Internationales

Lehrer*innengewerkschaft in Hongkong zerbricht an den Angriffen der Regierung

Nur mit organisiertem Massenwiderstand und Solidarität können Angriffe der Diktatur in China auf gewerkschaftliche und demokratische Rechte aufgehalten werden.
Bericht von „Solidarity Against Repression in China and Hong Kong“

Aktuelle Ergänzung:

Am 10. August, nachdem dieser Artikel bereits zum ersten Mal veröffentlicht wurde, hat der Vorstand der HKPTU die Gewerkschaft, die 1973 gegründet worden ist, formell aufgelöst. Dass es zu dieser katastrophalen Situation kommen würde, war – wie aus unserem Ursprungsartikel hervorgeht – leider schon klar, weil die Gewerkschaftsführung zuvor vor den ungeheuerlichen Angriffen und der Hetzkampagne der Regierung kapituliert hatte. Dieser neue Schritt bestätigt noch einmal, wie dringend nötig eine komplett neue Herangehensweise ist, will man die Gewerkschaftsarbeit und den Kampf gegen den Autoritarismus neu aufbauen. Es muss ein Ansatz sein, der auf der Solidarität und dem Klassenkampf aufbaut. Vor allen Dingen muss Solidarität zwischen den Arbeitnehmer*innen in Hong Kong und denen in Festland-China aufgebaut werden, wobei enge Verbindungen zur internationalen Arbeiter*innenbewegung eine entscheidende Rolle spielen müssen.

Am 31. Juli dieses Jahres haben die vom Regime in China kontrollierten Medien damit begonnen, Attacken gegen die HKPTU („Hongkong Professional Teachers Union“), die größte Gewerkschaft in Hongkong, zu fahren. Die wichtigste Tageszeitung der „Kommunistischen Partei Chinas“ (KPCh), die „People’s Daily“, verwendete eine faschistische Sprache und bezeichnete die HKPTU als „bösartigen Tumor“, der „herausgeschnitten“ werden muss. Die Anschuldigungen, die die KPCh gegen die Gewerkschaft ins Feld führte und die typisch sind für ihre Propaganda von „außenstehenden Provokateuren“, bestehen darin, dass die HKPTU vor allem während der Massenproteste von 2019 ihre Mitglieder und die Studierenden aufgestachelt habe, gegen die Diktatur zu revoltieren. Damals waren über zwei Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Alle, die an diesen Protesten teilgenommen haben, wissen, dass die Führung der HKPTU keine besonders große Rolle dabei gespielt und im Gegenteil den Kampf sogar behindert hat.

Völlige Vereinnahmung durch Festland-China

Ganz den Vorgaben der Obrigkeit folgend vollstreckte das Bildungsministerium von Hongkong („Education Bureau“) den Willen des Regimes nur wenige Stunden, nachdem besagte Ausgabe der „People’s Daily“ erschienen war. Der Gewerkschaft, die 95.000 Mitglieder zählt und somit 90 Prozent der Lehrkräfte der Stadt organisiert, wurde faktisch die Anerkennung entzogen. Das „Education Bureau“ und die gesamte Marionetten-Regierung von Hongkong streben eine vollkommene Vereinnahmung durch Festland-China an. Das entspricht dem politischen Willen der Diktatur unter Xi Jinping. Sämtliche Spuren von demokratischen Rechten, die in Hongkong in den letzten Jahrzehnten und im Gegensatz zur Herrschaft in China jemals Bestand hatten, sollen abgeschafft werden. Abgesehen vom „Allchinesischen Gewerkschaftsbund“ (der die Bezeichnung „Gewerkschaft“ nicht verdient und den Methoden des Polizeistaats zuzurechnen ist) gelten sämtliche Arbeitnehmer*innenvereinigungen in China als illegal.

„Die HKPTU ist die einzige Gewerkschaft im pan-demokratischen Block, die über sehr große organisatorische Macht verfügt. Sie kann sehr wirkungsvoll Nachrichten unter ihren Mitgliedern verbreiten und unterstützt damit die Bewegung ganz wesentlich“, so die Charakterisierung des HKPTU-Mitglieds und politischen Kommentators Ivan Choy Chi-keung von der „Chinesischen Universität“ in Hongkong (aus: „South China Morning Post“, 4. August 2021).

Choys Beschreibung ist nicht ganz falsch. Die HKPTU hat bzw. hatte einen potentiell beträchtlichen Einfluss. Doch was dabei völlig außer Acht gelassen wird, ist die schreckliche Rolle, die die bürgerliche pan-demokratische Führung der Gewerkschaft immer wieder gespielt hat. Sie hat sowohl als Gewerkschaft als auch als einflussreiche Kraft innerhalb des pan-demokratischen Blocks ständig wie eine bürokratische und konservative Bremse auf den Kampf gewirkt. Beim pan-demokratischen Block handelt es sich um die Kräfte, die den Kampf für Demokratie in Hongkong traditionell dominiert haben. Die Feigheit und Unfähigkeit des Vorstands der HKPTU, irgendeine Form von organisiertem Widerstand zu leisten, tritt jetzt, da die KPCh ihre wüsten Angriffe durchführt, für alle offen sichtbar zu Tage. Die Gewerkschaft ist schlichtweg in sich zusammengefallen anstatt wenigstens zu versuchen, ihre Mitglieder zusammenzuholen und mit ihnen einen Verteidigungskampf zu führen.

Bei den bürgerlichen führenden Köpfen der pan-demokratischen Bewegung, für die die Führungspersonen der HKPTU ganz typisch sind, handelt es sich nicht um die glühenden Kämpfer*innen für die Demokratie, als die sie von der Propaganda in China (und übrigens auch in den USA) so gern dargestellt werden. Sie sind vielmehr als notorische Zögerer*innen zu bezeichnen, die immer darauf aus sind, den Kampf zu vermeiden. Die Reaktion der HKPTU-Repräsentant*innen auf diesen Frontalangriff gegen das Existenzrecht ihrer eigenen Gewerkschaft hat schlimme Folgen für die Lehrkräfte und die Zukunft der Gewerkschaften in Hongkong. Schließlich wird die HKPTU dort als größter „Dominostein [betrachtet], der unter die Räder der totalitären Gegen-Revolution der KPCh gekommen ist“. Diese Erfahrung bestätigt nachdrücklich und mit sehr tragischen unmittelbaren Folgen die Warnungen von Marxist*innen und echten Sozialist*innen, dass prokapitalistische Parteien unter der Führung kleinbürgerlicher liberaler und sogenannter moderater Kräfte nicht fähig oder willens sind, den nötigen Kampf der Massen für demokratische Rechte anzuführen, bestehende Rechte gegen Angriffe zu verteidigen und eine Diktatur herauszufordern, die von Großkapitalist*innen unterstützt wird. Eine Gewerkschaft mit einer derartigen Führung kann nur als „gefährdete Art“ bezeichnet werden.

Aufgabe von Positionen

Schon vor der Aberkennung des gewerkschaftlichen Status und ganz nach der Art weiterer Teile des „moderaten“ pandemokratischen Blocks sind die Spitzen der HKPTU vor jeglicher oppositioneller Rolle, die von Bedeutung gewesen wäre, zurückgewichen. Im Laufe des vergangenen Jahres ist man mit der diskutablen Behauptung, „die Gewerkschaft als solche zusammenzuhalten“, unter dem Druck des Regimes eingeknickt. Letzten Monat verließ man die „Hongkong Alliance“ (vollständige Bezeichnung: „Hongkong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China“), ein Bündnis aus diversen pandemokratischen Parteien und NGOs, das bis zum Verbot von vor zwei Jahren immer am 4. Juni die Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag des Blutbads vom Tiananmen-Platz organisiert hatte. Das Bündnis selbst leistete nur symbolischen, verbalen Widerstand gegen die Repression des Regimes (dabei ist die politische Zusammensetzung dieses Bündnisses mit der des HKPTU-Vorstands identisch).Es gibt also unter den offiziellen Parteien und Gruppierungen des pan-demokratischen Lagers einen allgemeinen Trend zur Kapitulation. In den letzten 12 Monaten haben sich mehr als 20 Parteien und Gruppierungen aufgelöst.

Die führenden Köpfe der HKPTU haben die Gewerkschaft in der vergangenen Woche gewissermaßen als Kraft abgewickelt, die imstande wäre, für die Rechte der Lehrkräfte einzutreten und sich der reaktionären Agenda der Regierung zu widersetzen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Entschlossenheit des Regimes unter Xi, ultra-nationalistische „Bildung“ in den Schulen einzuführen und damit dem status quo in Festland-China zu folgen. Die HKPTU hat die Einrichtung einer Arbeitsgruppe angekündigt, die sich im Sinne ihrer Mitglieder und der Schülerschaft mit der Geschichte und Kultur Chinas befassen soll und mit der Zuneigung zu Heimat und Staat“. Das ist eine Kehrtwende, mit der man auf die Propaganda der KPCh reagiert und hofft, den Vorwurf des „bösartigen Tumors“ wieder aus der Welt zu bekommen. Dieser Schritt wird jedoch nur zur Demoralisierung der Mitgliederbasis führen und Schüler*innen von der Gewerkschaft entfremden. Letztere stellen die übergroße Mehrheit derer, die die offizielle und als „Bildung“ verkleidete KPCh-Propaganda verabscheuen. Dieses Vorgehen hat nichts mit Taktik zu tun. Damit wird weder Zeit gewonnen noch hilft es, neue Angriffe zu verhindern. Erreicht wird nur das Gegenteil: Niemand im Regierungslager wird sich von diesem dürftigen Manöver beeindruckt zeigen. Stattdessen werden sich viele Lehrkräfte, denen die Regierungsmaschinerie zutiefst zuwider ist, verraten fühlen.

Darüber hinaus hat die HKPTU ihre Abkehr vom Hongkonger Gewerkschaftsbund (HKCTU) beschlossen. Sie geht also noch einen Schritt weiter und verabschiedet sich hiermit von grundlegenden gewerkschaftlichen Prinzipien. Der HKCTU ist der wichtigste Dachverband.

Auch scheidet man mit sofortiger Wirkung aus der weltweit 32 Millionen Mitglieder zählenden Bildungsinternationale „Education International“ aus (der auch die GEW aus Deutschland angehört; Anm. d. Übers.). Die Führung der HKCTU, die auch zu den pandemokratischen Gruppen zählt, äußerte, dass die Entscheidung der HKPTU „nachvollziehbar“ sei. Die HKPTU ist/war die mit weitem Abstand größte Mitgliedsgewerkschaft des Dachverbands. So lange das Regime der KPCh es mit einer derartigen „Opposition“ zu tun hat, wird sie in ihrem harten Durchgreifen nicht aufzuhalten sein. Gewerkschaftliche Arbeit ist in Gefahr.

Die Rolle der Jugend

Der Angriff auf die HKPTU sollte in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden: Der gesamte Bildungssektor in Hong Kong ist ein wesentlicher Bereich für den Kampf gegen die antidemokratische Gegen-Revolution. Plötzlich soll überall die Flagge Chinas geehrt werden, und es soll eine „patriotische Bildung“ zum Tragen kommen. Das ist der neue Ausdruck, den Peking für die Gehirnwäsche, die in der Schule stattfinden soll nutzt. In Klassen und Kursen, denen „patriotische Bildung“ zuteil wird, existieren weder die große Hungersnot von 1958 bis 1962 („Der Große Sprung nach vorn“) noch das Blutbad auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989 und auch nicht die Gefangenenlager in Xinjiang oder der kulturelle Genozid an den Uigur*innen. All dies hat plötzlich nicht mehr stattgefunden.

Die Diktatur in China fürchtet sich vor der Rolle, die die jungen Leute bei den Massenprotesten eingenommen haben, und geht fälschlicher Weise davon aus, dass es weiteren Aufruhr verhindert, indem die Schulen mit Propaganda überhäuft werden. 2.500 von den mehr als 10.000 Personen, die wegen ihrer Teilnahme an den Protesten von 2019 inhaftiert worden sind – also ein Viertel – war minderjährig. Die Kapitulation der HKPTU wird, was das angeht, weitreichende Reaktionen jenseits der Gewerkschaftsmitglieder hervorrufen. Das gilt vor allem für die jüngere Generation, die Gefahr läuft, terroristischen Ideen zu folgen. Doch das wäre für den weiteren Kampf nur eine Sackgasse.

Lange bevor man gegen die HKPTU hart durchgegriffen hat sind Lehrkräfte bereits ins Visier geraten. Ihre Beiträge in den sozialen Medien wurden durchleuchtet. Eine Umfrage vom Mai hat gezeigt, dass 40 Prozent der Lehrkräfte in Hongkong ihren Beruf aufgeben möchten. Dieser Trend wird nach der Kapitulation der HKPTU weiter zunehmen. Hinzu kommt, dass kleinere Organisationen von Lehrkräften (darunter auch eine Basisgruppe, die innerhalb der HKPTU existierte) sich schon selbst aufgelöst haben, weil sie Repressalien fürchten.

Wenn die HKPTU-Führung es abgelehnt hätte zu kapitulieren und ihre Mitglieder stattdessen zu Massenversammlungen zusammengerufen hätte, um sich über den Angriff der „People’s Daily“, wonach man als „Tumor“ bezeichnet werden müsse, auszutauschen, dann hätte das die Gegen-Revolution durchaus zum Nachgeben zwingen können. Selbst das unheimlich schwammige und eigentlich auf alles anwendbare „Nationale Sicherheitsgesetz“ wäre auf eine harte Probe gestellt worden, da der Protest gegen den Vorwurf, ein „Tumor“ zu sein, erst noch als Straftat hätte ausgelegt werden müssen. Das hätte zum Kulminationspunkt für weitere Aktionen und Versammlungen gemacht werden können, um eine Verteidigungslinie für die HKPTU und gewerkschaftliche Arbeit allgemein aufzubauen. Doch die Führung hat kapituliert und damit die Annahme bestärkt, wonach der Gegen-Revolution und dem harten politischen Vorgehen der KPCh nichts entgegenzusetzen ist.

Solidarität der Arbeiter*innenklasse

Die Kampagne SARCHK („Solidarität gegen die Repression in China und Hong Kong“) und die ISA haben wiederholt gewarnt, dass die anhaltende Gegen-Revolution sich auch gegen die Gewerkschaften richten wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass demnächst der politische Streik verboten und auf dieser Basis künftig jede Arbeitsniederlegung für illegal erklärt wird. Das Ziel der Diktatur in Peking besteht darin, Hongkong vollständig einzuverleiben. Das bedeutet: keine Gewerkschaften, kein Streikrecht sowie Repression und Einschüchterung in den Betrieben.

In Hongkong, wie auch in China, sind Klassenfragen, gewerkschaftliche und demokratische Fragen untrennbar miteinander verknüpft. Die Gewerkschaften werden attackiert, weil es sich bei ihnen um die potentiell mächtigste Waffe im Kampf gegen die Diktatur handelt. Das wissen wir spätestens seit den Erfahrungen mit dem Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Aber auch in Südkorea und fast allen anderen Kämpfen für Demokratie haben sie in der Geschichte eine ganz wesentliche Rolle gespielt. Die Arbeiter*innenklasse ist die am beständigsten demokratische und revolutionäre Klasse in der Gesellschaft. Trotz aller Propaganda (sowohl von Seiten bürgerlicher wie auch stalinistischer Politiker*innen), dass die kapitalistische Klasse oder die „Mittelschichten“ im Kampf für Demokratie die wesentlichen Protagonist*innen seien, kommt in Wirklichkeit immer der Arbeiter*innenklasse diese Rolle zu.

In Hongkong stehen die Pan-Demokrat*innen nicht für die kapitalistische Klasse, die vollends in das System der KPCh-Herrschaft integriert ist. Die liberalen Pan-Demokrat*innen können noch am ehesten als „Möchtegern-Revoluzzer*innen“ klassifiziert werden, die in einem Klassen- und Wirtschaftssystem, das sie selbst fürchten aber niemals in Frage stellen, als Vertreter*innen der kapitalistischen Klasse gelten wollen. Der Wunsch nach etwas führt aber noch längst nicht dazu, dass es sich dabei auch um einen realen Umstand handelt. Für Sozialist*innen ist dies ein ganz entscheidender Punkt, an dem wir zwischen der Rolle der wirklichen kapitalistischen Kräfte, die die Repression und die Diktatur voll und ganz unterstützen, und den „Möchtegern-Vertreter*innen“ eines demokratischen Kapitalismus (den es nicht gibt und wahrscheinlich auch nie geben wird) unterscheiden müssen.

Die Gruppe SARCHK und die ISA rufen die weltweite Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung dazu auf, Alarm zu schlagen und mit solidarischem Handeln gegen die brutalen Angriffe des Regimes auf die Gewerkschaften zu reagieren. Das muss die Lehrkräfte von Hongkong mit einschließen, die nun auf brutale Weise von der bürokratischen Führung ihrer bisherigen Gewerkschaft im Stich gelassen worden sind. Daraus müssen wir die Lehren ziehen: Kapitulation kann keine Taktik oder gar Teil einer Strategie sein. Kapitulation heißt Aufgabe! Wir rufen die internationale Arbeitnehmer*innenschaft dazu auf, Solidaritätskampagnen für diejenigen zu unterstützen, die für wirklich unabhängige Gewerkschaften und demokratische Rechte für die Arbeiter*innen in Hong Kong und China kämpfen.

„Auf einem Planeten, der seine Grenzen hat, kann es kein grenzenloses Wachstum geben!“ - Das Verhältnis von kapitalistischer Wirtschaft und Umweltkrise

In welchen Verhältnis wirtschaftlicher Wachstum und Klimakrise zu einander stehen, wird verstärkt diskutiert. Mit dem folgenden Beitrag zur Debatte in der Umweltbewegung möchten wir einen marxistischen Blick auf diese wichtige Frage darlegen.
Von Conor Payne und Chris Stewart, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion der ISA in Irland)

Viele Umweltaktivist*innen und Wissenschaftler*innen sind der Auffassung, dass die Besessenheit von wirtschaftlichem Wachstum der Grund für unsere derzeitige Umweltkrise ist und die Lösung darin besteht, die Wirtschaft „schrumpfen“ zu lassen.

Allerdings fehlen in dieser Diskussion allzu oft die entscheidenden, antikapitalistischen Inhalte - oder es mangelt an der Erkenntnis, dass die Gesellschaft in Klassen aufgeteilt ist. Wir Arbeiter*innen werden dann dafür angeklagt, dass wir angeblich zerstörerisches „Konsumverhalten“ an den Tag legen. Sozialist*innen sollten sich stattdessen darüber bewusst sein, dass das kapitalistische System und die dazugehörende unstillbare Gier nach mehr Profiten der Grund für die Klimakrise ist. Uns muss klar sein, dass die einzige Möglichkeit, diese Krise zu lösen, darin besteht, für eine sozialistische Welt zu kämpfen, in der die Bedürfnisse der Menschen – das nachhaltige Verhältnis zur Natur eingeschlossen – vor individueller Gier stehen.

Der Kreislauf von Auf- und Abschwung im Kapitalismus

Im Kapitalismus ist die treibende wirtschaftliche Kraft die Gier nach Gewinn. Der Wettbewerb zwischen Unternehmen und sogar zwischen verschiedenen kapitalistischen Ländern um Märkte und Ressourcen erzwingt, dass dieser Wettkampf ohne Rücksicht auf Verluste und expansiv ausgetragen wird. Deshalb gehört zum Kapitalismus auch ein ständiger Drang nach ökonomischem Wachstum.

Parallel dazu sind diese Unternehmen darauf aus, die Kosten ihrer Aktivitäten „auszulagern“, damit sie von jemand anderem getragen werden. Die kapitalistische geführte Firma kümmert es nicht, auf welcher Grundlage ihr Wachstum aufbaut. Ob ihre Produkte nützlich sind oder Schäden verursachen, schert sie nicht. Auch ist es belanglos, ob ihr Handeln nachhaltig für die Umwelt ist.

Der Kapitalismus ist ein System der Widersprüche. Die Kapitalist*innen machen Profite, indem sie Arbeitskräfte ausbeuten. Dasselbe gilt für die notwendigen Ressourcen, die der Natur im Zuge des Herstellungsprozesses entnommen werden. Die konstante Notwendigkeit, immer mehr an Profiten anzuhäufen, bedeutet, dass der Kapitalismus auf immer zerstörerischere Weise immer mehr an Ressourcen abbaut. Das führt zur Auszehrung der Böden, der Dezimierung der Wälder, zum Mangel an Mineralien, zu Schäden im Lebensraum Ozean, usw. Letztlich werden somit die Quellen des Reichtums selbst, auf die das System zurückgreifen kann, immer weiter vernichtet.

Der Kapitalismus stößt vermehrt auf die ökologischen Barrieren, die seiner ungezügelten Fortentwicklung im Weg stehen. Das äußert sich in den zahlenmäßig zunehmenden Naturkatastrophen, dem jüngsten Zusammenbruch des Stromnetzes in Texas und einer weltweit grassierenden Pandemie, was alles – zumindest in Teilen – auf die unaufhörlichen Eingriffe der Menschheit in die Natur zurückzuführen ist.

Hinzu kommt, dass es sich beim Kapitalismus um ein System handelt, das Investitionen zu allererst über das Chaos organisiert, welches an den Börsen regiert und wo Investment allein an der Höhe des zu erzielenden Profits ausgerichtet ist. Kapitalist*innen entscheiden sich heute in zunehmendem Maße dafür, mit ihrem Reichtum Spekulation mittels komplexer Finanzprodukte zu betreiben, die kaum noch einen Bezug zu tatsächlich existierenden Werten in der Gesellschaft haben. Marx nannte es das „fiktive Kapital“. Der Grund dafür ist, dass sie damit höhere kurzfristige Profite machen können, als wenn sie tatsächlich produktiven Investitionen tätigen würden.

Gleichzeitig bedeutet die Zielsetzung der Kapitalist*innen, den Anteil am Reichtum immer niedriger ausfallen zu lassen, der an die Arbeiter*innenklasse geht, wodurch die Arbeitskräfte in ihrer Gesamtheit nicht mehr in der Lage sind, all die Produkte überhaupt kaufen zu können, die die Kapitalist*innen auf den Markt werfen. Auf diese Art stößt das kapitalistische Wachstum schließlich an seine Grenzen, und das System stürzt in Krisen und Rezession. Momentan erleben wir diesen Krisen-Prozess in Irland und auf internationaler Ebene zum zweiten Mal in gut zehn Jahren.

Auch wenn die Vorteile des Wachstums für die Arbeiter*innen neben denen für die Konzerne und Reichen üblicherweise verblassen, so hat es oft auch zu einer Verbesserung des Lebensstandards in der Arbeiter*innenklasse geführt, wenn das Wachstum auf produktive Investitionen zurückzuführen war. Phasen ökonomischen Wachstums (wie beispielsweise in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg) sind von kapitalistischen Regierungen manchmal auch genutzt worden, um im Interesse der Arbeiter*innenklasse soziale Reformen zu gewähren: So etwa beim Thema Renten, der Gesundheitsversorgung und in der Bildung, auf dem Feld der sozialen Absicherung u.ä. Dies geschah nicht aus irgendeiner Art von Freundlichkeit sondern sollte mögliche revolutionäre Situationen abgewendet werden, die entstehen wenn die Arbeiter*innenklasse das System grundsätzlich in Frage stellt.

In den vorherigen Jahrzehnten des neoliberalen Kapitalismus bestand die Grundlage für Wachstum dann allerdings nur noch darin, den Anteil des Reichtums zu verringern, der an die Arbeiter*innenklasse geht. Der Kapitalismus drückte die Löhne, weidete die öffentliche Daseinsfürsorge aus und untergrub die ökonomische Sicherheit. Demgegenüber ist die Ungleichheit förmlich explodiert, weil die positiven Begleiterscheinungen des Wirtschaftswachstums ausblieben. Dennoch haben die Kapitalist*innen versucht, den Konsum immer weiter zu steigern, der dann zum großen Teil auf privater Kreditaufnahme basierte. Unterm Strich bedeutet dies, dass kapitalistisches Wirtschaftswachstum heute oft nur wenige echte Vorteile für die Menschen aus der Arbeiter*innenklasse mit sich bringt.

Die Erholung von der Großen Rezession des Jahres 2008 war im Großen und Ganzen „freudlos“. Dies ließ sich in Irland bei den Wahlen 2020 sozusagen grafisch ablesen, als das Establishment keinerlei Nutzen aus dem ansonsten viel zitierten „Wohlfühl-Faktor“ ziehen konnte. Stattdessen erlebte man eine historische Wahlniederlage, trotz nominell beeindruckender Wachstumsraten in den vorangegangenen Jahren. Die wirtschaftliche Erholung hat die Realität aus Niedriglöhnen, prekärer Beschäftigung und Wohnungsmangel nicht behoben. In Großbritannien kam die Statistikbehörde „Office of National Statistics“ zu dem Ergebnis, dass die Reallöhne Ende 2019 trotz einer Dekade des Wachstums nur auf dem Niveau von 2008 lagen – „just in time“ für die nächste Krise! Zeitgleich stieg die Anzahl der „zero hours contracts“ (Lohn wird nicht fest, sondern nur nach Auftragslage bezahlt) mit fast einer Milllion betroffener Arbeiter*innen auf ein Rekordhoch1.

Unterdessen wird die steigende Last, die der Klimawandel verursacht, nicht gerecht verteilt, da die Wohlhabenden sich von den Folgen des Wirtschaftssystems absondern, von dem sie zuvor profitiert haben. Als beispiellos niedrige Temperaturen zum katastrophalen Stromausfall in Texas führten, trugen die Wohngebiete der Arbeiter*innenklasse, Armen und Minderheiten während der Reduzierung der Stromleistung die Hauptlast. Die leerstehenden Wolkenkratzer der Stadt brachten hingegen weiterhin die Skyline zum Leuchten.

Karl Marx hat festgestellt: Im Kapitalismus ist „die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol […] also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert“2. Das fasst auch die kapitalistische Wirtschaftsweise von heute zusammen. Dazu kommt natürlich noch, dass die Arbeiter*innen weiterhin verpflichtet werden, für die Kosten aufzukommen, wenn das System in die Rezession übergeht. Die Realität ist, dass die kapitalistische Wirtschaft zu keinem Zeitpunkt im Kreislauf aus Ab- und Aufschwung im Interesse der Arbeiter*innenklasse funktioniert.

Eine Wirtschaft im Sinne der Bedürfnisse, nicht im Sinne der Gier

Auch wenn das wirtschaftliche Wachstum zweifelsohne die CO2-Emissionen nach oben schraubt und sämtliche Formen der Umweltzerstörung vorantreibt, so führt ein ökonomischer Abschwung im Kapitalismus nicht zu einer gleichermaßen starken Verringerung der Umweltbelastung. In einer Untersuchung, bei der 150 Länder über den Zeitraum von 1960 bis 2008 herangezogen worden sind, kam man zu dem Ergebnis, dass ein Anstieg des BIP um ein Prozent im Schnitt zu einer Steigerung der CO2-Emissionen um 0,73 Prozent führt. Einer einprozentigen Verminderung des BIP stand hingegen nur ein Rückgang des CO2-Ausstoßes um 0,4 Prozent gegenüber3. Der Grund dafür ist, dass die Güter und Infrastrukturmaßnahmen, die während einer Aufschwungphase produziert bzw. durchgeführt worden und mit Blick auf die Umwelt als ineffizient zu bezeichnen sind, im Allgemeinen auch in einer Abschwungphase weiterhin zur Anwendung kommen. Eine Verringerung des Konsums kann für sich genommen niemals zur notwendigen Verringerung der CO2-Emissionen führen. Was wir stattdessen brauchen, ist ein fundamentaler Richtungswechsel hinsichtlich der Art und Weise, was und wie produziert wird.

Das heißt, dass es tendenziell zu immer mehr Emissionen kommen wird, wenn nicht vorher der planmäßige Übergang hin zu einem nachhaltigen Produktionsweise durchgeführt wird. Von daher ist die Debatte über die Folgen von Wachstum und die Auswirkungen eines wirtschaftlichen Rückgangs sinnlos, so lange sie nicht zu der Erkenntnis führt, dass das Chaos der kapitalistischen Marktwirtschaft beendet werden muss.

Das Ziel der kapitalistischen Wirtschaft besteht darin, bei den Arbeitgeber*innen für steigenden Profit zu sorgen. Im Sozialismus würde der Zweck der Wirtschaft darin bestehen, die menschlichen Bedürfnisse auf nachhaltige Weise und im Einklang mit der Natur zu befriedigen. Dazu müssen die Schlüsselsektoren der Wirtschaft den großen Konzernen aus der Hand genommen und unter demokratischer Kontrolle in öffentliches Eigentum überführt werden. So sind wir in der Lage, den Energiesektor, das Verkehrswesen, den Bereich der industriellen Landwirtschaft und die Produktion insgesamt neu und auf planvoller Grundlage zu organisieren. Dieser Plan muss sowohl an den Interessen der Menschen wie auch der Natur ausgerichtet sein.

Sozialist*innen wollen ein besseres Leben für die breite Mehrheit der Bevölkerung auf der Erde. Wir wissen, dass selbst in den reicheren Ländern viele in Armut leben oder es gerade so hinbekommen, den Kopf über Wasser zu halten. Sie haben keinen Zugang zu angemessenem Wohnraum oder adäquater Gesundheitsversorgung. Ökonomische Sicherheit für die Zukunft kennen sie nicht. Wir meinen, dass dieser Zustand in einer Welt des unfassbaren Überflusses in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Deshalb wehren wir uns gegen alle Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse – selbst gegen solche, die (wie Steuern auf Wasser oder CO2) unter dem Deckmantel des Umweltschutzes eingeführt werden.

Die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung ist nur für einen kleinen Anteil der CO2-Emissionen verantwortlich. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der UNO zeigt, dass das obere eine Prozent der Topverdiener*innen dieser Welt pro Kopf für eine jährliche durchschnittliche CO2-Erzeugung von 74 Tonnen verantwortlich ist. Demgegenüber stehen lediglich 0,7 Tonnen, die von den 50 Prozent der Weltbevölkerung kommen, die am wenigsten verdienen4. In großen Teilen der Welt müsste ein sozialistisches System die Produktion auf nachhaltige Basis umstellen und hochfahren sowie den Reichtum umverteilen. Sogar für die wohlhabenderen kapitalistischen Länder gilt, dass viele Sektoren, die heute für kapitalistische Investitionen keine Rolle spielen, in einem sozialistischen System erst noch ausgebaut und nicht abgebaut werden müssten: zuallererst die Gesundheitsversorgung, der Wohnungsbau und erneuerbare Energieträger.

Eine Welt voll Müll

Abgesehen davon erzeugt die kapitalistische Produktionsweise enorme Mengen an Müll. Die Ausmaße, die das hat, dürfen wir nicht unterschätzen:

  • 690 Millionen Menschen litten 2019 unter Hunger. Die „Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation“ der Vereinten Nationen (FAO) geht davon aus, dass die Folgen der Corona-Pandemie 132 Millionen Menschen zusätzlich in den Hunger treiben werden5. Während der Pandemie wurden durch die Schließung der Restaurants und andere Störungen im Auslieferungsprozess Unmengen an guten Lebensmitteln entsorgt. Sogar in „normalen“ Zeiten wird in einer Welt, in der genug produziert wird, um alle satt zu bekommen, mindestens ein Drittel der Lebensmittel verschwendet oder findet gar nicht erst den Weg zu den Verbraucher*innen. Das hat eine ganze Reihe von Gründen. Doch der Kern des Problems ist, dass Lebensmittel den Status als Ware haben, die für Profit angeboten wird. Die industrielle Landwirtschaft lässt Lebensmittel auf den Feldern verrotten, um den Preis hoch zu halten. Supermärkte vernichten noch genießbare Lebensmittel, von denen sie meinen, sie nicht mehr verkaufen zu können. Gute Lebensmittel werden sogar aussortiert, weil ihre Größe oder Beschaffenheit sie zur „unverkäuflichen Ware“ macht6.

  • 569 Milliarden Dollar sind Schätzungen zufolge allein im Jahr 2020 in den Bereich der Werbung geflossen. Dieses Jahr wird sich diese Summe auf 612 Milliarden erhöhen7. Addiert werden können noch die ganzen zusätzlichen Aufwendungen, die für Verkaufsförderung, Produktplatzierung, „Direktvermarktung“ und andere Formen der unternehmerischen Außendarstellung getätigt werden. Beim deutlich größten Teil dieser Gelder handelt es sich um eine reine Verschwendung, da er nicht für Verbraucher*inneninformation verwendet sondern dafür eingesetzt wird, um uns vom Kauf so vieler Produkte wie nur möglich zu überzeugen. Wir werden dazu angehalten, lieber viele Produkte von ein und derselben Marke zu kaufen als uns für andere Hersteller*innen zu entscheiden. Häufig wird dann mit unseren Sorgen und unserer Unsicherheit gespielt, um bei uns die falsche Vorstellung von angeblich bestehenden Bedürfnissen zu schaffen. Diese seien dann einfach durch Konsum zu „befriedigen“.

  • Weil die Produktion im Kapitalismus nicht an Bedürfnissen sondern am Profit ausgerichtet ist, werden Werbung und Marketing direkt mit dem Herstellungsprozess verknüpft. Die Verpackungsindustrie macht aktuell den drittgrößten Industriesektor weltweit aus, wobei ein Großteil der Verpackungen kein vornehmlich funktionales Ziel hat sondern eingesetzt wird, um ein Produkt besonders zu vermarkten. Die Kosten für Verpackungen belaufen sich auf zehn bis 40 Prozent der Gesamtkosten eines Produkts8.

  • „Geplante Obsoleszenz“ bedeutet, dass Produkte ganz bewusst nicht für den dauerhaften Gebrauch hergestellt sondern so konzipiert werden, dass wir Verbraucher*innen so oft wie möglich eine defekte Ware durch eine neue ersetzen müssen. Zu diesem Bereich zählt auch „fast fashion“ (kurzlebige Mode), die aus Material von minderwertiger Qualität hergestellt wird, oder Elektroartikel, deren Batterien nicht ersetzt werden können. Die „geplante Obsoleszenz“ hat allein im Jahr 2019 500 Millionen Tonnen Elektroschrott verursacht9.

  • Es gibt eine ganze Palette weiterer Industriezweige und Produkte, die für Menschen aus der Arbeiter*innenklasse ohne Nutzen sind: Angefangen bei der Rüstungsindustrie, die tödliche Waffen herstellt, bis hin zu Luxusartikeln wie Privatflugzeugen gibt es Branchen, die von der Existenz einer Gruppe neuer und finanzstarker Konsument*innen profitieren, welche z.B. in Zeiten der Pandemie keine Charterflüge buchen wollten. Als Folge einer zusätzlichen kapitalistischen Spekulationsblase wird für die Kryptowährung Bitcoin aktuell mehr Strom benötigt als das Land Argentinien mit seinen 45 Millionen Einwohner*innen verbraucht.

  • Weil zwischen den einzelnen Firmen Konkurrenz herrscht, werden Arbeiten in den Bereichen Forschung und Entwicklung oft doppelt und dreifach durchgeführt.

Wie wir sehen, sind die Berge an Müll, die im Kapitalismus produziert werden, nicht in erster Linie das Ergebnis der Verbraucher*innennachfrage sondern dienen dem Profitstreben im Kapitalismus. Zu einem gewissen Teil bedingt auch die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft an sich schon, welche Bedürfnisse wir als Verbraucher*innen haben. Diejenigen, die nicht in der Nähe von zuverlässigen Verkehrsnetzen leben, haben das „Bedürfnis“ Autos zu kaufen. Menschen mit niedrigem Einkommen werden sich dafür „entscheiden“, auf kurzlebige (weil auf kurze Sicht billigere) „fast fashion“-Produkte zurückzugreifen etc.

Um immer mehr Produkte zu schaffen, die gar nicht gebraucht werden oder schnell nach dem Kauf wieder auf der Mülldeponie landen, oder um für immer stärkeren künstlichen Bedarf zu sorgen, wird nach kapitalistischem Verständnis alles unter dem Begriff „Wachstum“ einsortiert. Dabei handelt es sich bei diesem Prozess in keinster Weise um gesellschaftlichen Fortschritt. Eine demokratisch geplante Wirtschaft könnte mit weniger Einsatz mehr erreichen, wenn sie Bestandteil des planvollen ökologischen Übergangs wäre: Neuausrichtung nutzloser oder gar zerstörerischer Industriezweige, Vermeidung von doppelt geleisteten (redundanten) Arbeitsprozessen, Verhinderung von Überproduktion und geplanter Obsoleszenz, Fokussierung auf die Befriedigung von Bedürfnissen (nicht auf die Schaffung künstlichen Bedarfs) sowie Transformation der Bereiche Landwirtschaft, Verkehr und Energieerzeugung auf nachhaltiger Grundlage. In einem solchen System könnten ganze Industriezweige, Wohnviertel und Städte demokratisch und auf völlig anderer Basis geplant werden. Der kapitalistischen Überproduktion und der Produktion von Müll würde ein Ende gesetzt und es wäre möglich, die Ressourcen wesentlich rationeller einzusetzen.

Nachhaltige Zukunft bedeutet sozialistische Planung

Manche wenden ein, dass ein simpler Übergang hin zu erneuerbaren Energieträgern („Energiewende“) die ökologischen Probleme unserer Zeit lösen wird. Dieser Übergang ist sowohl nötig als auch möglich. Im Kapitalismus wird es dazu aber nicht so einfach kommen, weil in diesem Wirtschaftssystem jeder fossile Energieträger so lange ausgebeutet wird, wie er zur Verfügung steht und als profitabel gilt.

Und auch wenn es dazu kommen sollte, so hätten wir weiterhin mit einer ganzen Reihe an erst noch bevorstehenden ökologischen Katastrophen zu kämpfen. Die Realität ist, dass der Kapitalismus schon jetzt eine große Zahl an Grenzen überschritten hat, die für den Schutz einer halbwegs intakten Umwelt im Sinne der menschlichen Zivilisation auf der Erde nötig sind. Zu denken sei an die Vernichtung von Arten, die Verödung von Böden und die Rodung ganzer Waldgebiete, um nur drei Beispiele zu nennen. Die gemeinsame Ursache für all diese Probleme besteht darin, dass die Menschheit in zunehmendem Maße in die Natur eingreift, wodurch mittlerweile die Grundlage unserer Existenz auf diesem Planeten in Gefahr gerät.

Auch werden Veränderungen auf technologischer Ebene allein das Problem einer nachhaltigen Beziehung zur Natur nicht lösen. Im Kapitalismus ist das exakte Gegenteil der Fall: Wenn technologische Verbesserungen zu einem effizienteren Energieeinsatz führen, dann wird dadurch nur die Grundlage geschaffen für eine weitere Expansion. Daher führt technischer Fortschritt unter dem Strich paradoxer Weise oft zu einem noch höheren Energieverbrauch10.

Bis zu einem gewissen Grad mag die Technologie die Rahmenbedingungen verschieben helfen. Wir müssen aber einfach einsehen, was unumstößliche Realität ist: Man kann kein grenzenloses Wachstum auf einem Planeten haben, der seine Grenzen hat. Kapitalismus bedeutet zunehmend destruktive und wilde Suche nach Ressourcen, die ausgebeutet, und nach Grund und Boden, der nutzbar gemacht werden kann, wobei der Profit aus diesen Aktivitäten sich immer stärker in den Händen von nur wenigen Menschen konzentriert.

Sozialistische Planung kann hingegen eine rationale und vernünftige Entwicklung unserer Lebensqualität sicherstellen, ohne dass dabei Schaden an Natur und Umwelt angerichtet wird. Nur auf dieser Grundlage können wir unsere Gesellschaft neu und an den echten Bedürfnissen (nicht am Profit!) ausrichten und unzählige, gesellschaftlich notwendige Arbeitsplätze schaffen, die für den Aufbau eines nachhaltigen Systems nötig sind.

Sozialist*innen setzen sich für umfangreiche Investitionen im Bereich emissionsarmer Arbeitsplätze und nachhaltiger Infrastruktur ein. Wir kämpfen für die Einführung der vier-Tage-Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich. Das würde nicht nur das Problem der im Kapitalismus ständigen Erwerbslosigkeit beheben, indem Arbeit auf alle verteilt wird, die arbeiten wollen. Dadurch hätten die Arbeitskräfte auch endlich genügend Zeit, um sich an politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, und es käme zu einer besseren Gewichtung zwischen Arbeit, gesellschaftlicher Beteiligung und Erholung.

Auch unter diesen Bedingungen wird es weiterhin komplexe Fragen darüber zu beantworten geben, wie Produkte, Industriezweige und Tätigkeiten weitergeführt werden können. Diese Fragen können aber am besten auf der Basis demokratischer Diskussionen und in einer Gesellschaft angegangen werden, die auf Gerechtigkeit und Solidarität basiert.

Quellen

1. Richard Partington, Feb 18, 2020 „Average Wages Top Pre-Financial Crisis Levels“, „The Guardian“, www.theguardian.com

2. Karl Marx: „Das Kapital“, Bd. 1., www.mlwerke.de

3. Richard York, Oct 7, 2012, „Asymmetric effects of economic growth and decline on CO2 emissions“, „Nature Climate Change“, www.nature.com

4. UN Environment Program „Emissions Gap Report 2020“, Dec 9, 2020

5. UN Food and Agriculture Organisation, July 13, 2020, „As more go hungry and malnutrition persists, achieving Zero Hunger by 2030 in doubt, UN report warns“, www.fao.org

6. Andrew Smolski, Mar 29, 2017, „Capital’s Hunger in Abundance“, Jacobin, www.jacobinmag.com

7. Brad Adgate, Dec 14, 2020, „Ad Agency Forecast: Expect The Advertising Market To Rebound In 2021“, Forbes, www.forbes.com

8. John Bellamy Foster and Brett Clark, 2020, „The Robbery of Nature: Kapitalismus and the Ecological Rift“, Monthly Review Press, p. 364

9. John Harris, Apr 15, 2020, „Planned obsolescence: the outrage of our electronic waste mountain“, The Guardian, www.theguardian.com

10. Foster and Clark, 2020, p.352-3.

 

Vorbereitungen für Massenproteste auf der COP26

von Connor Rosoman (ISA)

Wir leben in einer entscheidenden Phase im Kampf gegen den Klimawandel. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) der Vereinten Nationen hat gewarnt, dass wir mit dem derzeitigen Tempo auf eine Erwärmung von 3°C zusteuern - weit über dem Limit von 2°C, das im Pariser Abkommen zur Abwendung einer Klimakatastrophe festgelegt wurde.

Doch diese Katastrophe bahnt sich bereits an - mit tragischen Folgen. In Zhengzhou in China, starben 12 Menschen, nachdem sie nach extremen Regenfällen in überfluteten U-Bahn-Waggons eingeschlossen waren. In Deutschland und Belgien sind Dutzende von Menschen bei beispiellosen Überschwemmungen ums Leben gekommen. In den USA und Kanada haben schwere Hitzewellen Hunderte von Menschenleben gefordert. Es ist deutlicher denn je, dass wir jetzt handeln müssen - nicht erst in 10 oder 20 Jahren.

Angesichts dieser anhaltenden Katastrophen wird die COP26-Konferenz im November in Glasgow, Schottland, wichtige Fragen darüber aufwerfen, wie wir den Klimawandel ernsthaft angehen können.

Seit dem letzten Gipfel, der sich nur dadurch auszeichnete, dass er jegliche Maßnahmen bis zur diesjährigen Konferenz aufschob, haben wir gesehen, dass Kapitalist*innen wie Joe Biden bereit sind, unter dem Druck der Krise, die wir durchleben, große Versprechungen zu machen. Biden selbst hat viele dieser Versprechen nicht eingehalten, auch nicht in Bezug auf das Klima. Einerseits hat er geschworen, "Umweltgerechtigkeit voranzutreiben", andererseits hat er sich geweigert, gegen neue Ölpipelines wie die Line 3 und die Dakota Access Pipeline (DAPL) vorzugehen.

In der Zwischenzeit verdeutlicht eine wachsende Liste von Großunternehmen, die an der COP26 teilnehmen, dass jede Art von "Systemwechsel" für diese Diskussionen ausgeschlossen ist. Es ist klar, dass die diesjährige Konferenz keine ernsthaften Lösungen für Arbeitnehmer*innen und junge Menschen bieten wird, die mit den schlimmsten Auswirkungen dieser Krise konfrontiert sind. Aber sie wird eine wichtige Gelegenheit sein, sich zu organisieren und einen Kampf für echte Maßnahmen zu führen.

Die Klimabewegung im Jahr 2021

Beim globalen Klimastreik im September 2019, der den Höhepunkt der Klimabewegung bisher darstellte, gingen weltweit über 7 Millionen meist junge Menschen in 150 Ländern auf die Straße. Seitdem hat die Bewegung jedoch eine gewisse Flaute erlebt.

In diesem Organisationsvakuum haben sich viele junge Menschen nach anderen Wegen umgesehen, um die Bewegung fortzuführen.

Dazu gehört der Aufstieg der grünen Parteien, insbesondere in Europa. In anderen Fällen haben die Menschen nach individuellen Aktionen "jenseits der Politik" gesucht, durch Organisationen wie Extinction Rebellion (XR). Aber diese Art von Aktionen ohne eine klare Vorstellung von einem Systemwandel oder davon, welche Kräfte ihn herbeiführen können, werden nicht in der Lage sein, die Art von entscheidendem Wandel zu bewirken, die wir brauchen.

Welche Art von Kräften brauchen wir?

Die ersten Wellen von Schulstreiks zeigten einen Weg, der auf der Massenmobilisierung junger Menschen aufbaut und sich mit der organisierten Arbeiter*innenklasse, insbesondere den Gewerkschaften, verbindet. Wenn Arbeiter*innen streiken, können sie die Gesellschaft zum Stillstand bringen. Auch wenn kleinere Aktionen wirksam sein können, wird die Unterstützung der Arbeiter*innenbewegung entscheidend sein, um Maßnahmen gegen den Klimawandel durchzusetzen.

Dazu könnten koordinierte Streiks zwischen Gewerkschaften verschiedener Länder gehören, um das globalisierte kapitalistische System in die Knie zu zwingen, als Teil einer wirklich internationalen Bewegung gegen den Klimawandel.

Eine Massenbewegung gegen den Klimawandel müsste sich mit anderen Kämpfen von Arbeitnehmer*innen und jungen Menschen zusammenschließen, wie z.B. den Kämpfen gegen Angriffe auf unser Recht, international zu protestieren, gegen sexistische und rassistische Unterdrückung und mit den Arbeiter*innen, die gegen den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen als Folge der Pandemie kämpfen - sie alle haben ein Interesse daran, den Klimawandel zu beenden. Es würde auch den systemischen Charakter des Klimawandels hervorheben und aufzeigen, wie er mit dem kapitalistischen System zusammenhängt, das für die vielschichtige Krise verantwortlich ist, mit der die einfachen Menschen jetzt konfrontiert sind. Dies wäre ein wichtiger Schritt nicht nur im Kampf gegen den Klimawandel, sondern auch, um die verbreitete Idee der "Klimagerechtigkeit" Realität werden zu lassen.

Sozialismus ist Überleben

Das muss mit einem klaren Programm für einen grundlegenden Systemwandel verbunden sein. Das bedeutet, den Kapitalismus in Frage zu stellen und für eine sozialistische Gesellschaft zu kämpfen, in der demokratisch entschieden wird, was und wie produziert wird. Im Kapitalismus, wo die Produktion auf dem endlosen Streben nach immer höheren Profiten beruht, werden die Auswirkungen auf die Umwelt als "externe Effekte" behandelt. Diese Ausrichtung auf kurzfristigen Profit ist ein dem Kapitalismus eingebautes Merkmal. Das Ergebnis ist, dass es die großen Unternehmen selbst sind, die in hohem Maße zur Zerstörung unseres Planeten beitragen: Über 70 % der CO2-Emissionen stammen allein von den 100 größten Unternehmen weltweit.

Darüber hinaus ist die Lebensmittelindustrie für bis zu 26 % der gesamten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Lebensmittel werden massiv überproduziert, während Millionen von Menschen weltweit hungern. Das ist völlig unhaltbar, aber solange damit noch Gewinne erzielt werden können, werden diese Unternehmen ihren zerstörerischen Kurs fortsetzen.

Es gäbe die notwendige Technologie, um fossile Brennstoffe rasch durch nachhaltige Energiequellen wie Wasser-, Wind- und Sonnenenergie zu ersetzen und Lebensmittel auf nachhaltigere Weise zu produzieren. Aber kein Konzern wird bereitwillig seine Gewinne opfern, um einen solchen Übergang durchzuführen.

Ein sozialistisches Programm zur Bekämpfung des Klimawandels würde bedeuten, dass die großen Umweltverschmutzer, die die überwältigende Mehrheit der Emissionen verursachen, in demokratisches öffentliches Eigentum überführt werden - schließlich können wir nicht kontrollieren, was uns nicht gehört. Auf dieser Grundlage könnten wir die Produktion in einer Weise planen, die die Umwelt und das Leben der arbeitenden Menschen berücksichtigt. Wir könnten sofort damit beginnen, die massiven Treibhausgasemissionen und die allgemeine Verschwendung des derzeitigen Systems - einschließlich Plastikmüll und Abholzung von Wäldern - zu bekämpfen. Wichtig ist, dass wir gleichzeitig alle Arbeitsplätze schützen, sie umwidmen und neue nachhaltige Arbeitsplätze schaffen.

Vorbereitung auf internationale Massenproteste rund um die COP26

Die Klimakrise hat nicht darauf gewartet, dass wir uns mit COVID-19 befassen, aber sie hat gezeigt, dass im Kapitalismus die internationale Zusammenarbeit, die zur Bewältigung einer Krise großen Ausmaßes erforderlich ist, nicht möglich ist. Stattdessen wurde das Coronavirus durch Probleme wie den Impfstoff-Nationalismus zu einer weltweiten Katastrophe, bei der kapitalistische Staaten und Großunternehmen Wettbewerb und Profit über die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus stellen. Generell war das Vorgehen der herrschenden Klasse durch einen reaktiven Ansatz gegenüber dem Virus gekennzeichnet, ohne die nötige Voraussicht oder Planung, um es wirksam zu bekämpfen.

Der letzte COP-Gipfel wurde mit Massenprotesten von über einer halben Million Menschen beantwortet. Wir müssen jetzt mit der Organisation beginnen, um massive Gegenproteste auf der COP26 selbst im November sowie lokale Proteste in Ländern auf der ganzen Welt zu organisieren.

Ein COP26-Bündnis, an dem Dutzende verschiedener Kampagnengruppen beteiligt sind, hat bereits mit den Vorbereitungen für Proteste begonnen. Dazu gehört auch die massenhafte Mobilisierung von Arbeitnehmer*innen und Student*innen - die Gewerkschaften müssen ihre Mitglieder organisieren, damit sie zahlreich erscheinen, und die Student*innengewerkschaften an Hochschulen und Universitäten sollten für den Transport sorgen, um eine möglichst hohe Beteiligung zu erreichen. Dies sollte als der Beginn einer neuen, stärkeren Klimabewegung mit einem klaren Aktionsprogramm gesehen werden.

Die ISA wird in den kommenden Monaten Proteste auf der Konferenz vorbereiten, und wir werden einen internationalen Block organisieren, um die Notwendigkeit eines sozialistischen Wandels zur Bekämpfung des Klimawandels zu unterstreichen. Wir sind eine internationale Organisation, weil der Klimawandel, wie alle Aspekte des Kapitalismus, ein internationales Problem ist - wir müssen uns international organisieren, um zurückzuschlagen, und wir haben keine Zeit zu verlieren!

Wir sagen

1. Die Nutzung fossiler Energieträger ist für etwa 85 % der jährlich von Menschen verursachten CO2-Emissionen verantwortlich. Wir müssen die Verbrennung fossiler Brennstoffe für die Energie- und Kunststoffproduktion in den nächsten Jahren beenden und einen drastischen Wechsel zu Technologien vollziehen, die erneuerbare Energiequellen (Wind, Sonne, Wellen usw.) und Wasserstoff* nutzen. Die Technologie dafür ist vorhanden. Was dem System fehlt, ist der politische Wille, den Übergang zu vollziehen. (*Wasserstoff sollte, um umweltfreundlich zu sein, durch Wasserelektrolyse hergestellt werden, angetrieben durch Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen und nicht aus oder mit Hilfe von Erdgas und anderen fossilen Brennstoffen)

2: Die Industrie für fossile Brennstoffe und ihre Produkte sind für 91 % der weltweiten industriellen Treibhausgasemissionen und für etwa 70 % der Treibhausgasemissionen im Zusammenhang mit menschlichen Aktivitäten verantwortlich. Auf nur 100 Unternehmen weltweit entfallen etwa 71 % der industriellen Treibhausgasemissionen und die Hälfte der mit menschlichen Aktivitäten verbundenen Emissionen auf dem Planeten! Keines dieser Unternehmen wird bereitwillig auf die Grundlage verzichten, auf der seine Gewinne wachsen. Wir müssen daher diese Unternehmen unter die Kontrolle der Gesellschaft stellen und ihren Reichtum nutzen, um sie ohne Arbeitsplatzverluste in Unternehmen umzuwandeln, die Energie und Kraftstoffe unter Verwendung erneuerbarer Energiequellen und der Wasserstofftechnologie produzieren und die Energieproduktion auf der Grundlage sozialer Bedürfnisse und nicht kapitalistischer Gewinne planen.

3: Eine sehr kleine Anzahl von Konzernen kontrolliert den Großteil der weltweiten Nahrungsmittelproduktion und des Handels. Sie sind verantwortlich für 75 % der weltweiten Entwaldung, für 15-20 % der CO2-Emissionen, für die Zerstörung anderer wertvoller Ökosysteme und für den massiven Einsatz von Agrochemikalien, die sowohl die Natur als auch unsere Gesundheit beeinträchtigen. Die Lebensmittel- und Agrarindustrie ist auch der zweitgrößte Verursacher anderer Treibhausgasemissionen, wie z. B. Methan (56 %). Sie sind für 19-29 % der gesamten Treibhausgasemissionen verantwortlich, die durch menschliche Aktivitäten verursacht werden. Wir müssen diese Unternehmen aus den Händen der Kapitalist*innen nehmen, die Abholzung stoppen, ein weltweites Massenaufforstungsprogramm organisieren und die Nahrungsmittelproduktion auf nachhaltige und umweltfreundliche Weise planen, wozu auch gehört, dass wir mehr unserer Nahrungsmittel vor Ort anbauen, traditionelle Saatgut- und Viehsorten verwenden und die Bevölkerung über den übermäßigen Fleischkonsum und seine negativen Auswirkungen sowohl auf die Umwelt als auch auf die persönliche Gesundheit (wieder) aufklären.

4: Wir müssen einen massiven öffentlichen Investitionsplan für gute und effiziente, kostenlose öffentliche Verkehrsmittel, umweltfreundliches Bauen und Modernisierung von Häusern, Recycling- und Reparaturmöglichkeiten umsetzen, anstatt Abfälle zu verbrennen und/oder ins Ausland zu verschiffen. All diese Maßnahmen sind mehr als erschwinglich, wenn der von uns allen produzierte Wohlstand nicht von einer kleinen Elite angeeignet wird, die die Wirtschaft und das politische Establishment kontrolliert.

5: All diese Maßnahmen und die, die erforderlich sind, um die entstandenen Schäden an den Ökosystemen zu beheben, könnten Millionen von neuen Arbeitsplätzen schaffen. Den Arbeiter*innen in den Industrien und Sektoren, die von der notwendigen Umstellung betroffen sind, müssen Arbeitsplätze und Umschulungen ohne Lohneinbußen garantiert werden. Investitionen in erneuerbare Energien schaffen weitaus mehr Arbeitsplätze: Für jeden Arbeitsplatz, der durch Investitionen in fossile Brennstoffe geschaffen wird, entstehen mit demselben Geld 5-7 "grüne" Arbeitsplätze.

6: Wir brauchen eine deutliche Aufstockung der öffentlichen Mittel für demokratische und unabhängige wissenschaftliche Forschung, um den Klimawandel besser zu verstehen und zu bekämpfen, um Technologien für die Erzeugung und Speicherung grüner Energie weiterzuentwickeln, um umweltfreundliche Materialien weiterzuentwickeln (z.B. Materialien, die Plastik ersetzen werden, umweltfreundlicher Beton und Baumaterialien) usw. Staatliche Gelder, die jetzt für Subventionen, Steuererleichterungen und Anreize für Unternehmen, die fossile Brennstoffe nutzen ausgegeben werden, sollten in die Forschung fließen. Es muss nicht betont werden, dass die Ergebnisse dieser Forschung der gesamten Gesellschaft gehören und dem Gemeinwohl dienen sollten. Sie sollten nicht von Großunternehmen gekauft, patentiert und für Profitzwecke verwendet werden dürfen.

7: Dies ist UNSER Planet, also sollten wir die Wirtschaft auf der Grundlage des Rechts eines jeden auf ein Leben frei von Armut, Unterdrückung und Zerstörung demokratisch planen und führen; auf der Grundlage der Nachhaltigkeit, um sicherzustellen, dass wir alle eine Zukunft auf diesem Planeten haben. Bekämpft den Kapitalismus, um ihn durch eine Gesellschaft zu ersetzen, die auf der Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und nicht auf den Profiten der Unternehmen basiert, auf dem Respekt vor der Umwelt und nicht auf der Zerstörung, auf wahrer Demokratie und nicht auf der Kontrolle der Wirtschaft und des politischen Lebens durch die Unternehmen: eine demokratische sozialistische Gesellschaft!

 

Die Verlangsamung des Golfstroms unterstreicht die Notwendigkeit Klimakatastrophe und Kapitalismus zu beenden!

Von Haritha Olaganathan, Socialist Party (ISA in Irland)

Der Golfstrom erstreckt sich von der Spitze Floridas nordwärts entlang der Ostküste der USA. Er ist eine von vielen Strömungen in der atlantischen meridionalen Umwälzbewegung (AMOC), einem System, das entscheidend für die guten Lebensbedingungen in der nördlichen Hemisphäre ist. Er transportiert warmes Wasser aus den Tropen in den Nordatlantik "wie ein Förderband", wie Klimawissenschaftler*innen es treffend beschreiben. Jetzt wird aber befürchtet, dass sich die AMOC abschwächt und möglicherweise ganz versiegt.

Die derzeitige Geschwindigkeit der AMOC - so langsam wie nie in den letzten 1600 Jahren1 - wirft die dringende Frage auf, welche Schritte zur Lösung der Klimakrise notwendig sind und ob diese in einem kapitalistischen System, das so rücksichtslos auf das Streben nach Profit ausgerichtet ist, jemals möglich sein werden. Die Dramatik dieses Problems wird noch dadurch verdeutlicht, dass es parallel zu einem Sommer mit verheerenden Naturkatastrophen auf der ganzen Welt auftritt.

Die Geschwindigkeit und Stärke der AMOC in den letzten Jahrtausenden ist in erster Linie für die relative Wärme der nördlichen Hemisphäre, insbesondere in Ländern wie Irland, verantwortlich, aber sie ist rückläufig. Die Daten der letzten 100.000 Jahre zeigen, dass die AMOC für einige Jahrzehnte auf einen instabileren und langsameren Zustand zurückfallen kann. Die heutige Verlangsamung ist jedoch nicht auf natürliche Veränderungen der Strömung zurückzuführen, sondern eine direkte Reaktion auf die Erwärmung unseres Planeten, wie in einem kürzlich erschienenen Bericht von Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung dargelegt wird, in dem acht unabhängig voneinander gemessene Datensätze zu Temperatur und Salzgehalt analysiert wurden.2

Levke Caesar von der Universität Maynooth stimmt zu, dass Boers "Beweise dafür vorlegt, dass die AMOC bereits an Stabilität verloren hat, was ich als Warnung verstehe, dass wir näher an einem AMOC-Kipppunkt sein könnten, als wir denken.“3

Kipppunkte "mit geringer Wahrscheinlichkeit und großen Auswirkungen"

Das könnte eine überwältigende Katastrophe werden - die AMOC hat in unserer Umwelt einen hohen Stellenwert als massive Wärme- und Kohlenstoffsenke. Der sechste Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) der Vereinten Nationen, der letzte Woche veröffentlicht wurde, stellt fest, dass 56 % des seit 1960 in die Atmosphäre ausgestoßenen CO2 von Wäldern, Böden und Ozeanen absorbiert wurden.4 Diese Kohlenstoffsenken sind bereits gesättigt und verlieren an Wirksamkeit, aber ein Zusammenbruch eines wichtigen Zirkulationssystems könnte einen katastrophalen Kipppunkt für unser Klima darstellen.

In allen fünf vom IPCC prognostizierten Treibhausgasszenarien wird bis 2030 ein Temperaturanstieg von mindestens 1,5° Celsius über dem vorindustriellen Niveau erreicht, und jeder darüber hinausgehende Anstieg birgt "zunehmend ernste, jahrhundertelange und in einigen Fällen unumkehrbare Folgen."5 Dies liegt nicht an irgendwelchen magischen Zahlen, die eine sofortige Zerstörung der Umwelt bewirken, sondern daran, dass kleine quantitative Temperaturveränderungen durch Kipppunkte eine groß angelegte qualitative Veränderung der Umwelt auslösen.

Das Abwürgen der AMOC würde zu vermehrten Dürren in Südasien und Westafrika, zu stürmischem Wetter in Europa, zum Anstieg des Meeresspiegels an der US-Ostküste und zur Gefährdung der Amazonas-Regenwälder und der antarktischen Eisschilde führen.6 Dies wiederum führt zu einem Anstieg des Meeresspiegels und zum Auftauen des arktischen Permafrosts, wobei der auftauende Boden stark klimawirksames Methangas freisetzt, das zu einer weiteren Erwärmung beiträgt und die schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise, die unseren Planeten zunehmend lebensfeindlich macht, weiter verschärft.

Dies muss um jeden Preis vermieden werden. Doch wenn die Regierungen der Welt die Minimalziele des "freiwilligen" Pariser Abkommens von 2015 nicht erreichen und Kipppunkte oft ignorieren, weil sie schwer zu quantifizieren sind, kann man leicht das Vertrauen in das Potenzial verlieren, die Klimakrise unter Kontrolle zu bringen. Wissenschaftler, darunter auch Boers selbst, warnen vor solchem Pessimismus - egal wie schlimm der Zustand der Umwelt heute ist, Kipppunkte sind nicht unvermeidbar...

...denn der Kapitalismus ist nicht unvermeidbar.

Der IPCC-Bericht enthält eine kolossale Menge an Daten, die sich auf den exponentiellen Anstieg der Treibhausgasemissionen seit dem Beginn des Kapitalismus stützen, um die Vorstellung von der zentralen Rolle der "Menschheit" bei der Auslösung der Klimakrise zu untermauern. Doch die Ausbeutung des Planeten ist nicht in der Natur des Menschen angelegt. Vielmehr liegt es in der Natur der Kapitalist*innenklasse der Milliardär*innen, der Eigentümer*innen von Großunternehmen und der etablierten Politiker*innen, die Profite der wenigen Reichen zu steigern, um das kapitalistische System aufrechtzuerhalten. So wird die Umwelt als eine unendliche Grube von Ressourcen betrachtet, die man ausbeuten und beherrschen kann, weil das heute am profitabelsten ist.

Die Bedürfnisse und Wünsche der einfachen Arbeiter*innen sind nicht an diese zerstörerischen Methoden gebunden, sondern stehen im Widerspruch zu den kapitalistischen Profiten - in der Tat werden wir als Arbeiter*innen ausgebeutet und unterdrückt durch die gleichen Kräfte wie diejenigen, die den Planeten ausbeuten. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die an der Front von Sektoren wie der Ölförderung und dem Bergbau mit den schlechtesten Löhnen und Bedingungen konfrontiert sind.

Schüler*innenstreiks haben die Klimabewegung wiederbelebt und viele kapitalistische Regierungen dazu gezwungen, die Realität der Klimakrise zu anzuerkennen - doch sie werden immer nur zu wenig und zu spät tun. Das letzte Mal, als die Atmosphäre so warm war wie heute, lag der Meeresspiegel bis zu zehn Meter höher, was viele unserer großen Küstenstädte überfluten würde; und vor drei Millionen Jahren, als die CO2-Konzentration in der Luft so hoch war wie heute, lag er 25 Meter höher.7

Organisieren wir uns, um den Planeten zu retten

Die Klimakrise spielt sich brutal vor unseren Augen ab: Die Hitzewellen an der Westküste der USA und Kanadas waren so heiß, dass Dutzende von Menschen ohne den Luxus einer Klimaanlage starben. In diesem Sommer wurden auch Länder in ganz Europa von Waldbränden heimgesucht, und Überschwemmungen legten Dörfer und Städte in Belgien, Deutschland und China in Schutt und Asche.

Im Vorfeld der COP26-Konferenz muss massiver Druck ausgeübt werden. Wir brauchen einen sofortigen Übergang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft - das bedeutet, dass wir für Maßnahmen wie einen kostenlosen, zuverlässigen öffentlichen Nahverkehr und umfangreiche Investitionen in erneuerbare Energien kämpfen müssen, die mit einem Ende der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verbunden sind. Wir müssen den Profiteur*innen die Macht entreißen und die Verstaatlichung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft fordern - von Verkehr und Wohnungsbau bis hin zum Gesundheits- und Bildungswesen - unter der demokratisch gewählten Kontrolle der Arbeiter*innen in diesen Branchen, die sowohl über das Wissen als auch die Erfahrung verfügen, um die notwendigen Entscheidungen im Interesse der Menschen der Arbeiter*innenklasse und des Planeten zu treffen.

Sozialist*innen sind wie Wissenschaftler*innen keine Wahrsager*innen - wir können den genauen Zeitpunkt von Kipppunkten wie dem Abreißen des Golfstroms und der AMOC nicht vorhersagen. Wir wissen jedoch, dass sie unter dem gegenwärtigen System kaum zu verhindern sind. Nur ein Bruch mit dem Profitmotiv in einer Welt, in der Produktion und Investitionen demokratisch für das Leben und die Sicherheit der Mehrheit geplant werden, kann das Übel der Überproduktion und Umweltverschmutzung beenden. Die Klimakrise verstärkt die Notwendigkeit, eine Kraft aufzubauen, die in der Lage ist, dieses verrottete System in die Knie zu zwingen.

Als Teil der International Socialist Alternative (ISA) mobilisiert die SAV ihre Mitglieder und Unterstützer*innen für die COP26 im November nach Glasgow. Wenn ihr daran interessiert seid, euch uns anzuschließen, schreibt uns eine Email oder über das Kontaktformular, um mit eine*r sozialistischen Aktivist*in zu besprechen, wie ihr euch am Kampf für eine nachhaltige Zukunft und eine sozialistische Welt frei von Unterdrückung und Ausbeutung beteiligen könnt.

  1. 1David J.R. Thornalley et al, 2018, “Anomalously weak Labrador Sea convection and Atlantic overturning during the past 150 years”, Nature, Vol, 556, Pages 227–230

2 Niklas Boers, 2021, “Observation-based early-warning signals for a collapse of the Atlantic Meridional Overturning Circulation”, Nature Climate Change, Vol. 11, Pages 680-688

3 Damian Carrington, 5th August 2021, “Climate crisis: Scientists spot warning signs of Gulf Stream collapse”, The Guardian, <https://www.theguardian.com/environment/2021/aug/05/climate-crisis-scientists-spot-warning-signs-of-gulf-stream-collapse>

4Marlowe Hood and Patrick Galey, 9th August 2021, “No good news here: Key IPCC findings on climate change”, Phys.org, <https://phys.org/news/2021-08-good-news-key-ipcc-climate.html?fbclid=IwAR1k0pUaaYG-DsGGlopsA2c31AlhoYfwQ6k-IHmIrjTu3XZGMls4lzSZXhc>

5 Fiona Harvey, 23rd June 2021, “IPCC steps up warning on climate tipping points in leaked draft report”, The Guardian, <https://www.theguardian.com/environment/2021/jun/23/climate-change-dangerous-thresholds-un-report?fbclid=IwAR2c9Y6zxxzWSgWyp9xh2B2Il4l-Gp6EXBsW8ajNtSqf2LQsOzXrAVMIZ1s>

6Damian Carrington, 5 August 2021, “Climate crisis: Scientists spot warning signs of Gulf Stream collapse”, The Guardian, <https://www.theguardian.com/environment/2021/aug/05/climate-crisis-scientists-spot-warning-signs-of-gulf-stream-collapse>

7 Marlowe Hood and Patrick Galey, 9th August 2021, “No good news here: Key IPCC findings on climate change”, Phys.org, <https://phys.org/news/2021-08-good-news-key-ipcc-climate.html?fbclid=IwAR1k0pUaaYG-DsGGlopsA2c31AlhoYfwQ6k-IHmIrjTu3XZGMls4lzSZXhc>

 

Die vielen Krisen des Xi Jinping

Erstmals veröffentlicht als Leitartikel in The Socialist, Zeitschrift der ISA in China, Hongkong und Taiwan

"Alle Wege führen ins Jahr 2022", bemerkte der erfahrene China-Beobachter von Nikkei, Katsuji Nakazawa, und bezog sich dabei auf den alle zwei Jahrzehnte stattfindenden Parteitag der sogenannten Kommunistischen Partei (KPCh) im Oktober nächsten Jahres.

Dort will Xi Jinping seine lebenslange Herrschaft über China offiziell besiegeln. Der Parteitag ist ein Ritual, keine politische Versammlung mit Debatten und demokratischen Abstimmungen. Diese Versammlung und der laufende Machtkampf innerhalb des KPCh-Staates, der Xi noch zu einigen Kompromissen zwingen könnte, haben für ihn oberste Priorität. Jede Politik und jede Handlung von Xis Regime ist in irgendeiner Weise mit diesem Projekt verbunden - der Konsolidierung des Übergangs von der Diktatur der Partei zur Ein-Mann-Diktatur Xi Jinpings.

Dieser Prozess resultiert nicht aus psychologischen Eigenschaften oder Ehrgeiz, zumindest nicht in erster Linie, sondern aus den extremen Widersprüchen, die sich innerhalb des totalitären Staates angesammelt haben, während sich die Krise des globalen und chinesischen Kapitalismus vertieft, die sozialen Spannungen im eigenen Land verschärft und eine koordinierte wirtschaftliche und diplomatische Offensive der westlichen Kapitalist*innen in Form eines neuen Kalten Krieges ausgelöst hat. Im Allgemeinen waren Ein-Personen-Diktaturen in der Geschichte immer ein Zeichen für eine tiefe Krise.

In dieser Situation befindet sich China heute. Xis Herrschaft ist in eine Phase zahlreicher und sich überschneidender Krisen geraten. In der Tat löst sein Regime neue Krisen aus, während es versucht, bestehende zu "lösen" - von Hongkong und Taiwan über die Bevölkerungskrise bis hin zur Schuldenkrise. Die Schuldenkrise ist ein gutes Beispiel: Sie breitet sich wie ein Virus in der Wirtschaft aus, trotz der fast sechs Jahre andauernden "Entschuldungs"-Kampagnen. Wenn sich die Aufmerksamkeit der Regulierungsbehörden von den Schuldenproblemen eines Sektors auf einen anderen Sektor verlagert, wird jede vorübergehende Entspannung der Schuldensituation wieder zunichte gemacht.

Ein japanisches Szenario?

Die Bevölkerungskrise in China hat äußerst schwerwiegende Auswirkungen auf alle Bereiche, vom Konsum über die Verschuldung bis hin zu den Renten und der Altenpflege. Die Einwohnerzahl des Landes könnte bereits ihren Höhepunkt erreicht haben und zu schrumpfen beginnen, und zwar zehn Jahre früher als die meisten Prognosen. Das Schreckensszenario "alt werden, bevor man reich wird", mit anderen Worten, "bevor man ein wohlhabendes Land wird", scheint immer wahrscheinlicher zu werden.

Die im Mai veröffentlichten nationalen 10-Jahres-Volkszählungszahlen passen einfach nicht zusammen. Ihre Veröffentlichung wurde zudem um einen Monat verzögert, was den Verdacht aufkommen lässt, dass die Daten manipuliert wurden. Wie in jedem anderen Politikbereich dürfen Regierungsbehörden und Medien nur über "Erfolge" berichten. Chinas Bevölkerungskrise, d. h. die stark sinkende Geburtenrate, die schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die rasch alternde Bevölkerungsstruktur (siehe unseren Faktencheck), "könnte katastrophale Auswirkungen auf das Land haben", so Huang Wenzheng vom Centre for China and Globalization, einem KP-freundlichen Think-Tank.

Die sich abzeichnende Krise in China könnte Japan in die Hände spielen: Eine Kombination aus wirtschaftlicher Verlangsamung und "demografischer Belastung", die Chinas seit langem prognostizierte Ablösung der USA als Nummer eins der Weltwirtschaft verzögern oder sogar zunichte machen könnte. Chinas BIP liegt derzeit bei etwa 75 Prozent des US-BIP, gemessen in Dollar. Japan erreichte 1990 ein ähnliches Niveau, versank dann aber in einer Wirtschaftskrise, langfristiger Stagnation und "verlorenen Jahrzehnten". Die US-Wirtschaft ist heute viermal so groß wie die japanische.

Die Bevölkerungskrise offenbart die Unfähigkeit des KPCh-Staates, vorausschauend zu planen, trotz der weit verbreiteten Mythen in dieser Hinsicht. Warum wurden nicht schon viel früher neue politische Maßnahmen ergriffen? Das ist ein weiteres massives Versäumnis, das die Machtkämpfe innerhalb des KPCh-Staates weiter befeuert, die zum Teil die Angst vor einem "politischen Abdriften" und sogar einer Lähmung unter der Herrschaft von Xi widerspiegeln. Im April meldete sich die People's Bank of China (PBoC) in einer für eine Zentralbank höchst ungewöhnlichen Weise zu Wort und veröffentlichte einen Bericht über die Bevölkerungspolitik, in dem ein radikaler Kurswechsel gefordert wurde. Eine solch offene Kritik ist ein Zeichen für die Machtkämpfe im KPCh-Staat, wobei die PBoC aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rolle etwas mehr Spielraum genießt, während andere staatliche Organe schweigen müssen. Der Bericht der Bank rügte die Regierung für ihre "abwartende Haltung" und warnte, dass "politische Lockerungen wenig nützen, wenn niemand [mehr Kinder] haben will". Viele Kommentator*innen sind der Meinung, dass hier versucht wird die Stalltür zu schließen, nachdem das Pferd bereits durchgebrannt ist.

Der Volkszählungsbericht und die mögliche Existenz noch nicht veröffentlichter, noch schockierenderer Ergebnisse haben die Regierung eindeutig zum Handeln veranlasst. Doch die jüngsten bevölkerungspolitischen Maßnahmen zeigen einen Hauch von Panik. Im Mai wurde eine neue 3-Kind-Politik angekündigt, auf die im Juli eine noch deutlichere Maßnahme folgte, nämlich die Abschaffung aller Geldstrafen (die seit 1980 verhängt wurden), wenn man mehr Kinder hat als gesetzlich erlaubt. Doch als die 3-Kind-Politik angekündigt wurde, reagierte die Öffentlichkeit mit überwältigender Skepsis und sogar Wut darüber, dass die Regeländerung das eigentliche Problem nicht angeht. In einer von Xinhua veröffentlichten Meinungsumfrage gaben 93 Prozent der Befragten an, dass die neue Politik sie nicht ermutigen würde, Kinder zu bekommen. Die Umfrage wurde innerhalb weniger Stunden gelöscht. Ein Online-Kommentar brachte die Stimmung in der Bevölkerung auf den Punkt: "Der Grund, warum ich keine drei Rolls Royces gekauft habe, ist nicht, weil die Regierung es mir nicht erlaubt hat."

"Siege" mit Nebenwirkungen

In den vier Jahrzehnten seit der Einführung des Kapitalismus in China wurde der Ruf der KPCh-Diktatur als unfehlbarer wirtschaftlicher und politischer Manager vor allem von ausländischen Kapitalist*innen und ihren Institutionen weitgehend akzeptiert. Ja, eine diktatorische Regierung, die alle Medien, die Banken und die wichtigsten Wirtschaftssektoren im Griff hat und über den größten bürokratischen Polizeiapparat der Welt verfügt, der nicht von einem sich einmischenden Rechtssystem kontrolliert wird, kann eine Reihe von Dingen tun, die andere "leichtere" kapitalistische Staaten nicht tun können. Aber sie scheitert auch - manchmal auf katastrophale Weise. Das liegt auch daran, dass das Regime sehr oft durch eine Kombination aus eigener Zensur, falschen und übertriebenen Statistiken aus den Regionen und der Angst der Beamt*innen in den unteren Rängen, dass das Aussprechen der Wahrheit den Unmut des Kaisers auf sich ziehen könnte, überrumpelt wird. Die Politik der Zentralregierung wird häufig durch lokale Regierungen verwässert oder blockiert, die ihre eigenen Interessen zu wahren wissen.

So kam es, dass Covid-19 zunächst in Wuhan Fuß fasste und sich dann ins Ausland ausbreitete, bevor Peking entscheiden konnte, was zu tun ist. All diese Faktoren scheinen auch dazu geführt zu haben, dass die Bevölkerungskrise so weit fortgeschritten ist, dass es für die Regierung nun wahrscheinlich zu spät ist, Abhilfe zu schaffen. Das würde ein massives Eingreifen des Staates erfordern, um die Hauspreise zu senken, die Löhne und die soziale Absicherung der Arbeiter*innen zu verbessern, die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz und im Allgemeinen zu beenden, die Gesundheitsausgaben mindestens auf den weltweiten Durchschnitt anzuheben (derzeit ist es nur die Hälfte) und alle Bildungsgebühren auf Sekundar- und Tertiärstufe abzuschaffen. Eine solche Politik erfordert einen revolutionären antikapitalistischen Wandel, was die Rolle und Aufgabe einer organisierten Arbeiter*innenklasse ist. Der KPCh-Staat ist zu einer solchen Politik nicht fähig, da dies der erste Schritt zu seinem Machtverlust wäre.

Kein Rückzug in Hongkong

Xis Herrschaft, die auf der Konzentration von immer mehr Macht in seinen eigenen Händen durch eine rigorose nationalistische Unterdrückung beruht, operiert zunehmend im Dunkeln, in einem Nebel, der von seiner eigenen Propaganda erzeugt wird. Seine Politik neigt dazu, bestehende Krisen zu vervielfachen und neue zu schaffen, wodurch sich die sozialen Spannungen bis zum Äußersten verschärfen. Die Fehltritte des Regimes im neuen Kalten Krieg, etwa seine Selbstüberschätzung in Bezug auf das inzwischen gescheiterte Investitionsabkommen zwischen China und der EU (CAI), die Bidens Werben um Europa begünstigt hat, lassen die Anti-Xi-Fraktionen der KPCh den Untergang von Deng Xiaopings diplomatischer Strategie des "Versteckens und Abwartens" beklagen ("Verbirg deine Stärke, warte deine Zeit ab").

Hongkong ist ein weiteres deutliches Beispiel. Xis Repression, die abrupte Annullierung eines früheren "Versprechens", wirklich demokratische Wahlen zuzulassen, im Jahr 2014 und der weiße Terror, der auf das Ende der Regenschirm-Revolution in jenem Jahr folgte, schürten massiv soziale Spannungen, die dann 2019 explodierten - über ein letztlich zweitrangiges Thema, die Änderung des Auslieferungsgesetzes. Xis Politik erntete einen Sturm der Entrüstung.

Da "Rückzug" in Xis Wortschatz nicht vorkommt, gab es ab diesem Zeitpunkt nur noch den Weg, die vollständige und direkte Kontrolle über Hongkong zu übernehmen und die Abgrenzung zum Festland aufzuheben. Aus der Not eine Tugend machend, hat Xi diese Übernahme auch dazu genutzt, die Bereitschaft seines Regimes zur rücksichtslosen Machtausübung zu demonstrieren, im Gegensatz zu der Lähmung des US-Lagers im Kalten Krieg, das „bellt, aber nicht beißt".

Natürlich ist der Kampf um Hongkong einseitig, denn Peking hat fast alle Trümpfe in der Hand. Dies ist kein verlässlicher Maßstab für das Kräfteverhältnis im sich verschärfenden globalen Wettbewerb zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Kapitalismus, und Xis Regime wird nur noch mehr strategische Fehler begehen, wenn es dies glaubt. In Taiwan und im Südchinesischen Meer wird der Gegenschlag der USA mit dem Aufbau eines Netzwerks verbesserter militärischer und diplomatischer Allianzen zum Schutz ihrer imperialistischen Interessen in der Region noch gewaltiger ausfallen.

Für die Zwecke der innenpolitischen Propaganda ist Hongkong für Xi ein bedeutender, wenn auch untypischer "Sieg" des starken Mannes. Doch das hat seinen Preis. Das harte Durchgreifen in Hongkong hat Pekings Position gegenüber Taiwan enorm erschwert. Die Chance auf eine Verhandlungslösung des Taiwan-Konflikts, die nie hoch war, ist nun praktisch nicht mehr gegeben (siehe unseren Artikel Wird es einen Taiwan-Krieg geben?).

Der Exodus

Auch in Hongkong dürften sich die Nachteile erst mit einer gewissen Verzögerung bemerkbar machen. Der alte chinesische Militärstratege Sun Tzu riet: "Das Beste von allem ist, das Land des Feindes ganz und unversehrt einzunehmen; es zu zerschlagen und zu zerstören ist nicht so gut." Aber Xi und seine neu ermutigten Untergebenen in Hongkong haben einen Amoklauf mit Verhaftungen, Verboten, Säuberungen und Einschüchterungen begonnen. Sie verbieten jetzt sogar Kinderbücher. Die KPCh ist dabei, die Stadt zu "zerstören", während Hunderttausende auswandern oder dies planen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts verlassen täglich etwa tausend Hongkonger*innen die Stadt, und das, bevor viele der pandemiebedingten Reisebeschränkungen aufgehoben worden sind.

Multinationale Unternehmen suchen Hongkong nicht mehr als Standort für ihre asiatischen Zentralen, insbesondere seit die Stadt auf Anweisung Washingtons aus dem "Economic Freedom Index" gestrichen wurde. Festlandchinesisches Kapital und Unternehmen werden das Vakuum füllen, da sich ausländisches Kapital sukzessive aus Hongkong zurückzieht. Der Rückgriff auf Hongkong wird auch einer der Nebeneffekte von Xis jüngstem harten Vorgehen gegen chinesische Unternehmen, insbesondere Technologieunternehmen, sein, das deren Pläne für Börsengänge in den USA stoppt.

Aber eine Zukunft als chinesisches Finanzzentrum ist natürlich nicht dasselbe wie eine globale Zukunft. Hongkong wird in Zukunft mit Shanghai und Shenzhen konkurrieren, aber viel weniger mit New York, London und sogar Singapur. Dieser Prozess wird sich nicht über Nacht vollziehen, aber die Ereignisse des vergangenen Jahres machen die langfristige "Festlandisierung" Hongkongs auch in finanzieller Hinsicht zu einer unvermeidbaren Tatsache. Das Schicksal der "asiatischen Weltstadt" wird somit zu einem Symbol für die De-Globalisierung in der neuen Ära des Kalten Krieges.

Lektionen von Mao

Hongkongs globale Finanzrolle hätte dem KPCh-Regime als nützlicher Vermittler dienen können, um den antichinesischen Protektionismus und die Eindämmungspolitik des Westens zu umgehen und in gewissem Maße abzuschwächen. Das war die traditionelle Rolle des Territoriums in der Vergangenheit. Sogar Maos nicht-kapitalistisches Regime erlaubte den Brit*innen, die Kontrolle über Hongkong zu behalten, weil es sich als "nützlich" erweisen konnte, sie dort zu haben - die KPCh hätte Hongkong innerhalb von 24 Stunden besetzen können, wenn sie gewollt hätte. Dies mussten die Maoist*innen in Hongkong 1967 feststellen, als sie für die Vertreibung der Brit*innen kämpften, um dann von Peking verraten zu werden. Diese Geschichte zeigt den Unterschied in Bezug auf diplomatische Flexibilität und "Pragmatismus" zwischen dem Xi-Regime und seinen Vorgängern.

Vor dem Ausbruch des neuen Kalten Krieges beeindruckten die vermeintlichen wirtschaftlichen Supermächte der KPCh gierige ausländische Regierungen und Kapitalist*innen enorm, die nach China strömten und jede Gelegenheit nutzten, um sich unter die Spitzenfunktionär*innen der KPCh zu mischen. Chinas rasche Unterdrückung des Covid-19-Ausbruchs - gemessen an den katastrophalen Maßstäben westlicher Kapitalist*innen - verstärkte vorübergehend den Eindruck der "Überlegenheit", die natürlich auch das Thema von Xi Jinpings Propaganda war. Doch die Zahl der sich überschneidenden Krisen, die sich in China derzeit häufen, wirft die Frage auf, ob das Regime überhaupt einen Plan hat.

Faktencheck - Demografische Krise: Das Erbe der Ein-Kind-Politik und der kapitalistischen Restauration

  • Chinas Erwerbsbevölkerung schrumpfte in den zehn Jahren bis 2020 um 45 Millionen und wird in den kommenden fünf Jahren weitere 35 Millionen Arbeiter*innen verlieren.
  • Eine Forschungsgruppe der chinesischen Regierung geht davon aus, dass Senior*innen im Jahr 2050 ein Drittel der Bevölkerung ausmachen werden.
  • Einem Regierungsbericht aus dem Jahr 2019 zufolge wird Chinas wichtigster Rentenfonds bis 2035 kein Geld mehr haben. In fast der Hälfte der Provinzen ist der finanzielle Engpass bereits Realität.
  • Auch andere Volkswirtschaften wie Japan und die USA haben eine alternde Bevölkerung, aber im Vergleich zu diesen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist Chinas Sozial- und Rentenversorgung winzig.

Chinas Bevölkerungskrise hat sich durch die Ein-Kind-Politik des Regimes von 1979 bis 2015 enorm verschärft. Es sollte betont werden, dass diese Politik, die ein Drittel des Jahrhunderts andauerte, mit der kapitalistischen Restauration in China zusammenfiel. Sie fiel größtenteils nicht in die Zeit der "Planwirtschaft". Die Durchsetzung einer solch rigiden Politik über einen so langen Zeitraum führte zu tiefgreifenden Veränderungen in der gesellschaftlichen Einstellung und der Familienstruktur, obwohl der wichtigste Faktor wirtschaftlicher Natur ist: Kinder sind im kapitalistischen China sehr teuer.

Außerdem hat die Ein-Kind-Politik zu einem "Frauendefizit" geführt, denn in China gibt es heute 40 Millionen mehr Männer als Frauen. Die Bevorzugung von Söhnen gegenüber Töchtern ist auf patriarchalische und sexistische Einstellungen zurückzuführen, vor allem aber auf wirtschaftliche Zwänge. Unter der Ein-Kind-Politik wurden geschlechtsselektive Abtreibungen üblich. Ein weiterer Grund für den Geburtenrückgang ist die Abnahme der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter.

Die Regierung hebt das Rentenalter für beide Geschlechter schrittweise auf 65 Jahre an. Dies droht ihre Bemühungen um mehr Geburten zu konterkarieren, da Großeltern im Ruhestand in den meisten Familien die Hauptbetreuungsperson für Kinder sind. China leidet unter einem Mangel an erschwinglichen öffentlichen Dienstleistungen, einschließlich Kinderbetreuung. Laut einer Studie der Fudan-Universität steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar ein Kind bekommt, wenn die eigenen Eltern in den Ruhestand gehen, zwischen 44 und 61 Prozent.

Die Zahl der Geburten lag im vergangenen Jahr (2020) bei 12 Millionen, ein Rückgang gegenüber 14,6 Millionen im Jahr 2019. Dies liegt deutlich unter dem Durchschnitt von 16,3 Millionen pro Jahr in den letzten zwei Jahrzehnten und nur etwa halb so hoch wie in den 1980er und 1990er Jahren (während der Ein-Kind-Politik).

Nach Machtübernahme der Taliban in Afghanistan: Pakistan droht das Chaos

Erster Streik seit langem gegen Einrichtungsschließung - das Beispiel könnte Schule machen!
Von Geert Cool (Linkse Socialistiche Partij / Parti Socialiste de Lutte, ISA in Belgien)

Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht in Afghanistan besteht die Gefahr, dass das überaus fragile Gleichgewicht Pakistans erneut ins Wanken gerät. Neben einem nahezu bankrotten Staat, Gewalt durch fundamentalistische Gruppen wie die Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) und zunehmenden sozialen Unruhen, die sich auch gegen Chinas Projekte der Belt and Road Initiative (BRI) richten, drohen nun noch mehr innenpolitische Instabilität und eine größere Isolation vom US-Imperialismus.

Die unsichere Situation des pakistanischen Regimes, sowohl der Armee als auch von Premierminister Imran Khan, der sich als loyaler Kollaborateur der mächtigen Armee erwiesen hat, spiegelt sich in ihren Reaktionen auf die Machtübernahme der Taliban wider. Einerseits wurde sofort die Tür für Gespräche mit den Taliban, einem historischen Partner der pakistanischen Armee und Sicherheitsdienste, geöffnet. Imran Khan erklärte, dass die "Ketten der Sklaverei" von den Taliban gesprengt worden seien. Andererseits wurde das neue afghanische Regime aufgefordert, Maßnahmen gegen die pakistanische Version der Taliban zu ergreifen, und es wird offen eine neue Flüchtlingswelle befürchtet. In Pakistan leben bereits 1,5 Millionen afghanische Flüchtlinge, manche seit Jahrzehnten. Die Machtübernahme in Afghanistan stärkt das Selbstbewusstsein der pakistanischen Taliban, nicht zuletzt in paschtunischen Gebieten, in denen die Durand-Linie, die vom britischen Kolonialismus auferlegte Grenze, schon immer sehr durchlässig war.

Imran Khan kündigte am 26. August an, dass die USA nicht länger pakistanisches Territorium nutzen dürfen. "Amerika wurde zu unserem Verbündeten, bombardiert uns aber weiterhin. Amerika hat 480 Drohnenangriffe in unserem Land durchgeführt. Die Erben der bei den Drohnenangriffen Getöteten wollten sich an der pakistanischen Regierung rächen. Wir haben beschlossen, die Nutzung unseres Landes in Zukunft nicht mehr zuzulassen." Auch die katastrophale Lage der pakistanischen Wirtschaft führte er auf den Afghanistan-Krieg zurück. Bei der Vorstellung eines Berichts darüber, was seine Regierung der Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) in den letzten drei Jahren erreicht hat, hob Imran Khan die guten Beziehungen zu Saudi-Arabien und China hervor. Die Verantwortung für alle innenpolitischen Probleme auf die USA und natürlich auf den Erzrivalen Indien abzuwälzen, wird jedoch nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan schwieriger werden.

Neues Aufflammen der Gewalt

In den letzten Jahren hat der Bürgerkrieg von Afganistan auf Pakistan übergegriffen. Nicht nur in der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa und in den Stammesgebieten, sondern im ganzen Land haben Gewalt und Anschläge zugenommen. Unter dem Druck des US-Imperialismus und um die eigene Stellung zu wahren, fiel die pakistanische Armee 2009 in das Swat-Tal ein, um die dort herrschenden Taliban zu vertreiben. Dabei wurden Tausende von Menschen getötet, und die Region hat sich nie wirklich erholt. Es folgte eine allgemeinere Offensive gegen Taliban-Kräfte nahe der afghanischen Grenze ab 2014, nach Angriffen auf den Flughafen von Karatschi im Juni 2014 und einem mörderischen Angriff auf eine Schule in Peschawar im Dezember desselben Jahres.

Die Militäroperationen zeigten eine gewisse Wirkung. Die Gewalt in Khyber-Pakhtunkhwa und im Rest des Landes ging zurück. Die schöne Natur und die historischen Stätten des Swat-Tals zogen in der Folge mehr Touristen an, was zu einem gewissen wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Gebiet führte, in dem der Tourismus die Haupteinnahmequelle ist. Dieser Aufschwung wurde ab 2020 durch die Pandemie und das Wiederaufflammen von Unruhen und Gewalt beeinträchtigt. Neben gewalttätigen Raubüberfällen kam es auch zu einem erneuten Erstarken der Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP), die begann, sich zunehmend auf der pakistanischen Seite der Grenze zu organisieren, als sie befürchtete, dass die afghanischen Taliban im Zuge des US-Abzugs ein Friedensabkommen unterzeichnen würden. Das führte dazu, dass es wieder fast täglich zu Zwischenfällen kam: von Bomben bis hin zu Scharfschütz*innen und Mord. Zwischen Januar und Juli 2020 wurden nach Angaben des FATA-Forschungszentrums in Khyber-Pakhtunkhwa mindestens 109 Menschen durch solche Gewalttaten getötet. Die Zahl der Todesopfer liegt zwar immer noch deutlich unter dem Niveau von vor zehn Jahren, steigt aber wieder an.

Die Zunahme der extremistischen Gewalt zwang die Regierung von Imran Khan, Maßnahmen zu ergreifen. Diese sind jedoch widersprüchlich. So wurde beispielsweise die fundamentalistische islamistische Partei Tehreek-e-Labbaik Pakistan (TLP) im April dieses Jahres verboten. Dies geschah nach gewalttätigen Protesten, bei denen zwei Polizist*innen getötet und 340 verletzt wurden. Trotz des offiziellen Verbots ist die Partei jedoch weiterhin aktiv und nahm unter ihrem eigenen Namen an den Wahlen im August im pakistanisch besetzten Kaschmir teil. Wie erwartet, konnte die TLP mit 5 % keinen einzigen Sitz gewinnen. Bei einer Nachwahl in Karatschi im Mai dieses Jahres, ebenfalls nach dem offiziellen Verbot, erzielte die TLP dennoch ein bemerkenswert gutes Ergebnis. Mit über 10.000 Stimmen (21,4 %) wurde sie drittstärkste Partei nach der PPP und der PML-N, aber noch vor Imran Khans national regierender PTI. Die militanten TLP-Kämpfer*innen setzen ihre Aktivitäten fort und fühlen sich offensichtlich durch die Ereignisse in Afghanistan bestärkt.

Dass das Verbot militanter religiöser und politischer Gruppen nicht ausreicht, um Frieden zu schaffen, zeigte sich in der Metropole Karatschi. Dort wird zwar versucht, diese Verbote durchzusetzen, aber die Gewalt bleibt allgegenwärtig. Vor dem Hintergrund des Mangels in allen Bereichen ist der Schritt von fundamentalistisch-religiös-politischer Gewalt zur Straßenkriminalität kein großer. In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es mindestens 98 Morde, meist bei Verbrechen auf der Straße und Raubüberfällen. In diesen drei Monaten wurden 1055 Fälle von Motorraddiebstahl unter bewaffneter Bedrohung gemeldet. Auch die Zahl der Entführungen zur Erpressung von Lösegeld ist wieder gestiegen. Ein offizielles Verbot von Fundamentalismus und Gewalt wird dem kein Ende setzen. Es geht darum, den sozialen Nährboden dafür zu bekämpfen. Dafür hat die Regierung von Imran Khan jedoch keine Lösung.

Bankrotter Staat

Der pakistanische Staat ist so gut wie bankrott. Er wartet sehnlichst auf die 2,75 Milliarden Dollar, die der IWF dem Land als Teil der 650 Milliarden Sonderziehungsrechte geben wird. Das sollte die Regierung vorübergehend über Wasser halten. Problematisch sind jedoch die Schuldenlast und die fehlenden Einnahmen. Nicht weniger als 36 % des Haushalts gehen für Schuldzinsen drauf. Danach bleibt kaum noch Geld für das Gesundheits- und Bildungswesen übrig.

Was die Einnahmen betrifft, so ist das Land zunehmend auf die Beiträge angewiesen, die pakistanische Migrant*innen aus dem Ausland an ihre Familien schicken. "Der größte Reichtum unseres Landes sind die im Ausland lebenden Pakistaner*innen, die Überweisungen aus dem Ausland schicken", sagte der Premierminister. Dies sagt viel über den katastrophalen Zustand der Wirtschaft aus.

Die Ungleichheit in Pakistan ist extrem hoch. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf 8,5 Millionen angestiegen. Viele Familien geben mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Der Anstieg der Lebensmittelpreise hat daher katastrophale Auswirkungen. Die allgemeine Inflation ist in den letzten Monaten auf unter 10 % gesunken, aber bei den Lebensmitteln bleibt sie höher: zwischen Mai 2020 und 2021 betrug der Anstieg 14,8 % im Vergleich zum Vorjahr. Nach Angaben des pakistanischen Statistikamtes sind 16,4 % der Haushalte von Nahrungsmittelknappheit betroffen, die durch Covid-19, Arbeitsplatzverluste und -kürzungen noch verschärft wird. Diese Zahl ist eine erhebliche Unterschätzung. Nach Angaben von Najy Benhassine von der Weltbank können sich 68 % der Bevölkerung keine gesunde Ernährung leisten.

Die Regierung ist weitgehend von internationalen Krediten abhängig. Die Kredite des IWF sind an Bedingungen geknüpft, was die Preise für Grunderzeugnisse weiter in die Höhe treibt. In den letzten Jahren wurde bei so gut wie allem gespart. Dies führt zu Engpässen in allen Bereichen. Die Bewältigung der Pandemie war fast unmöglich. Für den Gesundheitssektor, der von privaten Unternehmen dominiert wird, gibt es kaum Mittel. Alle pakistanischen Bundesstaaten mussten als Folge der Pandemie die Mittel für das Gesundheitswesen drastisch aufstocken, aber selbst Erhöhungen von 30 % und mehr reichten nicht aus. Dies wird jetzt, da die Zahl der Covid-19-Infektionen wieder ansteigt, erneut deutlich.

Eine Veränderung der geopolitischen Beziehungen nach dem Abzug der USA aus Afghanistan wird nicht ohne Folgen für Pakistan bleiben. Zuvor hatten anonyme Regierungsquellen in pakistanischen Medien offen zugegeben, dass die Regierung "ihre geostrategischen Vorteile nutzt, um vom IWF Zugeständnisse in Form von mehr Krediten zu erhalten." Was ist, wenn diese geostrategischen Vorteile wegfallen?

Regionale Beziehungen

Der Abzug der US-Truppen und die Machtübernahme durch die Taliban wurden weithin als eine Niederlage für Indien, das viel in die vorherige afghanische Regierung investiert hatte, und als Sieg für Pakistan dargestellt. Die Situation scheint aber komplexer zu sein. Es stimmt zwar, dass die pakistanische Armee und die Taliban schon immer enge Beziehungen unterhalten haben, aber es gibt auch Probleme am laufenden Band. Die Taliban in Kabul versuchen, indische Investitionen - 3 Milliarden Dollar seit 2001 - an Bord zu halten, selbst wenn dies die Beziehungen zu Pakistan, einschließlich der pakistanischen Taliban, belastet.

Die Taliban hoffen auf eine wohlwollende Haltung des chinesischen Regimes. Letzteres hat jedoch bereits alle Hände voll zu tun mit Pakistans "Belt and Road"-Projekten. Unzureichende Infrastruktur, Stromausfälle, antichinesische Gewalt, Unsicherheit über die Rückzahlung von Krediten und Proteste von Fischern und anderen in der Umgebung des Hafens von Gwadar in Belutschistan erschweren die chinesischen Investitionen. Der abenteuerliche Charakter der Operationen in Pakistan wird die chinesische Begeisterung für Afghanistan nicht fördern. Wie das pakistanische Regime sind auch China und Russland besorgt über die Auswirkungen der afghanischen Taliban auf fundamentalistische Islamisten in ihrem eigenen Land und in ihrer Region.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zögerte das pakistanische Regime von Musharraf nicht lange, auf das Ultimatum der USA zu reagieren, und sprach sich offiziell gegen Al Qaida und das damalige Taliban-Regime in Afghanistan aus. Mit der Unterstützung der Taliban und der US-Truppen, die die Taliban bekämpften, setzte es jedoch weiterhin auf zwei Pferde. In jüngster Zeit versuchte das Regime, eine zweideutige Haltung gegenüber China und den USA einzunehmen und diese Mächte gegeneinander auszuspielen. Ein Rückgang der geostrategischen Bedeutung Pakistans nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan könnte diese opportunistische Politik unter Druck setzen. Dies wird sowohl die Haltung der USA als auch Chinas gegenüber dem Land beeinflussen.

Soziale Unruhen

In den letzten Jahren ist die organisierte Arbeiter*innenbewegung aufgrund der wirtschaftlichen Probleme des Landes, der Kontrolle der Armee über die Wirtschaft, der Instabilität und der Gewalt stark unter Druck geraten. Die Gewerkschaften sind traditionell schwach und im privaten Sektor kaum vertreten. Dennoch gibt es Potenzial für Kämpfe. Ende August streikten beispielsweise die Busfahrer*innen in Lahore für höhere Löhne und sichere Arbeitsplätze. Im Energiesektor gab es gewerkschaftliche Aktionen gegen die drohende Privatisierung und für höhere Löhne. Dass steigende Preise zu sozialen Unruhen führen können, ist den Behörden bewusst. In den letzten Monaten wurden die Mindestlöhne auf 20.000 Rupien pro Monat (etwa 100 Euro) und in der Provinz Sindh auf 25.000 Rupien (125 Euro) erhöht. Versuche der Unternehmer*innen, diese Mindestlöhne zu unterbieten, bergen das Potenzial für soziale Unruhen.

Gleichzeitig wächst die Aufmerksamkeit für die Rechte der Frauen, und es kommt zu Protesten gegen Vergewaltigungen. Die internationale Frauenbewegung zeigt auch in Pakistan Wirkung. Die Vergewaltigung einer jungen Mutter an einer Landstraße vor einem Jahr führte zu einem Sturm der Entrüstung. Kürzlich gab es den Fall einer TikTok-Nutzerin, die in Lahore Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Die Regierung hat absolut keine Ahnung, wie sie auf Gewalt gegen Frauen reagieren soll. Imran Khan erklärte, dass "Frauen, die wenig Kleidung tragen, auf Männer wirken, es sei denn, sie sind Roboter". Nach der Vergewaltigung einer TikTok-Nutzerin erklärte er, dass Smartphones zu einem Anstieg der Gewalt beitragen. Die Regierung kommt nicht weiter als bis zum Victim-Blaming, was den Protest natürlich weiter anheizt.

Imran Khan äußerte sich auch in herablassender Weise über die Lage der Frauen in Afghanistan. Er betonte, dass wir vorerst "den Taliban glauben müssen. Wenn die Taliban sich nicht an ihr Wort halten, wird man das zu gegebener Zeit sehen". Er fügte hinzu, dass sich Europa "nur um die Frauen in Afghanistan kümmert", während die Rechte der Frauen nie von außen durchgesetzt wurden. Es ist natürlich leicht, auf die Heuchelei der europäischen und amerikanischen Regierungen hinzuweisen: Sie haben kein Problem mit dem frauenfeindlichen saudischen Regime oder in Afghanistan mit Warlords, die sich in Bezug auf Frauenrechte nicht wirklich von den Taliban unterscheiden. Dennoch ist das Taliban-Regime eine echte Bedrohung für Frauen, junge Menschen, unterdrückte Minderheiten, Arbeiter*innen und all jene, die es wagen, für ihre Rechte oder auch nur für eine bessere Zukunft einzutreten. Die pakistanische Regierung schaut eher auf die konservativen Fundamentalisten, die in Kabul an der Macht sind, als auf das Schicksal der Frauen in Afghanistan oder auf das Schicksal der Frauen, die in Pakistan gegen Gewalt und für ihre Rechte kämpfen.

Ein weiteres Thema, das zu Spannungen und Protesten führen kann, ist die nationale Frage. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Mangels und der Armut nehmen die Widersprüche nicht ab, sondern im Gegenteil zu. Die PTI kann vorgeben, die Situation im pakistanisch besetzten Kaschmir unter Kontrolle zu haben, vor allem nachdem sie die Regionalwahlen dort im August gewonnen hat. Allerdings sind die Ergebnisse dieser Wahlen wie immer umstritten. In der Zwischenzeit gibt es zentrifugale Kräfte mit wachsenden Unterschieden in der politischen Situation in verschiedenen Teilen des Landes (Punjab, Sindh, Belutschistan, Kaschmir und Gilgit-Baltistan, Khyber-Pakhtunkhwa und den Stammesgebieten). Im Allgemeinen wird Kaschmir vom Establishment nur benutzt, um nationalistische Kriegspropaganda gegen Indien zu betreiben. Das indische Regime unter Modi tut genau dasselbe mit Kaschmir. Inzwischen entwickelt sich unter anderem in Kaschmir eine Zeitbombe zur nationalen Frage.

Kann die Arbeiter*innenbewegung etwas bewirken?

Unter den gegenwärtigen Umständen mag die Lage der Arbeiter*innenklasse und der armen Bauern und Bäuerinnen hoffnungslos erscheinen. Doch es gibt eine große Tradition der Organisation und des Kampfes der Arbeiter*innenklasse und der armen Bauern und Bäuerinnen für soziale Veränderungen. Wenn die rechte Diktatur von Zia ul Haq in den 1980er Jahren so repressiv gegen die Linke und die Gewerkschaften vorging, dann deshalb, weil sie die Gefahr nach den Massenbewegungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre erkannte. Eine Welle von Fabrikbesetzungen und Protesten für einen sozialistischen Wandel erschütterte das System. Die Antwort der Armee und der Kapitalist*innen, die vom Imperialismus unterstützt wurden, waren Repression und harte Sparmaßnahmen. Dies ebnete den Weg für das Erstarken des religiösen Fundamentalismus, der in den Koranschulen, die aufgrund des Mangels an ausreichenden Mitteln für das öffentliche Bildungswesen populär wurden, eine große Rolle spielte. In diesen Schulen wurden auch viele der späteren afghanischen Taliban-Kämpfer*innen ausgebildet.

Die Arbeiter*innen und Unterdrückten müssen an die Kampftraditionen in Pakistan anknüpfen und können sich von Bewegungen in anderen Teilen der Welt inspirieren lassen, von Arbeiter*innenprotesten und Aktionen der Bauern und Bäuerinnen in Indien bis hin zu Bewegungen im Iran, von der internationalen Frauenbewegung bis hin zu Protesten gegen den Klimawandel ... Arbeiter*innen und Jugendliche müssen sich in einer revolutionären Organisation als Teil des Kampfes für eine internationale sozialistische Alternative organisieren, um die Elemente der Barbarei, die ihr Leben heute beherrschen, loszuwerden.

Wohin führt der Aufschwung?

Das Inflationsgespenst droht mit einer neuen Krise
von Eric Byl (Linkse Socialistische Partij (ISA in Belgien) und Internationaler Vorstand der ISA)

Es gibt viel zu sagen über den sogenannten "post-pandemischen" Wirtschaftsaufschwung. Die Zahlen sehen beeindruckend aus, aber die Warnsignale mehren sich. Die zunehmende Ungleichheit zwischen Arm und Reich heizt die sozialen Spannungen weiter an und verursacht neue. Steigende Lebensmittelpreise provozieren weitere soziale Unruhen. Die katastrophal langsame, uneinheitliche und ineffiziente Einführung von Impfstoffen durch den Kapitalismus führt zu ansteckenderen und impfstoffresistenteren Formen des Virus. Der Inflationsdruck könnte die Zentralbanken dazu zwingen, die Geldpolitik zu verschärfen und die Wirtschaft wieder in eine Rezession zu stürzen. Hinzu kommen zahlreiche Probleme, die bereits vor der Pandemie existierten und nun noch größer, unmittelbarer und dringlicher geworden sind: ökologische Krisenherde, der neue Kalte Krieg, die Anhäufung von Schulden, fehlende Investitionen in die Produktionskapazitäten usw.

Kein Wunder also, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) in seiner "globalen Basisprognose" - 6 % globales Wachstum im Jahr 2021 und 4,9 % im Jahr 2022 – davor warnt, dass Risiken diese Zahlen drücken könnten. Die mangelnde Zuversicht des IWF zeigt sich auch in seinem Appell an die Zentralbanken, die Geldpolitik nicht zu verschärfen, solange die anhaltende Inflation sie nicht dazu zwingt.

Die Wachstumszahlen sehen beeindruckend aus, aber sie müssen im Kontext gesehen werden. Sie kommen nach einer Schrumpfung der Weltwirtschaft um 3,2 % im Jahr 2020, der schlimmsten seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Wachstum wird auch durch historische Verschiebungen in der kapitalistischen Wirtschaftspolitik angetrieben, mit massiven geldpolitischen (Geldschöpfung) und fiskalischen Interventionen  (Staatsausgaben), die sich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern auf durchschnittlich 16 % des BIP belaufen (27 %, wenn Kredite, Eigenkapital und Garantien einbezogen werden). Die entsprechenden Zahlen für "Schwellenländer" und Länder mit niedrigem Einkommen lagen bei 4 - 6,5% bzw. 1,5 - 2% des BIP. Nach Angaben des IWF hatten die Regierungen bis Anfang Juli 2021 weltweit nicht weniger als 16.500 Milliarden Dollar für die Bekämpfung der Pandemie ausgegeben. In Anbetracht dessen sind die Wachstumszahlen des IWF eigentlich enttäuschend.

Die Kapitalist*innen und ihre politischen Vertreter*innen haben die Notwendigkeit eines drastischen Politikwechsels erkannt, um ihr System vor der Implosion zu bewahren und zu versuchen, soziale Unruhen zu verhindern. Während der Weltwirtschaftskrise von 1929 dauerte es vier Jahre, bis sie mit dem New Deal vom "laissez faire" (freien Markt) zu einer stärker staatsinterventionistischen Politik übergingen. In diesen vier Jahren schrumpfte das BIP der USA um 25 %, die Arbeitslosigkeit schnellte auf 25 % in die Höhe, Hunderttausende wurden obdachlos und überall entstanden Barackensiedlungen namens "Hoovervilles" (benannt nach dem damaligen Präsidenten Hoover).

Unter Hoover stieg die Staatsverschuldung der USA von 16 % des BIP im Jahr 1929 auf 40 % im Jahr 1933. Diese Zahlen mögen nach heutigen Maßstäben vernünftig erscheinen, aber damals beliefen sich die jährlichen Einnahmen der US-Bundesregierung auf lediglich 4 % des BIP, während es heute etwa 30 % sind. Das Verhältnis der Bundesschulden zu den jährlichen Bundeseinnahmen stieg exponentiell an. Im Jahr nach dem Beginn von Roosevelts New Deal erholte sich die US-Wirtschaft um 10,8 % und wuchs drei Jahre in Folge mit einer vergleichbaren Rate, bevor die Depression zurückkehrte. Der New Deal verschaffte Zeit, aber alle zugrundeliegenden Probleme blieben ungelöst, bis die massiven Kriegsschäden und -ausgaben im Zweiten Weltkrieg und seine Folgen alles veränderten.

Es sieht so aus, als würden die fortgeschrittenen, kapitalistischen Länder das Vorkrisen-BIP-Niveau schneller wieder erreichen als erwartet. China hat dies im letzten Jahr getan und die USA im ersten Quartal dieses Jahres. Das BIP der Eurozone liegt immer noch 3 % unter dem Vorkrisenniveau, aber ihr Wachstum hat nun zum ersten Mal China und die USA überholt. Bis Ende dieses Jahres könnte sie aufholen: Frankreich wird voraussichtlich um 6 % wachsen, Italien um 5 %, Rumänien um 7,4 % und Deutschland, das stärker als andere europäische Länder von Engpässen bei Vorprodukten betroffen ist, um 3,6 %. Nach Angaben des IWF wird das Wachstum in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern bis Ende 2022 alle pandemiebedingten Verluste wieder aufgeholt haben. Das heißt, wenn die neuen Covid-19-Varianten unter Kontrolle gehalten werden. Als Morgan Chase seine Wachstumsprognose für China für das dritte Quartal wegen der "Delta"-Variante von 5,8 % auf 2,3 % herabsetzte, ging bereits eine Schockwelle durch den US-Aktienmarkt.
Verwerfungen vertiefen die globale Ungleichheit

In den "Schwellenländern" wird es viel länger dauern, bis der Rückstand aufgeholt ist, vor allem in den Ländern mit niedrigem Einkommen. So sehr, dass der IWF davor warnt, dass die Verwerfungen beim Zugang zu Impfstoffen den weltweiten Aufschwung in zwei Hälften teilen werden, und anerkennt, dass 2020-21 fast 80 Millionen Menschen mehr in extreme Armut geraten werden als vor der Pandemie prognostiziert. Nach Angaben des IWF werden die Länder mit niedrigem Einkommen mindestens 200 Milliarden Dollar zusätzlich benötigen, um die Pandemie zu bekämpfen, und weitere 250 Milliarden Dollar, um das vorherige Wirtschaftsniveau wieder zu erreichen.

Während in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften 40 % der Bevölkerung vollständig geimpft sind, sind es in den "Schwellenländern" weniger als die Hälfte davon und in den Ländern mit niedrigem Einkommen nur 2 %. Die beträchtlichen fiskalischen Interventionen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften im Vergleich zu den Schwellenländern und den Ländern mit niedrigem Einkommen haben das Wohlstandsgefälle noch weiter vergrößert. Die Besorgnis über diese Realität hat den IWF dazu veranlasst, durch so genannte "Sonderziehungsrechte" neues Geld in Höhe von 650 Milliarden Dollar zu schaffen. Über 50 % davon gehen jedoch an die fortgeschrittenen Volkswirtschaften, 42 % an die Schwellenländer und nur 3,2 % an die Länder mit niedrigem Einkommen. Allerdings werden die Reserven von Argentinien, Pakistan, Ecuador und der Türkei um mindestens 10 % erhöht. Obwohl in schöne Worte verpackt, ist der schlecht getarnte Hauptzweck dieser Politik der Versuch, die Finanzstabilität zu stärken, indem private und öffentliche Investor*innen davor bewahrt werden, Verluste zu erleiden, die sich aus weiteren Ausfällen von Staatsschulden ergeben.
Die drohende Inflation

In der Zwischenzeit hat der weltweite Aufschwung die Ölpreise um fast 70 % über ihr niedriges Niveau im Jahr 2020 gehoben, und die Preise für andere Rohstoffe sind um fast 30 % gestiegen, insbesondere die Metall- und Lebensmittelpreise aufgrund von Knappheit. Dies ist an sich schon eine Quelle sozialer Probleme, insbesondere angesichts der grassierenden Pandemie, wie wir sie in Tunesien, Südafrika und Kuba erlebt haben. Auch die Abwertung der Währungen verteuerte die Importe, was die Inflation weiter anheizte. Einige "Schwellenländer", darunter Brasilien, Ungarn, Mexiko, Russland und die Türkei, waren bereits gezwungen, ihre Geldpolitik zu verschärfen, um dem Preisauftrieb entgegenzuwirken.

In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wurde der Aufschwung mit einem Anstieg der Staatsverschuldung um durchschnittlich 20 % und einer Verdreifachung der Haushaltsdefizite sowie einer gigantischen Ausweitung der Zentralbankguthaben bezahlt. Zusammen mit den beiden großen Ausgabenpaketen von Biden hat dies die Frage aufgeworfen, ob die Volkswirtschaften "überhitzen" und die Inflation außer Kontrolle geraten könnten. In den USA stieg der Verbraucherpreisindex im Juni um 5,4 %, nachdem er im Mai um 5 % gestiegen war. Der Erzeugerpreisindex stieg im Juni um 7,3 % und erreichte damit einen 13-Jahres-Rekord. Die Nachfrage steigt mit der Öffnung der Volkswirtschaften sprunghaft an, während vielen Unternehmen das Angebot fehlt, um die Nachfrage zu befriedigen. Das Ende der Miet- und Hypothekenmoratorien in den USA sowie das Ende der Mehrwertsteuersenkung in Deutschland heizen den Inflationsdruck weiter an. Der Preisanstieg drückt auf den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse und der armen Haushalte.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt halten der IWF, die Zentralbanken und die meisten Ökonom*innen diesen Inflationsschub für ein vorübergehendes Phänomen, das sich bis 2022 auf das Niveau vor der Pandemie zurückbilden wird. Dies beruht auf der Einschätzung, dass der Arbeitsmarkt nach wie vor sehr unausgelastet ist, auch wenn es in einigen Sektoren zu Engpässen und Einstellungsproblemen kommt. Sie sind der Ansicht, dass die Inflationstendenzen auf vorübergehenden Faktoren beruhen und dass andere strukturelle Faktoren, wie die Automatisierung, die Preisempfindlichkeit verringert haben.

Neoliberale und keynesianische Theorien zur Inflation

Mit anderen Worten: Die Mainstream-Ökonom*innen haben sich von der einseitigen, grundlegenden These des Monetarismus (ein Konzept, das für die Ideen des "Neoliberalismus" von zentraler Bedeutung ist) verabschiedet, dass die Geldmenge die Preise von Waren und Dienstleistungen bestimmt und dass Inflation entsteht, wenn die Geldmenge schneller steigt als die Produktion. Tatsächlich ist die Geldmenge im Jahr 2020 um über 25 % gestiegen, aber das meiste davon wurde gehortet oder für Spekulationen verwendet. Infolgedessen wurde der enorme Anstieg der Geldmenge weitgehend durch den Rückgang des Geldumlaufs (Umlaufgeschwindigkeit) kompensiert, so dass die Preise für Waren und Dienstleistungen die enorme Geldschöpfung in dieser Phase nicht widerspiegelten.

Die alternative Mainstream-Theorie der Inflation ist die keynesianische "cost-push"-These. Sie besagt, dass die Inflation durch die Löhne getrieben wird, da die niedrige Arbeitslosigkeit und die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften im Verhältnis zum Angebot die Löhne in die Höhe treiben, was wiederum die Preise in die Höhe treibt - die so genannte Lohn-Preis-Spirale. Keynesianer beziehen sich häufig auf die "Phillips-Kurve", die besagt, dass eine hohe Arbeitslosigkeit zu einer Deflation der Preise führt, während eine niedrige Arbeitslosigkeit zu einer Inflation führt. In den 1970er Jahren stiegen jedoch im Gegensatz zur Phillips-Kurve sowohl die Inflation als auch die Arbeitslosigkeit gleichzeitig an, was damals als "Stagflation" bezeichnet wurde. Nach der Rezession 2008/9 sank die Arbeitslosigkeit in den großen Volkswirtschaften auf einen historischen Tiefstand, während die Lohnsteigerungen und die Preisinflation niedrig blieben.

Marxismus, Wert und Inflation

Marx hat nie eine umfassende Theorie der Inflation formuliert. Er vertrat die Auffassung, dass Geld den "Tauschwert" repräsentiert, d. h. die Menge an Arbeit, die zur Produktion von Waren und Dienstleistungen erforderlich ist. Es ist nicht die Geldmenge, die die Preise bestimmt, sondern umgekehrt. Damit soll nicht geleugnet werden, dass Angebot und Nachfrage, die Bildung von Kartellen, Klassenkämpfe usw. die Preisbildung beeinflussen, aber der grundlegende Faktor, der die Preise bestimmt, ist die durchschnittliche Menge an gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, die für die Produktion und Verarbeitung von Waren und Dienstleistungen erforderlich ist. Andere Faktoren können die Preise unter oder über den realen (Tausch-)Wert drücken, aber immer nur vorübergehend.

Marx wies auch die Vorstellung zurück, dass Lohnerhöhungen die Ursache der Inflation sind. In Wert, Preis und Profit argumentierte er

"daß ein Ringen um Lohnsteigerung nur als Nachspiel vorhergehender Veränderungen vor sich geht und das notwendige Ergebnis ist von vorhergehenden Veränderungen im Umfang der Produktion, der Produktivkraft der Arbeit, des Werts der Arbeit, des Werts des Geldes, der Dauer oder der Intensität der ausgepreßten Arbeit, der Fluktuationen der Marktpreise, abhängend von den Fluktuationen von Nachfrage und Zufuhr und übereinstimmend mit den verschiednen Phasen des industriellen Zyklus - kurz, als Abwehraktion der Arbeit gegen die vorhergehende Aktion des Kapitals. Indem ihr das Ringen um eine Lohnsteigerung unabhängig von allen diesen Umständen nehmt, indem ihr nur auf die Lohnänderungen achtet und alle andern Veränderungen, aus denen sie hervorgehn, außer acht laßt, geht ihr von einer falschen Voraussetzung aus, um zu falschen Schlußfolgerungen zu kommen.."

Im Gegensatz zu den verschiedenen "ökonomischen Schulen" des Kapitalismus hat Marx nicht ein oder wenige symptomatische Merkmale (Geldmenge, Lohnkosten,...) herausgegriffen und sie zur Ursache von allem gemacht, sondern die Wirtschaft als ein globales Zusammenspiel widersprüchlicher Kräfte betrachtet.

In seinem World Economic Update scheint der IWF dies ungewollt zu bestätigen. Er verweist auf die Tatsache, dass das Lohnwachstum bisher weitgehend stabil ist und dass trotz eines jüngsten Anstiegs des Lohnwachstums in den USA die Löhne von Einzelpersonen nicht auf einen breiteren Druck auf dem Arbeitsmarkt hindeuten und dass die Daten aus Kanada, Spanien und dem Vereinigten Königreich ähnliche Muster eines weitgehend stabilen Lohnwachstums zeigen. Mit anderen Worten: Wenn es derzeit einen "Kostendruck" gibt, dann nicht durch die Löhne, sondern durch Preiserhöhungen der Unternehmen, die zum Teil auf steigende Rohstoff- und andere Kosten, zum Teil auf Störungen durch Covid und zum Teil auf den Versuch einer Gewinnsteigerung zurückzuführen sind. Aus einer breiteren Perspektive betrachtet, ist der Anteil der Arbeit am BIP in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern seit Jahrzehnten rückläufig. In den USA ist er von durchschnittlich 63 % in den 1950er und 60er Jahren auf 57 % im letzten Jahrzehnt geschrumpft. Die Löhne können also nicht für den Preisanstieg verantwortlich gemacht werden. Wären die Löhne seit den 1960er Jahren auf demselben Niveau geblieben, hätten die Arbeiter*innen in den USA zusammengenommen jedes Jahr eine Billion Dollar mehr verdient.

Der IWF bezeichnet den Prozess der Automatisierung als einen im Wesentlichen deflationären Faktor, oder, wie er es ausdrückt, als einen Faktor, der die "Preisempfindlichkeit verringert". Marx hat dies noch deutlicher und ausführlicher erklärt. Er wies auf die Tatsache hin, dass Kapitalist*innen, um ihre Konkurrenten auszustechen, den Mehrwert (im Wesentlichen die unbezahlte Arbeit der Arbeiter*innen, die von den Bossen als Gewinn eingestrichen wird) dazu verwenden, die Produktivität durch die Installation besserer und effizienterer Technologien zu steigern. Infolgedessen sinkt die erforderliche Arbeitszeit pro Produktionseinheit tendenziell. Während also das Angebot an Waren und Dienstleistungen tendenziell steigt, sinkt der reale Wert - die Menge an durchschnittlich für die Produktion aufgewendeter Arbeit - jeder Ware oder Dienstleistung parallel zu einem Anstieg der Arbeitsproduktivität. Das erklärt, warum die Preise für Waren tendenziell fallen und nicht steigen. Kapitalist*innen versuchen, dieser Tendenz und ihren Auswirkungen auf die Profitrate durch verstärkte Ausbeutung der Arbeiter*innen und durch monetäre Mittel entgegenzuwirken.

Für die Arbeiter*innen erhöhen sinkende Preise oder Deflation ihre Kaufkraft und ihre Ersparnisse, aber für die Kapitalist*innen schmälern sie ihre Gewinne, erschweren die Rückzahlung von Schulden und machen produktive Investitionen weniger attraktiv. Sie halten eine kontrollierte Inflation für "gesund", da sie die Gewinne steigert, die Schuldentilgung erträglicher macht, die Löhne schmälert und den Konsum anregt. Kürzlich bezeichnete Kenneth Rogoff, ehemaliger Chefökonom des IWF, "ein wenig Inflation als keine schlechte Sache". Er argumentiert, dass die Zentralbanken nach der Finanzkrise 2008 negative Zinssätze hätten einführen und für einige Jahre eine Inflation von 4-6 % zulassen sollen. Jetzt plädiert er für ein Inflationsziel von 3 % (statt der 2 % der Fed) und zitiert wohlwollend seinen Vorgänger Olivier Blanchard, der 2010 dafür plädierte, das Inflationsziel auf 4 % anzuheben.

Inflation ist schwer zu steuern

Unter einer „gesunden" Inflation versteht man eine Rate, die leicht über den kombinierten Wachstumsraten von Produktivität und Arbeitskräften liegt. Bis Mitte/Ende der 1970er Jahre galten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern 4 % als gesund, später, als sich das Produktivitätswachstum verlangsamte, wurden 2 % zum allgemein vereinbarten Inflationsziel. Kenneth Rogoff plädiert eigentlich dafür, die Spanne zwischen Inflation und Produktivitätssteigerung zu vergrößern, in der Hoffnung, dass dadurch nicht nur die Schuldenlast verringert und die Nachfrage gesteigert, sondern auch die Produktion angekurbelt wird. Das Problem ist, dass die Inflation schwer zu steuern ist.

In den letzten 20 Jahren haben die Zentralbanken ihr 2 %-Ziel nicht erreicht, zum Teil weil sie eine Wiederholung der Situation Anfang der 70er Jahre befürchteten, als sie völlig die Kontrolle verloren, was zu einer so genannten Stagflationsfalle führte, d. h. zu wirtschaftlicher Stagnation in Verbindung mit zweistelliger oder galoppierender Inflation. Es bedurfte einer Kombination aus brutalen Angriffen auf die Arbeiter*innenbewegung und einer starken Drosselung der Geldmenge (die eine weitere Rezession auslöste), damit die Kapitalist*innen einen Ausweg fanden. So wurde der Neoliberalismus zur vorherrschenden Politik für eine ganze historische Epoche.

Er ist, wie wir bereits erwähnt haben, nicht mehr haltbar. In der heutigen Krise blieb den Kapitalist*innen und ihren Vertreter*innen in den Zentralbanken und Regierungen nichts anderes übrig, als zu weiteren interventionistischen Maßnahmen zu greifen. Das gefiel ihnen nicht, aber es war notwendig, um eine noch größere wirtschaftliche Katastrophe zu vermeiden, die ihr System hätte bedrohen können. Aber sie taten dies mit dem Gespenst des Kontrollverlusts im Hinterkopf.

Waren und Dienstleistungen, einschließlich produktiver Güter (Maschinen, Rohstoffe, Fabriken und Büros), werden in der Regel einmal oder nur wenige Male für den Konsum verkauft und verlassen dann schnell den Kreislauf. Sie werden selten gehortet, und ihre Umlaufgeschwindigkeit - die Anzahl der Male, die sie in den und aus dem Kreislauf gelangen - ist begrenzt, leicht zu verfolgen und zu kontrollieren. Das ist bei Geld nicht der Fall. Ein und derselbe Geldbetrag kann viele Male in den Kreislauf eintreten und wieder austreten, von Eigentümer*in zu Eigentümer*in wechseln oder einfach gehortet werden und überhaupt nicht in Umlauf kommen. Bei der Geldmenge ist die Umlaufgeschwindigkeit ein viel unberechenbarerer Faktor. Das Horten kann verhindern, dass Geld in den Umlauf gelangt, aber wenn die Aktivität zunimmt und das Geld zu rollen beginnt, kann sein "Multiplikatoreffekt" leicht exponentiell werden.

Davor warnt Nouriel Roubini, alias Dr. Doom, in Bezug auf die Inflation. Es ist schwierig, dazu eine klare Meinung zu haben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheinen die deflationären Tendenzen noch zu überwiegen, aber die Wirtschaft befindet sich auf einer Gratwanderung, und es gibt viele Faktoren, die das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung kippen könnten. Roubini verweist auf das Offensichtliche: Die Verschuldungsquote ist heute fast dreimal so hoch wie in den 70er Jahren, und die lockere Geldversorgung in Verbindung mit Angebotsschocks könnte eine Inflation auslösen, andererseits ist der Schuldendienst immer noch relativ günstig, da die Zinsen historisch niedrig sind und von den Zentralbanken niedrig gehalten werden.

Die lockere Geldversorgung hat jedoch Vermögens- und Kreditblasen mit hohen Kurs-Gewinn-Verhältnissen, niedrigen Risikoprämien und aufgeblähten Technologie-Investitionen angeheizt. Sie hat auch die irrationale Krypto-Manie, hochverzinsliche Unternehmensanleihen, Meme-Aktien (Aktien, die aufgrund von Hypes in den sozialen Medien plötzliche und dramatische Veränderungen erleben) usw. weiter gefördert. Das kann in dem gipfeln, was Ökonom*innen einen Minsky-Moment nennen, einem plötzlichen Vertrauensverlust, und zu einer Panik führen, die einen Crash auslöst.

Vor einem Jahrzehnt gerieten die Lebensmittelpreise außer Kontrolle, als Spekulanten den Futures-Markt überschwemmten. Dies führte zu Lebensmittelunruhen und war ein wichtiger Faktor für den arabischen Frühling. Eine Wiederholung eines solchen Szenarios, insbesondere in einer Zeit der Knappheit, die viele Spekulationsmöglichkeiten bietet, ist durchaus vorstellbar, aber die Auswirkungen wären im Kontext von Klimakatastrophen, überteuerten Finanzmärkten und einer grassierenden Pandemie noch verheerender.

Man spricht auch vom "Immobilienfieber", da die Immobilienpreise in den OECD-Ländern im ersten Quartal 2021 um 9,4 % gestiegen sind. In den USA erreichten die Hauspreise im April das schnellste Wachstum seit 30 Jahren. Niedrige Kreditkosten, Angebotsknappheit, steigende Baupreise und wohlhabende Menschen, die nach größeren Immobilien suchen, haben dies bewirkt. Die Hauspreise steigen weitaus schneller als die Einkommen, was die Ungleichheit weiter verschärft. Fannie Mae, die staatliche US-Wohnungsbaugesellschaft, argumentiert, dass größere Hypotheken zu höheren Mieten führen und die allgemeine Inflation anheizen werden.

Ein Dilemma

Sollte die Inflation mittel- oder längerfristig stärker ansteigen, befänden sich die Zentralbanken in einer "Catch 22"-Situation: Die Inflation könnte zweistellig werden, wenn sie ihre lockere Geldmengenpolitik fortsetzen und in eine Stagflationsfalle geraten. In Ländern, die ihre Staatsschulden hauptsächlich in Landeswährung halten, wird die Staatsverschuldung zunächst erträglicher werden. In Ländern mit Staatsschulden in Fremdwährung (darunter viele der am höchsten verschuldeten Länder Afrikas und Lateinamerikas) wäre dies nicht der Fall, und eine wachsende Zahl dieser Länder wäre vom Zahlungsausfall bedroht und müsste ihre Schulden umstrukturieren. Dies könnte eine Kette von Zahlungsausfällen auslösen, was die internationalen Spannungen verstärken und den Protektionismus fördern würde.

Außerdem würden sich die Renditen privater Schulden im Vergleich zu sichereren Staatsanleihen ausweiten, und die steigende Inflation würde die Inflationsrisikoprämien erhöhen. Etwa ein Fünftel der US-Unternehmen und noch mehr in Europa gelten als Zombie-Unternehmen, d. h. sie könnten ihre Schulden nicht mehr bedienen, wenn sie nicht Zugang zu billigem Geld hätten. Würde diese Quelle versiegen, würden viele von ihnen in Konkurs gehen und eine Kette von Insolvenzen nach sich ziehen.

Würden die Zentralbanken jedoch ihre Interventionen zurückfahren und die Zinssätze anheben, um die Inflation zu bekämpfen, stünden eine massive Schuldenkrise, eine Kette von Zahlungsausfällen und Konkursen sowie eine tiefe Rezession vor der Tür. Aus diesem Grund warnt der IWF vor einer verfrühten Verschärfung der Geldpolitik. Es ist inzwischen anerkannt, dass die Europäische Zentralbank einen großen Fehler gemacht hat, als sie die Zinssätze nach der Rezession 2008/9 zu früh anhob. Vor kurzem hat sie ihre Politik revidiert und ist von einem Inflationsziel von 2 % oder darunter zu einer Politik übergegangen, die akzeptiert, dass die Inflation eine Zeit lang moderat über diesen Wert steigen kann. Dies kann als Wortklauberei interpretiert werden, ist aber in Wirklichkeit eine deutliche Abkehr von den Gründungsprinzipien der EZB und von der Idee der Deutschen Bundesbank, Preisstabilität als oberste Priorität zu betrachten. Dieser Grundsatz wurde vom deutschen Establishment standhaft verteidigt, selbst um den Preis, dass die griechische Wirtschaft nach der großen Rezession 2008/9 um 25 % schrumpfen musste, was für die Bevölkerung des Landes unermessliche Probleme mit sich brachte. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass diese Politik wesentlich dazu beigetragen hat, dass die griechischen Feuerwehren nicht auf die tödlichen Brände vorbereitet waren, die dort kürzlich Verwüstung angerichtet haben.

Die US-Notenbank scheint der EZB voraus zu sein, indem sie "eine Politik verkündet, die das frühere Verfehlen des Inflationsziels wettmacht", was bedeutet, dass die Fed aktiv versuchen wird, die Inflation über den angestrebten Wert zu treiben. Dies ist zwar nicht die erklärte Absicht der EZB und würde mit Sicherheit zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten, insbesondere mit der Bundesbank, führen, doch ist zu erwarten, dass ihre Politik nicht so weit von der der Fed entfernt sein wird, wenn das Eurogebiet von ähnlichen Schocks getroffen wird.

Zeitspiel

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Zentralbanken und Regierungen ihre lockere Politik fortsetzen, wenn auch vielleicht gezielter und mit der Absicht, sie im Laufe der Zeit zurückzufahren, aber sehr vorsichtig und wahrscheinlich nicht ohne regelmäßige Meinungsverschiedenheiten und Kehrtwendungen. Der Grund dafür ist, dass dies unter äußerst schwierigen Umständen geschehen muss. Logischerweise hätte die Pandemie zu einer stärkeren internationalen Zusammenarbeit führen müssen, aber der Kapitalismus hat völlig versagt. Schutzausrüstungen, Tests und Beatmungsgeräte wurden zur Waffe, um nationale Interessen durchzusetzen, und dann kam es zur "Impfstoffdiplomatie" und zum "Impfstoffimperialismus". Die Tendenzen zum Protektionismus wurden nicht umgekehrt, sondern verstärkt. Die nationalen Regierungen wurden dazu gedrängt, mehr Eigenständigkeit anzustreben. Weitere Angebotsschocks als Folge des Protektionismus, die die Inflation anregen, sind nicht weniger geworden, sondern wahrscheinlicher.

Hinzu kommen eine alternde Bevölkerung in den fortgeschrittenen und aufstrebenden Volkswirtschaften sowie strengere Einwanderungsbeschränkungen, zumal eine wachsende Zahl von Ländern mit niedrigem Einkommen mit Gesundheitskatastrophen, wirtschaftlichen Implosionen, Kriegen und Bürgerkriegen sowie Klimakatastrophen konfrontiert sein wird. Die Rivalität zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Imperialismus um die Weltherrschaft hat sich zu einem totalen kalten Krieg ausgeweitet, der zeitweise auch zu einem heißen werden könnte. Die Bündnisse werden instabil sein, und einige kleinere Mächte werden die Pattsituation zwischen den beiden dominierenden imperialistischen Mächten nutzen, um ihre eigenen regionalen imperialistischen Ambitionen zu verwirklichen. Vor uns liegt eine unsichere und instabile Welt, die die Weltwirtschaft zu zersplittern droht und die Lieferketten unzuverlässiger macht, so dass weitere Krisen zu erwarten sind.

Auch wenn die Notwendigkeit, den Klimawandel zu bekämpfen durchaus anerkannt wird, hat Bidens Infrastrukturplan wenig damit zu tun und zielt hauptsächlich darauf ab, nicht von China überholt zu werden. Der technische und der Cyber-Krieg sind bereits in vollem Gange. Es besteht nicht die geringste Chance, dass der jüngste IPCC-Klimabericht das bewirkt, was die Pandemie nicht geschafft hat: als Weckruf zu dienen, um die Kapitalist*innen weltweit davon zu überzeugen, ihre nationalen Interessen zugunsten einer internationalen Zusammenarbeit zurückzustellen. Kein*e Kapitalist*in wird freiwillig auf die Umweltverschmutzung verzichten, wenn er/sie dafür nicht mit öffentlichen Mitteln entschädigt wird, die letztendlich von den Arbeiter*innen und ihren Familien bezahlt werden. Die Herausforderung des Klimawandels erfordert den freien Austausch von Wissen und Technologie, internationale Zusammenarbeit, demokratische Planung und massive öffentliche Investitionen in eine umweltfreundliche Wirtschaft. Private Interessen und Profitstreben, die wichtigsten Bestandteile der Marktwirtschaft, können nicht zu dieser Lösung beitragen, sondern sind das größte Hindernis, das ihr im Wege steht.

Man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob der heute noch vorherrschende deflationäre Trend stark genug sein wird, um den Inflationsdruck in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zurückzudrängen. Es gibt zu viele Spielräume, die das Gleichgewicht verschieben könnten. Wenn die Inflation in den zweistelligen Bereich steigt, wird sie Massenwiderstand hervorrufen. Die "Gelbwesten"-Bewegung in Frankreich im Jahr 2018 ist ein Vorgeschmack darauf. Aber selbst wenn es den Kapitalist*innen gelingt, die unmittelbare Bedrohung durch eine Inflationskrise einzudämmen, wird auch das keines der großen zugrundeliegenden systemischen Probleme lösen. Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und Löhnen, sowie Bewegungen gegen Unterdrückung und gegen die Klimakatastrophe werden sich weiter entwickeln.

Eines ist sicher: Die Illusion, man könne Entscheidungen der Weisheit des Marktes überlassen und die Rolle der Zentralbanken und Regierungen auf die von Technokrat*innen reduzieren, die die Gesellschaft "verwalten", gehört der Vergangenheit an. Die Idee der "Unabhängigkeit" der Zentralbanken stammt aus einer anderen Zeit, und die Regierungen werden, ob sie wollen oder nicht, gezwungen sein, eine interventionistischere Politik zu betreiben. Das Establishment wird nicht mehr behaupten können, dass die Gesellschaft alle Ideologien überwunden hat und ihre Steuerung nur noch eine Aufgabe für kluge Techniker*innen ist.

Im Gegenteil, die Politik wird ihre Vormachtstellung zurückerobern, und damit wird der ideologische Kampf um politische Entscheidungen schärfer. Für die politische "Mitte" werden schwierige Zeiten anbrechen, da die Polarisierung zunehmen wird. Die falsche Illusion, weder links noch rechts zu sein, was letztlich immer bedeutete, dass man die bestehende Politik der Rechten grundsätzlich akzeptierte, wird sich auflösen. Große Probleme, die im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft unlösbar sind, werden die Suche nach radikaleren Lösungen anstoßen. Rechtspopulistische Kräfte werden versuchen, dies auszunutzen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass dies durch linken Reformismus oder "Populismus" beantwortet werden kann. Nur eine ernsthafte Haltung in Bezug auf Analyse, Perspektiven, Programm und Organisation kann einen sozialistischen, internationalistischen Weg aus dem Verfall des Kapitalismus bieten.

Waldbrände in Sibirien: eine kapitalistische Katastrophe

Von Dariya Kozhanova (Sotsialisticheskaya Alternativa, ISA in Russland)

Waldbrände wüten auf der Erde schon so lange, wie es Wälder gibt. In einigen Ökosystemen sind sie ein fester Bestandteil des Lebenszyklus. Dies gilt für die sibirische Taiga. Aufgrund des kalten Klimas, der geringen Niederschläge und des gefrorenen Bodens zersetzen sich die zu Boden fallenden Blätter und Nadeln nicht, sondern bleiben lange liegen. So sammelt sich eine große Schicht aus brennbarem Material an, und der Boden selbst bleibt nährstoffarm. Wenn ein Feuer ausbricht, verbrennen die Nadeln, düngen den Boden mit ihrer Asche und die alten Bäume werden vernichtet. Neue junge Bäume ersetzen sie, und der Wald verjüngt sich. Normalerweise wiederholt sich dieser Zyklus alle 70 bis 300 Jahre.

Aber menschliche Eingriffe, genauer gesagt die kapitalistische Ausbeutung und der Klimawandel, haben zu Bränden geführt, die hinsichtlich Fläche, Ausbreitungsgeschwindigkeit und Zerstörungskraft beispiellos sind. Die Welt steht in Flammen - von der sibirischen Taiga über die australischen Steppen bis zu den Wäldern des Amazonas.

Nach Angaben von Greenpeace hat die Brandfläche in Russland seit Anfang 2021 bereits 17 Millionen Hektar erreicht, und da die Feuersaison noch einige Wochen weitergeht, wird in diesem Jahr mit Sicherheit eine Rekordfläche zerstört. Allein die sibirischen Feuer sind größer als die Brände im Rest der Welt zusammen. Die Front, die die Feuerwehrleute zu bekämpfen haben, ist über 2000 Kilometer lang.

Brände und Klimawandel

Die Beziehung zwischen diesen katastrophalen Waldbränden und dem Klimawandel ist zweischneidig. Einerseits beeinflussen Veränderungen der durchschnittlichen Jahrestemperatur und der Niederschlagsmuster die Brandverläufe, andererseits tragen die Waldbrände selbst zu den globalen Klimaveränderungen bei.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stieg die durchschnittliche Jahrestemperatur in Sibirien um 0,43 °C und in den Polarregionen um 0,61 °C. Die Region erwärmt sich doppelt so schnell wie andere Teile der Welt, was vor allem an der Erwärmung der Sommersaison und deren längerer Dauer liegt. Der durchschnittliche Jahresniederschlag hat im Laufe des Jahrzehnts ebenfalls um 7,2 mm zugenommen, ist aber ungleichmäßig über die Jahreszeiten verteilt. Mehr Schnee im Winter wird durch Dürreperioden im Sommer ausgeglichen, die bis zu 110 Tage dauern können. Diese zusätzliche Feuchtigkeit steigert die Aktivität des Waldökosystems, so dass mehr brennbares Material zur Verfügung steht.

Diese klimatischen Veränderungen destabilisieren die atmosphärische Zirkulation und verursachen damit starke Windböen, die jedes entstehende Feuer sofort anfachen, so dass es die Baumkronen erreicht und sich schnell ausbreitet. Ein ausgedehntes Feuer wiederum schafft sein eigenes Wettersystem. Aufsteigende Ströme erwärmter Luft erreichen die Troposphäre und blockieren den Durchzug feuchter Luftmassen aus dem Fernen Osten. Es regnet, ohne den Brandherd zu erreichen.

Waldbrände setzen Ruß in die Atmosphäre frei, den der Wind in Richtung Arktis bläst. Wenn sich der Ruß auf dem Eis ablagert, verringert sich das Reflexionsvermögen der Eisoberfläche, das Schmelzen wird beschleunigt, und Süßwasser fließt in den Ozean, was wiederum die Oberflächenströmungen beeinflusst. Ruß und Holzkohle bedecken den Boden und führen zum Auftauen des Permafrostbodens, dessen Abbau die Verdunstung und den Feuchtigkeitsgehalt beeinflusst. Darüber hinaus nimmt die Zahl der unterirdischen Brände zu, die schwer zu löschen sind und mehr giftigen Rauch erzeugen als Brände in den Bäumen oder am Boden.

Pflanzen sind Kohlenstoffspeicher. Durch Photosynthese entziehen sie der Atmosphäre Kohlenstoff und recyceln ihn als organische Verbindungen, die an verschiedenen biologischen Prozessen beteiligt sind. Wenn jedoch ein Baum brennt, gelangt ein Großteil des gespeicherten Kohlenstoffs als Treibhausgas in die Atmosphäre zurück. Die Kohlenstoffemissionen durch Waldbrände betrugen zwischen 1998 und 2010 durchschnittlich 121+/-28 Millionen Tonnen pro Jahr, was mit den gesamten Kohlenstoffemissionen beispielsweise der Tschechischen Republik vergleichbar ist. Dieses Jahr war schlimmer. Seit Anfang Juni wurden durch die Brände in Sibirien 800 Millionen Tonnen Kohlendioxid freigesetzt - mehr als der größte Umweltverschmutzer der EU, Deutschland, in einem Jahr ausstößt. Die Putin-Diktatur, die vor kurzem ihre neue Umweltagenda verabschiedet hat, schweigt zu diesem Punkt beharrlich.

Die Wälder Sibiriens sind an ein stabiles, kaltes Klima angepasst. Doch jetzt können übermäßig schneereiche Winter mit erheblichen Temperaturschwankungen und heiße, trockene Sommer zu Wasserstress, Anfälligkeit für Schädlinge und Krankheiten, sowie zum Absterben der Bäume führen. Ein Übermaß an Totholz schafft ein weiteres Brennstoffreservoir, das Waldbrände begünstigt. Das Fehlen einer systematischen Waldbewirtschaftung und die durch korrupte Systeme verursachte forstwirtschaftliche Betriebsführung verschärfen das Problem noch. Derzeit gibt es 250 Vollzeit- und 150 Saison-Feuerwehrleute, die eine Fläche abdecken, die fünfmal so groß ist wie Frankreich. Dies ist ein dramatischer Rückgang gegenüber den 1600 Vollzeitbeschäftigten zu Sowjetzeiten.

Waldbrände und Gesundheit

Waldbrände haben nicht nur negative Auswirkungen auf die Umwelt, sondern auch auf die menschliche Gesundheit. Während nur die Menschen, die im Katastrophengebiet leben, durch das Feuer selbst gefährdet sind, werden der Rauch und die Asche über Hunderte und Tausende von Kilometern transportiert und verschmutzen Luft und Wasser in einem weiten Gebiet. Der Rauch enthält polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Formaldehyd, Phenol und andere giftige und krebserregende Stoffe. Kurzfristig führt der Kontakt mit diesen Stoffen zu Reizungen der Schleimhäute, der Augen und der oberen Atemwege. Bei regelmäßiger und längerer Einwirkung von Rauch steigt das Risiko von Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Neben giftigen Gasen enthält Rauch auch große Mengen an Feinstaub, der aus Kohlenstoff mit geringen Mineralverunreinigungen besteht. Bei der Messung der Messung der Luftqualität werden die üblichen Formen von Feinstaub als PM10 und PM2,5 definiert, was bedeutet, dass die Schwebeteilchen in der Luft eine Größe von 10 bzw. 2,5 Mikrometern haben. PM10 ist weniger flüchtig und die Partikel setzen sich auf den Schleimhäuten der oberen Atemwege ab und reizen diese. Dies stellt eine ernste Gefahr für Menschen dar, die unter Asthma und Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden. Gefährlicher sind die kleineren PM2,5-Partikel. Sie sind flüchtiger und können besser in die unteren Atemwege und die Lunge eindringen. Sie reichern sich in den Alveolen an und können chronische Lungenerkrankungen verursachen.

Die Chemikalien, aus denen die besonders feinen Partikel bestehen, werden in das Blut aufgenommen und haben eine giftige Wirkung auf den Körper. Bei Wald- und Steppenbränden übersteigt die Partikelkonzentration in der Luft die normalen Werte um das 10-14fache. Die Partikelemission hängt von der Art des Brennstoffs und der Verbrennungsart ab. Langsam schwelendes Holz ist am gefährlichsten. Taiga- und Waldbrände in den gemäßigten Breiten setzen das meiste ultrafeine Material in die Luft frei, gefolgt von tropischen und Steppenbränden. Bei starker Rauchentwicklung ist es äußerst wichtig, rechtzeitig zuverlässige Informationen über den Zustand der Umwelt zu erhalten und geeignete Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zu ergreifen. Offiziellen Angaben mangelt es seit langem an Glaubwürdigkeit. Daher ist es äußerst wichtig, öffentliche Luftqualitätsüberwachungssysteme, horizontale Warnsysteme und Datenaustauschnetze zu entwickeln.

Die nach einem Waldbrand abgelagerte Asche ist ein wichtiger Faktor bei der Regeneration von Ökosystemen, kann sich aber auch negativ auf die Qualität der Gewässer auswirken. Asche enthält große Mengen an löslichen Stickstoff- und Phosphorverbindungen und wird mit dem Regenwasser in Flüsse und Seen gespült. Die dort lebenden Algen beginnen sich aufgrund der Nährstoffzufuhr rasch zu vermehren, sterben aber bald ab, da sie den Vorrat aufgebraucht haben. Die Oxidation (Fäulnis) der abgestorbenen organischen Stoffe entzieht dem Wasser weiteren gelösten Sauerstoff., was die Wasserqualität verschlechtert. Außerdem erschwert das Vorhandensein großer Mengen von Algen die Reinigung und Aufbereitung des Trinkwassers. Asche enthält neben Stickstoff und Phosphor auch Quecksilberverbindungen, die Pflanzen während des Wachstums aus dem Boden aufnehmen. Dieses Quecksilber gelangt dann ins Trinkwasser und reichert sich in Fischen an.

Ein weiterer Aspekt, der selten erwähnt wird, ist, dass Brände nicht nur die physische, sondern auch die psychische Verfassung der Menschen negativ beeinflussen. In Australien suchten nach dem so genannten Schwarzen Sommer 2019/20 15 % der Feuerwehrleute und Freiwilligen Hilfe wegen eines posttraumatischen Stresssyndroms. Es ist fraglich, wie viele andere dies nicht getan haben. Gemeinden, die mindestens drei Jahre lang mit der zerstörerischen Kraft des Feuers konfrontiert waren, weisen weiterhin erhöhte Raten von Angstzuständen, Alkoholismus, Selbstmord und häuslicher Gewalt auf. In Russland werden diese Probleme leider kaum publik gemacht, und die Opfer erhalten oft keine ausreichende psychologische Hilfe.

Brände und der Staat. Bürokratie und Ineffizienz.

Die Holzindustrie ist neben der Öl- und Gasindustrie eine wichtige Einnahmequelle für die Oligarch*innen-Elite. Deshalb hat das föderale Zentrum, d. h. die Moskauer Bürokratie, in den letzten zwanzig Jahren versucht, die Kontrolle darüber in die eigenen Hände zu bekommen. Als Ergebnis dieser "effizienten Verwaltung" sind bürokratisches Chaos, übermäßige Regulierung, verworrene Zuständigkeiten und gleichzeitig eine Superzentralisierung von Macht und Ressourcen entstanden. Im Laufe der Geschichte der Sowjetunion wurden 774 Dokumente zur Steuerung der Waldnutzung erlassen, in den letzten Jahrzehnten waren es 1.729. Gleichzeitig sind viele wichtige Fragen ungelöst geblieben. Die große Zahl verwirrender und widersprüchlicher Gesetze und die endlosen Umstrukturierungen der für die Forstwirtschaft zuständigen Behörden schaffen einen fruchtbaren Boden für Korruption, Bürokratie und Verantwortungslosigkeit.

Der räuberische Charakter der föderalen Regierung zeigt sich am deutlichsten in finanziellen Angelegenheiten. Vor 2002 flossen die Gebühren für die Waldpacht und die Holzungsrechte in die regionalen Haushalte, das Geld wurde für den Schutz und die Wiederherstellung der Waldressourcen verwendet. Jetzt fließt der größte Teil dieses Geldes in den Bundeshaushalt. Infolgedessen sank die wiederhergestellte Waldfläche, die in den 1980er Jahren in der UdSSR 1.800.000 Hektar pro Jahr betrug, auf 950.000 Hektar im Jahr 2000 und 800.000 Hektar im Jahr 2004. Erst in den letzten Jahren hat sich die wiederhergestellte Fläche einer Million Hektar genähert.

Es handelt sich um geplante Maßnahmen. In Notsituationen müssen die Regionen auf die Hilfe der Zentralverwaltung warten. Doch für die russische Elite ist das Löschen von Bränden "wirtschaftlich unrentabel". Anstatt den Raubbau und die Ausbeutung der Regionen zu beenden, fusioniert und vergrößert die Moskauer Elite die Regionen. Auf diese Weise zerstören sie die lokale Selbstverwaltung. Auch Initiativen von der Basis werden unterdrückt. Jede Selbstorganisation von Arbeiter*innen macht den Behörden Angst, und die Freiwilligen, die die Brände in Sibirien und Karelien bekämpfen, sind da keine Ausnahme. Anstatt die Aktivist*innen wirksam in die Rettungsarbeiten einzubinden, werden sie durch Polizeikontrollen und Betrügereien behindert.

Die Ineffizienz des Staatsapparats, die Korruption und die Degradierung der Forstbetriebe, die durch diese Politik ausgelöst werden, haben zu einem dramatischen Anstieg des illegalen Holzeinschlags geführt. Verschiedenen Schätzungen zufolge entfallen 10-35 % des Holzeinschlags in Sibirien und bis zu 60 % im Fernen Osten Russlands auf illegalen Holzeinschlag. Kahlschlag, von dem schockierende Fotos in den Medien veröffentlicht werden, ist ein relativ seltenes Phänomen. Viel häufiger werden die Bäume unter dem Vorwand von Pflegemaßnahmen selektiv abgeholzt. Es ist schwierig, solche Verluste zu bewerten, da ein einzelner Baum auf Satellitenbildern kleiner als ein einziger Pixel ist.

Waldbrände spielen beim illegalen Holzeinschlag eine wichtige Rolle. Erstens ist es eine Möglichkeit, den Kahlschlag zu verbergen. Zweitens zerstört ein sich schnell ausbreitendes Spitzenfeuer Kronen und Rinde, hat aber keine Zeit, den dicken Stamm selbst zu beschädigen. Verbrannte Wälder werden abgeschrieben, und die verbleibenden Stämme werden gefällt und als notwendige "Haushaltsmaßnahmen" dokumentiert. Lärchenbäume werden durch Feuer von kleinen Ästen und Nadeln befreit und verkauft. Im Fernen Osten stellt sich die Situation etwas anders dar. Während in Sibirien massenhaft illegaler Holzeinschlag für Bauholz betrieben wird, werden in der Region Primorje unter dem Deckmantel der Verbesserung der Waldgesundheit seltene Baumarten entnommen.

Für die herrschende Clique der Oligarch*innen ist das Löschen von Bränden in Sibirien "wirtschaftlich unrentabel", nicht weil sie weit weg und schwer zu erreichen sind, sondern weil es ohne katastrophale Brände unmöglich wäre, das Ausmaß ihrer Korruption, Inkompetenz und ihres Raubbaus zu verbergen. Ohne Brände würden sie ihre Auszeichnungen nicht bekommen, kein Geld verdienen und keine weiteren Sterne auf ihren Schultern als Anerkennung für ihre "Notfallmaßnahmen" erhalten. Wie die Praxis zeigt, kümmert sich die Putin-Diktatur weder um den Klimawandel noch um den Schutz der Wälder oder gar um die Menschen, deren Häuser von den Bränden heimgesucht werden. Brände sind für die russische Führung nicht nur ein Mittel, um ihre Verbrechen zu vertuschen, sondern auch ein weiterer Baustein für ihre außenpolitischen Spiele. Kürzlich schickte man keine amphibischen Löschflugzeuge nach Jakutien, sondern in die Türkei.

Ein kapitalistisches System, das darauf ausgerichtet ist, aus Mensch und Natur Profit zu schlagen, ist nicht in der Lage, die Probleme zu lösen, die es verursacht. Die fortgesetzte rücksichtslose Ausbeutung und barbarische Plünderung der Waldressourcen führt zu ernsthaften Risiken für die menschliche Gesundheit, zerstört einzigartige Ökosysteme und verschärft den Klimawandel.

Was kann getan werden?

Um die Brände unter Kontrolle zu halten, müssen wir eine schlagkräftige Massenbewegung aufbauen, die Arbeiter*innen, Feuerwehrleute, Umweltschützer*innen und Anwohner*innen im Kampf vereint:

  • gegen die bürokratischen Top-Down-Strukturen, die aufgebaut wurden, um die Regionen auszurauben und illegalen Holzeinschlag zu vertuschen;

  • für ihre Ersetzung durch einen von der Bevölkerung kontrollierten und ausreichend finanzierten Forstdienst, der für die rechtzeitige Erkennung von Bränden und die Wiederherstellung verbrannter Gebiete sorgt;

  • für die Wiederherstellung des durch die jahrelange neoliberale "Optimierung" zerrütteten Sozialbereichs, damit die Bewohner*innen der brandgefährdeten Gebiete Zugang zu einer kostenlosen und guten medizinischen Versorgung erhalten;

  • für die Einrichtung einer Arbeiter*innenkontrolle unter Beteiligung von Feuerwehrleuten und Anwohner*innen mit unabhängiger ökologischer Überwachung, um alle Aspekte der Waldbewirtschaftung zu verwalten und zu kontrollieren, wobei alle Waldflächen und -ressourcen wieder in öffentliches Eigentum überführt werden;

  • für eine nachhaltige, demokratisch geplante Wirtschaft. Nur so können wir die barbarische Ausbeutung der Menschen und der natürlichen Ressourcen stoppen.

Die Wälder Sibiriens müssen wieder zur Lunge des Planeten werden, nicht zu seinem Auspuffrohr!

 

Internationale Notizen im Sommer 2021

Schweden: Mietenproteste

Der 21.6. war ein historischer Tag in Schweden. Das erste Mal in der Geschichte des Landes verlor ein Regierungschef ein Misstrauensvotum. Warum? Die Regierung plante Gesetze aufzuheben, die die Höhe von Mieten regulieren. Schnell bildeten sich Basisinitiativen, die Proteste dagegen organisierten. Rättvisepartiet Socialisterna - RS (ISA in Schweden) spielte eine zentrale Rolle in diesen Protesten. Im ganzen Land wurden lokale Komitees gegründet, Massenveranstaltungen wurden organisiert und alleine an einem Tag gab es 160 Kundgebungen. Die Bewegung konnte so viel Druck aufbauen, dass die Regierung abdanken musste. RS setzt sich jetzt dafür ein, dass die Bewegung sich verbreitet und auch andere Themen wie die Klimakrise oder Verschlechterungen im Gesundheitsbereich aufgreift.
socialisterna.org

Deutschland

In Nordrhein-Westfalen soll ein neues Versammlungsrecht eingeführt werden, das viele Proteste strafbar macht. Dagegen formierte sich ein Bündnis, dem auch die SAV (ISA in Deutschland) angehört. Eine Demonstration wurde organisiert, an der 6.000 teilnahmen. Die SAV fordert, dass sich die Gewerkschaft an Protesten beteiligt, da das geplante Gesetz auch gegen Streiks eingesetzt werden kann.
sozialismus.info

Kanada

In Kanada soll die Trans Mountain Öl-Pipeline gebaut werden. Dieses Projekt ist eine massive Umweltbedrohung und soll auf Land der indigenen Bevölkerung entstehen. Socialist Alternative (ISA in Kanada) unterstützt Proteste gegen die Pipeline, setzt sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein und fordert, dass das Budget für den Bau stattdessen in Umweltschutz investiert wird.
socialistalternative.ca

Mexiko

Die 1. Konferenz von Alternativa Socialista (ISA in Mexiko) fand von 2.-4. Juli statt. Neben Mitgliedern aus Mexiko nahmen auch Gäste aus Argentinien, Chile, Brasilien, den USA sowie der ISA Leitung teils „in echt“, teils per Zoom teil. Neben Internationalen Perspektiven wurden auch die Lage in Mexiko sowie die Entwicklungen in Lateinamerika und die nächsten Schritte diskutiert.
alternativasocialista.org

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

13 Monate Kampf bei Debenhams

Der Kampf der Debenhams-Beschäftigten ist ein Lehrstück für Arbeiter*innen, die um ihre Rechte kämpfen.
Thomas Hauer

Der heroische Kampf bei Debenhams in Irland ist beachtlich, v.a. die Initiative der Beschäftigten, deren Ausdauer ihnen Sympathie und Unterstützung in der irischen Bevölkerung brachten. Weiters zu betrachten: Das skrupellose Agieren der Geschäftsführung; das doppelzüngige Vorgehen des Staats, der einerseits freundliche, vertröstende Lippenbekenntnisse und andererseits brutales Vorgehen gegen die Streikenden zeigte und natürlich auch das bremsende Verhalten der Gewerkschaft.

Worum geht's? Die britische Kaufhauskette Debenhams, die mit 165 Filialen in 26 Ländern vertreten war, meldete am 9.4.2020 Insolvenz an. Betroffen: Insgesamt 29.000 Beschäftigte, davon knapp 1.000 in Irland. Dort hatte die zuständige Gewerkschaft „Mandate“ im Jahr 2016 eine Vereinbarung mit dem Unternehmen getroffen, die den Beschäftigten eine Abfertigung von vier Wochenlöhnen pro Dienstjahr zusicherte. Nun aber weigerte sich Debenhams und wollte nur die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Wochenlöhne/Dienstjahr zahlen. Die Ankündigung der Insolvenz erfolgte während eines harten Lockdowns, der die Bedingungen für Proteste zwar enorm erschwerte, diese aber nicht verhinderte. Neben der Forderung nach der zustehenden Abfertigung ging es auch darum, die bestehenden Gesetze nachzubessern, um die Forderungen von Beschäftigten im Zuge eines Liquidationsprozesses höher zu reihen als jene anderer Gläubiger*innen.

Der über ein Jahr dauernde Kampf der Beschäftigten von Debenham hatte enormen Zuspruch in der Bevölkerung. Neben zahlreichen Kundgebungen und (coronasicheren) Aktionen gab es auch mehrere Märsche zum Parlament und Gespräche mit Politiker*innen. Doch außer netter Worte und Vertröstungen auf unbestimmte Zeit war hier nichts zu holen. Ganz anders die Unterstützung durch die Socialist Party (irische Schwesterorganisation der SLP): Der Arbeitskampf wurde von Anfang bis zum Ende aktiv begleitet. Genoss*innen in Britannien organisierten Solidaritätsaktionen vor dortigen Debenhams-Filialen. Michael O’Brien von der Socialist Party berichtet: “Von Anfang an hatten wir fast wöchentliche Zoom-Treffen mit den Arbeiter*innen, mit den Betriebsrät*innen und anderen Aktivist*innen. Wir haben bei der Planung der Proteste und Besetzungen geholfen, haben Solidaritätsarbeit organisiert und um Unterstützung in der breiteren Gewerkschaftsbewegung und der Arbeiter*innenklasse geworben. Unser Abgeordneter Mick Barry hat das Thema immer wieder im Parlament angesprochen.”

Die zuständige Gewerkschaft „Mandate” organisierte nach einer Urabstimmung zwar die Streiks, bot aber keine Taktik, um die Kämpfe auszuweiten und zu gewinnen. Letztlich kamen Initiativen und Umsetzung der Kampfschritte von den Kolleg*innen selbst bzw. mit Unterstützung von solidarischen Aktivist*innen wie eben aus der SP. So schützten im weiteren Verlauf des Arbeitskampfs Streikposten die bereits zugesperrten Lager vor dem Abtransport der Waren. Ein geringfügig nachgebessertes Angebot wurde mit einem Sitzstreik beantwortet. Nachdem die Streikposten lange erfolgreich gehalten wurden, räumte die Polizei mit Hilfe von Streikbrecher*innen gewaltsam eine dieser Blockaden am 23. April.

“Das größte Manko in diesem Kampf war die Rolle der offiziellen Gewerkschaftsführung” stellt Michael O’Brien klar. Denn wenn die Gewerkschaft die Rechte von Beschäftigten nicht entschlossen verteidigt und die politischen und polizeilichen Angriffe auf die Streikenden nicht entschieden und aktiv zurückschlägt, dann verschlechtert sie die Lage für alle Arbeiter*innen in künftigen Kämpfen. Dass die Kolleg*innen im Mai letztlich ein “Angebot” annehmen mussten, das weit hinter dem zustehenden und nötigen liegt, liegt in der Verantwortung der Gewerkschaftsführung. Die Kolleg*innen selbst haben gezeigt, wie groß ihre Kampfbereitschaft ist und die Solidarität in der restlichen Arbeiter*innenklasse war hoch!

Die Lehren dieses Kampfes sind wichtig für alle Lohnabhängigen, die sich gegen die Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems auflehnen. Das Beispiel von Debenhams zeigt, dass die Kapitalist*innen und ihre Vertreter*innen keine Partner sind, sondern uns verraten, belügen und betrügen, wo sie nur können. Es zeigt, dass der bürgerliche Staat kein neutraler Schiedsrichter im Kampf der Klassen ist, sondern in letzter Konsequenz seine uniformierten Schergen schickt, wenn er kapitalistisches Eigentum in Gefahr sieht. Die Rolle als unparteiischer Schiedsrichter spielen in der Praxis die Gewerkschaftsführungen, die stets bemüht sind, einen “vernünftigen” Kompromiss auszuhandeln. So nehmen sie den Betroffenen die Dynamik und durch ihre Stellvertretungspolitik die Kontrolle über Entscheidungen. Alles Lektionen, die wir auch in Österreich noch brauchen werden. Um die selben Fehler nicht immer wieder zu wiederholen, braucht es eine internationale und revolutionäre Partei, die einerseits als kollektives Gedächtnis der Arbeiter*innenklasse Teil von Kämpfen ist und so Fehler erkennt und verhindern hilft und andererseits eine Perspektive zur Überwindung der kapitalistischen Ausbeutung in einem sozialistischen Programm bietet. 

Ausführlichere Berichte zum Thema gibt es hier: https://socialistparty.ie

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

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