Hongkong: „Dies ist die "letzte Schlacht" und es gibt nichts zu verlieren“

Interview von Per Olsson von Offensiv (sozialistische Wochenzeitungn Schweden) mit Dikang (Socialist Action - ISA in Hongkong) zu den jüngsten dramatischen Ereignissen.

Per Olsson (P.O.): Das neue Nationale Sicherheitsgesetz scheint in Hongkong das Blatt zu wenden; glaubst du, dass es eine Protestbewegung provozieren wird, die noch größer ist als im vergangenen Jahr? Welche Schritte sind aus der Sicht von Socialist Action nötig, um die gegenwärtige Bewegung anzukurbeln und eine Bewegung aufzubauen, die dieses neue drakonische Gesetz besiegen kann?

 

Dikang: Das Gesetz markiert das Ende der Teilautonomie Hongkongs. In der Praxis kann die chinesische Diktatur nun jede beliebige Oppositionsgruppe markieren, wie sie es auch auf dem chinesischen Festland tut. Sie muss sich nicht an die örtlichen Gesetze halten, sondern kann diese Gesetze an die Situation anpassen. Ihr Ziel ist es, den Kampf für Demokratie in Hongkong zu zerschlagen.

Ob jetzt eine größere Protestbewegung entsteht, hängt von vielen Faktoren ab. Die Situation ist sehr kompliziert. Die Diktatur nutzt die Pandemie aus, Versammlungen von mehr als acht Personen sind aus gesundheitlichen Gründen verboten, und die Menschen sind vor großen Menschenmassen eher misstrauisch. Tatsächlich waren die meisten Demonstrationen in Hongkong bereits im vergangenen Jahr, ab Oktober, verboten. Jetzt sind alle Proteste illegal, und die Polizei ist besser vorbereitet und verfügt über ausgefeiltere Taktiken, um die Proteste schnell aufzulösen.

Die Wut in der Gesellschaft ist groß. Eine Online-Umfrage ergab bei 370.000 Menschen, dass 98,6 % gegen das neue Gesetz sind. Etwa 70% sagten, es werde keine Auswirkungen auf Proteste gegen die Regierung haben. Die Stimmung ist, dass dies nun die "letzte Schlacht" ist und es nichts zu verlieren gibt. Aber es herrscht auch Frustration darüber, dass nach der gigantischen Bewegung im letzten Jahr, bei der jeder Vierte auf der Straße war, gelegentlich bis zu zwei Millionen Menschen, und nach solch erbittertem Widerstand, sich die Diktatur nicht bewegt hat. Sie greift zu noch größerer Repression. Die Mängel zu beheben - taktisch und in Bezug auf Programm und Ausrichtung - war der Hauptschwerpunkt des Engagements von Socialist Action in der Bewegung.

Die Bewegung kann gewinnen, wenn sie Methoden der Arbeiter*innenklasse übernimmt, Arbeiter*innenorganisationen wie Gewerkschaften aufbaut und die Notwendigkeit demokratischer Rechte mit der Notwendigkeit eines dringend notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Wandels verbindet, um uns vom zusammenbrechenden Kapitalismus zu befreien. Die wichtigste Zutat für eine siegreiche Bewegung ist es, die Unterstützung der Beschäftigten auf dem chinesischen Festland und auch weltweit zu gewinnen. Die derzeitigen Proteste in Hongkong können das nicht tun, weil sie leider zu sehr nach innen gerichtet sind - sie sehen nicht das unglaubliche Potenzial der chinesischen Bevölkerung. Deshalb - und das ist möglich - muss sich der Kampf neu erfinden, die Richtung ändern, um zu gewinnen.

 

P. O.: "Kaiser" Xi Jinping befindet sich in einer historischen Krise, und dennoch scheint das Regime entschlossen zu sein, dieses neue Gesetz durchzusetzen und die besondere Art der Autonomie Hongkongs zu beenden. Was sind die Hauptgründe? Warum ist das Regime angesichts aller Risiken die damit verbunden sind bereit, die Politik "ein Land, zwei Systeme" zu beenden?

Dikang: Es zeigt, wie tief die Krise in China geworden ist. Sie fand bereits vor der Pandemie statt. Die Pandemie hat Prozesse beschleunigt, international und in China. Die Wirtschaft hat sich seit einigen Jahren verlangsamt; die BIP-Zahlen wurden geschönt, hier und da ein paar Punkte hinzugefügt, um sie besser aussehen zu lassen. Der Handelskrieg zwischen den USA und China hat einen hohen Tribut gefordert und Beijing wirklich alarmiert, dass die USA das Land unter geopolitische Quarantäne stellen wollen. Die Entwicklungen im Hongkong und auch Taiwan im vergangenen Jahr waren aus Beijings Sicht katastrophal - es verliert die Kontrolle.

Trotz der erheblichen Gefahren und Kosten, die sich aus dem neuen Gesetz ergeben, das faktisch bedeutet, die direkte Kontrolle über Hongkong zu übernehmen und alle möglichen Versprechen der Vergangenheit zu brechen, hat die Diktatur also das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Sie würde lieber diese neuen Kosten und Gefahren auf sich nehmen, als die Kontrolle zu verlieren. Dennoch glauben wir nicht, dass dies gelingen wird. Die Diktatur sitzt auf einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zeitbombe. Sie kann kurzfristige Maßnahmen ergreifen, die ihre Herrschaft zu stärken scheinen, aber diese schlagen zurück und schaffen noch größere Probleme in der Zukunft.

Genau das ist mit den Konjunkturpaketen Beijings nach der Großen Rezession 2008/2009 geschehen. Es schien eine sehr mutige und entschlossene Aktion zu sein. Aber es hat dazu beigetragen dass die Schulden explodierten, und heute fällt auf, dass China während der Corona-Krise sehr sparsam mit seinen Konjunkturmaßnahmen umgeht. Die USA, Deutschland, Japan und Frankreich haben beispiellose Maßnahmen in Höhe von mehr als 10 Prozent ihres jeweiligen BIP eingeleitet. Chinas Maßnahmen belaufen sich bisher nur auf 2,6 Prozent des BIP.

P. O.: Das Nationale Sicherheitsgesetz wird weltweit enorme Auswirkungen haben. Wie wird es sich auf den neuen Kalten Krieg zwischen China und den USA auswirken? Wird es neue Zölle und Sanktionen geben?

Dikang: Sanktionen durch die USA sind sehr wahrscheinlich. Vermutlich werden sie zumindest die US-Gesetzgebung von 1992 aussetzen, die Hongkong einen besonderen Handelsstatus einräumt. Hongkong wird dann - in Bezug auf den Handel - nur noch eine weitere chinesische Stadt sein.

Obwohl wir es noch nicht wissen, könnte die EU diesem Beispiel folgen. Die EU und insbesondere Deutschland haben schon früher versucht, im US-China-Konflikt einen Ausgleich zu schaffen, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund zu stellen, aber jetzt reihen sich die meisten westlichen Regierungen in einem eher lockeren und intern konfliktreichen Anti-China-Block ein. Dabei geht es nicht nur um Hongkong, sondern auch um andere Themen wie Huawei und Technologie. Sie blockieren chinesische Unternehmen bei der Übernahme von Konzernen in der EU. Die Pandemie hat andere kapitalistische Regierungen näher an die Position der USA herangeführt, dass China eingedämmt und zurückgedrängt werden muss. Historisch gesehen haben solche imperialistischen Konflikte in der Regel zu Krieg geführt. Diesmal ist es ein Wirtschaftskrieg.

Sogar Australien, das China zu seinem bei weitem größten Exportmarkt zählt, ist mit Beijing wegen Canberras Forderungen nach einer unabhängigen Untersuchung des Coronavirus-Ausbruchs zusammengestoßen. Das chinesische Regime hat mit Vergeltungsmaßnahmen auf die australischen Gerste- und Rindfleischimporte reagiert.

Wahrscheinlich unterschätzten Xi Jinping und die herrschende Clique das Ausmaß der Vergeltungsmaßnahmen, die über Hongkong verhängt wurden. Trump kümmert sich instinktiv nicht um Hongkong; ihm sind die demokratischen Rechte offensichtlich egal. Aber sein Wahlkampf steckt in einer Krise wegen der Pandemie, die inzwischen fast so viele Amerikaner*innen getötet hat wie im Ersten Weltkrieg. Deshalb wird er Druck verspüren, zu zeigen, dass er gegen China "hart" bleibt.

P. O.: Was werden die Auswirkungen in Asien auf die Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarländern sein? Könnten die USA dies sogar nutzen, um den globalen Status Taiwans zu stärken? Werden die vom Westen ergriffenen Maßnahmen in Hongkong Unterstützung finden? Wird es jetzt noch größere Illusionen im Westen geben?

Dikang: China wird versuchen, sich gegen die Gegenreaktion des Westens abzusichern, indem es seinen Versuch, einen asiatischen Handelsblock, das RCEP, aufzubauen, beschleunigt und auch die Neue Seidenstraße ("Belt and Road Initiative", BRI) ausbaut. Aber in diesen beiden Projekten gibt es viele Widersprüche. Die Neue Seidenstraße befindet sich aufgrund der Pandemie und des weltweiten Einbruchs, der die globale Schuldenkrise verschärft hat, in großen Schwierigkeiten. China ist der größte Kreditgeber für arme Länder, wobei Kredite sechs Prozent des globalen BIP ausmachen. Viele dieser Darlehen stehen in Verbindung mit BRI-Projekten, und es wird aus Afrika und Asien ein wachsender Ruf nach Schuldenerlass laut werden.

Innerhalb Chinas wird dies den Machtkampf des Regimes anheizen. Es gibt erheblichen internen Widerstand gegen die Neue Seidenstraße als reine Geldverschwendung. Das ist sehr heikel, denn die BRI ist das "Kind" von Xi - er hat sie zu einer Prestigefrage gemacht, und jetzt ist es für ihn nicht leicht, diese zu verkleinern, geschweige denn aufzugeben.

Taiwan ist zu einer wichtigen "Schachfigur" im US-China-Konflikt geworden. Auch hier hat Xi sich unbeliebt gemacht, denn man vergleicht, wie sein Vorgänger Hu Jintao die Beziehungen zu Taiwan gehandhabt hat, und Hus Bilanz sieht besser aus als die von Xi. Xis Herangehensweise - Mobbing und Drohungen, die ihn in der Volksrepublik stark erscheinen lassen - ist in Taiwan katastrophal nach hinten losgegangen.

Präsidentin Tsai Ing-wen, die kürzlich mit einem Programm gegen Xi und die Volksrepublik wiedergewählt wurde, findet in Meinungsumfragen Unterstützung von etwa 70 %. Die Pandemie hat Beijing natürlich nicht geholfen, Freund*innen in Taiwan zu gewinnen, und die Niederschlagung in Hongkong ist fast ein Eingeständnis der Diktatur, dass Taiwan vorerst ein hoffnungsloser Fall ist.

In Hongkong werden die Illusionen in die USA, Taiwan und den Westen unweigerlich zunehmen. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen trotz Wut und Hass auf die chinesische Diktatur das Gefühl haben, dass der Massenkampf nicht gewinnen kann. Deshalb suchen sie Hilfe von außen. Das haben wir auch schon in anderen Konflikten gesehen - die Kurd*innen und Palästinenser*innen hatten zu verschiedenen Zeiten Illusionen, dass die USA sie unterstützen würden. Sie wurden immer verraten, weil der US-Imperialismus diese Fragen ausnutzt, um seine eigenen globalen Ziele zu fördern. Die Menschen in Hongkong, Taiwan, Kurdistan, der Ukraine - alle werden als entbehrlich angesehen.

P. O.: Was sollte aus der Sicht von Socialist Action die Antwort der internationalen Arbeiter*innenbewegung sein? Welche Art von globaler Solidarität ist notwendig?

Dikang: Internationale Solidaritätsaktionen können eine sehr starke Wirkung haben. Sie können die Massenbewegung in Hongkong ermutigen, aber auch klar machen, welchen Kräften man trauen kann – und welchen nicht. Die Massenproteste in den USA über Polizeigewalt, Rassismus und die Ermordung von George Floyd zeigen, dass Trump genau wie Xi Jinping spricht, wenn er mit Protesten in seinem eigenen Land konfrontiert wird. Er bezeichnet die Demonstrant*innen als "Terroristen" und verteidigt die Polizeigewalt mit denselben Worten, die wir von der chinesischen Diktatur und der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam gehört haben.

In beschämender Weise unterstützen einige Teile der lokalen Hongkonger Unabhängigkeitsaktivist*innen Trump und die Nationalgarde gegen die gegenwärtigen Massenproteste in den USA. Ihr Hass auf die chinesische Diktatur hat sie blind gemacht für die Wahrheit - dass der Kampf gegen staatliche Gewalt die Massen in den USA, Hongkong und China vereinen sollte.

Die Gewerkschaften im Westen sollten mehr tun, um gegen die chinesische Repression in Hongkong und Xinjiang und die Repression gegen Streiks chinesischer Arbeiter*innen zu protestieren. Es gibt in der Gewerkschaftsbewegung in vielen westlichen Ländern ein sehr reales Problem einer Schicht "linker" Aktivisten und Funktionär*innen, die sich weigern, das chinesische Regime zu kritisieren, und sich von seiner Propaganda beeinflussen lassen, dass die Proteste in Hongkong pro-amerikanisch seien. Leider gibt es nicht viel Bewusstsein darüber, was in China und Hongkong wirklich geschieht. Wenn also ein Gewerkschaftsbürokrat einen Vorschlag zur Solidarität mit den Protesten in Hongkong oder streikenden chinesischen Arbeiter*innen mit dem Argument ablehnt, es handele sich um "pro-imperialistische" Bewegungen, gibt es oft nur wenige Menschen mit den Fakten und Argumenten, die dem entgegenwirken können. Mitglieder der International Socialist Alternative haben eine entscheidende Bildungsaufgabe zu erfüllen, da sich dieses Problem im Zuge des neuen Kalten Krieges weiter verfestigen kann.

Es ist die falsche Logik, die besagt: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Aber ganz gleich, wie sehr Trump oder Boris Johnson der Feind der Arbeiter*innen in ihren eigenen Ländern sind, was sie offensichtlich sind, das macht Xi Jinping nicht zu einem Freund der Arbeiter*innenklasse. Sein Regime ist nicht eine Unze fortschrittlich; es hat in China eine noch größere Verlagerung des gesellschaftlichen Reichtums in die Hände der Superreichen bewirkt, als dies in den USA und Europa der Fall ist.

Was heute also notwendig ist, ist aktive Solidarität und Bildung, um die besten internationalistischen Traditionen der Arbeiter*innenbewegung wiederzubeleben und erneut zu betonen, warum Arbeiter*innen immer unabhängig von kapitalistischen Regierungen und Politiker*innen sprechen und handeln müssen. Die Solidarität der Beschäftigten an der Basis gegen staatliche Gewalt, autoritäre Politik und arbeiter*innenfeindliche Machthaber*innen, das ist das, was notwendig ist.