Internationales

Wahlen in Hongkong: Der Regenschirm-Faktor

Regenschirmbewegung politisiert Wahlen, Socialist Action (CWI in Hongkong) erhält 1152 Stimmen.
La Pasha, CWI Hongkong

Ende November 2015 fanden Lokalwahlen in Hongkong statt. Klar ist, dass sie durch die Regenschirmbewegung 2014 politisiert wurden. Die Wahlbeteiligung lag deutlich höher als 2011 (47% statt 41%). Es gab Verluste für die Pro-Regierungsparteien, wenn auch nur geringe. Neu waren die Gewinne für die sogenannten "RegenschirmsoldatInnen", politische Gruppen, die aus der Bewegung entstanden sind. Allerdings spielten diese Gruppen ihre Verbindungen mit der Bewegung herunter und gaben sich unpolitisch. Sie setzten stärker auf eine Anti-China Stimmung und auf Lokalpatriotismus. Das spiegelt zu einem Teil auch die Frustration wider, dass die Bewegung nicht erfolgreich war (auch aufgrund der Dominanz der bürgerlichen Opposition in der Führung der Bewegung). Diese neuen Gruppen konnten 70.000 Stimmen und acht Sitze gewinnen, ein Ergebnis, das einiges an Medienaufmerksamkeit bekam. Sie wurden aber hauptsächlich gewählt, weil sie als etwas „neues“ wahrgenommen wurden, und weil die Leute genug von der korrupten Elite haben. Allerdings werden alle 18 Bezirke nach wie vor vom pro-KP Lager dominiert, aufgrund ihrer riesigen Ressourcen und einer Kultur von Wahlmanipulation und Stimmenkauf.

Socialist Action (CWI in Hongkong) ist im ärmsten Bezirk Hongkongs angetreten. Rund 90% der Wahlberechtigten leben in öffentlichen Wohnbauten. Unsere Kandidatin Sally Tang Mei-Ching erhielt 1.152 Stimmen, das sind 33%. Unsere Kampagne war die einzige, die lokale Fragen mit weitergehenden politischen Forderungen verbunden hat, nach einem Mindestlohn, einem öffentlichen Pensionssystem und einer geregelten Arbeitszeit, die in Hongkong völlig fehlt. Ein zentraler Teil der Kampagne war es, zu zeigen, dass die Politik der BPA gegen die ArbeiterInnenklasse gerichtet ist. Die BPA ist die offizielle Oppositionspartei, sie ist nicht in Opposition zum Kurs von Peking und orientiert sich an Wirtschaftsinteressen. Socialist Action hat in weniger als sechs Wochen an 7.500 Wahlberechtigte mehr als 40.000 Flugblätter verteilt. Es gab auch Flugis in Englisch, Urdu und Tagalog. Wir gingen von Wohnungstür zu Wohnungstür und haben mit den Menschen gesprochen, bei manchen Türen waren wir mehr als einmal. Am Tag der Wahl hatten wir 49 Freiwillige in Aktion, die Hälfte davon war zum ersten Mal an einer vergleichbaren Kampagne beteiligt.

Wir hatten auch UnterstützerInnen unter den Flüchtlingen, mit denen wir in der Flüchtlingsbewegung aktiv waren. Die Flüchtlingsproteste waren Teil eines Internationalen Aktionstages vom 12. September, auf der Demonstration waren ca. 300 Menschen. Wir haben diese Demonstration gemeinsam mit der Flüchtlingsgewerkschaft organisiert, mit der wir in Flüchtlingsfragen zusammenarbeiten. Diese Proteste erzielten einen Sieg in Bezug auf die Frage von Verpflegung. Das war das Resultat von einem Jahr Kampf inklusive einer 200 Tage andauernden Besetzung. Seit Ende Mai erhalten Flüchtlinge Gutscheine, um Essen im Supermarkt kaufen zu können, anstatt Essenspakete in speziellen Shops abholen zu müssen. Dadurch haben sie mehr Auswahl und bessere Qualität der Nahrungsmittel. Es ist ein wichtiger Sieg, da er zeigt, dass es möglich ist, Zugeständnisse von der Regierung zu erkämpfen. Die Flüchtlinge durften zwar nicht wählen und haben in Hongkong faktisch keine Rechte. Viele waren dennoch in unserer Wahlkampagne aktiv und spielten eine Schlüsselrolle darin, die Flugblätter an die einzelnen Haushalte zu verteilen.

Es gibt durchaus die Perspektive, dass die Demokratiebewegung wieder aufflammen kann. Die „Copyright Bill 2014" erregt einiges an Unmut: Die Regierung und die großen Konzerne wollen ihre Kontrolle über das Internet verschärfen. Das würde bedeuten, dass die Regierung das Urheberrechtsgesetz benutzen kann, um Anti-Regierungs-Satire etc. im Internet zu kriminalisieren. Es gibt nicht wirklich Widerstand von Seiten der bürgerlichen Opposition. Aber es gab Versammlungen außerhalb des Parlaments gegen das Gesetz. Organisiert wurden sie von einer Gruppe junger NetzaktivistInnen, die auch eine "Reform" des Gesetzes verlangen (in Richtung US/EU Urheberrecht). Wir sind die einzigen, die das Monopol an Urheberrechten durch die großen Konzerne kritisieren und einen Fall des Gesetzes fordern. Die starke Opposition gegen das Gesetz zeigt, dass die Leute noch sehr wütend auf die Regierung sind und ihr nicht trauen. Aber damit echte Demokratie erkämpft werden kann, sind folgende Punkte nötig: Eine eventuell erneute Bewegung braucht demokratische Strukturen, um die Führung nicht der bürgerlichen Opposition zu überlassen. Der zweite Punkt ist, dass es nötig ist, die Bewegung mit den Protesten und Streiks in China zu verbinden. 2015 gab es in Festland-China doppelt so viele Streiks wie 2014. Das Regime in China verstärkt die Repression, aber das ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke. Echte Demokratie ist in Hong Kong alleine nicht zu erkämpfen. Und der dritte Punkt, den wir einbringen, ist die soziale Ebene – es ist nötig, ein Programm zu haben, das die ArbeiterInnenklasse anspricht und organisiert in die Proteste einbindet. Denn die Frage von Demokratie ist noch lange nicht gelöst – aber die sozialen Probleme genausowenig.

 

http://www.socialism.hk

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Rechtsruck in Polen

Aber auch neue linke Kraft gestärkt
Sebastian Förster, Dortmund

Die konservativ-rechtspopulistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hat nach ihrem erdrutschartigen Wahlsieg keine Zeit verschwendet um ihre Macht auszubauen. Quasi über Nacht werden politische Gegner aus Medien, dem Staatsapparat und Verfassungsgericht entfernt und die Verfassung umgeschrieben.

Gleichzeitig setzen PiS-Vertreter in zunehmendem Maß auf Nationalismus und Rassismus. Kritische Stimmen sprechen angesichts dieser Ereignisse bereits von einer “Orbánisierung” – also einer Entwicklung wie im von Viktor Orbán autoritär regierten Ungarn.

Dagegen regt sich jetzt Widerstand. Erstmals besteht mit der neuen linken Partei „Razem“ auch wieder ein Ansatz für eine glaubwürdige linke Opposition gegen die Herrschenden.

Es passt in das Bild eines Europas der zunehmenden Polarisierung und Stärkung von linken und rechten Kräften. Die polnischen Parlamentswahlen am 25. Oktober 2015 waren eine Abrechnung mit dem Establishment. Nicht nur ist da Ergebnis ein Ausdruck tiefliegender Unzufriedenheit in der Gesellschaft, sondern auch von einer zunehmenden Entfremdung gegenüber dem parteipolitischen Geschehen. Letzteres spiegelt sich vor allem in der niedrigen Wahlbeteiligung von 51,6 Prozent wider. Auch wenn somit gerade mal ein Fünftel der Wahlberechtigten bei PiS ihr Kreuzchen gemacht haben, so gehen rechte und reaktionäre Kräfte doch als eindeutige Gewinner aus den Wahlen hervor.

Nach zwei Regierungsperioden wurde die konservative Koalition aus „Bürgerplattform“ (PO) und der Bauernpartei PSL bei den Wahlen aus dem Amt gejagt. Eindeutiger hätte das Ergebnis nicht sein können. So verlor die Bürgerplattform im Vergleich zu den Wahlen 2011 über 15 Prozent der Stimmen, während die weiter rechts stehende PiS im Sejm, dem polnischen Parlament, die absolute Mehrheit gewinnen konnte. „Recht und Gerechtigkeit“ befindet sich im Prozess der Wandlung von einer nationalkonservativen zu einer rechtspopulistischen Partei und hatte es geschafft, den Wahlkampf aufzumischen und zu polarisieren.

Eine herbe Niederlage einfahren musste auch die sozialdemokratische SLD und ihr Wahlbündnis ZL. Dieses scheiterte an der Acht-Prozent-Hürde und hatte über zehn Prozent Stimmeneinbußen zu verzeichnen. Damit ist die SLD das erste Mal seit 1991 nicht mehr im Parlament vertreten.

Die jahrelange neoliberale Kürzungs- und Privatisierungspolitik der Bürgerplattform und Sozialdemokratie und ihre zahlreichen politischen Skandale fielen am Wahltag diesen schwer auf die Füße. Die SLD konnte seit 1991 bereits in vier Regierungen den Ministerpräsidenten stellen, die PO in den letzten beiden Legislaturperioden. Dass diese beiden Parteien nach dem Wahltag irgendetwas anders machen würden, glaubte anscheinend kaum noch jemand.

Bemerkenswert dagegen ist, dass fast 25 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen an Parteien gingen, die erst im Wahljahr neu gegründet wurden – darunter Razem mit 3,6 Prozent und die rechtspopulistische Formation „Kukiz’15“ um den Rockmusiker Paweł Kukiz mit 8,8 Prozent. Auch PiS versuchte vor allem auf neue Gesichter und eine radikale Rhetorik zu setzen.

PiS und die soziale Frage

Der rasante Stimmenzuwachs von PiS und das Erstarken neuer Parteien haben unterschiedliche Gründe. Eine besondere Rolle spielte jedoch der Unmut unter Beschäftigten, Jugendlichen und Erwerbslosen gegen die unsoziale Rotstift-Politik der PO/PSL-Koalition. Diese Stimmung gipfelte in den zahlreichen Protestbewegungen, die es in den Monaten vor der Wahl gegen die polnische Regierung gegeben hatte.

Vor den Wahlen fanden wöchentliche Proteste von Tausenden in Warschau gegen die damalige PO/PSL-Regierung statt. Geprägt waren sie vor allem durch die Arbeitskämpfe von Krankenschwestern und Bergarbeitern, die schon bald von LehrerInnen, Beschäftigten der Feuerwehr und anderen Berufsgruppen unterstützt wurden. Nicht nur Lohnforderungen der einzelnen Branchen spielten hier eine Rolle, sondern auch beispielsweise die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die die Regierung zuvor durchgedrückt hatte.

Die Führung der größten polnischen Gewerkschaft Solidarność (zu deutsch “Solidarität”) schlug hier allerdings keine Strategie vor, wie die unterschiedlichen Kämpfe zur Durchsetzung der aufgestellten Forderungen verbunden werden könnten. Stattdessen sollte die Wut darauf gelenkt werden, bei den anstehenden Parlamentswahlen die Herrschenden abzustrafen und PiS als Alternative zu der neoliberalen Agenda der PO und PSL zu wählen.

Doch damit nicht genug. Solidarność unterstüzte im Wahlkampf offiziell PiS-Kandidaten (und in eingen Fällen sogar Repräsentanten von Kukiz’15).

Die Verbindung zwischen PiS und Solidarność ist nicht über Nacht entstanden, sondern geht auch darauf zurück, dass die Vorgängerpartei Zentrumsallianz 1990 aus der Gewerkschaft entstanden ist und immer wieder PiS-Vertreter aus dem Solidarność-Apparat aufgestellt wurden.

Trotzdem hat der “soziale” Populismus von PiS im Wahlkampf eine neue Stufe erreicht. So versprach PiS nach der Wahl die Forderungen der Streikenden zu unterstützen. Auch eine Erhöhung des Mindestlohns sowie Rückkehr zum Renteneintrittsalter von 65 Jahren für Männer und 60 Jahren für Frauen wurde in Aussicht gestellt, eine Kindergelderhöhung und die Erhaltung aller Arbeitsplätze im defizitären polnischen Bergbau. Finanziert werden sollten diese Versprechungen unter Anderem mit einer Bankensteuer.

PiS wird vermutlich einen Teil der Wahlversprechen erfüllen müssen, wenn auch abgeschwächt oder in Form einer Mogelpackung. Eine solche ist die bereits neu eingeführte „Banken-Steuer“, die größtenteils auf die normalen Bankkunden abgewälzt wurde. In der Tendenz ist aber zu erwarten, dass die Kürzungs- und Privatisierungspolitik der vergangenen Jahre fortgesetzt wird.

Alleine die Ernennung von Pawel Szalamacha, ein auf Firmen-Privatisierungen spezialisierter Anwalt als Finanzminister ist ein Wetterleuchten. Der stellvertretende Ministerpräsident Mateusz Morawiecki war zuvor Chef der drittgrößten Bank des Landes, der zur spanischen Santander gehörenden BZ WBK. (1)

Viel mehr zu befürchten haben die Bankhäuser in Polen nicht. Ökonomisch könnte PiS eine Politik der quantitativen Lockerung verfolgen, um mehr Geld in die Banken zu pumpen damit diese weiter auf spekulative Geschäfte setzen.

Als PiS vor zehn Jahren an der Macht war, musste auch sie schnell den Widerstand der vor dem Parlamentsgebäude campierende Krankenschwestern spüren, die in ihren Protesten bald schon von KollegInnen aus dem öffentlichen Nahverkehr, dem Bergbau und der Stahlindustrie unterstützt worden.

Ähnlich könnte sich die Situation auch schon 2016 entwickeln. Schon behaupten PiS-Vertreter, es sei kein Geld da für soziale Verbesserungen weil die vorhergehende Regierungskoalition ein riesiges Loch in der Staatskasse gerissen hat und es keine Weg gebe, diese auszugleichen.

Dann könnte auch die “Teile-und-Herrsche”-Politik als Ablenkungsmanöver forciert und mehr auf Nationalismus, Rassismus und Anti-Feminismus gesetzt werden.

Reaktionäre Hetze

Die Sozialproteste waren nicht das einzige gesellschaftliche Thema, dass PiS versuchte für sich auszuschlachten. Auf demagogische Art und Weise setzen ihre Vertreter auf die rassistische Karte und machen Stimmung gegen MigrantInnen und Geflüchtete.

Mit der Zunahme der Zahl der nach Europa Flüchtenden verschärfte PiS im Sommer 2015 den Ton. So agitierte der PiS-Vorsitzende und heimliche Strippenzieher in der Partei, Jarosław Kaczyński, bei Wahlveranstaltungen scharf gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Diese würden Krankheiten wie Cholera und Ruhr sowie “alle Arten von Parasiten und Bakterien, die in den Organismen dieser Menschen harmlos sind” (für Polen aber gefährlich) ins Land bringen. (2)

Ins gleiche Horn bließ Paweł Kukiz, der angesichts der Ankündigung der ehemaligen PSL/PO-Regierung 7.000 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufzunehmen bereits eine drohende „Vernichtung des Polentums“ kommen sah, sollten „fremde Nationen“ im Land angesiedelt werden. (3)

In dessen Fraktion sitzen jetzt auch faschistische Kräfte der “Nationalen Bewegung” und der “Allpolnischen Jugend”, die den alljährlich stattfindenden “Unabhängigkeitsmarsch” durch Warschau mitorganisieren. Der Staatspräsident, der zur PiS-Partei gehördende Andrzej Duda, war sich 2015 nicht zu schade, dort ein Grußwort zu halten.

Tragisch ist allerdings, dass es den Rechten teilweise tatsächlich gelingt, Angst vor Überfremdung aufzubauen und damit breitere gesellschaftlichen Schichten zu erreichen. Immer wieder finden rassistische Proteste auf der Straße statt, die von den rechten Parteien angeheizt werden.

Eine weitere Baustelle ist die Hetze gegen die sogenannte “Gender-Politik”. Alles was irgendwie mit Gleichberechtigung und Feminismus zu tun haben könnte, wie das Recht auf Abtreibung, wird verteufelt. Flankiert wird PiS dabei von der polnischen Kirche, die im Wahlkampf ebenfalls auf die Partei gesetzt hat. Wer die polnische Kirche auf seiner Seite weiß, hat deutlich mehr Chancen seinen Einfluss zu vergrößern – sind doch immerhin 87 Prozent der Polen katholisch.

Hinzu kommt ein Erstarken des polnischen Nationalismus. Anknüpfen können die PiS-Strategen dabei an die historische Unterdrückung Polens und das große Leid, das die Polen in den letzten Jahrhunderten durch Krieg und Besetzung erfahren mussten. Anstatt diese Erfahrungen jedoch mit einer friedenspolitischen Ausrichtung zu verbinden, wird eine reaktionäre nationalistische Propaganda benutzt, die zum Teil obskure Formen annimmt.

So werden die Ereignisse rund um den Absturz eines polnischen Flugzeugzeugs von Parteichef Jarosław Kaczyński immer wieder zum Anlass genommen, Verschwörungstheorien zu spinnen. Bei dem Unglück über Smolensk 2010 starb neben anderen hochrangigen Politikern auch sein Bruder Lech, der zu diesem Zeitpunkt Regierungspräsident war. Hierbei soll es sich entgegen der Faktenlage nicht um einen Unfall, sondern um einen gezielten Terroranschlag der russischen Regierung gehandelt haben.

Die scharfe Rhetorik gegen Russland wird zusätzlich befeuert durch die Ukrainekrise und teilweise auch mit kriegerischen Drohgebärden verbunden.

Forciert wird auch eine Hetze gegen Deutschland und die EU. Nicht wegen dem undemokratischen Kürzungsdiktat in von der Krise betroffenen Ländern wie Griechenland, sondern aktuell vor allem wegen der Aufnahme von Geflüchteten.

PiS scheint stärker als ihre Vorgängerregierungen an den USA orientieren zu wollen – die Verbindung zu der rechten Regierung Viktor Orbáns wird aber durch Kaczyńskis politischen Kurs ebenfalls enger. So traf sich der Parteivorsitzende von PiS im Januar 2016 heimlich mit Ungarns Staatsoberhaupt in den polnischen Bergen, um sich für einen gemeinsamen Kurs in der EU abzustimmen. (4)

Ungarische Verhältnisse?

Quasi vom ersten Tag der Machtübernahme an hat hat PiS gezeigt, in welche Richtung es gehen soll. Die neue Regierung verliert keine Zeit, sich politische Gegner vom Hals schaffen und das Land zu einem autoritäreren Staat umbauen.

Programmatisch wird sich an einem „nationalen Kapitalismus“ nach dem Vorbild Ungarns orientiert. Erklärtes Vorbild von Kaczyński ist der polnische Diktator Josef Pilsudski, der 1926 die “gelenkte Demokratie” entdeckte und dem halbfaschistischen Militärregime von 1935 den Weg frei machte. Auch wenn sich Kaczyński von der Idee einer neuen polnischen Diktatur distanziert, so gefällt ihm das Modell einer „Heilung“ des Landes durch eine „starke Hand“. (5)

Dabei will die Partei auch am Bildungssystem nicht Halt machen. So soll in Schulbüchern im Sinne einer „patriotischen Erziehung“ die Geschichte Polens umgeschrieben werden.

Maßnahmen, die bereits getroffen wurden betrafen unter anderem das auf dem Papier noch öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio, das auf eine regierungskonforme Linie gebracht werden soll. Eine kritische Journalistin wurde direkt nach dem Wahlsieg von PiS suspendiert und eine unliebsame Sendung eingestellt. Ein Gesetz für eine verstärkte Kontrolle der Regierung über die staatlichen Sender wurde bereits verabschiedet. Die Direktionsposten der öffentlich-rechtlichen Medien und der staatlichen Nachrichtenagentur werden jetzt vom Schatzminister bestimmt.

Auch in anderen staatlichen Einrichtungen wie Militär, der Polizei, dem Geheimdienst und Anti-Korruptionsbehörden wurden teilweise sprichwörtlich „über Nacht“ Posten ausgetauscht.

Eine Grundlage liefern soll eine Veränderung der Vergabe von leitenden Funktionen im öffentlichen Dienst. Hierdurch soll die Parteibuchwirtschaft offenbar ausgeweitet werden. Die Dienstverhältnisse aller höheren Beamten sollen dreißig Tage nach der Verabschiedung des Gesetzes automatisch auslaufen. Dann ist bei der Neuvergabe der Stellen damit zu rechnen, dass alle leitenden Stellen nach politischen Kriterien durch die Regierung neu besetzt werden.

Da PiS (als erste Partei seit Anfang der Neunziger Jahre) eine Alleinregierung stellen konnte und auch noch eine absolute Parlamentsmehrheit besitzt, ist davon auszugehen, dass auch weitere Maßnahmen durchkommen werden.

Mehr Aufsehen erregt hat allerdings die Initiative zur Entmachtung des Verfassungsgerichts durch PiS. Angeblich um besser die Erhöhung des Kindergelds durchzubekommen, wurden Posten ausgetauscht und über die Weihnachtszeit eine Verfassungsgerichtsreform durchgewinkt. Von der versprochenen Aufstockung des Kindergelds rückt PiS mittlerweile ab, hat dafür aber eine Hürde für den weiteren Umbau des Staats überwunden.

Gegen diese Maßnahmen hatte ein kurzfristig gegründetes „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD) zu landesweiten Protesten aufgerufen, an denen sich Zehntausende beteiligten. Auch wenn sich das Komitee als von Kulturschaffenden gegründete Bürgerbewegung präsentierte, so wurde jedoch deutlich, dass es die Oppositionsparteien PO und SLD sind, die versuchen, bei den Protesten Einfluss zu nehmen.

Tatsächlich hat die vorhergehende Regierung von PO und PSL vor den Wahlen im Herbst aber auch nichts anderes getan, als ihr genehme Verfassungsrichter zu ernennen. PiS hat diese dann wieder abgesetzt und die Verfassungsgerichtsreform durchgeboxt.

Die neue linke Partei Razem hatte eigene Demos gegen PiS organisiert, um unabhängig von den etablierten Kräften daraufhin zu weisen, was täglich an Unrecht passiert und das es notwendig ist, den Kampf gegen Kaczyński und Co. mit dem Kampf für soziale Verbesserungen zu verbinden.

Alternatywa Socjalistyczna, die Schwesterorganisation der SAV in Polen, hatte richtigerweise darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Streit um das Verfassungsgericht um einen Streit zwischen zwei Fraktionen der herrschenden Klasse handelt und es nicht wesentlich ist, ob nun PiS- oder PO-genehme Verfassungsrichter dieses Gremium dominieren, das ohnehin keine Hilfe und kein Schutz von Rechten von Mietern, lohnabhängig Beschäftigten und Erwerbslosen ist.

Anzunehmen ist jedenfalls, dass sich abgesehen von den KOD-Demonstrationen auch weitere Proteste an den Regierungsmaßnahmen entzünden werden, die sich unabhängig von der PO organisieren und in denen auch mehr die soziale Frage in den Vordergrund rückt.

Razem

Einen Kontrast zu diesen Entwicklungen nach Rechts stellt die Entwicklung der neuen Partei Razem (zu deutsch „Zusammen“) dar. Die Partei hatte sich als Antwort auf die Krise der politischen Linken im Mai 2015 gegründet.

Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus haben es Linke in Polen alles andere als leicht gehabt. Einen Anteil daran hat auch die sozialdemokratische SLD – der „Bund der Demokratischen Linken“. Vorgänger der SLD ist die ehemalige regierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei PZPR. Nicht nur, dass die PZPR durch ihre repressive Herrschaft das Bild einer sozialistischen Gesellschaft schwer beschädigt hat. Auch die SLD, die von den Medien noch immer dem linken Spektrum zugeordnet wird, hat in der Regierungsverantwortung entgegen ihrer Wahlversprechen eine scharf pro-kapitalistische und neoliberale Politik verfolgt und war in zahlreiche Korruptionsskandale verstrickt. Seitdem ging es mit der SLD stark abwärts. In dem Wahlbündnis „Vereinigte Linke“ hat sie bei den Parlamentswahlen 2015 das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren.

Dagegen befindet sich Razem im Aufwind. Nur drei Monate nach der Gründung zählte die Partei schon 6.000 Mitglieder. Hier sticht hervor, dass es vor allem junge Menschen sind, die sich der Partei angeschlossen haben. Auch wenn Razem es mit dem Achtungserfolg von 3,6 Prozent aus dem Stand nicht ins Parlament geschafft hat, so kann sie jetzt auch von der staatlichen Parteienfinanzierung profitieren.

Im Wahlkampf konzentrierte sich die Razem-Kampagne auf Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung. Gefordert werden unter Anderem eine Erhöhung des Mindestlohns, Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen, die Reduzierung der Arbeitszeit auf eine 35-Stunden-Woche, ein Ende prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die Rücknahme von Privatisierungen und die Schaffung eines staatlichen und sozialen Wohnungsbauprogramm.

Auch versuchten Razem-VertreterInnen die sozialen Versprechungen der PiS als Demagogie zu entlarven, und warnten davor, dass wenn die „soziale Frustration“ nicht „geheilt“ würde, dass auch ein weiteres Erstarken von Faschisten zur Folge haben könnte. (6)

Bei einer TV-Debatte gewann der Warschauer Spitzenkandidat Adrian Zandberg nur wenige Tage vor der Parlamentswahl mit seinen inhaltlichen Positionen eine Abstimmung unter den ZuschauerInnen gegen die KandidatInnen der anderen Parteien, was Razem einen größeren Bekanntheitsgrad verschaffte.

Inhaltlich orientiert sich die neue linke Partei an der spanischen Podemos. So gleicht nicht nur das Erscheinungsbild des violetten Parteilogos und die Wortwahl von Razem-Vertretern stark dem spanischen Vorbild. Razem wirbt ebenfalls mit einem neuen unkonventionellen und „basisdemokratischen“ Organisationskonzept und hat Wurzeln in sozialen Bewegungen. Auch schürt Razem Illusionen in einen „sozialeren Kapitalismus“. Dabei sprechen Razem-VertreterInnen von dem „skandinavischen Modell“, verschweigen aber, das dieses in den letzten beiden Jahrzehnten in den nordischen Ländern vollständig abgebaut wurde. Kritikwürdig ist auch, dass Razem einen positiven Bezug zur EU hat, obwohl, wie am Beispiel Griechenlands jüngst noch einmal verdeutlicht wurde, diese einen eindeutig undemokratischen und neoliberalen Charakter hat.

Allerdings gibt es unter den Razem-Mitgliedern auch Raum über weitergehende politische Ideen zu diskutieren. So hat die Schwesternorganisation der SLP sich in Diskussionen der Partei eingebracht. Alternatywa Socjalistyczna hatte nach den Wahlen das größtes Treffen in Geschichte der Organisation zu den Lehren der Russischen Revolution von 1905. Die Veranstaltung wurde vor allem von vielen Gästen aus dem Umfeld von Razem besucht.

Viel wird daran liegen, ob es Razem gelingt, die gesellschaftliche Wut auf die Kürzungen konstruktiv aufzugreifen und dabei bestehende und noch zu erwartende Protestbewegungen nach vorne zu bringen. Notwendig ist auch in Polen eine Arbeiterpartei, die sich unter Lohnabhängigen, Jugendlichen und Erwerbslosen verankert und als Kraft angesehen wird, die bestehenden Verhältnisse grundlegend zu verändern. Dabei stellt sich auch die Frage eines Programms für eine Gesellschaft, in der der vorhandene Reichtum statt für die Steigerung der Profite einiger Weniger im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung eingesetzt wird. Das kann letztlich nur gewährleistet sein, wenn im Sinne einer sozialistischen Wirtschaft die Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum in demokratischer Kontrolle und Verwaltung überführt werden.

 


(1) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Kabinett_Szydło

(2)http://http://niezalezna.pl/70962-kaczynski-o-przyjeciu-uchodzcow-pis-uwaza-ze-rzad-nie-ma-prawa-do-podejmowania-takiej-decyzji

(3)http://http://www.deutschlandfunk.de/polen-vor-der-parlamentswahl-rechte-im-aufwind.724.de.html?dram:article_id=334759

(4) http://www.tagesspiegel.de/politik/polen-und-ungarn-wie-sich-orban-und-kaczynski-gegen-fluechtlinge-verbuenden/12804484.html

(5) http://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsstaat-alte-rechnung-mit-den-richtern-1.2782219

(6) junge Welt, 21.12.2015

Schönwetterprojekt EU vor dem Aus?

Tilman M. Ruster

Mit der Wirtschaftskrise geriet die EU selbst in die Krise. Doch noch einmal zeigt die EU, wozu sie wirklich gut ist: Zum Durchdrücken von Wirtschaftsinteressen. Banken und Konzerne verstecken sich hinter EU und Euro, um absurde Schulden, z.B. aus Griechenland, selbst gegen den Willen der dortigen Regierungen, einzutreiben.

Der Flüchtlingsstrom bringt die EU jetzt noch mehr ins Schwanken. Mit dem Dublin III-Abkommen sollten Flüchtlinge spätestens in den ärmeren südeuropäischen Ländern aufgehalten werden. Dass dieses Abkommen zurzeit nicht funktioniert ist gut für Flüchtlinge, zeigt aber die politische Krise, in der die EU steckt. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise stehen die verschiedenen herrschenden Klassen verstärkt in Konkurrenz um die kleiner werdenden Märkte. Die in Zeiten von Wachstum überdeckten Widersprüche brechen auf. Vor 2008 agierten die EU-Staaten stärker als Partner bei der Durchsetzung von gemeinsamen Kapitalinteressen außerhalb der EU oder gegen die ArbeiterInnen in der EU. Davon profitierten auch die Herrschenden in den ärmeren/schwächeren Ländern. Mit der Krise wurde die EU immer mehr ein Instrument der starken Staaten und ihrer herrschenden Klassen gegen die Schwächeren. Die Schließungen von Grenzen (gegen geltendes EU-Recht) gegen Flüchtlinge spiegelt die Zerrissenheit der EU und die unterschiedlichen Interessen wieder.

Doch während einerseits die EU zerfällt, arbeitet sie nach außen verstärkt militärisch zusammen. Gegen den IS oder Putin haben die Herrschenden gemeinsame Interessen. Spätestens wenn es um den lukrativen Wiederaufbau Syriens oder den Zugang zu russischem Gas geht werden diese Spannungen aber wieder aufleben.

Eine (Teil-) Auflösung der EU käme für MarxistInnen nicht überraschend. Denn der Kapitalismus kann – gerade wegen seiner Krisenhaftigkeit – die Nationalstaaten nicht überwinden. Wenn die Union der Herrschenden zerbricht bedeutet das aber keine automatische Verbesserung für die ArbeiterInnen Europas. Die nationalistischen „Lösungen“ der letzten Jahren brachten keine Verbesserungen - im Gegenteil. Wir brauchen eine neue Union, eine der ArbeiterInnen, geformt aus dem Widerstand. Wir brauchen die vereinigten sozialistischen Staaten von Europa!

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Nach Paris: Staaten machen mobil

Herrschende nützen Terror: Als Antwort auf Paris rüstet Staat gegen ArbeiterInnenklasse auf
Laura Rafetseder

Die Herrschenden haben eine unbestechliche Logik: Beim Terror von Paris sterben ArbeiterInnen letztlich auch aufgrund der imperialistischen Politik der Herrschenden und ihres staatlichen Rassismus. Darum werden Anti-Terrorgesetze gegen ArbeiterInnen eingesetzt; wird gegen migrantische ArbeiterInnen gehetzt; werden militärische Aktionen im Nahen Osten verstärkt, die wieder ArbeiterInnen treffen – und die Terrorgefahr erhöhen. Der Staat wird weiter aufgerüstet – und das Tempo ist enorm. Netter Nebeneffekt des Staatsnotstands und der Ausgangssperre in Frankreich war, dass für die fragliche Zeit angekündigte Streiks in Pariser Spitälern und bei Air France sowie Soli-Demos unterbunden wurden. In Belgien wurde eine linke Veranstaltung über Syrien verboten. Demokratische Rechte werden in ganz Europa weiter beschnitten. Denn der eigentliche Hintergrund für die interne und externe Aufrüstung ist, dass die Herrschenden aufgrund der Krise die Zunahme von Klassenkämpfen und Massenprotesten fürchten. Sie haben Angst vor Widerstand im eigenen Land. Darum wird die ein Feindbild aufgebaut, um von sich selbst abzulenken. Aber die Welt wird durch Überwachung, Aufrüstung, Rassismus und Militäreinsätze nicht sicherer – im Gegenteil! So wächst die Kriegsgefahr auch in Europa, die wiederum als Argument für Aufrüstung herhält – ein Teufelskreis. Das einzige Gegenmittel ist, wovor die Herrschenden am meisten Angst haben: Klassenkampf und (internationale) Solidarität!

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Internationale Notizen - Hongkong/Chile/Irland

33% für Sozialistin in Hongkong

Mit einer energischen Kampagne erreichte die Sozialistin Sally Tang Mei-ching in Pak Tin, dem ärmsten Bezirk von Hongkong, 1.152 Stimmen (33%). Sally, die zum ersten Mal antrat, ist Mitglied der Socialist Action (CWI in Hongkong, Taiwan und China) und war zentral aktiv in der „Regenbogenbewegung“ 2014 als Zehntausende gegen das undemokratische Vorgehen der Diktatur in Peking demonstrierten. Socialist Action fordert den Sturz der Diktatur in China sowie der kapitalistischen Bonzen in Hongkong, aber auch die Beschränkung und Kontrolle von Mieten sowie eine 40-Stunden-Woche. Trotz Hürden durch das undemokratische System und eine Verleumdungskampagne gegen Sally, die als „brutale Sozialistin“ bezeichnet wurde, war die Kampagne ein Grundstein für den Aufbau einer sozialistischen Alternative.

http://chinaworker.info

 

Polizeigewalt gegen Sozialisten in Chile

Obwohl die Diktatur in Chile offiziell seit über 25 Jahre vorbei ist, bleibt ihr Apparat intakt. Das bekam im November ein 15-jähriges Mitglied von Socialismo Revolucionario (CWI in Chile) zu spüren. Nach seiner Verhaftung wegen einer „verdächtigen Tasche“ (seiner Schultasche!) wurde er von mehreren Polizisten brutal geschlagen und gefoltert. Die Polizei meinte, das wäre wegen seiner Teilnahme an Protesten, er solle künftig „lieber zu Hause bleiben“. Polizeigewalt bedroht in Chile Proteste von ArbeiterInnen, Studierenden und Indigenen, vor allem junge Frauen sind sexuellen Übergriffen durch „Sicherheitskräfte“ ausgesetzt. Nur eine Massenbewegung kann Folter und Polizeigewalt in Chile beenden – SR bereitet daher eine Kampagne gegen Repression vor.

http://revistasocialismorevolucionario.blogspot.com

 

Irischer Bus für Frauenrechte

Das Abtreibungsverbot zwingt jährlich Tausende Irinnen zu teuren Abtreibungen im Ausland und gefährlichen illegalen Abbrüchen. Die Frauenorganisation ROSA organisiert daher mit Ruth Coppinger (Parlamentsabgeordnete Socialist Party, CWI in Irland) den „Abtreibungspillenbus“, der Informationen über Abtreibungen und die Abtreibungspille verteilt, die gefahrlose Abtreibungen ermöglicht.

http://socialistparty.ie

 

 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Italien: SchülerInnenproteste

Vorwärts sprach mit Giuliano Brunetti von Controcorrente (italienische Schwesterorganisation der SLP)
Giuliano Brunetti

Was war der Hintergrund der Proteste?

Renzis „Bildungsreform“ verpflichtet SchülerInnen technischer und berufsorientierter Schulen dazu, 400 Stunden/Jahr gratis zu arbeiten, um ihren Abschluss zu bekommen. Interessensvertretungen von SchülerInnen und Beschäftigten sollen fast völlig abgeschafft werden.

Welche Rolle hat Controcorrente und die Jugendkampagne Resistenze Internazionali gespielt?

Der Protest in Genua am 17. November wurde komplett von uns organisiert. Das ist auch das Ergebnis des Bankrotts der traditionellen SchülerInnenorganisationen, die sich weigerten, irgendeine Form von organisiertem Kampf aufzunehmen. In den letzten Monaten haben wir mit Flyern und Plakaten ein Netzwerk von AktivistInnen an Schulen aufgebaut. Die Demo war erfolgreich, kämpferisch und inhaltlich radikal. Die Teilnahme wurde jedoch etwas durch die Niederlagen der letzten Jahre geschwächt.

Wie kann es jetzt weiter gehen?

Die Bildungsreform wurde gegen den Widerstand der SchülerInnen und LehrerInnen durchgesetzt. Die SchülerInnenbewegung ist leider insgesamt schwach und desorientiert. Wir brauchen Aktionsgruppen in jeder Schule. Auch wenn diese anfangs nur aus 2-3 Leuten bestehen, können sie sich vernetzen. So kann eine neue Generation entstehen, die die künftigen Proteste gegen die kapitalistische Kürzungspolitik tragen wird.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

USA: Sozialistische Stadtätin wiedergewählt

Kshama Sawants Wiederwahl spiegelt Wut und Potential der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse wieder
Jess Spear, Socialist Alternative Seattle

Niemand in Seattle hat dem politischen Establishment in den letzten zwei Jahren mehr Kopfschmerzen bereitet als Kshama Sawant. Nun wurde sie mit 57% wiedergewählt – das bedeutet vier weitere Jahre Vertretung der Interessen der ArbeiterInnenklasse im Stadtrat.

In ihrer ersten Rede im Stadtrat im Jänner 2014 erklärte sie: „Ich trage den Titel ‚Sozialistin‘ mit Stolz“ und versprach: „Es wird keine Deals hinter verschlossenen Türen mit Unternehmen oder ihren politischen Marionetten geben. Es wird keinen Ausverkauf der Leute geben, die ich repräsentiere.“

Und Kshama blieb dabei. Ihr Büro wurde zu einem Zentrum des Widerstands von ArbeiterInnen, MieterInnen, Nicht-Weißen, LGBTQ-Personen, MigrantInnen und der indigenen Bevölkerung. Kshama drückte die politische Debatte in Seattle nach links. Ihr Slogan „Seattle leistbar machen“ verbreitete sich rasend. Trotzdem wurde sie im Stadtrat immer wieder von der „demokratischen“ Mehrheit blockiert, die eng an die Banken und Konzerne gebunden ist. Deswegen hat Kshama immer wieder betont, dass das, was im Stadtrat gewonnen werden kann, größtenteils von der Stärke der Bewegungen außerhalb abhängt – und alles ihr Mögliche getan, um diese Bewegungen mit aufzubauen.

Wir von Socialist Alternative organisierten gemeinsam mit Kshama ein Meeting für leistbares Wohnen im Rathaus. Der Saal war voll, ebenso der Zusatzsaal und der Zusatzsaal für den Zusatzsaal. 600 Menschen kamen, um über ihre Erfahrungen mit Mieterhöhungen von 50-100% zu reden. Wir organisierten eine Debatte über Mietendeckelung gegen einen Republikaner und einen Immo-Lobbyisten, zu der 1.000 Menschen kamen. Kshama und Socialist Alternative haben die Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt und Menschen aktiviert. Als die LehrerInnen gestreikt haben, waren wir dort – jeden Morgen an den Streikposten. So haben wir gemeinsam mit tausenden PädagogInnen für die Ausfinanzierung der Bildung auf Kosten der Reichen gekämpft. Vom Lostreten der Bewegung für einen $15-Mindestlohn über den Aufbau des Widerstands von MieterInnen, vom Zurückdrängen von Gewalt gegen LGBTQ-Personen bis zum Erlangen des „Tags der indigenen Bevölkerung“, machten Kshama und unsere Basisarbeit einen entscheidenden Unterschied.

Die Erfahrung der letzten zwei Jahre in Seattle birgt wertvolle Lehren für SozialistInnen und ArbeiterInnen überall. Kshama wäre die erste, die sagen würde, dass der entscheidende Faktor in Seattle die Existenz einer organisierten sozialistischen Bewegung, besonders Socialist Alternative, war. Wir haben Kshama wichtige politische Unterstützung gegeben, um mit dem Druck umzugehen, gleichzeitig im Stadtrat zu sein und Bewegungen aufzubauen. Gemeinsam konnten wir die wachsende Wut über Ungleichheit, Mietenwahn und abgehobene Politik in eine Bewegung leiten, die sich auf ihre eigene Stärke, Organisationen und Ressourcen stützt.

Als es im November 2015 um die Wiederwahl ging, unterstützten uns über 600 Freiwillige, mehr als 30 Gewerkschaften und Dutzende fortschrittliche Organisationen gegen unsere Gegnerin von den Demokraten. Diese hatte Bosse, die Handelskammer, die Immobilien-Lobby, die Vermieter-Lobby, Amazon.com, Miethaie, sechs konservative StadträtInnen und sogar einige republikanische MillionärInnen hinter sich.

Gegen diese gewaltige Opposition des Establishments, ihre prall gefüllten Konten und ihre Schmutzkübelkampagnen bauten wir eine machtvolle Bewegung von unten auf. Wir klopften an 90.000 Türen und machten 170.000 Anrufe. Wir sprachen mit tausenden Menschen über leistbares Wohnen, Ungleichheit, Reichensteuern und Politik für die ArbeiterInnenklasse. Es war eine zuvor in Seattle nie dagewesene Kampagne von unten. Wir haben die Spendenrekorde gebrochen und das große Geld besiegt. Wir bekamen knapp $500.000 von 3.500 EinzelspenderInnen – die meisten im gesamten Stadtratswahlkampf. Die Durchschnittshöhe der Spenden lag bei $50 (ca. 47 Euro).

Die Möglichkeiten, die sozialistische Bewegung in den USA aufzubauen werden immer größer. Der Kapitalismus hat der ArbeiterInnenklasse nichts zu bieten. Die Menschen haben die Nase voll vom Establishment der Banken und Konzerne. Die Bewegung für einen $15-Mindestlohn hat im ganzen Land wichtige Erfolge errungen. Studierende beginnen, gegen die enormen Bildungskosten zu kämpfen. Eine ganze neue Generation wächst aus der antirassistischen Black Lives Matter- Bewegung. Die Kandidatur von Bernie Sanders trat eine riesige Welle los, die das wachsende Interesse an sozialistischen Ideen zeigt. Die Lehren aus Seattle werden kostbar für all jene sein, die sich nun antikapitalistischen und sozialistischen Ideen zuwenden.

 

http://www.socialistalternative.org

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Syriens Desaster fordert globale Antikriegs-Bewegung

Welche Zukunft hat der Nahe Osten in einem Kapitalismus, der nur mehr Horror produziert?
Franz Neuhold

In der öffentlichen Debatte zu Syrien wechseln Ohnmacht und Zynismus. So titelt 'Die Zeit': „Syrien ist nicht mehr zu retten“. Die Darstellung des Nahen Ostens ist geprägt von imperialistischer Überheblichkeit und rassistischen Klischees über „un-moderne“ AraberInnen. Dabei sind gerade die Interventionen des Imperialismus verantwortlich für die Katastrophen. Die französische Herrschaft führte in den 1920ern zur Aufsplittung entlang ethnischer und konfessioneller Linien in fünf Rumpfstaaten. Teile und herrsche! Der Unabhängigkeit 1946 folgten Aufschwung in der Textilindustrie und Wachstum der ArbeiterInnenklasse. Starke Gewerkschaften erkämpften mit beachtlichem Tempo den 8h-Tag. Auch prägten soziale Konflikte die Landwirtschaft. Die Lage war explosiv, die Sowjetunion nach dem Weltkrieg gestärkt – also unterstützten die USA den Militärputsch gegen die junge Demokratie.

Die bedeutendsten politischen Kräfte Syriens waren Baath-Nationalismus bzw. Kommunistische Partei. Letztere behauptete in stalinistischer Manier „warten“ zu müssen, bis sich bürgerliche Demokratie und Kapitalismus voll entwickelt haben und wurde in Folge bedeutungslos, und die Baath konnte ab den 60ern ihre Herrschaft festigen. Zwar stützte sie sich auf eine Spielart des schiitischen Islam, dennoch spielte Religion in Syrien keine grundsätzlich andere, dominantere, Rolle als in Europa oder Amerika. Jede Lösung im Nahen Osten braucht einen Umgang mit Religion im folgenden Spannungsfeld: Die Verteidigung des Rechts auf freie Religionsausübung, das Recht, Religion abzulehnen und die Notwendigkeit, dass Religion kein Hindernis im Ringen um sozialen Fortschritt sein darf.

Die aktuelle imperialistische Kriegsführung aber verstärkt religiöse Spaltung. Da die Interventionen imperialistischer und regionaler Mächte immer entlang ethnischer/religiöser Grenzen verlaufen, werden die jeweiligen Opfer dem entsprechenden Fanatismus zugetrieben. Mit Bomben, die laufend die Zivilbevölkerung treffen, wird der IS gestärkt, die Elemente von Ernüchterung und Desertion sogar zurückgedrängt.

Vom Imperialismus ist keine Lösung zu erwarten. Der aktuell organisierteste positive Ansatz ist die kurdische PYD und ihre bewaffneten Einheiten, die einen nicht-ethnischen Kampf zu führen. In die militärische Enge getrieben suchte sie aber nicht das Bündnis mit der internationalen ArbeiterInnenbewegung, sondern setzt auf eine Kooperation mit den US-Streitkräften sowie die Unterstützung Assads. Die Gefahr ist, dass bald auch die PYD/YPG von Teilen der sunnitischen Bevölkerung als Teil der ethnisch-geprägten Kriegsführung gesehen wird. Dies könnte wiederum den IS stärken.

Für den Wiederaufbau Syriens braucht es eine multi-ethnische Kraft mit Massenanhang, die den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung zeigt. Das mag auf die Schnelle wenig greifbar klingen, doch kann sich die einzig realistische Chance nur als Folge des Bruchs mit dem Kapitalismus entwickeln. Hier gilt es bei den kämpferischen Traditionen der ArbeiterInnenbewegung in der Region ebenso anzusetzen, wie bei Protesten der jüngsten Zeit: die größten Demonstration seit langem in Afghanistan, die sich gegen den Terror des IS richten. Massenproteste im Libanon, Irak und Kurdistan, die sich ausgehend von sozialen Problemen rasch gegen die korrupten Regierungen richteten und neue Klassenkämpfe in Ägypten. Der Wahlerfolg der linken HDP in der Türkei… Eine neue Welle des arabischen Frühlings ist die beste Grundlage im Kampf gegen den IS.

Und es braucht einen Frieden, der jegliche imperialistischen Ansprüche zurückweist und den Schutz aller Minderheiten umfasst. Eine Voraussetzung dafür ist auch eine internationalistisch ausgerichtete Anti-Kriegs-Bewegung, die genügend Druck auf „ihre“ Regierungen ausüben kann. Der Imperialismus wird diesen Frieden nicht schaffen. Imperialistische Staaten und Konzerne machen Geschäfte mit dem IS und finanzieren ihn so. Die OMV besitzt das größte türkische Öl- und Gasunternehmen, in der Türkei wird ein großer Teil des IS-Öls verkauft. Unternehmen wie die OMV müssen gezwungen werden, die Finanzunterlagen offenzulegen. Falls Geschäfte mit Verbrechern wie dem IS belegt werden, wird die Forderung nach vollständiger Enteignung und Verstaatlichung großen Anklang finden. Bürgerliche PolitikerInnen werden weder die Konten des IS effektiv sperren noch den IS enteignen. Auch dafür braucht es die Kontrolle von VertreterInnen der ArbeiterInnenbewegung. Denn v.a. Gewerkschaften sind gefordert; z.B. mit einer Kampagne gegen Waffenlieferungen und gegen die Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft mit den Regimes in der Region.

Durch Solidaritäts-Arbeit mit den Flüchtenden kann Kontakt mit jenen Menschen aufgenommen werden, die sich, nachdem ihr Überleben in Europa halbwegs gesichert sein wird, für Frieden und gegen die ethnischen Spaltungen einsetzen wollen. Ein jetzt erfolgender Austausch von (sozialistischen) Ideen sowie die gemeinsame Entwicklung einer Strategie von AktivistInnen in Europa und der syrischen Diaspora können zu einem späteren Zeitpunkt in Syrien bzw. den Folgestaaten Goldes wert sein.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Syrien: Eliten führen Krieg für ihre Interessen

Interventionen regionaler und internationaler Mächte verschärften den sektiererischen Bürgerkrieg.
Georg Maier

Seit 2011 tobt in Syrien ein weitgehend sektiererischer, großteils entlang ethnisch-religiöser Bruchlinien geführter, Bürgerkrieg. Das Überschwappen des Konfliktes auf die Nachbarländer und das Entstehen des „Islamischen Staates“ (IS) zeigen ebenso wie die ausländischen Militärinterventionen, dass auf dem syrischen Schauplatz heute einige der großen regionalen und globalen Konflikte ausgetragen werden.

Der syrische Konflikt begann Anfang 2011 als regionaler Aufstand verarmter Teile der Bevölkerung gegen das Regime. Viele hofften, wie in Ägypten und Tunesien, einen Bruch innerhalb des Regimes zu verursachen, der letztlich zum Sturz des Diktators und in Folge demokratischen Spielräume führen würde. Der Grund warum dies in Syrien nicht gelang war nicht – wie rechtsextreme und stalinistische Assad-Fans behaupten – ein vermeintlich säkular-progressiver Charakter des Regimes und daher breitere Unterstützung für dieses, sondern die besondere sektiererisch-kapitalistische Herrschaftskonstruktion des baathistischen Syrien. Die wirtschaftliche Liberalisierung seit den 90ern Jahren hatte eine bürgerliche Schicht hervorgebracht, die durch enge Verbindungen zu Staatsführung und Präsidentenfamilie bemerkenswerten Reichtum angehäuft hatte. Die zweite Stütze des Regimes ist der überdimensionierte Militärapparat – 2010 gingen 25,39% der Staatsausgaben ans Militär; 6,69% der nationalen Arbeitskraft war bei den Streitkräften, eine Quote, die weltweit nur von Irak, Nordkorea und Eritrea übertroffen wurde. Beide hatten kein Interesse an einer Opposition zum Regime.

Für die Masse der Bevölkerung hatte der syrische Neoliberalismus die Zerstörung von Lebensgrundlagen bedeutet. 2007 lebten 35,2% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (+14,49% seit 2004). Für sie war der Kampf um soziale Gerechtigkeit mit jenem um demokratische Rechte aufs engste verbunden. Von Anfang an begegnete der Staatsapparat den Demonstrationen mit Gewalt. Trotz zahlreicher Desertionen auf niedriger Ebene blieb der Apparat intakt. Diesem hatten die RevolutionärInnen wenig entgegenzusetzen. Im schrittweise eskalierenden Bürgerkrieg fand das Assad-Regime Unterstützer in Russland, einem Gläubiger Syriens, und Iran. Für die Diktatur in Teheran ist Assad der wichtigste regionale Verbündete von der es im zunehmend westlich-saudisch dominierten Nahen/Mittleren Osten nicht mehr viele gibt. Ähnliches gilt für Russland, das in gewissem Sinne die alte Partnerschaft des Kalten Krieges weiterführt und sich neben einem Verbündeten in der Region vor allem den direkten Zugang zum Mittelmeer über die Marinebasis in Tartus sichern will.

Nach dem Zerfall des Irak in Folge der vom Imperialismus losgetretenen Kriege war die jahrzehntelange Stabilität der Region Geschichte und die verschiedenen regionalen und internationalen Mächte versuchen sich ihr Stück vom Kuchen zu holen. Die weitgehend zersplitterte Opposition, die ohne konkretem Programm und vollkommen ohne Organisation angetreten war, hatte wenig aufzuweisen. Unabhängige Organisationen der ArbeiterInnenbewegung waren zu schwach, um eine zentrale Rolle zu spielen.

Der westliche Imperialismus verhielt sich zu den Ereignissen ambivalent. Ähnlich wie Gaddafi in Libyen war das Assad-Regime zwar kein verlässlicher Verbündeter des Westens, jedoch v.a. als Garant für Stabilität tolerabel. Die neoliberalen Reformen von Assad hatten v.a. eine syrische Elite reich gemacht. Westliche Investitionen in privatisierte Betriebe blieben aber hinter den westlichen Begehrlichkeiten zurück. Angesichts der Desintegration des Landes entschloss man sich in Washington, London und Berlin dafür, Teile der Opposition nun aktiver zu unterstützen.

Das Auftreten des „Islamischen Staates“ und sein Versuch seine barbarische Utopie in Syrien und im Irak zu realisieren war eine der wichtigsten Konsequenzen der sektiererischen Logik des Konfliktes. Dabei hat die Organisation wenig mit dem Islam zu tun; auch sind die allermeisten Opfer Muslime. Der IS ist vielmehr eine terroristische Wirtschaftsmafia. Die Ausplünderung der Region – auch über den Verkauf von Öl an türkische und westliche Energiekonzerne – finanziert den Krieg der Miliz, die sich zudem auf (zumindest informelle) türkische Unterstützung beim Kampf gegen die syrischen KurdInnen verlassen kann.

Die vom IS ausgehende Gefährdung westlicher strategischer Interessen und die Anschläge in Europa haben auch EU/USA als aktive Teilnehmer in den Konflikt gebracht. Zynisch behaupten Obama, Cameron und Hollande in Syrien die Menschenrechte herbeizubomben, während sie ihre Grenzen für jene Menschen dicht machen, die vor den Zerstörungen und den Morden in ihrer Heimat fliehen. Der „Krieg gegen den Terror“ dient aktuell tatsächlich in erster Linie der Befriedung der Region, um sie zu stabilisieren und dadurch weitere internationale Auswirkungen, die für die Herrschenden und die Wirtschaft negative Folgen hätten, einzudämmen. Dafür wird die Anfangs unliebsame Diktatur wieder zur bevorzugten Alternative und zum möglichen Garanten für Stabilität angedacht. Dass Syrien strategisch gut liegt, um Europa von russischen Öllieferungen unabhängiger zu machen, ist ein günstiger Nebeneffekt.

Für das türkische Regime, das lange ein enger Partner Assads war, geht es um die Stärkung der eigenen Rolle als Regionalmacht. Die Doppelstrategie gegen Assad und gegen jegliche kurdische Selbständigkeit macht das Erdoğan-Regime dabei zunehmend zu einem – zumindest informellen – Partner des IS. Im Mittelpunkt steht der Anspruch in einem, durch den Zerfall Iraks und Syriens neugeordneten, Nahen Osten zur dominanten Regionalmacht zu werden.

Das wollen andere auch: In das anfängliche politische Vakuum stießen die fundamentalistischen Regimes am Golf, die Verbündeten des Westens; hier insbesondere das Saudische Königreich und Katar. Die beiden sunnitisch-fundamentalistischen Staaten wählten ebenso wie die schiitische iranische Diktatur Syrien als nächsten Schauplatz des großen regionalen Konfliktes zwischen schiitischem und sunnitischem Kapital, der seit Pandoras Büchse 2003 im Irak geöffnet wurde die Region überschattet. Tatsächlich geht es aber nicht um den uralten religiösen Streit aus dem 8. Jahrhundert, sondern darum, dass verschiedene regionale Kapitalfraktionen die sektiererische Konstitution der Gesellschaften ausnützen, um sich (vermeintlich) stabile Partner zu suchen um ihre strategischen und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Während die schiitischen Quds-Brigaden aus Teheran eingeflogen wurden und die libanesisch-schiitische Hisbollah-Miliz die Grenze überschritt, um an der Seite Assads zu kämpfen, bewaffneten und finanzierten die Golfstaaten sunnitische Milizen.

Die erdrückende Logik des sektiererischen Bürgerkriegs, die bereits in der Struktur des Regimes weitgehend angelegt war, wurde dadurch um ein Vielfaches gesteigert. Angesichts der aktuellen weiteren Eskalation – durch das offene Eingreifen Russlands und das verstärkte Eingreifen des Westens – ist es notwendig zu betonen, dass der Krieg und alle seine schrecklichen Folgen nicht durch ausländische Militärinterventionen gelöst werden können. Diese verschärfen die Lage nur, es wird nur eine weitere Ebene addiert, die Tod und Vertreibung noch steigert.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Zahlen und Fakten zum Krieg in Syrien

  • Syrische Armee: trotz allgemeiner Wehrpflicht mittlerweile überwiegend alawitisch.

  • Milizen wurden von Anfang an aufgebaut. Sie verselbstständigen sich unter regionalen Warlords, die sektiererische Morde begehen, immer mehr.

  • Die ursprünglich starke Freie Syrische Armee zerfällt unter Druck von Assad und IS zunehmend. Lokal unterschiedliche Kooperationen; tlw. mit YPG/PYD; tlw. westliche Unterstützung.

  • Islamische Front: Bündnis unter Führung der Muslimbruderschaft. Hat Unterstützung aus einigen Golfstaaten und kämpft sowohl gegen IS als auch Assad.

  • Jabhat an-Nusra: syrischer al-Qaida-Ableger. Trotz (wegen?) der sektiererischen Kriegsführung starke Unterstützung vom Golf. Kampf gegen Assad, IS, KurdInnen und andere Oppositionsgruppen

  • Der Kern des „Islamischen Staats“ spaltete sich 2013 von an-Nusra ab und kämpft heute v.a. gegen Rebellengruppen – v.a. YPG/PYD – und auch gegen Assad. Eroberte Gebiete werden ethnisch und religiös gesäubert; Ausweitung des Krieges auf große Teile Iraks. Unterstützung vom Golf und aus der Türkei.

  • V.a. im Nordosten des Landes kontrollieren kurdische Einheiten der YPG/PYD große Gebiete. Im Gegensatz zu allen anderen kommt es zu keinen systematischen ethnisch-religiösen Säuberungen. Militärische Erfolge trotz der Einzwängung durch IS, Assad und türkischem Imperialismus.

  • Die libanesisch-schiitische Hisbollah-Miliz kämpft v.a. im Grenzgebiet an der Seite Assads. Damit steigt die Gefahr der Eskalation im Libanon

  • Iran unterstützt Assad mit Soldaten und Material; einer der wichtigsten Verbündeten in der Region.

  • Russland braucht das Überleben des Assad-Regimes und bombardiert an seiner Seite Stellungen von IS und Oppositionsmilizen.

  • USA und EU gaben zuletzt schrittweise die Forderung nach Sturz Assads und die Unterstützung (vermeintlich) gemäßigter Oppositioneller schrittweise auf. Bombardieren Stellungen von IS und anderen Milizen.

  • Die Golfstaaten verurteilen zwar den IS-Terror, stellen aber einen großen Teil von dessen Finanzierung und Waffenlieferungen.

  • Die Türkei unterstützte anfangs diverse Oppositionsgruppen und leistet heute dem IS Schützenhilfe soweit sich dieser gegen die kurdische Bewegung richtet. Bombardiert YPG/PYD-Stellungen.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

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