Internationales

„Die Welt ist instabiler und gefährlicher geworden“

Sozialistischer Weltkongress war voller Erfolg
Sascha Stanicic

Zum elften Mal kam im Januar der Weltkongress des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI – die internationale Organisation, der die SAV angeschlossen ist) zusammen. Über 130 TeilnehmerInnen aus allen Teilen der Welt diskutierten eine Woche lang über die Weltlage und die sich daraus ergebenden Aufgaben für SozialistInnen und die Arbeiterbewegung. Einstimmig wurden drei Resolutionen verabschiedet: zur internationalen Lage, zur Situation in Afrika und zum Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen.

Die Delegierten kamen aus Südafrika und Schweden, Brasilien und Pakistan, Québec und Griechenland, Australien und Russland und vielen weiteren Ländern. Unter ihnen waren junge Aktive aus antirassistischen Bewegungen, gestandene GewerkschafterInnen, sozialistische FeministInnen, Abgeordnete und langjähriger Führungsfiguren der sozialistischen Bewegung in ihren Ländern.

Darunter waren Kshama Sawant, die als „zweitbekannteste Sozialistin in den USA“ geltende Stadträtin aus Seattle; die sozialistischen Abgeordneten aus dem irischen Parlament, Joe Higgins und Paul Murphy; der Präsidentschaftskandidat der sri lankischen Vereinigten Sozialistischen Partei, Siritunga Jayasuriya; das Vorstandsmitglied der brasilianischen PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit), Jane Barros und Mametlewe Sebei, einer der Koordinatoren der Bergarbeiterstreiks in Südafrika von 2013 und Vertreter der Workers and Socialist Party.

Die Tagesordnung umfasste Debatten zur allgemeinen Weltlage, dem Präsidentschaftswahlkampf in den USA, der Situation in Europa, Afrika, Lateinamerika, Südasien, zur Frauenunterdrückung, dem Aufbau des CWI und Wahlen zu den Gremien der Internationale.

Weltlage

Peter Taaffe vom Internationalen Sekretariat des CWI leitete die Debatte zur Weltlage ein. Er und viele andere RednerInnen betonten, wie sehr und wie rasant sich die Situation seit dem letzten Weltkongress im Jahr 2010 verändert hat. Krisen, Kriege, zunehmende Instabilität, aber auch die Zunahme von Massenprotesten sind diesbezüglich die entscheidenden Stichworte. Oder wie es Per Olsson aus Schweden ausdrückte: „Die Welt ist ein instabiler und gefährlicherer Ort geworden!“

Die ökonomische Erholung seit der so genannten „Großen Rezession“ von 2007 bis 2009 ist die schwächste in der Geschichte des Kapitalismus. Wie die Debatten der Wirtschaftseliten beim Weltwirtschaftsforum in Davos zum Ausdruck brachten, gibt es keine Aussicht darauf, dass die Weltwirtschaft an Fahrt aufnimmt. Im Gegenteil, deutet viel darauf hin, dass die nächste Krise schon wieder an die Türe klopft. Dafür spricht vor allem, dass der Abschwung in China der Weltwirtschaft seiner Lokomotive beraubt. Die Folgen dieser Entwicklung sind jetzt schon in den so genannten Schwellenländern wie Brasilien und Südafrika zu spüren, deren Wachstumsraten vor allem von Export nach China abhingen, der nun zum Teil dramatisch einbricht bzw. aufgrund des drastischen Verfalls der Rohstoffpreise deutlich weniger Einnahmen generiert, was unmittelbar zu Arbeitsplatzvernichtung und Sozialkürzungen führt. Aber auch der Einbruch des Ölpreises wirkt wie ein krisenverschärfender Schock für die Weltwirtschaft.

Damit ist die Entwicklungsrichtung der Weltökonomie ziemlich eindeutig, wenn auch exakte Vorhersagen, insbesondere über zeitliche Verläufe unmöglich sind. Einig waren sich die TeilnehmerInnen weitgehend, dass man zwar nicht ausschließen kann, dass gewisse staatliche Maßnahmen den Krisenverlauf weiter verzögern können, dass der Weltkapitalismus aber weitaus weniger Pfeile im Köcher hat, als noch vor acht Jahren. Tatsächlich haben die finanzpolitischen Maßnahmen, wie die Niedrigzinspolitik und die „Quantitative Lockerung“ nicht zu nachhaltigem Wachstum, sondern zum Aufbau neuer Spekulationsblasen geführt, deren Platzen die nächste Krise vertiefen können. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass der aktuelle Verlauf krisenhafter Entwicklungen sich von dem Verlauf der „Großen Rezession“ unterscheidet. Während damals eine durch den Crash beim us-amerikanischen Finanzhaus Lehmann Bros. ausgelöste Finanzkrise auf die so genannte Realwirtschaft übergriff, steht diese – angesichts von zunehmender Überproduktion und Überkapazitäten – nun schon zu Beginn der kommenden Krise im Fokus.

MarxistInnen vertreten kein simples Ursache-Wirkung-Schema, wenn es um das Verhältnis ökonomischer und politischer Entwicklungen geht. Sie erkennen an, dass eine Wechselbeziehung zwischen Beidem besteht, verstehen aber die Wirtschaftsentwicklung als die letztliche Basis auf der sich politische und gesellschaftliche Ereignisse vollziehen. Die wirtschaftliche Krise und Schwäche des weltweiten Kapitalismus hat zu einer Kette gesellschaftlicher Krisen und Katastrophen geführt, insbesondere der drohenden Klimakatastrophe, der Zunahme von Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen und der deutlichen Steigerung der Zahl Flüchtender. Diese ist von 11.000 zum Verlassen ihrer Heimat gezwungener Menschen pro Tag im Jahr 2010 auf 42.500 im vergangenen Jahr gestiegen. All diese Aspekte spielten eine wichtige Rolle in den Debatten auf dem Kongress und es wurde der Zusammenhang zur kapitalistischen Wirtschaftsweise und der Notwendigkeit, diese durch eine sozialistische Demokratie zu erstezen, um diese Katastrophen zu überwinden, betont.

Ein weltweites Phänomen ist eine große Legitimationskrise von pro-kapitalistischen Parteien und bürgerlichen Institutionen, eine massive Anti-Establishment-Stimmung, die sich oftmals in einer gesellschaftlichen Polarisierung nach links und rechts ausdrückt und Raum für neue politische Phänomene und Formationen schafft. Dies kann man zur Zeit in den USA beobachten, wo das politische System im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs erschüttert wird und die Kapitalisten Gefahr laufen, die Kontrolle zu verlieren, weil sowohl bei den Demokraten als auch bei den Republikanern mit Bernie Sanders und Donald Trump bzw. Ted Cruz, Kandidaten siegen könnten, die nicht zum Establishment dieser beiden konzernfreundlichen Parteien gehören.

USA

Dem Präsidentschaftswahlkampf in den USA und der Frage, wie SozialistInnen mit der erfolgreichen Kampagne von Bernie Sanders umgehen sollen, wurde auf dem Kongress viel Zeit und eine eigene Plenumsdiskussion gewidmet. Das allein drückt aus, welche internationale Bedeutung diese Entwicklungen im Herzen der Bestie haben. Lucy Redler, eine der TeilnehmerInnen der SAV aus Deutschland, brachte das in Anlehnung an ein Frank Sinatra-Zitats zum Ausdruck: Ein Erfolg von Sanders würde weltweit die Stimmung „If we can make it here, we can make it anywhere!“ auslösen.

Die durch Bernie Sanders’ Kandidatur ausgelöste gesellschaftliche Dynamik war von niemandem vorher gesehen worden. Sanders ist ein unabhängiger Senator aus Vermont, der mit radikalen Reformforderungen und dem Aufruf für eine „politische Revolution gegen die Milliardärsklasse“ die Stimmung von Millionen us-amerikanischen ArbeiterInnen und Jugendlichen trifft. Seine Kandidatur zum US-Präsidenten hat Hunderttausende zu Kundgebungen mobilisiert. Er nimmt keine Spenden von Konzernen, hat aber schneller als jemals zuvor ein Kandidat schon über eine Million KleinspenderInnen mobilisieren können. Er betont, dass Veränderungen nur durch Massenbewegungen erreicht werden können und versteht sich als „demokratischer Sozialist“, was ein enormes Interesse an Sozialismus ausgelöst hat. So war der Begriff „Sozialismus“ das am meisten nachgeschlagene Wort bei dem US-amerikanischen Onine-Lexikon Merriam-Webster. Auch wenn der „Sozialismus“ von Bernie Sanders eher Modellen der früheren europäischen Sozialdemokratie entsprechen und er in einigen außenpolitischen Fragen (wie seiner Unterstützung für den Staat Israel und den Afghanistan-Einsatz) sehr falsche Positionen vertritt, so repräsentiert er doch eine enorme Herausforderung für den US-Kapitalismus und hat seine Kandidatur die Verbreitung von linken und sozialistischen Ideen enorm verstärkt

Das Problem ist, dass er im Rahmen der Vorwahlen der Demokratischen Partei kandidiert, die eine der beiden politischen Säulen des US-Kapitalismus ist und für all das steht, was Sanders vorgibt, bekämpfen zu wollen. Mitglieder von Socialist Alternative wiesen in der Kongressdebatte darauf hin, dass dies ein Widerspruch in sich ist, der den Erfolg der Kampagne gefährdet. Das vor allem, wenn Sanders bei seiner Haltung bleibt, im Falle einer Niederlage bei den Vorwahlen den Sieger bzw. die Siegerin aus den Reihen der Demokraten zu unterstützen, wahrscheinlich Hillary Clinton.

Weil sie die Gefahr erkennen, dass die Sanders-Kampagne die Radikalisierung von Jugendlichen und ArbeiterInnen, die sie selbst befördert, in den „ruhigen Hafen“ der Demokratischen Partei zu kanalisieren, sprechen sich einige Linke in den USA gegen eine Unterstützung für Sanders aus. Auch innerhalb von Socialist Alternative gibt es unter einer Minderheit von Mitgliedern die Sorge, dass eine Unterstützung für Sanders einer Unterstützung für die Demokraten gleich kommt. Ein Vertreter dieser Meinung konnte sich an den Kongress wenden, fand aber keine Unterstützung. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Unterstützung für Bernie Sanders, wie sie von Socialist Alternative konzipiert wurde (die unter anderem darin besteht, registrierte WählerInnen zur Wahl von Sanders aufzurufen und eine unabhängige Bewegung unter dem Namen #MovementForBernie ins Leben zu rufen), weder einer Unterstützung für die Demokraten gleich kommt, noch ein Hindernis für die Propagierung eines sozialistischen Programms bzw. der Idee einer neuen „Partei der 99 Prozent“ darstellt. Entscheidend für SozialistInnen ist es aber in der gegenwärtigen Situation, in den Dialog mit den vielen tausend Sanders-UnterstützerInnen zu treten und sich in eine Position zu bringen, möglichst viele von ihnen für eine von den Demokraten unabhängige Organisierung zu gewinnen, sollte Sanders die Vorwahlen verlieren und tatsächlich zur Wahl von Clinton aufrufen.

Polarisierungen

Eine Frage, die in den Diskussionen eine Rolle spielte, war die nach der grundlegenden Entwicklungsrichtung der Ereignisse – nach links oder nach rechts? Das ist jedoch nicht einfach mit entweder-oder zu beantworten. Tatsächlich erleben wir eine weltweite Polarisierung, die Ausschläge nach links und nach rechts beinhaltet, welche zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in verschiedenen Ländern jeweils dominant sein können.

Wie Cédric Gerome betonte, der für das CWI in den letzten Jahren viel Zeit in Tunesien verbracht hat, dürfen MarxistInnen die Lage nicht beschönigen. Das gilt nicht zuletzt für die Entwicklungen in Nordafrika und dem Nahen Osten, wo der als „Arabischer Frühling“ bezeichnete revolutionäre Prozess vorübergehend in eine Konterrevolution umgeschlagen ist, die zu diktatorischen Regimes (Ägypten), dem Auseinanderbrechen von Staaten (Libyen) und Bürgerkrieg (Syrien) geführt hat. Die Massenproteste vom Januar in Tunesien, die den Slogan „Ohne Jobs gibt es eine zweite Revolution“ hervorbrachten, zeigen, dass neue soziale Kämpfe möglich sind, die die Arbeiterklasse wieder in die Offensive bringen können

Auch in Europa gibt es eine Polarisierung nach links und nach rechts. Die Flüchtlingsfrage konnte in einer Reihe von Ländern von nationalistischen, rechtspopulistischen und neofaschistischen Kräften genutzt werden. Das gilt zweifellos für Deutschland, Österreich und einige skandinavische und osteuropäische Länder. Hier findet die Polarisierung nach rechts zur Zeit einen deutlicheren Ausdruck, wobei Teile der Arbeiterklasse und der Jugend weiterhin auf der Suche nach Antworten auf der Linken sind, wie sich in großen antirassistischen Mobilisierungen, der anhaltenden Welle von Hilfsbereitschaft für die Geflüchteten oder auch in der Anti-TTIP-Demo im Oktober 2015 in Berlin zeigte. Wie Hannah Sell aus Großbritannein sagte, kann sich die Dominanz dieses Themas in solchen Ländern wieder ändern, wenn es, nicht zuletzt im Gefolge von krisenbedingten Angriffen auf die Arbeiterklasse, wieder zu mehr Klassenkämpfen kommt. Sie betonte auch, dass ArbeiterInnen und Jugendliche sich dort eher nach links wenden, wo es eine ernstzunehmende linke Alternative gibt.

In den Ländern der europäischen Peripherie, die besonders von der Euro-Krise betroffen sind (also Griechenland, Spanien, Portugal, Irland), aber auch in Großbritannien findet die Polarisierung und die Ablehnung des kapitalistischen Establishments zur Zeit einen stärkeren Ausdruck nach links, was nicht zuletzt Folge der großen Klassenkämpfe, Streiks und sozialen Bewegungen der letzten Jahre ist. Vertreter der CWI-Sektionen in Spanien und Portugal berichteten von den Linksentwicklungen im Zusammenhang mit den jeweiligen Wahlen, während die VertreterInnen der Socialist Party (SP) aus Südirland berichten konnten, dass der Wahlkampf begonnen hat und dass das Bündnis aus der Anti-Austerity-Alliance (AAA, an der die SP beteiligt ist) und der Gruppe „People Before Profit“ Chancen hat, ihre Vertretung im Parlament zu erhöhen.

Vor allem aber die Wahl von Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour Party zeigt, wie groß das Bedürfnis nach Antworten auf und Widerstand gegen die Austeritätspolitik ist – und dass dieses Bedürfnis unerwartete Wege finden kann, um zum Ausdruck zu kommen. Wie britische TeilnehmerInnen berichteten, hatte niemand mit dem Erfolg Corbyns gerechnet – am wenigsten er selbst. Nur weil es für jeden und jede, der bzw. die drei Pfund zahlte, möglich war, an der Wahl teilzunehmen, war die Eintrittswelle in die Labour Party möglich, die zum Sieg des Sozialisten Corbyn führte. Das hat zu einer völlig neuen Situation in der britischen Gesellschaft geführt, die von einer großen Politisierung geprägt ist, und die Labour Party in eine tiefe Krise gestürzt hat. Faktisch existieren nun zwei Parteien in einer: der prokapitalistische und neoliberale Parteiapparat und die Corbyn-Partei. Die Socialist Party tritt dafür ein, dass Corbyn und seine UnterstützerInnen ein breites Bündnis mit allen wirklich linken und gegen Austeritätspolitik eingestellten Kräften innerhalb und außerhalb von Labour bilden und die Chance zur Schaffung einer wirklichen sozialistischen Arbeiterpartei mit Massenbasis zu nutzen.

Krise der EU

Vordergründig hatte die Krise des Euros und der EU im letzten Jahr nachgelassen. Dabei ist sie alles andere als gelöst und kann jederzeit wieder Fahrt aufnehmen, vor allem im Falle einer weltweiten Wirtschaftsrezession. Zur Instabilität von Wirtschaft und Bankensystem ist mit der Flüchtlingsfrage eine politische Instabilität hinzugekommen, die die zentrifugalen Kräfte innerhalb der EU stärkt. So ist es nicht ausgeschlossen, dass sich ein Ausscheiden Griechenlands aus der EU nicht an der Frage der Schuldenrückzahlung, sondern der Flüchtlingssituation entscheidet. Das Schengen-Abkommen ist faktisch außer Kraft gesetzt, was großen Teilen der europäischen Kapitalisten enorme Sorgen macht, weil sie negative Folgen für den Warenverkehr, sprich: ihre Profite, fürchten. Doch die Kapitalisten haben die Situation nicht wirklich unter Kontrolle und sind immer häufiger mit Regierungen konfrontiert, die nicht eins zu eins die Kapitalinteressen vertreten, sondern aus Parteiegoismen und unter dem Druck rechtspopulistischer Kräfte agieren. Auch wenn ein unmittelbarer Zusammenbruch der EU nicht wahrscheinlich ist, stehen Fragen wie die Bildung eines Mini-Schengen-Raums oder einer kleinen Euro-Zone im Raum und nehmen die nationalen Antagonismen zu. Damit einher geht auch eine wachsende Ablehnung der EU in Teilen der Arbeiterklasse. Das wiederum macht eine klar sozialistische und internationalistische Anti-EU-Position umso wichtiger, wie sie beispielsweise von der britischen Socialist Party im Zusammenhang mit dem dort bevorstehenden Referendum formuliert wird.

Die neokoloniale Welt

Der Kongress beschäftigte sich ausführlich mit den Entwicklungen in Lateinamerika, Afrika und Asien. Überall finden wichtige Entwicklungen statt, die zum Teil neue Chancen für den Aufbau marxistischer Kräfte mit sich bringen. Das gilt zum Beispiel für Brasilien, wo eine neue Phase intensiver Kämpfe und Massenmobilisierungen eingesetzt hat und die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), in der die brasilianische Sektion des CWI mitarbeitet, große Chancen hat, eine starke linke Alternative zur regierenden Arbeiterpartei (PT) aufzubauen. Der ganze Kontinent ist vom Ende einer Periode geprägt, in der es relativ stabile Regierungen in den meisten Ländern gab. Das beinhaltet auch das Ende der Dominanz des Chavismus in Venezuela, der aufgrund seiner Weigerung mit dem Kapitalismus zu brechen in den Augen vieler ArbeiterInnen versagt hat. Der venezolanische Delegierte von Socialismo Revolucionario betonte daher auch, dass die Wahlen weniger Unterstützung für die siegreiche politische Rechte, als Enttäuschung und Ablehnung der Maduro-Regierung zum Ausdruck brachten.

Die Vertreter der Workers and Socialist Party aus Südafrika berichteten davon, dass die Metallarbeitergewerkschaft NUMSA die Chance zur Bildung einer neuen Arbeiterpartei bisher nicht ergriffen hat und die weitere Entwicklung hinsichtlich der Neuorganisierung der Arbeiterklasse wieder offener ist. Sie berichteten auch von der Massenbewegung von Studierenden und den Kämpfen von Universitätsbeschäftigten, die in einem Fall unter der Führung von WASP-Mitgliedern eine Lohnerhöhung von einhundert Prozent erkämpfen konnten – die höchste jemals in Südafrika erkämpfte Lohnsteigerung!

Auch aus Pakistan und Sri Lanka berichteten die Delegierten von neuen Möglichkeiten für den Aufbau der Arbeiterbewegung und von sozialistischen Kräften nachdem in Sri Lanka der faktische Kriegszustand und die Familiendiktatur der Rajapakses beendet ist und in Pakistan die Sicherheitssituation sich etwas verbessert, da die rechten Islamisten etwas zurück gedrängt werden.

Diskussion zur Unterdrückung von Frauen

Dem Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen wurde auf dem Kongress ein spezielle Plenumsdebatte gewidmet und dazu eine Resolution verabschiedet. In diese Debatte flossen die vielfältigen Erfahrungen der verschiedenen Sektionen im Kampf gegen Sexismus und für Frauenrechte ein. Auch der Umgang mit Sexismus in den Reihen der Arbeiterbewegung und die Frage der so genannten „Identity Politics“ und Intersektionalität spielte eine Rolle.

Betont wurde unter anderem die Bedeutung, das Selbstbewusstsein und die Aktivität von Frauen, auch durch die Bildung von Frauenkommissionen, -seminaren und anderen Maßnahmen, zu fördern, aber gleichzeitig davor gewarnt, politischen Konzepten nachzugeben, die die Diskriminierung der Frau nicht als Produkt der Klassengesellschaft betrachten und den gemeinsamen Kampf von Männern und Frauen der Arbeiterklasse gegen Kapitalismus und alle Formen von Unterdrückung nicht fördern.

Besonders viel Applaus erhielt Hamid aus der Provinz Sindh in Pakistan, der von der erfolgreichen Organisierung von Textilarbeiterinnen durch die Sozialistische Bewegung Pakistan berichtete. Er führte auch aus, welche Opfer Sozialistinnen und Aktivistinnen in dieser stark patriarchal geprägten Gesellschaft bringen müssen, um für ihre eigene Befreiung überhaupt kämpfen zu können. So wurde eine führende Aktivistin der Organisation von ihrer gesamten Familie verstoßen und dementsprechend obdachlos, um selbstbestimmt den Kampf gegen Kapitalismus und Patriarchat führen zu können. Mit Stolz berichtete er, dass die Textilarbeiterinnen bei den ersten Demonstrationen vor zwei Jahren ihre Gesichter noch verschleierten und bei den diesjährigen Demonstrationen selbstbewusst den Schleier abgelegt hatten.

Die Internationale aufbauen

Das CWI arbeitet zur Zeit mit Gruppen und Sektionen in 45 Ländern auf allen Kontinenten. Der Kongress erkannte die Gruppen in Québec, Portugal, Spanien, Malaysia und die Workers and Socialist Party in Südafrika als neue Sektionen an. Gleichzeitig wurde von der Bildung neuer Gruppen in Neuseeland und der Türkei und von Diskussionen mit interessierten Gruppen im Sudan, der Elfenbeinküste, Rumänien und anderen Ländern berichtet.

Die Aktivitäten der verschiedenen Organisationen und Gruppen sind so vielfältig, dass es unmöglich ist, diese wiederzugeben. Sie reichen von der Organisierung massenhaften zivilen Ungehorsams (Massenboykott der Wassergebühren in Irland), dem Kampf für einen Mindestlohn von 15 Dollar (USA, Kanada) und antirassistischen Kampagnen (Deutschland, Österreich, Schweden) über den Versuch neue sozialistische Parteien zu etablieren (Nigeria, Südafrika) und den Kampf gegen nationale Unterdrückung (Israel/Palästina, Sri Lanka) bis zum Kampf für neue, breite Arbeiterparteien und kämpferische und demokratische Gewerkschaften.

Spanien im Umbruch

Widerstand gegen Kürzungspolitik und Unabhängigkeitsbewegungen erschüttern den spanischen Staat
Sebastian Kugler

Bei den Wahlen Ende 2015 wurde das bisher dominante Zwei-Parteiensystem gebrochen. Die konservative PP und die sozialdemokratische PSOE verloren zusammen über fünf Millionen Stimmen. Die PP wurde für ihre brutale Kürzungspolitik bestraft, und auch die PSOE hatte ja bereits zuvor gezeigt, dass sie in der Regierung ebenfalls den vom Kapital verordneten Sparzwang umzusetzen bereit ist. Große Gewinnerin der Wahl, mit über 20% beim ersten Antritt, ist die neue linke Protestpartei Podemos, die aus verschiedenen sozialen Bewegungen gewachsen ist. Trotz des widersprüchlichen Charakters und des löchrigen Programms von Podemos zeigt das Abschneiden den Willen der Massen zur Veränderung und die Bereitschaft zum Widerstand gegen den Kürzungsterror. Doch auch die „alte“ Linkspartei, IU, erzielte mit einem auf Bundesebene noch konsequenteren Programm mit knapp einer Million Stimmen einen Achtungserfolg.

Die neue Regierung wird entweder eine PP- oder PSOE- geführte Minderheitsregierung werden – und deswegen ein gutes Ziel für Widerstand von der Straße und in Betrieben. Diesen muss die Linke nun vorantreiben. Dabei ist es wichtig, die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Regionen (v.a. Baskenland und Katalonien), die sich u.a. gegen die Kürzungspolitik der Zentralregierung richten, mit dem Kampf gegen den kapitalistischen Wahn zu verbinden. Die Antwort auf die konstante Krise kann nur eine freiwillige Föderation auf sozialistischer Basis sein.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Polen: Rechtsruck und Protest

Laura Rafetseder

Die Polarisierung in Polen ist groß: Auf der Straße gab es 2015 rechte Aufmärsche, aber auch Streiks (u.a. der Bergarbeiter und Krankenschwestern) gegen Kürzungen der Regierung. Dennoch konnte die PiS die Wut auf die Sparpolitik der „Bürgerplattform“ nach rechts kanalisieren. Die Gewerkschaften riefen nur zur Abwahl der Regierung auf. Solidarnosc unterstützte sogar die PiS, obwohl es mit Razem („Gemeinsam“) eine neue linke Formation gibt. Razem konnte mehr als 500.000 Stimmen gewinnen (3,6%), scheiterte aber an der hohen Hürde fürs Parlament. So wurde bei den Wahlen am 25.11. die neoliberale „Bürgerplattform“-Regierung durch eine der konservativ-nationalistischen „Recht- und Gerechtigkeitspartei“ („PiS“) ersetzt.

Die PiS versprach eine Besteuerung der Banken und Handelsketten, höheres Kindergeld, kostenfreie Medikamente für Alte sowie eine Rücknahme der Anhebung des Pensionsantrittsalters. Das meiste werden Versprechen bleiben. V.a. aber setzt die PiS auf eine „Orbanisierung“ Polens, inklusive Angriffe auf Frauen, MigrantInnen und Linke. Schon zeigen sich Bruchlinien: Am 9.1. demonstrierten Zehntausende gegen Beschränkungen der Medienfreiheit. Auch die Klassenkämpfe werden erneut aufbrechen. Razem muss sie aufgreifen und mit einem sozialistischen Programm verbinden. Allerdings schürt sie wie Syriza oder Podemos Illusionen, dass ein etwas netterer Kapitalismus möglich sei. Sie fordert keine (Wieder-)Verstaatlichung, sondern nur staatliche Beteiligungen oder Genossenschaften. Sie hat auch Illusionen in die EU. Die Mitglieder von Razem sollten die Erfahrungen der neuen linken Formationen in Europa diskutieren – was kann eine echte Alternative zur Sparpolitik sein? Alternatywa Socjalistyczna (CWI in Polen) war Teil der Demonstrationen gegen das Sparpaket der alten Regierung und schlug damals eine Strategie in Richtung Generalstreik vor. Die unmittelbaren Forderungen (Nein zu Verschlechterungen im Arbeitsrecht, bei Löhnen und Pensionen) müssen mit einem Programm der (Wieder-)Verstaatlichung unter demokratischer Kontrolle durch die Beschäftigten, sowie einer demokratisch geplanten Wirtschaft verbunden werden. Ein solches Programm braucht Razem.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Internationale Notizen - Pakistan/Kanada/Taiwan

Pakistan: Demo gegen Fundamentalismus

 

Socialist Movement Pakistan (CWI in Pakistan) organisierte am 12.12.2015 in Mir Pur Khas (Sindh) die dort größte je dagewesene Demonstration gegen religiösen Extremismus und Intoleranz. Mehr als 400 TeilnehmerInnen, darunter ein großer Teil Frauen, marschierten kämpferisch gegen den in den letzten Jahren massiv gestiegenen Fundamentalismus. Mitglieder von SMP machten in Reden klar, was die Ursachen sind: Armut, Hunger, Repression, soziale und ökonomische Ungerechtigkeit in diesem verrotteten und korrupten System. Sie forderten, was deshalb nötig ist: Sozialleistungen, Bildung, Jobs, Gesundheit, Wohnungen und ein Ende der neoliberalen Attacken auf die ArbeiterInnenklasse und Armen. Die Demo war ein Riesenerfolg und erregte auch große mediale Aufmerksamkeit.

http://www.socialistpakistan.org

 

Kanada: Massenstreik

Über 400.000 streikten am 9.12.2015 in ganz Quebec für höhere Löhne im Öffentlichen Dienst. Vorangegangen waren Streiks, Blockaden und Besetzungen gegen Kürzungen, auch bei Löhnen und Pensionen. Alternative Socialiste (CWI in Quebec) kämpft in der Gewerkschaft für eine Strategie damit die eindrucksvoll gezeigte Kraft der ArbeiterInnenklasse für wirkliche Verbesserungen genutzt wird.

http://www.alternativesocialiste.org

 

Taiwan: Solidarität mit Streik

Die Beschäftigten der Lebensversicherung Nan Shan Life streiken wochenlang gegen die Verweigerung zugesicherter Bezahlungen und ordentlicher Anstellungen. Die Bosse wollen Arbeitsrecht und Pensionsabsicherung durch Ausgliederungen umgehen. CWI Taiwan übt aktive und praktische Solidarität und unterstützt die Streikforderungen durch gemeinsame Infotische mit den Streikenden, Petitionen, dem Magazin The Socialist, Flugblättern. Es wird betont, dass die Kraft der Solidarität genutzt werden muss und die Ausbeutung letztlich nur mit Verstaatlichung unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten beendet werden kann. CWI Taiwan ruft GewerkschafterInnen und SozialistInnen weltweit zu Solidaritätsmitteilungen für die Streikenden und Protest gegen die Bosse auf.

http://www.socialisttw.wordpress.com

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Entlassungen bei Continental/Contitech IMAS in Griechenland: Wir sagen nein!

Semperit-Schließer von Conti setzen auch in Griechenland auf Kahlschlag

Bei der Continental / Contitech IMAS Fabrik in Volos, Griechenland, sind Entlassungen geplant. Wir kennen die arbeiterInnenfeindliche Politik der Continental-Unternehmensleitung gut. 2009 wurde das Semperit-Werk in Traiskirchen von Continental geschlossen. Hunderte verloren ihren Job. Jetzt hören wir, dass die Unternehmensleitung in Griechenland massiven Druck auf die KollegInnen ausübt. Sie sollen Lohnkürzungen, eine Reduzierung der Arbeitstage um 42 pro Jahr und noch viel niedrigere Löhne für alle neu eingestellten ArbeiterInnen hinnehmen. Das soll alles Teil des neuen für drei Jahre gültigen Kollektivvertrages zwischen der Gewerkschaft in der Fabrik und Contitech IMAS werden. Am 5.2. solidarisierten sich SLP-Aktivisten vor dem Continental Firmensitz in Wiener Neudorf mit griechischen ArbeiterInnen einer Contitech-IMAS Fabrik in Vollos. Sie streiken gegen Entlassungen und Verschlechterungen bei Löhnen und Arbeitsverträgen.

Continental / Contitech ist ein riesiger multinationaler Konzern, der jedes Jahr laut offiziellen Statistiken riesige Profite einfährt. In den letzten 40 Jahren haben Contitech/IMAS ArbeiterInnen riesige Profite für den Konzern erwirtschaftet, der unter anderem den griechischen staatlichen Stromkonzern DEI und die ausländische Bergbauindustrie beliefert. Außerdem hat Continental vor kurzem mit Goodyear fusioniert und dadurch seine globale Marktposition gestärkt. So können die Profite noch weiter steigen.

Die SLP hat daher einen lautstarken Protest gegen die Entlassungen und die Angriffe auf die ArbeiterInnen der IMAS- Fabrik organisiert. Diese Entlassungen treiben die KollegInnen in Armut und Erwerbslosigkeit zu einem Zeitpunkt in dem die Arbeitslosenzahlen in Griechenland auf ein nie gekanntes Niveau gestiegen sind. Wir unterstützen den Streik der KollegInnen und haben bei einer Kundgebung am 5.2. vor dem Firmensitz in Wiener Neudorf die Beschäftigten über die Angriffe der Firmenleitung auf die KollegInnen in Griechenland informiert, sowie eine Protestnote überreicht, die von zahlreichen BetriebsrätInnen (darunter einem ehemaligem Semperit Betriebsrat), ArbeiterkammerrätInnen sowie linken und gewerkschaftlichen Organisationen unterstützt wird. Die KollegInnen kamen kurz raus um Fotos zu machen und zu reden - die Stimmung auch innerhalb des Betriebs in Österreich scheint sehr angespannt, die übergebene Resolution gegen die Verschlechterung wird an das Management weitergeleitet, das sich offenbar nicht raus traute.

Wir fordern:

  • Rücknahme aller Kündigungen!

  • Einen neuen, dreijährigen Kollektivvertrag mit guten Löhnen!

http://www.socialistworld.net/doc/7468

 

 

 

 

 

Die Repression in Marokko muss ein Ende haben!

Die Lehrkräfte und LehramtsanwärterInnen in Marokko bekommen die Repression zu spüren.
von Rachid und Alex, LSP/PSL (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Belgien)

Diese Repression sorgt im Land selbst aber auch in den marokkanischen Gemeinden im Ausland für eine Welle der Empörung.

Worum geht es?

Am 7. Januar hat die ultra-liberale und rechts-konservative Regierung von Marokko – eine Regierung, deren Politik durchaus mit der in Belgien (und in Deutschland; Erg. d. Übers.) zu vergleichen ist – beschlossen, den Status der LehramtsanwärterInnen einseitig zu verändern. Bisher erhielten diese ein Gehalt von rund 200 Euro. Die Regierung will ihren Status nun „anpassen“ und sie nicht mehr als ReferendarInnen bezahlen sondern wie Studierende in der Ausbildung behandeln, die dann nur noch ein Entgelt von gut 100 Euro im Monat beziehen. Das ist weniger als die Miete für eine Wohnung in einer größeren Stadt kostet.

Darüber hinaus sollen von den 9.500 LehramtsanwärterInnen, die in diesem Jahr fertig werden, nur 7.000 am Ende tatsächlich auch übernommen werden. Die anderen sollen sich auf die übrigen Bereiche des öffentlichen Dienstes orientieren, in dem es übrigens auch zu Stellenstreichungen kommt. In Marokko gibt es keine Erwerbslosenunterstützung.

Diese einseitige Vorlage stellt einen Vertragsbruch dar. Wer zuvor durch die Eingangsexamina gekommen war, dem wurde am Ende des Studiums eine Stelle im Bildungsbereich garantiert. Diese Angriffe auf das lehrende Personal hängen mit der unsozialen Politik dieser konservativen Regierung zusammen.

Am 12. Januar demonstrierten zehntausende ArbeitnehmerInnen und RentnerInnen gegen eine andere Maßnahme, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 63 Jahre. Die Regierung ist repressiv vorgegangen, um diese Kundgebung zu stoppen. Am 7. Januar demonstrierten 20.000 LehramtsanwärterInnen und ihre UnterstützerInnen in allen Landesteilen. Die Polizei antwortete darauf mit dem Einsatz von Gummiknüppeln. In Marrakesch gab es 30 Verletzte, in Casablanca 40 und in Inezgane bei Agadir noch einmal 60 Verletzte, darunter zwei Schwerverletzte.

Das alles führte zu allgemeiner Entrüstung auf nationaler Ebene. Selbst in der Regierung gibt es Diskussionen. Letztere lässt übrigens vermelden, dass das Regime in Marokko ohne Berücksichtigung von Parlament und Regierung Dinge beschließt. Seit der Bewegung vom 20. Februar 2011 hat sich in Marokko nichts Grundlegendes geändert – nichts, was die freie Meinungsäußerung angeht und ebensowenig hinsichtlich der individuellen und kulturellen Freiheiten oder gar bei den gewerkschaftlichen und sozialen Freiheiten. Es ist jedenfalls nicht im Sinne des Regimes, solche Freiheiten in der Praxis anzuerkennen. Seit 2011 zählt man mehr als 300 politische Gefangene, unter ihnen vor allem junge Leute und Studierende, die aufgrund von falschen Beschuldigungen festgenommen worden sind. Ihnen werden Verstöße gegen geltendes Recht vorgeworfen. Soziale Bewegungen werden kriminalisiert.

Die Kultur und Sprache der Amazigh (BerberInnen) werden genauso missachtet, trotz de verfassungsrechtlichen Anerkennung, die 2011 stattgefunden hat. Im Bildungswesen sind starke Rückschritte zu verzeichnen. Die Gesetze, mit denen die Sprache im realen Leben integriert werden könnte, sind immer noch nicht beschlossen.

Wir fordern eine echte Untersuchung der Ereignisse unter Einbeziehung der Gewerkschaften, der landesweiten Koordination der LehramtsanwärterInnen und Menschenrechtsorganisationen, damit Klarheit geschaffen wird, was die repressive Gewalt angeht und damit die Schuldigen bestraft werden. Wir fordern die Freilassung der politischen Gefangenen, die Wiedereinführung von Subventionen auf Dinge des täglichen Bedarfs (Gas, Brennstoff, Mehl, Zucker usw.), die Rücknahme des Dekrets über die LehramtsanwärterInnen und über das Renteneintrittsalter, einen Mindestlohn, der die Realität widerspiegelt, sowie das Ende des ultraliberalen Systems. Wir rufen zur Gründung von Basis-Komitees auf, die auf Landesebene organisieren, um zu einer demokratischen verfassunggebenden Versammlung zu kommen, die die Ökonomie in die Hände der Bevölkerung legt und nicht einer Elite überlässt, die halb-kapitalistisch und halb-feudal ist.

 

US-Präsidentschaftswahlkampf: Der Schock von Iowa

Establishment-KandidatInnen abgestraft – Bernie Sanders zeigt Potenzial für eine linke Bewegung
Von Joshua Koritz, „Socialist Alternative“ USA

Foto: commons.wikimedia.org

Die Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Im Bundesstaat Iowa haben sowohl bei den Demokraten als auch den Republikanern die ersten Vorwahlen stattgefunden. Die Wunschkandidaten des Establishments haben jeweils ein Schlappe erlitten.

Die Vorwahlen bei den Demokraten sind derart knapp ausgegangen, dass keiner der Kandidaten ein Stimmenmehrheit zu verzeichnen hat. Die „New York Times“ schreibt, dass „das knappe Ergebnis Frau Clinton und ihren Mann, den Ex-Präsidenten Bill Clinton, wie auch ihren Beraterstab schwer aus der Fassung gebracht hat, von denen in den letzten Tagen einige ihre Zuversicht zum Ausdruck gebracht hatten, sie seien nun richtig in Schwung gekommen […]“. Dieses politische Aufbegehren gegen die konzernfreundliche Parteiführung wird weitergehen und der Wahlkampagne von Sanders noch mehr Auftrieb verleihen.

Für den Kandidaten Bernie Sanders, der sich ganz offen als „demokratischen Sozialisten“ bezeichnet und vor einem Jahr noch vierzig Punkte hinter Clinton lag, ist dieses Resultat ein echter Sieg. Sein Aufruf zur „politischen Revolution gegen die Klasse der Milliardäre“ hat die angebahnte Krönung von Clinton, die an der Spitze der von der Wall Street dominierten Partei steht, jäh unterbrochen. Die Wahlkampagne von Sanders motiviert junge Leute und die Menschen aus der Arbeiterklasse, aktiv zu werden und dafür zu kämpfen, dass ein Kandidat gewählt wird, der für ihre Interessen einsteht.

Bei den Republikanern ist Ted Cruz, ein Favorit der rechten „Tea Party“-Bewegung, mit 27,6 Prozent auf Platz eins gelandet und hat damit auch Donald Trump auf die Plätze verwiesen. Der einzige Kandidat des Establishments, der die Erwartungen übertroffen hat, ist Marco Rubio. Er macht den Anschein, sich vom Rest der Bande abgesetzt zu haben, und hat mit 23 Prozent knapp den dritten Platz erreicht. Dieses starke Abschneiden wird er nutzen, um sich selbst als bester Mann des konzernfreundlichen Flügels der Republikanischen Partei zu gerieren.

Dass die Wahlbeteiligung wie vorab prophezeit, vor allem bei den Republikanern, hoch ausfallen würde, hat sich im Großen und Ganzen bestätigt. Die letzten Umfragen haben gezeigt, dass die starke Wahlbeteiligung vor allem auf Trumps und Sanders´ Anhängerschaft zurückzuführen ist, die ausdrücklich Außenseiter als Kandidaten wollten. Das ist ein erneuter Beleg für die Begeisterung, die Trump auf der Rechten und Sanders auf der Linken entfachen.

Diese Polarisierung kann man nicht nur in Iowa nachvollziehen. Überall in den USA halten arbeitende Menschen nach Alternativen zum kaputten politischen System Ausschau. Auf der Rechten bedeutet die Zunahme von sexistischen, rassistischen und ausländerfeindlichen Ansichten eine echte Bedrohung, die einer angemessenen Antwort bedarf. Allerdings geht es trotz der beständigen Aufmerksamkeit, die die Medien den Ergebnissen von Trump und Sanders widmen, in der US-amerikanischen Gesellschaft allgemein um einen Schwenk nach links. Diese Tendenz, die in der letzten Zeit festzustellen ist, lässt sich auch an der massiven Bedeutung der „Black Lives Matter“-Bewegung, den Erfolgen der LGBTQ-Bewegung und den Fortschritten der Kampagnen im Kampf für einen Mindestlohn von 15 Dollar festmachen.

Wie geht es nun mit den Vorwahlen bei den Demokraten weiter?

Der Einfluss der Vorwahlen von Iowa und der voraussichtliche Sieg von Sanders bei den nächsten Vorwahlen im Bundesstaat New Hampshire kommende Woche werden Auswirkungen auf die nachfolgenden Vorwahlen haben. Die übliche Lesart der Medien besteht darin, Sanders bei den hernach anstehenden Wahlgängen in Nevada und South Carolina (dort wird noch vor dem „Super Tuesday“, an dem gleichzeitig in einer Vielzahl der Bundesstaaten Vorwahlen zur Kandidatur stattfinden; Anm. d. Übers.) schlechtere Chancen zuzuschreiben, weil es dort einen größeren Anteil an „Nicht-Weißen“ in der Bevölkerung gibt als in Iowa und New Hampshire. Dabei gewinnt Sanders in der schwarzen Bevölkerung immer mehr an Unterstützung, was sich mit der stärker werdenden Revolte gegen das Establishment der Demokraten überschneidet, das vorgibt, eine antirassistische Agenda zu vertreten. Dabei finden zur Zeit unter einem „demokratischen“ Präsidenten Massenverhaftungen statt und es kommt unvermindert zu Polizeigewalt. Hinzu kommt, dass die Umfragen darauf hindeuten, dass Sanders vor allem unter jungen Leuten und gerade bei jungen Frauen Popularität genießt. Die zunehmende Unterstützung, die Sanders von diesem Teil der Bevölkerung bekommt, der vor ein paar Monaten noch als Hochburg von Clinton galt, ist lediglich ein weiteres Symptom der umfassenden Skepsis und der Wut gegenüber dem konzernfreundlichen politischen System und seinen konzernfreundlichen Kandidaten. Ums kurz zu machen: Sanders hat wirklich die Möglichkeit, bei einer ganzen Reihe von weiteren Vorwahlen gut abzuschneiden.

Starke Ergebnisse für Sanders werden das Establishment der Demokratische Partei in zunehmendem Maße zu offen feindseligen Maßnahmen ihm gegenüber veranlassen. Damit wird bereits begonnen. Da Sanders nun Wahlmänner gewinnt und die Medien gezwungen sind, auf seriöse Art und Weise über seine Wahlkampagne zu berichten, wirken Ansätze wie der Kampf um einen Mindestlohn von 15 Dollar für viele AmerikanerInnen plötzlich gar nicht mehr so utopisch und scheinen viel eher umsetzbar zu sein, obwohl es die feindselige Abneigung des Establishments und Attacken von Seiten der liberalen Kommentatoren wie Paul Krugman, Wirtschaftswissenschaftler und Kolumnist bei der „New York Times“, dagegen gibt .

Wir sollten aber keinerlei Illusionen haben, wie schwer es für Sanders sein wird, gegen die enormen Mittel, die das Establishment der Demokraten zur Verfügung stellt, und die konzernfreundlichen Medien die Nominierung dieser Partei zu gewinnen. Um diesem Druck standhalten zu können, bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die wirklich unabhängig vom Parteiapparat der Demokraten agiert. Bedeutsam ist, dass die Umfragen darauf hinweisen, Sanders würde Trump mit deutlicherem Abstand besiegen als Clinton. Das lässt ihre Behauptung, sie sei für viel mehr Menschen wählbar, in einem ganz anderen Licht erscheinen. Doch die Führung der Demokratische Partei und das Establishment werden keinen Kandidaten akzeptieren, der es ablehnt, Spenden von Unternehmen anzunehmen, und der für wesentliche Reformen im Interesse der arbeitenden Menschen steht. Im Gegenteil werden sie alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um diese Möglichkeit zu verhindern. Gerade diese Woche hat Nancy Pelosi (die ehemalige Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten; Erg. d. Übers.) gesagt, dass Elizabeth Warren (Senatorin der Demokraten, die sich für Verbaucherrechte einsetzt; Erg. d. Übers.) nicht die Demokratische Partei vertritt. Pelosi begründete dies mit Warrens Aussage, die Partei habe nicht genug getan, um die „Wall Street“ zu zähmen.

Das Establishment der Demokraten wird darauf verweisen, dass Trump und Cruz eine echte Gefahr darstellen und man sich daher hinter Clinton aufzustellen habe. Einhergehen wird dies mit permanenten Angriffen auf Sanders, der demnach nicht wählbar sei und für liberale Vertreter wie Paul Krugman viel zu weit links steht. Um gegen diese Einwände angehen zu können, müssen die AnhängerInnen von Sanders, die wollen, dass sein Programm gewinnt und dass er die Nominierung bekommt, sich unabhängig vom Establishment der Demokratische Partei organisieren. Nur so können sie für die „politische Revolution“ von Sanders kämpfen. Lasst uns gemeinsam die Bewegung #Movement4Bernie aufbauen, die von der sozialistischen Stadträtin von Seattle, Kshama Sawant, und von „Socialist Alternative“ ins Leben gerufen worden ist. Diese Bewegung ist unabhängig von Unternehmensspenden und unabhängig vom Parteiapparat der Demokraten.

Republikaner erleben Polarisierung auf dem rechten Flügel

Was die Republikanische Partei angeht, so hat die Rechtsentwicklung an ihrer Basis dazu geführt, dass Cruz, Trump, Carson und Paul zusammen die Establishment-Kandidaten mit insgesamt 66 Prozent zu 27 Prozent dezimiert haben. Das zeigt, in welchem Umfang dem Establishment der ganze Prozess bei dieser Partei aus den Händen geglitten ist. Am deutlichsten tritt dies in der Person Jeb Bush zu Tage, der als Liebling der Konzernvertreter gilt und mehr als hundert Millionen Dollar an Unternehmensspenden bekommen hat. Er kam auf lächerliche drei Prozent der Stimmen und wurde somit von Außenseitern wie Ben Carson und Rand Paul geschlagen. Es scheint, als ob die WählerInnen in Iowa Rubio als den konzernfreundlichen Kandidaten der Republikaner an Bush vorbeigeschoben haben. Die führenden Kreise der Partei werden sich nun wohl hinter Rubio positionieren. Dieser hat in Iowa beträchtlich zugelegt und wenn die Anti-Establishment-Stimmen sich weiterhin zwischen Trump und Cruz aufspalten, dann kann das im Endeffekt den Weg für Rubio und das Establishment der Republikaner ebnen. Um es aber ganz klar zu formulieren: Bei Rubio handelt es sich absolut nicht um einen „moderaten“ Vertreter. So ist er selbst im Falle einer Vergewaltigung oder bei Inzest gegen das Recht auf Abtreibung und hat versprochen, die Regelungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften wieder rückgängig machen zu wollen.

Ted Cruz feiert indes einen Überraschungserfolg, der in Iowa auf einen starken Wahlkampf an der Basis zurückzuführen ist. Er kalkulierte damit, dass man ihn und seine religiös-fundamentalistische Haltung wählen würde. Interessanterweise hat Cruz zwar bei den regelmäßigen TeilnehmerInnen der Vorwahlen punkten können, während Trump viel beliebter bei denen war, die zum ersten Mal an den Vorwahlen teilgenommen haben. Letztere haben die Priorität darin gesehen, für einen „Außenseiter“ zu stimmen. Republikaner, die sich im Bundesstaat Iowa für die Vorwahlen registrieren lassen, sind traditionell konservativ und religiös. Sie sorgen häufig dafür, dass die Debatte um die Vorwahlen bei den Republikanern eine Wendung erhält – im Sinne ihrer gesellschaftlichen Schicht. Dennoch sind die Gewinner der Iowa-Vorwahlen bei den Republikanern bei früheren Wahlen oft gescheitert, am Ende auch die Nominierung der Partei zu bekommen. 2008 gewann Mike Huckabee zwar in Iowa, während 2012 Rick Santorum knapp gegen den letztlich nominierten Mitt Romney siegte. In den bundesweiten Umfragen liegt Trump immer noch mit 15 Prozent vor Cruz.

Große Möglichkeiten für eine unabhängige Politik

Die „einfachen“ Menschen in Iowa haben gesprochen und der konzernfreundlichen Mainstream-Politik in weiten Teilen eine Abfuhr erteilt. Für die Linke bietet sich immer mehr Raum, den sie für den Aufbau einer unabhängigen Partei nutzen muss, welche für die arbeitenden Menschen kämpft, ohne sich dafür zu entschuldigen. Geschieht dies nicht, wird die Gefahr von rechts, mit ihrer Frauenfeindlichkeit, dem Rassismus und ihrem konzernfreundlichen Populismus immer größer.

Wenn Sanders – wie die Umfragen andeuten – nächste Woche in New Hampshire gewinnt, dann könnte seine „politische Revolution gegen die Klasse der Milliardäre“ über das beeindruckende Abschneiden in Iowa hinaus wirklich Fahrt aufnehmen. Während sich junge Leute und progressive ArbeiterInnen immer mehr für Sanders zu interessieren beginnen, wird das Polit-Establishment seine Attacken gegen ihn und seine Wahlplattform ausweiten. Das Establishment der Demokratische Partei wird durch sein Verhalten unter Beweis stellen, dass man die Anhängerschaft von Sanders nicht über die Mittel und Wege gewinnen kann, die der Partei zur Verfügung stehen. Damit würde eine neue Generation, die in zunehmendem Maße nach Antworten außerhalb des Zwei-Parteien-Systems sucht, nur noch weiter entfremdet.

Deshalb rufen „Socialist Alternative“ und die Bewegung #Movement4Bernie dazu auf, eine neue Partei aufzubauen, die im Sinne der viel zitierten „99 Prozent“ agiert. Während Sanders wiederholt und fälschlicherweise sagt, er wolle Clinton unterstützen, wenn er verliert, sehen wir in seiner Wahlkampagne die ersten Konturen einer dringend nötigen neuen linken politischen Kraft in der amerikanischen Gesellschaft.

 

Erdogans Kampf um die Macht

„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“ – Tayyip Erdogan
Stefan Gredler

Die AKP-Regierung beherrscht die Türkei seit fast 14 Jahren. Der Aufstieg zur Macht ist mit jenem von Recep Tayyip Erdogan eng verbunden, denn er ist der Mitgründer und unumstrittener Führer der „islamisch-demokratischen“ Bewegung. AKP steht für „Aufstiegs und Gerechtigkeitspartei“, die strahlende Glühbirne ist ihr Logo. Und viel hatte Erdogan versprochen: Zu einem Hort der politischen Stabilität wollte er die Türkei machen. Er versprach zu demokratisieren und den Einfluss des Militärs zurückzudrängen.

Zu einem wirtschaftlichen Aufstieg kam es in den Jahren unter Erdogan tatsächlich, doch die Hauptprofiteure des Booms waren die kapitalistische Minderheit des Landes und die Erdogan-Clique selbst. Gerechtigkeit hat die AKP nicht gebracht, weder ökonomisch, noch politisch oder gesellschaftlich – die Schere zwischen einer kleinen Minderheit von Superreichen und Millionen in Armut war noch nie so groß.

Tatsächlich hat es seit 1950, drei Militärputschen und zahlreichen Regierungswechseln keine Partei geschafft, solange an der Macht zu bleiben wie die AKP. Besonders in den armen und ländlich geprägten Gebieten Anatoliens liegt die Machtbasis des Erdogan Regimes. Er kann in den religiös geprägten Gebieten als starker Mann der islamischen Werte punkten. Zusätzlich wurden besonders in jenen Teilen Autobahnen, Wohnanlagen, Flughäfen, Schulen und Spitäler gebaut. Die Bevölkerung hatte in den Jahren des Aufschwungs plötzlich Zugang zu gratis Gesundheitsversorgung, es wurde in ihre unmittelbare Infrastruktur investiert und besonders Menschen, die für den Staat arbeiten wurden und werden heute noch mit leistbarem Wohnraum und sicheren Gehältern ans Regime gebunden.

Der Kopf der AKP spielt gerne den einfachen Mann des Volkes, der sich aus dem Istanbuler Arbeiterbezirk Kasımpaşa nach oben gekämpft hat. Er kommt früh in Kontakt mit islamisch-reaktionären Kräften und bleibt diesen Inhalten treu. 1994 wurde er überraschend zum Bürgermeister Istanbuls gewählt, 2001 gründet er dann seine AKP. Er geht massiv gegen den Einfluss des Militärs vor und beseitigt die alte kemalistische Machtelite und ersetzt sie durch seine Leute, regiert mit zunehmend diktatorischen Ausprägungen und benimmt sich wie ein Feudalfürst. Viele landen wegen „Majestätsbeleidigung“ im Gefängnis. Er will die Verfassung ändern und ein Präsidialsystem einführen. Das würde bedeuten, dass er das Land per Dekret regiert und das Parlament jederzeit auflösen kann. Die Türkei soll zur zentralen Macht in der Region ausgebaut werden – wirtschaftlich, aber auch militärisch.

Die reaktionären und religiösen Ansichten der neuen herrschenden Schicht versucht er in allen gesellschaftlichen Bereichen umzusetzen. Die Tradition der Türkei, die Religion zur Privatsache machte, wird beendet. Erdogan sieht Frauen als Gebärmaschinen, die mindestens drei Kinder bekommen sollten während der Mann arbeiten geht, Homosexualität ist etwas Teuflisches und Proteste gegen ihn würden vom Finanzkapital und dunklen Kräften gesteuert.

Heute ist jedoch der ökonomische Aufschwung und somit auch Erdogans politischer vorbei. Die türkische Wirtschaft steht auf extrem wackeligen Säulen, denn das Wachstum basierte auf einem durch Schulden und mit „Hot Money“ finanzierten Bau-Boom, der vor allem Teile des Klein- und Mittelkapitals massiv förderte. Mit ausländischen Krediten wurden binnen kürzester Zeit Dutzende von Mega-Einkaufszentren, Tunnel und Wolkenkratzer aus dem Boden gestampft. Aktuell soll der größte Flughafen der Welt entstehen. Eine riesige Kreditblase wurde geschaffen, um Konsum durch Privatschulden massiv anzukurbeln – zwei Drittel der Bevölkerung sind verschuldet.

"Scher dich zum Teufel Erdogan!“ – Grubenarbeiter aus Soma

Im Mai 2013 explodierten die Widersprüche und es kam zu landesweiten Protesten. Ausgehend von UmweltaktivistInnen, die den berühmt gewordenen Gezi-Park besetzten, gab es monatelangen Widerstand gegen die Regierung. Die Brutalität des Regimes heizte die Proteste an. Der von Tausenden besetzte Taksim-Platz war Symbol des Widerstandes, gegen das Erdogan Regime, gegen die Ungleichheit im Land, die Unterdrückung von Minderheiten, für LGBT- und Frauenrechte, gegen Kapitalismus und für eine solidarische und freie Gesellschaft. Erdogan setzt den Motor der Unterdrückung in Bewegung: Tränengas, Polizeibrutalität bis hin zu Toten, JournalistInnen, RichterInnen und StaatsanwältInnen werden verhaftet. Das Medienmonopol Erdogans hetzt über sieben Fernsehkanäle und acht Tageszeitungen gegen die Protestierenden und verteufelt sie als TerroristInnen, die von außen gesteuert werden würden. Das öffnete vielen die Augen. Besonders jene, die selbst plötzlich zu Terroristen wurden, obwohl sie gerade erst zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen hatten oder aus dem Fenster beobachteten wie Zivilpolizisten Menschen mit Farbflecken von den Gummigeschossen der Polizei verhafteten.

Die Propagandablase von der "stabilen und sozialen Türkei" ist endgültig geplatzt. Es folgt im Mai 2014 der Grubenunfall von Soma, bei dem 301 Bergleute ihr Leben lassen. Das einst staatliche Unternehmen wurde 2009 privatisiert. Proteste gegen das „Unglück“ werden mit Tränengas beantwortet. Die traditionellen 1.Mai Demos am Taksimplatz in Istanbul sind verboten und werden mit massiver Polizeigewalt unterdrückt. Statt Friedensprozess gibt es Krieg gegen die KurdInnen, mit über 200 Toten. Tendenz steigend. Statt Demokratiereform gibt es Polizeieinsätze und Haftstrafen für linke AktivistInnen, JournalistInnen, GewerkschafterInnen und viele andere.

Doch mit zunehmenden Angriffen kommt es auch zu immer mehr Widerstand seitens der ArbeiterInnenklasse. Als im Juni 2015 im westtürkischen Bursa die ArbeiterInnen der Automobilindustrie streikten, waren viele internationale Beobachter überrascht. Bursa gilt als Zentrum dieser Branche, große Konzerne lassen dort bauen. Staatsnahe Gewerkschaften garantierten Stabilität. Die ArbeiterInnen streikten nicht nur für höhere Löhne sondern auch gegen den staatsnahen Gewerkschaftsverband Türk-IS. Die Automobilbosse und die Türk-IS Spitze verteidigten sich mit dem Verweis auf große Lohnsteigerungen. Angesichts einer jährlichen Inflation von offiziellen ca. 8% und noch höheren Preissteigerungen spüren die ArbeiterInnen aber kaum etwas von den Lohnerhöhungen. Die Preissteigerungen sind für viele Menschen schwer zu verkraften und heizen die Unzufriedenheit an.

Mit dem Zuspitzen der inneren Widersprüche des türkischen Staates lässt Erdogan immer deutlicher seine demokratische Maske fallen. Die GegnerInnen werden zahlreicher und kommen aus der Jugend, der ArbeiterInnenbewegung und den kurdischen Gebieten. Entscheidend wird sein, wann und wie der Widerstand gegen die AKP-Regierung sich neu entfacht und ob es einen gemeinsamen Kampf der türkischen, kurdischen und weiteren Minderheiten angehörenden ArbeiterInnen gibt!

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Zahlen und Fakten zur Türkei:

  • Aufschwung auf Pump: Mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 800 Milliarden Dollar ist die Türkei die 17.-größte Wirtschaft der Welt. 2002-12 wuchs die Wirtschaft um fast 400%. 1992-2013 wurden 126 staatliche Unternehmen und Infrastruktur privatisiert, das brachte 35,5 Milliarden Dollar, um kurzfristig der steigenden Staatsverschuldung entgegen zu wirken. Zusätzlich wurden massiv Kredite bei internationalen Banken aufgenommen. Hunderte Luxus-Einkaufscenter und Wolkenkratzer wurden gebaut.
  • Soziale Lage verbessert? Die extreme Armut fiel 2002-12 von 13% auf 4,5%; die mäßige Armut von 44% auf 21%. Das ist aber großteils auf die hohe Verfügbarkeit von Privatkrediten, die langfristig eine Verschärfungen der Armut bringen, zurückzuführen. So ist die Anzahl der Kredite an Private seit 2008 um 400% gestiegen. Die 74 Millionen EinwohnerInnen besitzen 57 Mio. Kreditkarten.
  • Die soziale Ungleichheit ist enorm: die untersten 10% bekommen nur 2% des BIPs, die obersten 10% aber 34%. 2002 besaß das reichste Prozent der Türkei 39,4% des Vermögens. 2014 waren es schon 54,3%. Gleichzeitig leben 60% der Haushalte von €500/Monat, 15% der Bevölkerung von offiziell €135/Monat. Die Arbeitslosenquote liegt 2015 offiziell bei 11,43%.
  • Militärmacht: Die Türkei ist Mitglied der NATO und die 10.-stärkste Militärmacht weltweit. Hier sind auch Atomwaffen der NATO stationiert. Ca. 650.000 sind als Militärpersonal im Einsatz, darunter 4.700 bei der Küstenwache und 170.000 Gendarmen. In der Reserve sind weitere ca. 400.000. Es stehen außerdem ca. 10.000 gepanzerte Fahrzeuge, 1.000 Militärflieger und ca. 100 Kriegsschiffe zur Verfügung. Jährlich werden so rund 18-25 Millionen Dollar (2,4% vom BIP) fürs Militär ausgegeben. 2014 hatte die Türkei weltweit die 15.höchsten Militärausgaben. Die größten Rüstungs- und Waffenlieferanten sind die USA, Deutschland und China.
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Brennpunkt Türkei: Erdogans Bürgerkrieg

Wider Krieg gegen KurdInnen, Angriffe auf Linke und ArbeiterInnen braucht es Widerstand und Streiks!
Michael Gehmacher

In der Türkei herrscht Bürgerkrieg. Auch wenn dieser Fakt noch nicht in der bürgerlichen Medienlandschaft beim Namen genannt wird ist er dennoch traurige Realität. Der türkische Staat geht unter Führung der Erdogan-AKP-Regierung brutalst gegen die kurdische Bevölkerung vor. Mehr als 220 Zivilisten sollen in den Angriffen des türkischen Militärs auf kurdische Städte in den letzten Wochen getötet worden sein. Tausende Soldaten sind im Einsatz, 1.5 Millionen Menschen von Ausgangssperren in zahlreichen kurdischen Bezirken und Städten betroffen und mehr als 300.000 davon auf der Flucht. Der Konflikt zwischen der kurdischen Bevölkerung und dem türkischen Staat scheint auf einen neuen Höhepunkt zuzusteuern, doch der Hintergrund der neuen Eskalation ist nicht nur die sogenannte „Kurdenfrage“.

Erdogans Regime hat in der jüngeren Vergangenheit herbe Niederlagen einfahren müssen: Der Verlust der absoluten Mehrheit im Juli 2015, der Wahlsieg der pro-kurdischen Linkspartei HDP, Bekanntwerden der Verwicklungen in Korruptionsfälle. Dazu kommen immer breitere Schichten, die sich gegen ihn richten, weil die Wirtschaft zu stottern beginnt und immer offensichtlicher wird, dass Erdogans Politik v.a. die Reichen immer reicher macht, für ArbeiterInnen aber wenig übrig hat.

Diese Entwicklung will die AKP-Regierung „korrigieren“. Sie präsentiert sich mit Erdogan an der Spitze als die starke Kraft im Land. Der Friedensprozess und Waffenstillstand mit der kurdischen Miliz PKK wird aufgelöst, mehr als tausend linke AktivistInnen werden landesweit verhaftet. Die Bombenattentate in Suruc und Ankara werden als Vorwand missbraucht, den „Krieg gegen den Terror“ gegen diejenigen zu führen, die Ziel dieser Attentate waren – KurdInnen, SozialistInnen, GewerkschafterInnen. Somit schafft es die AKP, das rechtsextreme Lager hinter sich zu scharen und bei den Neuwahlen im November die absolute Mehrheit zurückzuerobern. Doch die HDP schafft ebenfalls die 10% Hürde erneut, bleibt im Parlament vertreten und ist somit weiterhin ein Dorn im Auge des türkischen Staates.

Was Erdogan in Bewegung gebracht hat, ist nicht einfach so zu stoppen. Der Krieg gegen die KurdInnen muss aus Sicht der Regierung weitergehen, weil er auch ein Ablenkungsmanöver von der zunehmend schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage ist. Während Erdogan mit Panzern in den „eigenen“ Städten aufrollt und russische Flugzeuge in Syrien abschießen lässt, kassiert er von der EU drei Milliarden Euro, um mit Wasserwerfern Flüchtlinge über die syrische Grenze zurückzudrängen und so den Flüchtlingsstrom kappen.

Erdogan versucht die zunehmende soziale Krise, die politischen Konflikte, den wirtschaftlichen Niedergang und die Unzufriedenheit im Westen mit einer Militäroffensive im Osten des Landes zu verdecken. Doch es gibt Widerstand: Friedensmärsche werden gestartet, um Ausgangssperren zu durchbrechen und die Belagerungen von kurdischen Städten zu beenden. Erdogan eskaliert weiter und zahlreiche Friedensdemonstrationen werden auch im Westen von der Polizei angegriffen. Die massive Zunahme von Streiks im Jahr 2015 und der Erfolg der HDP, der auch von vielen türkischen WählerInnen getragen wurde, haben gezeigt, dass ein Schulterschluss zwischen sozialen Kämpfen von türkischen und kurdischen ArbeiterInnen mit dem kurdischen Befreiungskampf möglich ist. Diese Verbindung ist der Schlüssel zum erfolgreichen Widerstand gegen Erdogans Kriegspolitik!

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