen dazu entwickeln.

Andererseits entwickelt sich ein Streik der palästinensischen Student*innen. Auch das ist ein neues Merkmal in der Situation.

Es ist wichtig zu verstehen, wie das alles zustande kam. In Ostjerusalem hatte es während des Ramadan Demonstrationen auf den Straßen und in den Moscheen während der Gebete von Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft gegeben. Viele kamen aus anderen Gegenden nach Jerusalem – die meisten nicht mehr als zwei Autostunden entfernt. Ein nützliches Video von Middle East Eye über den Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee kann hier gesehen werden.

Bis jetzt war die Teilnahme aus politischen Gründen begrenzt. In Jerusalem leben nicht nur Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft, sondern auch arabische Palästinenser*innen, die sich eher als Araber*innen oder Beduinen sehen, und das hat den Kampf gespalten. Aber mit der neuen Generation, die in den Kampf eingreift, wird diese Trennung überwunden. Es ist ein allmählicher, aber sehr wichtiger Prozess.

Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Drumpf die Bühne verlässt. Von Biden wird Netanjahu offensichtlich nicht die gleiche Art von Rückendeckung für alle seine provokativen Schritte erhalten. Wir reden hier nicht nur über Angriffe auf Palästinenser*innen, wie sie 2017 stattfanden oder den Normalisierungsprozess, da ist auch die Entscheidung von 2018, Jerusalem zur ausschließlich  israelischen Hauptstadt zu machen, die Ausweitung der Siedlungen oder das brutale Vorgehen gegen die Demonstrant*innen im Sommer 2018 an der Grenze zu Gaza. Drumpfs Unterstützung für solche Aktionen ist nicht mehr da.

Außerdem ist die Netanjahu-Regierung nach der Wahl so schwach wie seit über zehn Jahren nicht mehr, während die palästinensische Autonomiebehörde nach der Verschiebung der Wahl geschwächt ist. Das ist wichtig, denn es gibt große Wut auf die palästinensische Autonomiebehörde, die behauptete, dies sei notwendig, weil die israelischen Behörden keine Wahlen in Ost-Jerusalem zulassen würden. Viele Palästinenser*innen entgegnen, dass die Behörde nichts getan habe, um zum Beispiel die Wahl so zu organisieren wie das Unabhängigkeitsreferendum, das es in Katalonien gab. Sie könnten, so argumentieren die Jugendlichen, Wahlurnen in Schulen oder, in Jerusalem, in religiösen Gebäuden aufstellen, um die Abstimmung zu schützen. Aber die palästinensischen Behörden haben nichts dergleichen getan.

Es gibt offensichtlich Wut, aber auch eine Stärkung der Jugend, die die palästinensische Autonomiebehörde nur als einen weiteren Kontrollmechanismus der Besatzung sieht. In Jerusalem ist das weniger der Fall, da sie nicht präsent sein dürfen, aber im Westjordanland, besonders in den Gebieten, in denen die israelische Armee die Städte umstellt, ist es innerhalb dieser Städte die palästinensische Polizei, die hart durchgreift. Aber durch die Verschiebung der Wahl hat die PA viel an Autorität eingebüßt. Auch das ist ein wichtiges Merkmal, das sich parallel zu den anderen Prozessen entwickelt.

ISA: Wie ist das Bewusstsein der aktuell Beteiligten?

YM: Das ist die Vorgeschichte dazu, wie die Bewegung ihren ersten Sieg errungen hat, als die Einschränkungen, die vor zwei Wochen für die Versammlung der Jugendlichen am Tor eingeführt wurden, aufgehoben wurden. Der Widerstand verlagerte sich dann in das Viertel Sheikh Jarrah, das zum neuen Zentrum des Widerstandes wurde. Die Siedler dort sind mit staatlicher Unterstützung sehr gut organisiert, wenn es darum geht, palästinensische Familien aus ihren Häusern zu vertreiben. Der Kampf findet dort schon seit vielen Jahren statt, obwohl die Demonstrationen bis vor kurzem sehr klein waren – jeweils mit 20-50 Leuten, die Hälfte davon linke jüdische Aktivist*innen, die aus Solidarität gekommen sind. Aber jetzt, in der letzten Woche oder so, hat sich das Bild völlig verändert mit der militanten Jugend aus Ost-Jerusalem, aber auch mit Jugendlichen aus anderen Gegenden, die dazukommen.

Ich habe mir viel Mühe gegeben, die Bewegung, die sich entwickelt hat, zu beschreiben.

Offensichtlich sind wir jetzt in den letzten 24 Stunden mit einer militärischen Eskalation konfrontiert. Aber die Dinge entwickeln sich parallel weiter. Aufgrund des Bewusstseins der Jugend in Ostjerusalem wurden die Raketen, die von der Hamas abgefeuert wurden, zunächst nicht so sehr als Schaden, sondern als Ermutigung für die Bewegung gesehen. Natürlich sind die Folgen des Handelns der Hamas nicht hilfreich. Sie stacheln die israelische Reaktion an und schaffen einen Vorwand für verstärkte Militäraktionen. Aber sie werden die Demonstrationen nicht in nächster Zeit beenden.

ISA: Was ist die Antwort von Sozialist*innen in einer so komplizierten Situation?

YM: Die israelische Gesellschaft wird jetzt anders sein. Wenn ich das sage, kehre ich zu dem Punkt zurück, an dem ich angefangen habe, indem ich die reaktionären und die progressiven Züge der Situation gegeneinander abwäge. Das bedeutet, dass es verschiedene Zielgruppen gibt, die angesprochen werden müssen. Zum Beispiel wollen linke Israelis, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, wissen, wie man die Eskalation stoppen kann. Das ist ein Ansatzpunkt für Diskussionen.

Palästinenser*innen fragen nicht so sehr, wie man die militärische Eskalation stoppen kann, sondern wie man den Kampf eskalieren kann, wie wir weitere Siege erreichen, wie wir von dem, was wir bisher erreicht haben, weiter vorankommen. Ein Aufruf zu einem abstrakten Frieden oder gar zu einem vereinten Kampf zwischen Israelis und Palästinenser*innen wird in dieser Situation nicht funktionieren. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht die Notwendigkeit erklären sollten, dass jede Seite an die andere appelliert, dass die Arbeiter*innenorganisationen und sozialen Bewegungen in Israel Solidarität mit dem sich vor Ort entwickelnden palästinensischen Kampf aufbauen sollten.

Aber die Hauptsorge der palästinensischen Jugend ist nicht, wie man in dieser Phase an die Israelis appellieren kann, sondern sie wollen am Ende des Tages den Kampf gegen die Reaktion verstärken. Das bedeutet natürlich, dass unser Appell an die einfachen Arbeiter*innen und Jugendlichen in Israel in dieser Situation dazu führt, dass wir gegen den Strom schwimmen.

Obwohl wir einige der nationalistischen Slogans, die manchmal von der palästinensischen Jugend verwendet werden, nicht unterstützen, müssen wir verstehen, woher sie kommen. Sie werden oft von der extremen Rechten und von der Polizei aufgegriffen, um die Demos anzugreifen, und wir stehen in Solidarität mit der Jugend gegen die rechtsextremen Angriffe. Das erfordert geschickte und sensible Slogans.

Wir sind dabei, die Situation zu analysieren. Unsere Artikel können auf unserer Website nachgelesen werden. Wir haben auch ein Sieben-Punkte-Programm entwickelt, sowohl auf Arabisch als auch auf Hebräisch. Über Nacht wurde ein Video produziert, das unseren Ansatz erklärt.

ISA: Danke, Yasha. Wir wünschen dir und deinen  Genoss*innen eine sichere und erfolgreiche Intervention und rufen alle ISA-Befürworter*innen weltweit dazu auf, euren Kampf zu unterstützen.

Forderungen von Socialist Struggle

  • Stoppt den Krieg! Schluss mit dem Raketenbeschuss und den militärischen Angriffen auf Gaza und der Belagerung. Schluss mit der polizeilichen und militärischen Repression gegen Proteste. Keine weiteren willkürlichen Verhaftungen! Mobilisiert zu Demonstrationen gegen die militärischen Angriffe und die Besatzung.
  • Wir stehen an der Seite der Bewohner*innen von Sheikh Jarrah, im Kampf gegen die barbarische Übernahme ihrer Häuser durch messianistische Siedler*innen und die rechte Regierung, die versucht, die unter der Besatzung des israelischen Kapitalismus lebenden Palästinenser*innen aus Ost-Jerusalem zu vertreiben.
  • Kein weiteres Eindringens des israelischen Militärs in die Al-Aqsa-Moschee – Schluss mit nationalistischen Provokationen und Angriffen auf Betende, mit denen ein Religionskrieg gefördert wird. Ein Ende der Kriminalisierung palästinensischen Wohnungsbaus in Ost-Jerusalem, stoppt den Abriss von Häusern, beendet die Besatzung und die Siedlungen.
  • Es gibt keinen Frieden ohne einen Kampf gegen die Besatzung, gegen Armut und Ungleichheit, gegen korrupte Eliten und für die Gesundheit, den Lebensunterhalt und das Wohlergehen aller. Ja zu Demonstrationen von Palästinenser*innen und Israelis, nein zu Angriffen auf Zivilist*innen.
  • Nur Frieden und Gleichheit werden Sicherheit für Alle bringen – Schluss mit allen Angriffen und Kollektivstrafen gegen zwei Millionen Bewohner*innen des Gazastreifens. Solidarität mit den Menschen aus beiden nationalen Gemeinschaften, die wahllosem Raketenbeschuss ausgesetzt sind.
  • Für ein Ende der Besatzung, keine weitere Leugnung des Rechts auf Selbstbestimmung und der nationalen Unterdrückung der Palästinenser*innen zu beenden. Für ein unabhängiges, sozialistisches Palästina, mit einer Hauptstadt Ost-Jerusalem, für einen sozialistischen Wandel in Israel und der gesamten Region.

Redebeitrag von Kshama Sawant bei der Kundgebung der Solidaritätskampagne gegen ihre Absetzung

von Kshama Sawant (Socialist Alternative, Sektion der ISA in den USA) 07.04.2021

Der „Washington State Supreme Court“ (Oberster Gerichtshof des US-Bundesstaats Washington) hat grünes Licht gegeben für die rechtsgerichtete und von Milliardär*innen unterstützte Kampagne zur Absetzung von Kshama Sawant. Sawant gehört als Sozialistin dem Stadtrat von Seattle an. Am Samstag, den 3. April, kamen 200 Personen im Cal Anderson Park zu einer Kundgebung mit Sicherheitsabstand zusammen, die per Livestream ins ganze Land übertragen wurde .Die Menschen wollen den Angriff auf unsere Bewegung nicht widerstandslos hinnehmen.

Dieses Gerichtsurteil ist vollkommen ungerechtfertigt, überrascht sind wir dennoch nicht. Die arbeitenden Menschen und die Menschen aus den unterdrückten Communities wissen, dass wir uns weder auf die kapitalistischen Gerichte verlassen können, wenn wir Gerechtigkeit verlangen, noch auf die Polizei.

Viele arbeitende Menschen mussten dies im vergangen Sommer am eigenen Leib erleben, als in Seattle und überall sonst in den USA friedliche Proteste gegen das brutale Vorgehen der Polizei auf eben diese rassistisch motivierte Polizeigewalt trafen. Die Polizei und das Polit-Establishment müssen noch dafür zur Rechenschaft gezogen werden, dass über 14.000 Demonstrationsteilnehmer*innen in Gewahrsam genommen worden sind.

Eine von ihnen bin natürlich auch ich gewesen. Und es ist kein Zufall, dass zwei der drei Anklagepunkte, die der Supreme Court nun gegen mich aufrecht erhält, mit meiner Teilnahme in Solidarität mit der „Black Lives Matter“-Bewegung zu tun haben.

Im Oktober hat der „Washington State Supreme Court“ die Initiative von unten zur Absetzung der Amazon-Bürgermeisterin Jenny Durkan von den Demokraten einstimmig abgewiesen, obwohl sie für das harte Vorgehen der Polizei gegen Demonstrationsteilnehmer*innen in Seattle verantwortlich ist. Die Polizei von Seattle hat unter Durkan neben anderen gefährlichen Waffen während einer Atemwegs-Pandemie, auch Tränengas eingesetzt. Tränengas greift die Lungen an, verursacht Hautreizungen und verletzt die Augen. Der Einsatz von Tränengas hat das Potential die Verbreitung des Coronavirus noch zu verstärken und bei Personen mit Asthma oder Atemwegserkrankungen für Langzeitfolgen zu sorgen. Behörden, die – wie im Falle von Durkan – von den Demokraten geführt werden, haben wochenlang noch auf Tränengas zurückgegriffen, obwohl Mediziner*innen und Expert*innen aus dem öffentlichen Gesundheitswesen wiederholt öffentlich appelliert haben, gerade angesichts des grassierenden Coronavirus auf den Einsatz zu verzichten.

Unterdessen hat der Supreme Court einstimmig erklärt, dass die Zielrichtung des Absetzungsersuchens und der Bezug auf den Einsatz von Tränengas tatsächlich für eine – Zitat – “politische Meinungsverschiedenheit” mit Durkan steht und daher nicht ausreiche. Kurzgefasst: Der Fall wurde abgewiesen.

Und jetzt hat das Supreme Court ebenfalls einstimmig die Rechtmäßigkeit des Absetzungsverfahrens gegen die einzige gewählte Sozialistin von Seattle bestätigt, weil wir in einem leeren Rathaus mit Masken eine einstündige „Black Lives Matter“-Kundgebung abgehalten haben. Der wahre Grund hinter der Entscheidung des Supreme Court, sich hinter dieses Verfahren zu stellen, ist in hohem Maße politisch: Es handelt sich um einen Angriff auf unser Mandat, weil wir uneingeschränkt an der Seite der „Black Lives Matter“-Bewegung stehen. Die Ironie, die einem die Sprache verschlägt, besteht darin, dass ich eine von Tausenden gewesen bin, die von Durkans Polizei mit Tränengas malträtiert worden sind.

Der Supreme Court hat eine ganze Reihe von Anträgen auf Absetzungsverfahren abgewiesen, die sich gegen Politiker*innen des Establishments richten. Darunter war auch der Fall des Sheriffs von Thurston County, John Snaza, der sich gegen Coronamaßnahmen gestellt hat. Sheriff Snaza hat es abgelehnt, seinen Mitarbeiter*innen das Tragen von Gesichtsmasken zuzugestehen – und das inmitten dieser unvergleichbaren Pandemie, wodurch die „einfachen“ Leute einer noch größeren Gefahr ausgesetzt werden als ohnehin schon, wenn sie es mit der Polizei zu tun bekommen.

Das Ausmaß der auf sämtlichen Ebenen herrschenden Heuchelei ist kaum noch zu toppen. Diese Entscheidung über das gegen unser sozialistisches Stadtratsbüro gerichtete Absetzungsverfahren könnte politischer kaum sein. Sie stellt eine unverhohlene Attacke auf die arbeitenden Menschen, soziale Bewegungen und letzten Endes auf das Grundrecht dar, Protest üben zu dürfen. Diese Entscheidung kriminalisiert den Protest und schafft damit einen extrem gefährlichen Präzedenzfall.

Der dritte Anklagepunkt betrifft natürlich meine Unterstützung für die „Tax Amazon“-Bewegung. Dieser Vorwurf ist mehr als eine Farce. Mir wird vorgeworfen, öffentliche Gelder in die Kampagne „Eine Steuer für Amazon und Großkonzerne“ gesteckt zu haben, weil sie Monate später zu einer Kampagne wurde, die für ein Referendum in Frage gekommen wäre? Mit anderen Worten: Man wirft mir vor, öffentliche Mittel für eine nicht existente Initiative für ein Referendum einzusetzen? Und letztlich eine Kampagne, die am Ende noch nicht einmal mehr auf ein Referendum hinauslaufen musste?

Das ist ein weiterer gefährlicher Präzedenzfall: Wie können gewählte politische Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse ihr Amt nutzen, um sich für progressive Dinge einzusetzen? Alle möglichen progressiven Themen können in der Zukunft irgendwann einmal zu einer Initiative für ein Referendum werden! Diese verschrobene Logik entbehrt jeder Grundlage. Es sei denn, wir ziehen in Betracht, dass die wirkliche Intention solch lächerlicher Vorwürfe darin besteht, abschreckende Wirkung auszuüben: Wenn arbeitende Menschen und Bewegungen es wagen, Vertreter*innen in Ämter zu wählen, die dann zur Durchsetzung ihrer Interessen arbeiten, dann wird sich die herrschende Klasse rücksichtslos rächen.

Dass diese gerichtliche Entscheidung ausgerechnet am 1. April verkündet worden ist, passt insofern, als dass damit jede Form von Recht und Gerechtigkeit ins Lächerliche gezogen wird.

Aber es stimmt schon: Die Annahme, dass arbeitende Menschen, People of Color, Frauen und die in Armut lebenden Menschen vor Gericht ein faires Verfahren erwarten dürfen, ist im Kapitalismus nichts anderes als ein schlechter Witz.

In den letzten Monaten habe ich mit sehr vielen „einfachen“ arbeitenden Leuten gesprochen, die nicht glauben wollten, dass der „Washington Supreme Court“ zu einer solch ungerechten Entscheidung in der Lage ist. Aber wie für alle Institutionen im Kapitalismus gilt auch für die

Gerichte, dass ihr grundlegender Zweck darin besteht, im Interesse derer zu agieren, die Geld und Macht haben, und gegen diejenigen, die nur wenig oder gar nichts besitzen.

Das Gesetz des Bundesstaates Washington, in dem das Prozedere zu Absetzungungsverfahren geregelt ist, ist an sich schon zutiefst undemokratisch, und es wird ungleich angewendet. Wenn man gegen Vertreter*innen der arbeitenden Menschen vorgehen will, dann ist es dafür gut geeignet. Das liegt auch daran, dass die vorgebrachten Anschuldigungen noch nicht einmal mit Beweisen belegt sein müssen. Und mir wird keine Möglichkeit zugestanden, mich vor Gericht gegen die falschen Vorwürfe verteidigen zu können. Damit sagt man uns, dass die Wahrheit keine Rolle spielt.

Dies gibt den Gerichten des Bundesstaats Washington enorme Spielräume, um Absetzungsverfahren als Verteidigungsmechanismus der herrschenden Klasse und des kapitalistischen Systems zu nutzen. Einem Absetzungsverfahren gegen Linke wird grünes Licht gegeben und gleichzeitig werden Anschuldigungen gegen Politiker*innen des Establishments abgewiesen. Es ist kein Zufall, dass Anna Louise Strong, die letzte Sozialistin, die in Seattle in ein Amt gewählt worden ist, 1919 ebenfalls durch ein solches Verfahren abgesetzt wurde. Ihr hatte man zur Last gelegt, Kontakte zur Arbeiter*innenbewegung zu haben und der Opposition gegen den Ersten Weltkrieg anzugehören.

Im Kapitalismus werden die Gesetze von und für die Elite geschrieben, nicht für uns.

Der Genozid an den Ureinwohner*innen und der Raub ihres Landes war rechtlich legitimiert. Die bluttriefende Institution der Sklaverei in Amerika beruhte damals auf dem Gesetz zu den Grund- und Bodenverhältnissen und auf den Gesetzen zur „Rassentrennung“ (im Original: „Jim Crow segregation“, Anm. d. Übers.). Die Lynch-Morde, mit denen die „Rassentrennung“ durchgesetzt wurde, galten zwar rein formal-juristisch nicht als legal, doch gab es kein Gericht, das die Lynchenden strafrechtlich verurteilt hätte.

Dort, wo sich heute der Bundesstaat Washington befindet, wurde der ursprünglichen Bevölkerung das Jagd- und Fischereirecht zugesprochen, um sie zur Unterschrift unter Verträge zu bewegen, welche sie buchstäblich mit der Pistole auf der Brust akzeptieren mussten. Anschließend wurden diese Verträge dann im Großen und Ganzen geleugnet. Oft wurden etwaige Ansprüche mit Verweis auf die Rechtsmechanismen verweigert. So wurde z.B. behauptet, dass man nur dann Fischereirechte geltend machen könne, wenn man die amerikanische Staatsbürgerschaft habe. Die amerikanische Staatsbürgerschaft wurde den Ureinwohner*innen aber ebenfalls verwehrt. Und das in dem Land, in dem sie schon seit Jahrtausenden gelebt hatten.

In der Zeit der Bürgerrechtsbewegung sind dann diejenigen wieder und wieder eingesperrt worden, die für die Freiheit der People of Color gekämpft haben. Führende Vertreter*innen des Ku Klux Klan, Polizeikräfte, die sich des Mordes schuldig gemacht haben, und die Agent*innen des Staates, die Mitglieder der „Black Panthers“ umgebracht haben, blieben hingegen auf freiem Fuß. Damals war es üblich, dass der Staat mit Gewalt gegen Gewerkschaftsaktivist*innen und Sozialist*innen vorging. Das ging bis hin zu brutalen Morden.

Keines dieser Beispiel kommt aus grauer Vorzeit. Sie alle stehen für die Normalität im US-amerikanischen Kapitalismus.

Heute sind die Großkonzerne wie auch die politische Rechten angesichts der Auswirkungen, die sozialistische Politik und soziale Bewegungen in Seattle zeigen, außer sich vor Wut. Was ihnen vor allem zuwider ist, ist, dass wir den arbeitenden Menschen im ganzen Land mit unserer Arbeit ein beispielhaftes Zeichen gesendet haben. Nachdem ihr Versuch gescheitert ist, 2019 die Stadtratswahlen von Seattle zu erkaufen, wollen die Milliardär*innen es nun noch einmal wissen. Nun wollen sie die wirklich historischen Erfolge, an deren Spitze unser Büro steht, wieder umkehren: die Amazon-Steuer, mit der der soziale Wohnungsbau finanziert werden soll, den Mindestlohn von 15 Dollar und den „Green New Deal“, das Verbot des Einsatzes von Waffen gegen friedliche Demonstrant*innen, das in den USA zuerst in Seattle erkämpft worden ist, und bahnbrechende Rechte für Mieter*innen wie das Verbot von Zwangsräumungen in den Wintermonaten und unser Erfolg vom Montag dieser Woche, wonach alle von Zwangsräumung Betroffenen nun das Recht auf Rechtsbeistand haben.

Und dann gibt es da noch eine weitere Wahl, die sich Amazon und Jeff Bezos erkaufen wollen: die Wahl eines Betriebsrats bei den Beschäftigten am Standort in Bessemer, Alabama. Wenn die mutigen Anstrengungen der Kolleg*innen in Alabama nämlich von Erfolg gekrönt werden, dann kann das dazu führen, dass auch an anderen Amazon-Standorten neuer Schwung in die Sache kommt und sich die Kolleg*innen im ganzen Land zu organisieren beginnen. Mitglieder der Socialist Alternative, der Organisation, der ich angehöre, sind gerade jetzt in Alabama, um alles dafür zu tun, was uns möglich ist, um die gewerkschaftlichen Aktionen zu unterstützen.

In jeglicher Hinsicht ist die Absetzungskampagne gegen mich zutiefst undemokratisch. Der Cheforganisator dieser Kampagne hat gestern erst gesagt, dass sie aufgrund der hohen Wahlbeteiligung keine Neuwahl am selben Tag wie andere Wahlen wollen. Stattdessen wünschen sie sich eine Sonderabstimmung mit niedriger Beteiligung, an der vor allem wohlhabende Wahlberechtigte teilnehmen. Daraus machen sie keinen Hehl.

Unser sozialistisches Ratsbüro hat nie dagewesene Siege für arbeitende Menschen erkämpft. Und wir haben – noch wichtiger – Bewegungen aufgebaut und arbeitende Menschen sowie Menschen aus abgehängten Communities bemächtigt, die Grundlage für künftige Bewegungen zu schaffen.

Trotz aller Lügen und immenser Summen an Geld, die die Konzerne gegen uns ins Spiel gebracht haben, bin ich durch Wahlen drei Mal im Amt bestätigt worden. Deshalb sind sie nun dazu übergegangen, eine der heftigsten Attacken gegen Linke in den USA auszuüben, die es seit Jahrzehnten gegeben hat. Aber das ist das kapitalistische System, und es liegt genau daran, dass die herrschende Klasse so wild entschlossen ist, mich aus dem Stadtrat von Seattle zu bekommen, weil sie wissen, dass mein Stadtratsbüro und ich uns für die arbeitenden Menschen einsetzen. Denn die Interessen der Kolleg*innen stehen der Gier der Reichen im Wege. Die Absetzungskampagne gegen mich ist ein Signal, dass die herrschende Klasse in tiefer Sorge darüber ist, dass friedliche Proteste und Aktionen in den Betrieben weiter zunehmen. Das ist so sicher wie die nächsten Krisen, von denen der Kapitalismus in immer heftigerem Maße gebeutelt sein wird.

Wir müssen uns wehren. Wir werden weiterhin jede Möglichkeit nutzen, um mit unserem Stadtratsbüro für die arbeitenden Menschen zu kämpfen.

Mieter*innen sehen sich einem regelrechten Tsunami an Zwangsräumungen ausgesetzt. Wir kämpfen für eine gerechte Einzelfallprüfung für alle Mieter*innen und dafür, dass Familien mit schulpflichtigen Kindern, Schulpersonal, Erzieher*innen und Kinderbetreuer*innen von Zwangsräumungen ausgeschlossen werden. Wir kämpfen für einheitliche Mietbedingungen und dafür, dass es keine Bonitätsprüfungen gibt. Bei unserem Kampf für eine Mietobergrenze für alle Hausbewohner*innen in Seattle legen wir noch eine Schippe drauf. Um die durch die Coronakrise angehäuften Schulden zu streichen (auch die Miet- und Hypothekenschulden), sollen die Großbanken und Wohnungsunternehmen zur Kasse gebeten werden, nicht die arbeitenden Menschen. Und wir kämpfen für einen sozialistischen Green New Deal mit tarifgebundenen neuen Arbeitsplätzen, was durch eine Ausweitung der Amazon-Steuer finanziert werden muss.

Um mit alldem erfolgreich sein zu können, muss uns klar sein, wer auf unserer Seite steht und wer nicht. Wir dürfen keine Illusionen in die Arbeitgeber*innen haben oder in ihre Helfershelfer*innen in der Politik. Was wir uns nicht erlauben können, ist, naiv anzunehmen, dass wir mit prokapitalistischen Politiker*innen der beiden Parteien zu Einigungen kommen können. Auch dürfen wir nicht davon ausgehen, dass wir die Demokraten mit vernünftigen Argumenten überzeugen könnten.

Es war kein Zufall, dass es für das Establishment der Demokraten unmöglich wurde, uns zu ignorieren, nachdem unsere Bewegung für den 15-Dollar-Mindestlohn überwältigende Unterstützung aus der Stadtbevölkerung bekommen hat. Ed Murray von den Demokraten, der damalige Bürgermeister von Seattle, setzte flugs einen Ausschuss ein, der zur Hälfte aus Konzernvertreter*innen bestand. Das Ziel war die Mindestlohn-Erhöhung auf elf oder zwölf Dollar die Stunde nach unten zu „korrigieren“ und alle möglichen Schlupflöcher für Unternehmen einzubauen. Wir haben nur deshalb gesiegt, weil wir die „15 Now!“-Bewegung aufgebaut hatten.

Es war auch kein Zufall, dass progressive Demokraten letztes Jahr, nachdem unsere Bewegung zur Einführung der Amazon-Steuer für nicht mehr aufzuhaltende Zustände gesorgt hatte, dem sogenannten „Third Door“-Bündnis beigetreten sind. Es handelt sich dabei um einen von Konzernen unterstützten Plan. Und dann, als sie gezwungen waren, den Erfolg der Kampagne für die Amazon-Steuer anzuerkennen, haben sie den Konzernvertreter*innen und nicht der „Tax Amazon!“-Bewegung ihren Dank ausgesprochen. Wir können es uns nicht leisten, das Maß an Hingabe zu unterschätzen, mit dem sich diese viel zitierten „progressiven Demokrat*innen“ den Interessen der herrschenden Klasse verschrieben haben.

Der Verlauf der Ereignisse hat gezeigt, dass es nicht ausreicht, wenn man z.B. die 15-Dollar-Mindestlohn-Forderung nur auf Twitter unterstützt oder Republikaner*innen kritisiert oder „Medicare for All“ nur mit symbolischer Wirkung eingeführt wird. Dadurch werden keine grundlegenden Probleme gelöst.

Im Kongress geht es nicht nur darum, das ein oder andere Gesetz einzuführen. Was wir brauchen, ist eine ernstgemeinte Strategie, mit der wir tatsächlich zu Erfolgen kommen, indem wir Millionen von arbeitenden Menschen und Gewerkschafter*innen mobilisieren und uns darauf vorbereiten, auch gegen die Führung der Demokratischen Partei aufzustehen.

Wir werden zum Beispiel erläutern müssen, dass der Grund, weshalb die Abgeordnetengruppe, die als „The Squad“ bekannt ist (linke „Demokrat*innen“; Anm. d. Übers.) es akzeptiert hat, dass der 15-Dollar-Mindestlohn wieder aus dem Konjunkturprogramm von Biden verschwunden ist. Das liegt nicht daran, dass sie eine übergeordnete Strategie verfolgen, sondern daran, dass sie Angst davor haben, mit Biden und Pelosi aneinander zu geraten.

Viele progressive Politiker*innen wollen arbeitenden Menschen glauben machen, dass Wandel auch harmonisch vonstatten gehen kann. Aber das ist schlichtweg nicht möglich. Und am Ende führt dieser Ansatz zur Kapitulation. Stattdessen gilt: Wenn man in der eigenen Amtszeit nicht auf den erbitterten Widerstand des Establishment stößt und sich die eigene Wiederwahl als Kinderspiel herausstellt, dann ist das ein Zeichen dafür, dass man versagt hat, den arbeitenden Menschen gerecht zu werden. Denn die herrschende Klasse sieht dich dann nicht als Bedrohung.

Der große irische Sozialist James Connolly hat einmal gesagt: „Die Rolle eines Sozialisten in einem gewählten Amt besteht darin, den politischen Frieden zu stören“. Der Grund dafür ist nicht, dass Sozialist*innen persönlich so sehr darauf aus sind, Konflikte zu führen. Der Grund dafür ist, dass die ganze Maschinerie des Kapitalismus darauf ausgelegt ist, Arbeiter*innen zu schaden – und es gibt keine Möglichkeit, dagegen anzugehen und gleichzeitig Teil ihres Vereins zu sein. Deshalb brauchen wir dringend eine neue Partei für die arbeitenden Menschen und die Unterdrückten. Anstatt sich der sinnlosen Aufgabe zu widmen, prokapitalistische Demokraten zu organisieren - wie von manche vorgeschlagen - müssen wir gemeinsam mit anderen Sozialist*innen und Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse eine Kraft von unten organisieren, um das Fundament für den zukünftigen Klassenkampf zu legen.

Die Beschäftigten in Bessemer müssen sich auch dauernd die Frage stellen lassen, warum wir uns nicht einfach arrangieren können, und anhören, dass Amazon doch eine große Familie ist. Den Arbeiter*innen wird erzählt, die Gewerkschaft würde den Frieden stören und in Wirklichkeit sei sie nur hinter den Mitgliedsbeiträgen her. Überall dort, wo wir auf sie treffen, müssen wir gemeinsam gegen diese reaktionären und unredlichen Ansichten kämpfen.

Und wir müssen noch weiter gehen. Wir brauchen nicht nur Gewerkschaften in sämtlichen Amazon-Niederlassungen, wir müssen diese Standorte auch in demokratisch verwaltetes öffentliches Eigentum überführen. Wenn wir für Arbeitnehmer*innenrechte kämpfen, dann müssen wir ganz oben auf unserer Liste auch immer sagen, dass dieses System nicht für uns gemacht worden ist und dass wir eine Alternative zu diesem brutalen, rassistischen, sexistischen System namens Kapitalismus brauchen. Ein System, das jetzt – im reichsten Land der Welt – Amazon-Beschäftigte mit Videokameras überwachen lässt und sie zwingt, in Flaschen zu urinieren. Wir brauchen eine ganz andere Art von Gesellschaft. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die auf Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit basiert. Wir müssen für eine sozialistische Welt kämpfen.

 

 

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