Internationales

Die Türkei nach den Wahlen

Der „Koalitionspartner“ der HDP ist die ArbeiterInnenklasse in der Türkei!
Stefan Gredler

Der 7.Juni brachte ein politisches Erdbeben in der Türkei. Nach 13 Jahren Alleinherrschaft hatten AKP und Erdogan ihre absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen verloren und brauchen eine Koalition. Grund für die herbe Niederlage war u.a. der Wahlerfolg einer neuen linken Kraft. Die HDP („Demokratische Partei der Völker“) schaffte es, die vollkommen undemokratische 10%-Hürde, ein Erbe der Militärdiktatur, zu überwinden und mit 80 Abgeordneten ins Parlament einzuziehen. Somit steht die Linke in der Türkei vor Möglichkeiten, wie sie es seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, gleichzeitig ist die Verantwortung enorm.

Die HDP vertritt nun zahlreiche Minderheiten parlamentarisch, sie setzt sich für LGBT-Rechte ein und kämpft für die Gleichstellung von Mann und Frau. Die Angriffe der türkischen Regierung auf eine Pride-Demonstration in Istanbul im Juni zeigten jedoch, dass diese Errungenschaften besonders auf der Straße verteidigt werden müssen. Die einst boomende Wirtschaft der Türkei ist ins Stocken geraten, somit wackelt Erdogans Macht nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch. Das bedeutet für die HDP, den tiefen Graben zwischen der türkischen und kurdischen ArbeiterInnenklasse zu füllen und mit sozialen Forderungen den Widerstand hinter sich zu vereinen. Jetzt braucht es keine parlamentarischen Koalitionsspielchen, sondern Massenmobilisierungen und einen vereinten politischen Kampf gegen Erdogan und seine Clique!

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

250.000 auf der Straße gegen TTIP

von Steffen Strandt, Berlin

Wie weiter im Widerstand?

250.000 Menschen zogen am Samstag gegen das Freihandelsabkommen TTIP vom Berliner Hauptbahnhof bis zur Siegessäule. Damit wurden die Erwartungen der Veranstalter von 50.000 TeilnehmerInnen deutlich übertroffen. Seit den Protesten 2004 gegen die Agenda 2010 waren es die größten Sozialproteste in Deutschland. Damit war die Demo am Samstag sogar größer als die Proteste gegen Atomkraft nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011.

Breite Beteiligung von Gewerkschaften

Auffällig war auf der Demo die große Beteiligung von GewerkschafterInnen. Viele Betriebsgruppen und lokale Gewerkschaftsgliederungen aus dem gesamten Bundesgebiet haben in den letzten Monaten für die Demo mobilisiert und sind sichtbar als Gruppen zu den Protesten gefahren. Die Demo gegen TTIP war für viele eine Möglichkeit, um gegen die Macht der Konzernspitzen aktiv zu werden. Es wurde sichtbar, welches Potential der DGB und seine Mitgliedswerkschaften haben, wenn sie ihre Möglichkeiten zur Mobilisierung der Mitglieder nutzen. Doch trotz der massiven Gegnerschaft von GewerkschafterInnen, lehnen die Spitzen von DGB und Einzelgewerkschaften sowie der Europäische Gewerkschaftsbund die Freihandelsabkommen nicht grundsätzlich ab. Die Gewerkschaftsführung schürt Illusionen, dass in den Verhandlungen Umwelt- und Arbeitnehmerschutzrechte verteidigt werden könnten. 2014 gab es sogar noch ein gemeinsames Papier vom DGB-Vorsitzenden Hoffmann mit Sigmar Gabriel, indem sie sich gegen die Schiedsgerichte positionierten. Wenn Funktionäre vor allem davor warnen, dass die angeblich durchweg besseren europäischen Standards den schlechteren US-amerikanischen geopfert werden könnten, lenken sie die Kritik in nationalistische Bahnen und verschweigen, dass auch Konzerne wie Daimler, Bosch, BASF Standards absenken wollen.

Rolle der LINKEN

Mit verantwortlich für den großen Erfolg der Aktion sorgte auch die Partei DIE LINKE. Sie mobilisierte bundesweit Mitglieder und SympathisantInnen nach Berlin und brachte das Thema TTIP auch parlamentarisch immer wieder an die Öffentlichkeit. Außerdem unterstützten viele LINKE-AktivistInnen das europäische Bürgerbegehren, indem sie viele der 3 Millionen Unterschriften gegen TTIP sammelten. Mit einem eigenen Block war die Partei auf der Demo stark vertreten. Als Riexinger auf der Bühne gefragt wurde, wie TTIP gestoppt werden kann, war seine erste Antwort, dass DIE LINKE im Bundesrat gegen die Umsetzung von TTIP stimmen werde. Das ist zwar notwendig, setzt aber eine völlig falsche Betonung. Er hätte betonen müssen, dass TTIP nur durch eine Steigerung der Bewegung und weitere internationale Massenmobilisierungen gestoppt werden kann.

Linksjugend [‘solid] Berlin-Kreuzkölln organisierte einen eigenen Lautsprecherwagen und Jugendblock. Auf dem Lautsprecherwagen wurde in den Reden wurde klar gemacht, das kein „gerechter Welthandel“ im Kapitalismus möglich ist, und der Kampf für TTIP mit dem Kampf für Sozialismus verbunden werden muss. Dafür wurden 5.000 Flyer zur Mobilisierung an Schulen und auf der Demo verteilt. Außerdem kündigte [‘solid] Berlin -Kreuzkölln den Auftakt der Kampagne „Wohnen. Bleiben. Fluchtursachen bekämpfen. Die Reichen sollen zahlen!“ vom Bundesarbeitskreis Revolutionäre Linke in [‘solid] an.

Wie weiter im Kampf gegen TTIP?

Die riesige Demo gegen TTIP ist ein großer Erfolg für die Bewegung gegen TTIP und die Macht der Banken und Konzerne. Doch wird damit TTIP vom Tisch sein? Alle beteiligten PolitikerInnen, allen voran Sigmar Gabriel haben bisher klargestellt, dass sie TTIP weiter durchsetzen wollen. Dabei versuchen sie durch Zugeständnisse an die KritikerInnen eine Ausweitung des Widerstands zu verhindern. So hat Gabriel am Samstag in einer Zeitungsanzeige versprochen, dass die Schiedsgerichte nicht Teil von TTIP sein werden, und keine Sozialstandards abgesenkt werden. Auch die EU Kommission sagt, dass sie sich in den nächsten Verhandlungen am 19.10. für die Einhaltung von europäischen Standards einsetzen will. Es ist möglich, dass in nächster Zeit ein „TTIP-light“ vorgelegt und verabschiedet wird, dass ohne Schiedsgerichte und ohne größere Eingriffe in bisherige Sozial- und Umweltstandards auskommt. Doch damit sind die Angriffe durch TTIP keineswegs abgewandt. Das Abkommen kann als sogenanntes „living agreement“ im Laufe der Zeit um weitere Punkte erweitert werden und größere Verschlechterungen von Sozial- und Umweltstandards in der EU oder in den USA erst später in internationales Recht gießen. Solche schleichenden Verschlechterungen sind dann für eine Bewegung deutlich schwieriger zu stoppen. Deshalb ist jetzt eine Bewegung notwendig, die TTIP grundsätzlich ablehnt.

Auf der Abschlusskundgebung wurde am Ende immer wieder bekräftigt, dass die Demo nur ein Auftakt zum Widerstand sein kann. Dieser Ankündigung müssen jetzt auch Taten folgen. Um wirklichen Druck für ein Ende von TTIP zu machen muss es eine Ausweitung der Kampagne von Gewerkschaften geben. Zum Beispiel sollte der Widerstand auf ganz Europa ausgedehnt werden.. Es ist bereits eine europaweite Demonstration in Brüssel in den nächsten Monaten in Planung. Das kann ein wichtiger Anfang sein. Hier muss der Europäische Gewerkschaftsverband eine reale Mobilisierung für starten.

Auch in Deutschland muss TTIP noch ratifiziert werden. Die Bundesregierung ist entschlossen das Abkommen noch durchzusetzen und wird nicht ohne weiteres davon abzubringen sein. Um den Druck über die bisherigen Demonstrationen hinaus zu steigern, sind betriebliche Aktionen und koordinierte Arbeitsniederlegungen durch den DGB nötig. Die Demo am Samstag hat gezeigt, dass GewerkschafterInnen bereit sind zu kämpfen. Dafür muss aber die Führung der Gewerkschaften ihren Kurs ändern und sich grundsätzlich gegen TTIP und nicht nur gegen Schiedsgerichte aussprechen und für transparente Verhandlungen eintreten. Dieses Abkommen kann nicht im Sinne von Beschäftigten reformiert werden.

 

Die Türkei nach den Anschlägen auf die Friedensdemonstration

Stellungnahme von Sosyalist Alternatif

Am 10.Oktober wurden Bombenanschläge auf die von mehreren Gewerkschaften organisierte Friedensdemonstration in der türkischen Hauptstadt Ankara, ausgeübt. Bisher starben mindestens 128 Menschen, hunderte wurden verletzt. Es ist der größte Anschlag in der türkischen Geschichte.

Viele Opfer liegen noch auf den Intensivstationen verschiedener Krankenhäuser und eine große Zahl der Leichen konnten noch nicht identifiziert werden. Diese Tragödie hat ein massives menschliches und politisches Ausmaß, das das Land in seinen Grundfesten erschüttert.

Zu der Demo am Samstag hatten der Dachverband der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (KESK), der „Verband der revolutionären Gewerkschaften der Türkei“ (DİSK), der Verband der MedizinerInnen (TTB) sowie die Vereinigten Innungen Türkischer IngenieurInnen und ArchitektInnen (TMMOB) aufgerufen. Wenige Minuten, bevor der Protestzug startete, explodierte eine Bombe dort, wo AktivistInnen der linken pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) sich versammelt hatten. Eine zweite Explosion ereignete sich nur etwa 50 Meter von der ersten, was noch mehr Tod und Zerstörung mit sich brachte. AugenzeugInnen, darunter Mitglieder von Sosyalist Alternatif (Schwesterorganisation der SLP in der Türkei), die den Ort des Geschehens schnell erreichten, berichteten von Szenen unvorstellbarer Grausamkeit.

Diese bestätigten auch Berichte, wonach die Polizei versucht hat, Erste Hilfe für die Opfer zu verhindern. Tränengas wurde in die Menge der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer geschossen, KrawallpolizistInnen wurden zum Tatort geschickt noch bevor die ersten Rettungswagen ankamen. Hüseyin Demirdizen vom Verband der MedizinerInnen (TTB) sagte: „Während die ÄrztInnen der Medizinergewerkschaft zu Blutspenden aufriefen, behauptete die Regierung dass es kein Bedarf nach Blut gebe. Wenn die ÄrztInnen nicht schon auf der Demonstration gewesen wären, wäre die Zahl der Toten und Verletzten viel höher“.

Beinahe direkt nach dem Anschlag entschied sich das Regime dazu, Facebook und Twitter zu blockieren, ein durchschaubares Manöver um Berichte von unten zu verhindern und die von der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) kontrollierten Medien die Oberhand gewinnen zu lassen, die sofort linke Gruppen oder die PKK des Doppelanschlags bezichtigten.

Die erste Antwort von staatlicher Seite lässt überhaupt keinen Zweifel darüber, wie das Regime zu einem Ereignis steht, das nicht nur eine Tragödie ist sondern ein politisch geführtes Massaker. Was auch immer die genaue Rolle des Erdogan-Regimes bei diesem Anschlag sein mag: seine politische Verantwortung ist immens. Dieses Bombardement ist als Teil einer Strategie zu sehen, die eine anhaltende Eskalation und Provokation (dazu zählen auch physische Angriffe) von Seiten des Erdogan-Regimes gegen Linke und die kurdische Unabhängigkeitsbewegung beinhaltet. Die türkische Armee führt gerade einen brutalen Angriffskrieg gegen die PKK und die kurdische Unabhängigkeitsbewegung und hat dabei bisher hunderte Menschen getötet. Und obwohl die PKK bis zu den Wahlen am 1. November die Waffen ruhen lassen will, hat die türkische Armee PKK-Stellungen in der Südosttürkei und im Nordirak angegriffen und dabei viele Menschen getötet.

Niemand lässt sich vom Gerede der Terrorbekämpfung verwirren. Es wird hauptsächlich verwendet, um die massive Verfolgung der Linken und der pro-kurdischen Kräfte zu vertuschen, welche in den letzten Jahren extrem stark unter einer staatlichen Terrorkampagne gelitten haben. Auf der anderen Seite haben in den letzten Jahren dschihadistische Gruppen wie der IS und andere von der Komplizenschaft des türkischen Staates in ihren Syrien-Aktivitäten profitiert.

Enttäuschung und Wut

Aus der Trauer und Enttäuschung über die grauenhaften Anschläge vom Samstag wurde schnell und berechtigterweise Wut über die AKP-Regierung. Am Samstag demonstrierten in Istanbul und anderen Städten Zehntausende gegen die Regierung. Am Tag danach waren in Ankara ca. 10.000 Menschen auf der Straße auf genau dem Platz in der Nähe des Bahnhofs, auf dem die Anschläge stattgefunden hatten. Das drückt eine Stimmung von Trotz und Furchtlosigkeit aus. Bei den Begräbnissen einiger Opfer war eine tiefe Wut der Massen zu spüren, die wahrscheinlich nicht so bald wieder verschwinden wird.

Die vier linken Gewerkschaftsverbände haben zu einem 48-stündigen Generalstreik für Montag, den 12. und Dienstag, den 13. Oktober aufgerufen. Das ist ein sehr passender und unterstützenswerter Schritt, der von der Linken und der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung international unterstützt werden sollte. Ein Generalstreik, der die kurdische und türkische Bevölkerung im gemeinsamen Kampf zusammen bringen kann, ist die beste Antwort auf Erdogan und die Versuche seiner herrschenden Clique, das Blut arbeitender Menschen für ihre Teile-und-Herrsche-Politik auszunutzen und dadurch ihre Macht und die Profite der reichen Geschäftsbonzen, deren Macht sie verteidigen, zu stärken. Angesichts des völligen Versagens der Staats- und Polizeikräfte, die Menschen zu schützen, müssen linke und gewerkschaftliche Kundgebungen und Demonstrationen durch einen gut organisierten Ordnerdienst geschützt werden. Angemessene Selbstverteidigungsmaßnahmen, die alle nationalen Bevölkerungsgruppen einschließen, sollten in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ergriffen werden.

Das Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI) drückt seine vollständige Solidarität, sein Mitgefühl und Beleid all denjenigen gegenüber aus, die Opfer des Anschlags vom Samstag wurden, die Verwandte, FreundInnen und GenossInnen verloren haben. Der beste Weg, die Toten zu ehren, ist es den Kampf gegen das diktatorische Regime von Erdogan, gegen das kapitalistische System und die hinter diesem stehenden imperialistischen Mächte und für eine sozialistisch-demokratische Welt fortzusetzen. Lasst uns sicher stellen, dass dieser Streik erst der Anfang des Aufbaus einer massenhaften und vereinigten Arbeiter- und Jugendbewegung ist, die dieses zynische und mörderische Regime auf den Müllhaufen der Geschichte befördern kann.

 

     

    VW: Der Normalfall ist der Skandal

    Von Georg Kümmel, Köln

    In der Autoindustrie stinken nicht nur die Abgase

    VW, der größte deutsche Konzern, produzierte den vielleicht größten Skandal in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Folgen sind immer noch nicht absehbar. Die Beschäftigten machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Der finanzielle Schaden durch Strafen und Regressansprüche ist unüberschaubar aber gewiss gigantisch. Die Wirtschaft fürchtet Verluste durch den Image-Schaden für deutsche Produkte.

    Die wahre Dimension zeigt sich vielleicht am ehesten in den (außen-)politischen Konsequenzen: Die deutsche Regierung spielt sich ständig als Lehrmeister oder genauer als Zuchtmeister in Europa auf, nach dem Motto ‘Wir zeigen allen anderen wie man’s richtig macht’. Griechenland wurde geknebelt und dabei der moralischen Zeigefinger vorgehalten „Verträge müssen erfüllt werden“. Jetzt ist diese Autorität angekratzt. Aber wir brauchen uns hier nicht den Kopf der Kapitalisten und ihrer Regierung zerbrechen. Es geht darum, die Lehren aus dem Skandal zu ziehen und es geht darum eine Lösung für die Umwelt und die Beschäftigten zu finden. Wer diese jetzt von dem Konzern und der Regierungs-Politik erwartet, wird enttäuscht werden. Eine Lösung erfordert nicht weniger als eine radikale Veränderung der Verhältnisse. Einige Fragen und Antworten zum VW-Skandal:

    Wie konnte man bei VW auf die Idee verfallen, die ganze Welt betrügen zu können?

    Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe. Der eine ist einfach die Gewohnheit. Die gesamte Autoindustrie ist es gewohnt, ungestraft die Öffentlichkeit betrügen zu können. Jede/r Aufofahrer/in weiß, dass die Verbrauchswerte deutlich höher sind als die angegebenen. Zum Beweis reichen ein Blick auf Tankzettel und Kilometerzähler. Komplizierter ist es bei den gesundheitsschädlichen Stickoxiden (NOx) aus den Dieselmotoren. Aber auch dort gab es Beweise. Der International Council on Clean Transportation schreibt: „Die gesetzlichen Limits für NOx-Emissionen von Diesel-Pkw in der EU wurden zwischen 2000 (Euro 3) und 2014 (Euro 6) um 85% gesenkt. Im selben Zeitraum reduzierten sich die realen Nox-Emissionen lediglich um 40% und liegen für Euro 6 um einen Faktor 7 höher als gesetzlich erlaubt.“ (Reales Emissionsverhalten moderner Dieselfahrzeuge, www.theicct.org). (Euro 3 bis Euro 6 sind europäische Abgasnormen, aktuell gilt Euro 6). Die realen Emissionswerte liegen also seit Jahren ganz ungestraft über den gesetzlich vorgeschriebenen, weil die nur unter Testbedingungen erreicht werden müssen.

    Warum hatte man bei VW aber nun den Rahmen des normalen Betrugs verlassen und noch stärker manipuliert? Weil man die strengeren Grenzwerte in den USA selbst unter bekannten Testbedingungen nicht ohne weiteres einhalten konnte, eine Lösung Geld gekostet hätte, man im Konkurrenzkampf um Absatzzahlen nicht zurückbleiben wollte, weil im Konzern (wie in anderen auch) über Probleme und Lösungen nicht offen diskutiert werden kann, sondern von oben diktiert wird. Ingenieure und Manager, die Bedenken äußerten sollen mit ‘Geht nicht gibt’s nicht’ niedergeschrien worden sein. „Selbst wenn ein Projekt in der vorgegebenen Frist gar nicht fertiggestellt werden kann, traut sich keiner, um mehr Zeit zu bitten“ erzählte ein Insider gegenüber FOCUS-online (focus.de, 29.09.2015). Kurzum, bei VW herrschen die üblichen Verhältnisse, die viele Beschäftigte auch von ihrem Arbeitsplatz kennen.

    Bei VW gehört dazu auch die Rolle, die Betriebsratchefs und Spitzen-Gewerkschafter spielten oder spielen. „Aus der Firmenleitung des Volkswagen-Konzerns heraus sind Mitglieder des Betriebsrates mit finanziellen Zuwendungen, Luxusreisen und Dienstleistungen von Prostituierten bestochen und in ihren Entscheidungen korrumpiert worden.“ (VW-Korruptionsaffäre 2005, wikipedia). Der ehemalige VW-Personalvorstand Peter Hartz (Erfinder der Hartz-Gesetze) wurde in dem Zusammenhang wegen Untreue verurteilt. Der ehemalige IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber ist derzeit kommissarischer Vorsitzender im Aufsichtsrat der Volkswagen AG.

    Warum schreibt die Politik keine realistischen Abgastest und schärfere Kontrollen vor?

    Weil der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt. Die Autoindustrie bestimmt die Umweltpolitik, nicht umgekehrt. „Die deutsche Autolobby ist eine der mächtigsten und einflussreichsten Lobbybranchen der Republik. … Unter dem Druck der Autolobby verhinderte Merkel damals [2013] einen bereits vereinbarten europäischen Kompromiss zur Senkung der klimaschädlichen Abgase.“ (www.lobbycontrol.de). Gesetze und Verordnungen die die Autoindustrie betreffen, wurden von deren Vertretern zum Teil eigenhändig verfasst und von der Regierung fast wortgleich übernommen. Die Verbindungen zwischen Autoindustrie und Politik sind eng, bei VW traditionell noch etwas enger. Karl Marx schrieb bereits Mitte des 19. Jahrhunderts: „Sowohl die politische wie die zivile Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse.“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 109.

    Was ist die Ursache für den großen Einfluss der Autoindustrie?

    Die Autoindustrie ist auch weltweit eine Schlüsselindustrie. Ihr Aufstieg prägte das 20. Jahrhundert. In Deutschland wurden der Otto- und der Dieselmotor und das Automobil erfunden. Die Automobilindustrie ist, gemessen am Umsatz, der mit Abstand bedeutendste Industriezweig Deutschlands. Weltweit produzierten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr 15 Millionen PKW.

    Was ist das Problem?

    Bei der Manipulation der Abgaswerte ging es darum, die strengen US-Grenzwerte für den Ausstoß von Stickoxiden unter Testbedingungen auf dem Prüfstand einzuhalten – und nur auf dem Prüfstand. Die von VW eingebaute Software erkennt, dass sich das Auto auf einem Prüfstand befindet (weil sich das Auto trotz Drehen der Räder nicht bewegt) und schaltet Motor und Abgasreinigung in einem besonderen Modus. Das geht auf Kosten der Motorleistung bzw. des Verbrauchs eines speziellen Additivs (AdBlue). Im Fahrbetrieb sind die Stickoxid-Emissionen dann bis zu 35 mal höher als gesetzlich erlaubt. Diese Grenzwerte wurden in den letzten Jahren verschärft, weil Stickoxide gleich auf mehrere Arten gefährlich wirken. Sie reizen und schädigen die Atemwege und vermindern die Funktionsfähigkeit der Lunge. Stickoxide aus Autoabgasen führen zur vermehrten Bildung von bodennahem Ozon, das ebenfalls ein Reizgas ist. Außerdem führen sie zum sauren Regen, der Wälder und Pflanzen schädigt.

    Welche Lösung kann es geben?

    Ob es zumindest für einen Teil der elf Millionen Autos, die mit der manipulierten Software unterwegs sind, eine technische Lösung geben wird, muss sich erst noch zeigen. Sicher ist, dass die europäischen Grenzwerte in der Realität nicht eingehalten werden, selbst wenn die gesetzlichen Normen auf dem Prüfstand erfüllt werden – denn mehr schreiben die Gesetze heute gar nicht vor. Technisch wäre es aber möglich, die Grenzwerte einzuhalten. Zu dem Schluss kommt der bereits zitierte ICCT, der 15 moderne Diesel-Modelle von verschiedenen Herstellern unter realen Bedingungen testete: „Einige der getesteten Fahrzeuge wiesen durchschnittliche Emissionen unterhalb der Euro 6-Grenzwerte auf, was zeigt, dass die Technologien um die gesetzlichen Normen auch unter realen Bedingungen zu erfüllen, bereits heute existieren.“ (Reales Emissionsverhalten moderner Dieselfahrzeuge,http://www.theicct.org/sites/default/files/ICCT_PEMS-study_diesel-cars_2014_factsheet_DE.pdf )

    Die Lösung liegt außerhalb der Autoproduktion

    Egal ob Drei-Liter-Auto, Hybrid- oder Elektroauto – alle diskutierten Lösungen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass das Auto das Transportmittel Nummer eins in der Welt bleibt. Das wäre allerdings die Fortsetzung und Verschärfung einer Katastrophe. Dazu ein paar Fakten zur Autoindustrie:

    • In Deutschland sterben jedes Jahr über 3.000 Menschen im Straßenverkehr
    • Ca. 400.000 werden jedes Jahr bei Unfällen verletzt
    • Nach Erhebungen und Schätzungen von Weltbank und Weltgesundheitsorganisation sterben weltweit jährlich etwa eine Million bis 1,2 Millionen Menschen an den Folgen von Verkehrsunfällen. Die Zahl der Verkehrstoten liegt damit weit über den Opferzahlen von allen Kriegen zusammengenommen.(Wikipedia)
    • Das Todesrisiko für Insassen eines Pkw ist in Deutschland 58 mal höher als für Bahnreisende
    • Die Wahrscheinlichkeit zu verunglücken ist bei jeder Autofahrt gut 111 mal höher als bei einer Bahnfahrt (jeweils bezogen auf Personenkilometer). (www.allianz-pro-schiene.de, 10.12.2014)
    • Der Autoverkehr verpestet die Luft, ist hochgradig klimaschädlich, raubt Platz in den Städten und unsere Zeit (Staus).
    • Die Autoproduktion belastet die Umwelt, 2014 wurden weltweit 67 Millionen Pkw produziert, Tendenz steigend.

    Anderes Verkehrssystem

    Die Lösung kann also nicht darin liegen, andere Autos zu bauen. Die Lösung liegt in einem anderen Verkehrssystem. Mit den technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts wäre es nicht weiter schwierig, den Wunsch sich individuell zu bewegen, mit gemeinschaftlichen Transportmitteln wie Bus und Bahn zu erfüllen, sicher und umweltfreundlich. Das wäre auch billiger, denn zu den Kosten des Autoverkehrs muss man neben dem Bau und Unterhalt von Straßen auch noch die Kosten durch die Luftverschmutzung, die auch materiellen Verluste durch die Verkehrsopfer und die Verluste an Zeit und Arbeitszeit durch Staus rechnen.

    Ein Verkehrssystem im Interesse von Mensch und Umwelt ließe sich nur gegen den erbitterten Widerstand der Autokonzerne und davon abhängigen Wirtschaftszweigen durchsetzen. Die Erfahrung mit hundert Jahren Autoindustrie zeigt: es kann sich nur etwas ändern, wenn man die Macht dieser Konzerne bricht. Ihre Macht brechen heißt aber, sie in öffentliches Eigentum überführen und demokratisch kontrollieren und verwalten. Auf dieser Grundlage und einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, wie unser Verkehrssystem organisiert sein soll, könnte man die Produktion auf die entsprechenden (öffentlichen) Verkehrsmittel umstellen.

    Wer soll bezahlen?

    Für den verursachten Schaden müssen die Verantwortlichen Spitzenmanager und Großaktionäre finanziell zur Verantwortung gezogen werden. Königliche Managergehälter werden schließlich immer mit der großen Verantwortung begründet, das Kassieren von Dividenden wird als Belohnung für das unternehmerische Risiko verteidigt. Also dann: jetzt ist der Zeitpunkt, die Verantwortung und das unternehmerische Risiko zu tragen. Die Beschäftigten hatten nicht zu entscheiden. Solange noch irgend ein Top-Manager oder Großaktionär aus dem VW-Konzern über mehr Einkommen und Eigentum verfügt als ein/e Bandarbeiterin bei VW, darf es keine Nachteile für die Beschäftigten geben. Es darf nicht zugelassen werden, dass Leiharbeiter zu Hartz-IV-Empfängern werden, während Ex-Chef Winterkorn sich auf einem Multi-Millionenvermögen ausruhen kann und möglicherweise auch noch eine Abfindung kassiert.

    Wer soll aufklären?

    VW hat nicht nur sich selbst als Konzern geschadet, die Verantwortlichen haben der Gesellschaft Schaden zugefügt, insbesondere weil die Luft, die wir alle atmen, zusätzlich verpestet wurde und wird. Deshalb gibt es ein gesellschaftliches Interesse an der Aufklärung. Alle internen Dokumente müssen öffentlich gemacht werden. Dabei darf sich VW nicht auf das Betriebsgeheimnis berufen können – ein Verbrecher kann schließlich auch nicht mit dem Verweis auf den Schutz seiner Privatsphäre eine Hausdurchsuchung verhindern.

    Eine Untersuchungskommission darf nicht von oben eingesetzt, sondern muss von unten zusammengesetzt werden. Zum Beispiel könnten VertreterInnen der Belegschaft auf einer Betriebsversammlung gewählt werden, außerdem gewählte Delegierte von Umweltschutzverbänden und nachweislich gegenüber der Autoindustrie kritisch eingestellten Verbänden wie PRO BAHN. Auch die anderen Autokonzerne müssen entsprechend unter die Lupe genommen und alle Ergebnisse veröffentlicht werden. Der Skandal sollte auch zum Anlass genommen werden, mit Strukturen und Verbindungen von Gewerkschaftsfunktionären zu den Konzernspitzen aufzuräumen, die an Mafia-Geschichten erinnern. Durchschnittslohn für Gewerkschaftsfunktionäre, Erstattung ihrer Unkosten – aber Abgabe aller Gelder die darüber hinausgehen in die Kasse der Gewerkschaft, Rechenschaftspflicht und jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit, das alles gehört zu den Prinzipien, die durchgesetzt werden müssen, wenn nicht alles beim Alten bleiben soll.

    Der Skandal beim größten deutschen Konzern, der Bestandteil des wichtigsten Wirtschaftszweigs in Deutschland ist, zeigt nur in besonders eindringlicher Weise, was die letzte Konsequenz eines Wirtschaftssystems ist, in dem das Motiv für die Produktion nicht das Wohlergehen von Mensch und Umwelt ist, sondern schlicht den privaten Profit zu vermehren. Wir haben uns daran gewöhnt, das als normal zu empfinden, das ist es aber keinesfalls. Oder anders gesagt: der Normalfall ist der Skandal.

     

       

      Irland: Unterstützt die Jobstown 23!

      Staatliche Repression gegen DemonstrantInnen – Einfluss der Linken wächst
      von Sascha Stanicic, Berlin

      2.000 Menschen zogen am 19. September durch die Straßen von Irlands Hauptstadt Dublin. Ihre Forderung: Unterstützt die Jobstown 23! Gemeint sind 23 AktivistInnen der Bewegung gegen die Einführung von Wassergebühren, die eine Anzeige erhielten, weil sie an einer Sitzblockade im Dubliner Stadtteil Jobstown gegen die stellvertretende Ministerpräsidentin Joan Burton teilgenommen hatten.

      Als in dem Arbeiterviertel bekannt wurde, dass Burton an einer Feierlichkeit teilnahm, mobilisierten AnwohnerInnen spontan zu einem Protest, der zu einer Sitzblockade ihrer Regierungskarosse führte. Grund genug hatten die Menschen: Nicht nur ist das Regierungsmitglied und die Labour-Vorsitzende mitverantwortlich für die verhassten Wassergebühren, sondern auch für Kürzungen bei Wohn- und Kindergeld. Nun werden 23 der DemonstrantInnen unter anderem wegen Freiheitsberaubung vom Generalstaatsanwalt angeklagt. Das kann zu erheblichen Freiheitsstrafen führen.

      Der Protest war Teil der Massenbewegung gegen die Wassergebühren, die Irland seit Monaten erschüttert. 57 Prozent der Bevölkerung sind dem Aufruf der „We won‘t pay“-Kampagne gefolgt und haben die erste Rechnung der Wassergebühren nicht gezahlt. Getragen wird diese Kampagne von der Anti-Austerity-Alliance (AAA), einer neuen politischen Bewegung von ArbeiterInnen und Jugendlichen, die von der Socialist Party (Schwesterorganisation der SLP in Irland) mit ins Leben gerufen wurde. Beteiligt am Protest in Jobstown – und nun angeklagt – war auch der AAA-Abgeordnete Paul Murphy.

      Für diesen ist die Anklage ein klarer Fall von „politisch motiviertem polizeilichem Vorgehen“. Denn die irische Polizei hatte viel Zeit und Geld in die Untersuchung gesteckt, die dann zur Anklageerhebung führte. Der Hintergrund ist deutlich: Mit der AAA ist eine kämpferische, linke Bewegung entstanden, der es gelungen ist, einen Massenboykott der Wassergebühren zu organisieren und bei Wahlen Erfolge zu erzielen. Drei AAA-UnterstützerInnen sitzen im irischen Parlament und ein gutes Dutzend sind Stadträte. Parlamentswahlen stehen bald an und die Regierung muss um ihre Mehrheit fürchten. In einer kürzlich veröffentlichten Umfrage würden 25 Prozent ihre Stimme für unabhängige KandidatInnen abgeben, wozu die AAA und andere linke Kandidaturen gehören.

      Bewegung

      Irland erlebt nach Jahren der Wirtschaftskrise gerade eine leichte Erholung. Für die Arbeiterklasse aber gibt es keine Erholung von der Austeritätspolitik. Nach Jahren relativer gesellschaftlicher Ruhe ist das Land nun in Bewegung geraten. Aus den Arbeitervierteln Dublins ist eine spontane Massenbewegung gegen die Wassergebühren entstanden, die zu mehreren Massendemonstrationen, aber vor allem zu einem Prozess der Selbstorganisierung geführt hat. In einer Volksabstimmung wurde mit deutlicher Mehrheit das Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung durchgesetzt – in dem wahrscheinlich erzkatholischsten Land Westeuropas! Die Jugend rebelliert gegen den Einfluss der Kirche auf die Gesellschaft und das Leben der Menschen. Die AAA und die sozialistische Frauenorganisation ROSA führen auch eine Kampagne für das Recht auf Abtreibung.

      Wohnungsnot

      In den letzten Wochen steht der Kampf gegen Wohnungsnot und Obdachlosigkeit im Mittelpunkt der Aktivitäten der AAA. 100.000 Familien stehen auf der Warteliste für eine Sozialwohnung, von denen es kaum welche gibt, und es werden auch keine neuen gebaut. Immer mehr MieterInnen – besonders häufig alleinerziehende Mütter – können ihre Miete nicht mehr zahlen. Die AAA-Abgeordnete Ruth Coppinger hilft Betroffenen und unterstützt sie dabei, trotz Kündigung in der Wohnung zu bleiben. Sie beteiligte sich an einer Hausbesetzung betroffener MieterInnen und brachte ihre Botschaft ins Parlament: Wir sprechen einer Regierung das Misstrauen aus, die nichts zur Lösung der Wohnungskrise unternimmt!

      Die Herrschenden Irlands hoffen durch den Prozess gegen die Jobstown 23 das Selbstbewusstsein der Protestbewegungen und der AAA zu brechen. Der AAA wurde sogar das Recht auf eine Spendensammlung verweigert, weil sie das Geld „zur Organisierung von Protesten verwenden werde“. Doch die Menschen in Irland protestieren, weil sie keine andere Wahl mehr haben. Und staatliche Repression wird nur wie eine Peitsche wirken, die den Protest weiter voran treiben wird.

      Protestbriefe bitte an: embassyofireland.de (Kontaktformular verwenden)

      Zum Mythos vom sicheren Westbalkan

      Fakten gegen Vorurteile
      von Heinrich Fedun, Berlin

      Seit dem Sommer 2014 gelten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien in Deutschland als sichere Herkunftsstaaten. Dies bedeutet, dass die Anträge von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern aus diesen Ländern nur noch oberflächlich geprüft werden und damit schneller abgelehnt werden können, da aus Sicht der Behörden in diesen Ländern nicht von politischer Verfolgung auszugehen ist. Flüchtlinge müssen beweisen, dass sie entgegen dieser Annahme verfolgt werden, wenn sie als Flüchtling anerkannt werden wollen.

      Bereits vor der aktuellen Flüchtlingskrise wurden immer lauter Forderungen nach Abschreckungs- und Repressionsmaßnahmen gegen Flüchtlinge gefordert. Insbesondere solche vom Westbalkan müssen als Begründung herhalten. Diesen wird unterstellt, dass sie es nur auf die Sozialleistungen in Deutschland abgesehen hätten und eigentlich keinen „echten“ Asylgrund vorweisen könnten. Schließlich werde niemand vom Westbalkan vertrieben, wie Joachim Herrmann, dem die Bezeichnung „Vertriebene“ für heutige Flüchtlinge eine Beleidigung der deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist, kürzlich behauptete. Daher sollen Kosova, Albanien und Montenegro auch im Zuge der bevorstehenden Asylrechtsverschärfung zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt werden.

      Auf der einen Seite also „echte“ Flüchtlinge aus dem Irak, aus Eritrea und Syrien, auf der anderen „falsche“, das heißt „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Westbalkan? Interessant sind vor diesem Hintergrund die Anerkennungsquoten anderer Staaten. Pro Asyl weißt darauf hin, dass die Schweiz circa 37% der serbischen und 40% kosovarischen Antragsstellerinnen und Antragssteller als Flüchtlinge anerkennt, in Finnland circa 43% der kosovarischen Flüchtlinge Schutz finden und Frankreich und Belgien 20% bzw. 18% der bosnischen Flüchtlinge Schutz gewährt1. In der gesamten EU schwanken die Schutzquoten von Staat zu Staat für Flüchtlinge und insbesondere für die vom Westbalkan. Erkennen die genannten Staaten also wirtschaftliche Motive als Asylgrund an? Mitnichten. Auch andere EU-Staaten und die Schweiz erkennen „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht an. Der Unterschied ist, dass die Bundesrepublik schlicht ein Hardliner in dieser Frage ist, und den Begriff der Verfolgung sehr eng auslegt.

      Wer flieht also aus Serbien, Kosova, Mazedonien und den anderen „sicheren Herkunftsstaaten“ und warum? Welche Zustände herrschen dort, die in Deutschland keinen Asylgrund darstellen, in anderen Staaten jedoch schon. Dies soll im Folgendem dargestellt werden. Einen breiteren Raum wird die Situation der Roma in dieser Region einnehmen, da ein Großteil der Flüchtlinge aus diesen Staaten mit Ausnahme Kosovas und Albaniens Roma sind (laut Bundesregierung 91 Prozent der serbischen, 72 Prozent der mazedonischen, 60 Prozent der bosnischen und 42 Prozent der montenegrinischen Flüchtlinge)2.

      Serbien

      Serbien wurde von der Krise 2007/2008 schwer getroffen. Seit 2008 erlebt Serbien sein sechstes Jahr in Rezession. Das Nettodurchschnittseinkommen liegt bei circa 380 Euro im Monat. Auch sind Korruption und organisiertes Verbrechen weit verbreitet3. Die Arbeitslosenquote liegt seit Jahren bei circa 21 Prozent4.

      Außerdem war Serbien im Sommer 2014, wie auch Bosnien-Herzegowina, von schweren Überschwemmungen betroffen, die schwere wirtschaftliche Schäden verursachten und Wohnhäuser, Schulen, Straßen und Krankenhäuser im Lande zerstörten. Geschätzt fielen durch die Flut und deren Folgen 125.000 Menschen unter die Armutsgrenze5.

      Berichten zufolge wurden Roma der Zugang zu Aufnahmelagern für Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, verwehrt6. Auch ist Gewalt gegen Roma ein weitverbreitetes Problem. Roma und Romasiedlungen bzw. -viertel werden regelmäßig von serbischen Faschisten und nach Fußballspielen von rechten Hooligans angegriffen.

      Pro Asyl berichtete über mehrere Übergriffe7 und ausführlich über die Situation der serbischen Roma. 2010 griffen in der Ortschaft Jabuka in der Vojvodina Dorfbewohnerinnen und -bewohner wahllos Häuser von Roma an, nachdem ein jugendlicher Roma einen Serben im Streit ermordet hatte. Die anwesende Polizei griff erst nach Tagen ein. Nur ein Bruchteil der Angreifenden wurde festgenommen und zu Strafen unterhalb des gesetzlichen Strafmaßes verurteilt.

      Aus Belgrad und dem Rest des Landes werden immer wieder Ausschreitungen und körperliche und verbale Angriffe gegen Roma berichtet. Das Romamuseum in Belgrad wird immer wieder mit romafeindlichen Graffitis und Hakenkreuzen beschmiert.

      Auch Polizeigewalt im allgemeinen und speziell gegen Roma ist ein enormes Problem. Polizeiübergriffe werden teils aus Unwissenheit über die eigenen Rechte, teils aus Furcht vor Repression nicht zur Anzeige gebracht. Wenn doch Anzeige erstattet wird, werden Verfahren verzögert oder eingestellt.

      Siedlungen serbischer Roma werden häufig im Zusammenhang von Infrastrukturprojekten zwangsgeräumt. In der Regel geschieht dies unangekündigt, es kommt zu Gewaltanwendungen, häufig wird kein neuer Wohnraum oder nur kalte Wohncontainer ohne Anschluss an Kanalisation zur Verfügung gestellt und beschädigtes oder zerstörtes Eigentum wird nicht ersetzt. Auch müssen viele Roma in sogenannten informellen Siedlungen Leben, d.h. Siedlungen, die nicht legalisiert sind. In einem Drittel dieser Siedlungen gibt es keine Wasseranschlüsse und in 70 Prozent keinen Anschluss an das Abwassersystem. Diese Siedlungen sind auch oft nicht an das Stromnetz angeschlossen.

      Auch im Bildungssystem ist die Lage für Roma prekär. Laut der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats beenden nur ein Viertel der Romakinder die Schule und der Besuch weiterführender Schulen ist im einstelligen Prozentbereich. Viele Romakinder werden pauschal auf Sonderschulen für Lernbehinderte abgeschoben oder in spezielle Romaklassen. Auch Diskriminierung durch Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrende und die Schulbehörden ist weit verbreitet.

      Auch ist vielen Roma der offizielle Arbeitsmarkt verschlossen, wodurch sie sich durch selbstständige Beschäftigung als Straßenhändler, mit Gelegenheitsjobs oder dem Sammeln von Altmetall durchschlagen müssen. Wenn Roma an Arbeit kommen, wird diese oft geringer entlohnt (durchschnittlich 48 Prozent weniger als Nichtroma) und ist körperlich schwer und gefährlich.

      Noch schlimmer ist die Situation für binnenvertriebene Roma aus Kosova. Neben dem Umstand, dass auch diese durch antiziganistische Gewalt bedroht sind, vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt sind und in informellen Siedlungen leben, sind auch viele durch fehlende oder unvollständige Personaldokumente völlig rechtlos. Um Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, zum Bildungssystem und andere öffentliche Dienstleistungen zu erhalten müssen sich Binnenvertriebene registrieren. Jedoch wird dies durch widersprüchliche Vorschriften, bürokratische Hürden und über ganz Serbien verstreute Melderegister erschwert. Mit unvollständigen Dokumenten ist eine Anmeldung nicht möglich und Roma, Ashkali und Ägypter, die schon in Kosova in informellen Siedlungen lebten, können sich de facto in keinem Ort um- und abmelden und geborene Kinder werden nicht registriert, wodurch diese nicht die Schule besuchen können und gesundheitlich versorgt werden. In Serbien entsteht eine immer größere Schicht von rechtlosen Roma, die offiziell nicht existieren.

      Weitere Gruppen, die enormer Diskriminierung ausgesetzt sind, sind Homosexuelle, Trans- und Interpersonen. Zwar gibt es Antidiskriminierungsgesetze, die erst durch den Druck der EU-Beitrittsverhandlungen eingeführt wurden, jedoch ist Homo- und Transphobie in der serbischen Gesellschaft weit verbreitet und wird durch serbische Politikerinnen und Politiker, den orthodoxen Klerus und Rechtsradikale und Faschisten angestachelt. Übergriffe sind an der Tagesordnung und werden selten bestraft, da Anzeigen aus Angst vor weiterer Diskriminierung nicht erstattet werden und die Behörden kaum gegen Gewalt und Anfeindungen vorgehen.8

      20 Prozent der serbischen Bevölkerung befürwortet Gewalt gegen Homosexuelle und über 60 Prozent sehen Homosexualität als eine Krankheit9. Die erste Pride Parade in Belgrad 2010 endete in stundenlangen Straßenschlachten zwischen der Polizei und serbischen Faschisten. Danach wurden alle Demonstrationen der Folgejahre mit dem vorgeschobenen Argument, dass es wieder zu Ausschreitungen kommen könnte, verboten. Erst 2014 fand wieder eine Pride Parade unter massiven Polizeischutz statt. Einen Tag zuvor hatten 20000 serbische Rechte mit Unterstützung des serbischen Klerus gegen Homosexualität demonstriert10.

      Kosova

      Seit der von den NATO-Mächten unterstützen Unabhängigkeitserklärung Kosovas hat sich die ökonomische Lage im Land nicht gebessert. Kosova ist das Armenhaus Europas. Die Arbeitslosigkeit ist unvermindert hoch, je nach Quelle wird sie auf 3511 bis 45 Prozent12 geschätzt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent. Die Arbeitslosenquote unter Roma beträgt annähernd 100 Prozent13. 17 Prozent der Bevölkerung lebt in extremer Armut, d.h. sie bestreiten ihren Tagesunterhalt von unter einem Euro pro Tag und 45 Prozent lebt in absoluter Armut, d.h. weniger als 1,42 Euro pro Tag14. Das Bildungs- und Gesundheitssystem Kosovas ist völlig marode. Kosova ist enorm von Geldern aus dem Ausland abhängig, seien es Gelder der EU oder Überweisungen von Auslandskosovaren.

      Hinzu kommt die weitverbreitete Korruption und organisierte Kriminalität. Alles unter den Augen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen. Hilfsgelder versickern in dunklen Kanälen, Mitarbeiter der Eulex-Mission, die eigentlich einen Rechtsstaat aufbauen soll, sind in Korruptions- und Justizskandale verwickelt15, weite Teile der Elite des Landes gelten als mit der organisierten Kriminalität verbandelt. Beispielweise wurde über Hashim Thaçi, Ministerpräsident Kosovas von 2008 bis 2014, immer wieder berichtet, auch unter Verweis auf deutsche oder US-amerikanische Geheimdienste, dass er Kontakte zur organisierten Kriminalität hält. Auch die Polizei und die Justiz werden von der kosovarischen Bevölkerung als zutiefst korrupt wahrgenommen. Außerdem ist Kosova zu einer Drehscheibe des Menschen-, Drogen- und Waffenhandels in Europa avanciert.

      Das politische Leben ist von Stillstand geprägt, die derzeitige Regierung kam erst nach einer sechsmonatigen Pattsituation auf Druck der EU und USA zustande und im Norden herrschen weiterhin staatliche Parallelstrukturen der serbischen Minderheit, mit der es immer wieder zu Zusammenstößen kommt.

      Die Roma in Kosova, sowie die Ashkali und Ägypter, die den Roma zugerechnet werden, jedoch eine eigene ethnische Identität beanspruchen, sind massiven Diskriminierungen ausgesetzt. Innerhalb der albanischen Gemeinschaft gelten sie als Kollaborateure mit Serbien. Die Flüchtlingsinitiative „alle bleiben“ dokumentierte 2013 die Zustände, in denen Roma in Kosova leben müssen. Romakinder werden innerhalb der Schule gemobbt, die Kosten für Schulmaterial müssen selbst getragen werden und die bürokratischen Hürden sind für Roma hoch, insbesondere wenn ihre Kinder vorher in der Bundesrepublik zur Schule gingen16. Zeugnisse aus Deutschland und anderen EU-Staaten werden oft nicht anerkannt. Hinzu kommt die Sprachbarriere vieler Romakinder, die in einem EU-Staat geboren wurden und aufgewachsen sind. Viele sprechen kein oder kaum albanisch oder serbisch.

      Auch vom Arbeitsmarkt werden Roma systematisch ausgeschlossen, wodurch sich viele mit Müllsammeln oder Gelegenheitsarbeit durchschlagen müssen. Abgeschobene Roma aus Deutschland oder Frankreich können meist nicht in ihre Häuser, die sie vor dem Krieg bewohnt hatten, zurückkehren. Viele Häuser sind zerstört, mussten vor der Flucht zu Schleuderpreisen verkauft werden oder werden jetzt von albanischen Familien bewohnt. Da oft keine Dokumente mehr existieren, die die Besitzverhältnisse vor der Flucht belegen, stehen zurückgekehrte Roma ohne Dach über dem Kopf da.

      Erschwerend kommt die Untätigkeit von Polizei und Justiz hinzu. Gewalttaten gegen Roma und andere Minderheiten werden kaum angezeigt, da auch hier Ermittlungen verzögert und eingestellt werden und die Polizei schlimmstenfalls die Opfer auch noch demütigt.

      Bosnien-Herzegowina

      Auch Bosnien-Herzegowina hat mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 40 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit erreicht sogar 60 Prozent17. Die Löhne im Land sind, selbst für gut ausgebildete Fachkräfte, sehr niedrig. Staat und Wirtschaft sind wie in den restlichen Westbalkanstaaten von Korruption und Klüngel geprägt. Oft schustern Parteibürokraten sich und ihren Familien Posten in der Verwaltung oder privatisierte Unternehmen zu. Gleichzeitig erlebt Bosnien seit seiner Unabhängigkeit eine zunehmende Deindsutrialisierung. Jeder zehnte Bewohner gilt als arm18. Deutschland zieht einen enormen Nutzen aus solchen Verhältnissen. Allein 2014 wurden circa 1000 medizinische Fachkräfte aus dem Land gezielt abgeworben19. Die Abwanderung gut ausgebildeter (medizinischer) Fachkräfte nach Westeuropa ist ein Phänomen des gesamten Balkans.

      Die politische Elite des Landes hat sich in die Nachkriegsordnung bestens eingerichtet. Mit dem von den USA aufoktroyierten Dayton-Abkommen entstanden zwei Staaten in einem, die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republik Srpska. Auf dem ersten Blick ein System, was der ethnischen Vielfalt Bosnien-Herzegowinas Rechnung trägt, spaltet es die Bevölkerung immer noch entlang ethnischer Kategorien und trägt zur politischen Stagnation des Landes bei. Außerdem diskriminiert diese politische Ordnung andere Minderheiten wie Roma und Juden. Für die Kandidatur bestimmter politischer Ämter, für eines der beiden bosnischen Parlamente und für einen Job in der öffentlichen Verwaltung müssen Bewerberinnen und Bewerber einer der drei Gruppen der Serben, Kroaten oder Bosniaken angehören bzw. werden letztere entsprechend der Volkszählung von 1991 besetzt20, gewisse Beziehungen stillschweigend vorausgesetzt.

      Roma haben so gut wie keine Möglichkeit in der Verwaltung angestellt zu werden, da laut der Volkszählung von 1991 nur 9000 Roma im Land lebten (sie hatten sich mehrheitlich als Jugoslawen oder den drei Entitäten zugeordnet). Von anderen Sektoren des Arbeitsmarktes sind ebenso Roma ausgeschlossen, das Sammeln von Altmetall oder Betteln zur Sicherung des Lebensunterhalts sind unter den bosnischen Roma weit verbreitet. Dadurch sind sie auch von der Gesundheitsfürsorge ausgeschlossen21.

      Durch die Armut sind viele Roma auch vom Schulbesuch ausgeschlossen. Der bosnische Staat übernimmt keine Kosten für Schulmaterial, Verpflegung oder Verkehrsmittel, wodurch der Schulbesuch für viele Roma zu einer enormen finanziellen Belastung wird. Auch können Kinder der Schule verwiesen werden, wenn sie nicht in angemessener Kleidung in der Schule erscheinen. Und auch von der Abschiebung von nicht lernbehinderten Romakindern auf Sonderschulen wurde berichtet22.

      Montenegro

      In Montenegro beträgt die Arbeitslosigkeit offiziell 13 Prozent, geschätzt sind es inoffiziell sogar 20 Prozent23. Die Schere zwischen arm und reich ist in Montenegro enorm groß und auch die Korruption weit verbreitet. In der Regel werden nur Beamtinnen und Beamte in niedrigeren Positionen belangt, Beamtinnen und Beamte in höheren Positionen und Politikerinnen und Politiker dagegen kaum und wenn, dann werden diese durch den Regierungspräsidenten oft amnestiert.

      Das durchschnittliche Einkommen abhängig Beschäftigter beträgt laut Auswärtigem Amt lediglich 480 pro Monat24. Ein Großteil der Großindustrie aus jugoslawischen Zeiten ist nach dem Zerfall Jugoslawiens weggebrochen. Auch die organisierte Kriminalität ist bis zur Regierungsebene hinauf verbreitet.

      Journalistinnen und Journalisten, die über die weit verbreitete Korruption berichten, müssen mit Repressalien rechnen. Diese reichen von Schmerzensgeldklagen von Regierungsangehörigen und ihren Verwandten über Morddrohungen bis hin zu Sprengstoffanschlägen. 2004 wurde ein Journalist auf offener Straße erschossen. Bis heute wurde niemand dafür verurteilt. Angriffe gegen nicht regierungstreue Journalistinnen und Journalisten sind praktisch straffrei, da mysteriöserweise fast nie ein Täter oder eine Täterin ermittelt werden kann, und offensichtlich politisch gewollt25.

      Ähnlich wie in Serbien ist Homo- und Transphobie in Montenegro weit verbreitet. Laut einer Umfrage aus dem Jahre 2013 halten circa 60 Prozent der montenegrinischen Homosexualität für krankhaft. Umfragen für bestimmte Berufsgruppen (unter anderem der Polizei) kommen auf ähnliche Ergebnisse26. Insbesondere die orthodoxe Kirche schürt die Transphobie nach Kräften und die Regierung unternimmt abgesehen von der Verabschiedung von Gesetzen und schönen Worten nicht viel um Homosexuelle, Transpersonen und deren Familien zu schützen. Gewalt und Anfeindungen werden selten geahndet und das Strafmaß ist in aller Regel niedrig. Entsprechend selten werden homo- und transphobe Übergriffe selten angezeigt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der schwule Aktivist Zdravko Cimbaljević 2013 Asyl in Kanada erhielt, da die montenegrinischen Behörden ihn nicht vor homophoben Anfeindungen und Todesdrohungen beschützten27. Irgendwie unpassend für einen „sicheren Herkunftsstaat“.

      Noch schwieriger gestaltet sich die Situation der Roma. Zwar gibt auch die Regierung weit verbreitet Vorurteile gegenüber Roma zu, erklärt sie jedoch auch mit ihrem „spezifischen Lebenswandel“28. Auch in der restlichen Bevölkerung ist ein gewisses Bewusstsein für die Unterdrückung der Roma vorhanden, immerhin betrachten 63 Prozent der Montenegrinerinnen und Montenegriner Roma als am stärksten diskriminierte Gruppe in Montenegro. Jedoch ist weit über die Hälfte der Bevölkerung engeren Kontakt (Freundschaft, Heirat) negativ eingestellt29.

      Auch auf dem Arbeitsmarkt sind Roma massiv diskriminiert. Nur fünf Prozent der in Montenegro lebenden Roma befindet sich in einer Festanstellung. Montenegros Regierung führt dies auf ihr niedriges Bildungsniveau zurück. Tatsächlich besuchen nur die Hälfte aller Romakinder zwischen 7 und 15 Jahren eine Schule mit einer starken Abnahme in höheren Jahrgängen. Allerdings wird der Schulbesuch durch Armut, schlechte Wohnbedingungen, Diskriminierung und auch frühes Heiraten erschwert. Auch lehnt die Mehrheitsbevölkerung den Unterricht ihrer Kinder mit Romakindern oft ab, was auch in Montenegro zu dem Phänomen von Romasonderklassen geführt hat. Zudem erwähnt die Regierung nicht, dass auch studierte Roma kaum Arbeit finden30.

      Hinzu kommen die Probleme für Roma aus Kosova. Viele sind staatenlos. Oft existieren keine Dokumente mehr oder haben nie existiert, die ihre Staatsangehörigkeit nachweisen oder mit denen sie einen Aufenthaltstitel in Montenegro erwerben könnten. Damit sind sie vollständig aus der Gesellschaft, das heißt von Bildung, Gesundheitsfürsorge, Arbeit usw., ausgeschlossen. Im Grunde hofft der montenegrinische Staat immer noch auf eine Rückkehr dieser Roma nach Kosova. Viele leben heute immer noch in Flüchtlingslagern vor allem in der Hauptstadt Podgorica. 2012 brande das seit 1999 bestehende Lager in Konik am Rande Podgoricas ab. Hunderte Menschen wurden dadurch obdachlos und mussten monatelang in Zelten leben und erhielten schließlich nur Wohncontainer gestellt. Die Lebensbedingungen in Konik gleichen denen von Slums31.

      Albanien

      Albanien gilt als eines der ärmsten Länder Europas. Die Armutsquote liegt bei 14 Prozent32, der Durchschnittslohn im staatlichen Sektor liegt bei 377 Euro und die Arbeitslosigkeit bei offiziell circa 18 Prozent33.

      Auch die Schattenwirtschaft, d.h. Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sind ein Problem in Albanien. Die Elite des Landes gilt als korrupt. Von den neoliberalen Reformen seit dem Sturz des stalinistischen Regimes profitierten vor allem ausländische Konzerne und die im Ausland ausgebildete Elite des Landes.

      Amnesty International berichtet von einer weitgehenden Straflosigkeit von Polizeibeamtinnen und -beamten, die Häftlinge misshandeln oder foltern34. Gewalt in der Familie (hauptsächlich gegen Frauen) wird von der albanischen Justiz nur in einem Drittel der Fälle tatsächlich auch strafrechtlich verfolgt35. Flüchtlinge werden inhaftiert oder nach Griechenland zurückgeschickt. Dies auf Druck der EU36.

      Prekär ist auch die Situation für Roma, die wie in den anderen besprochenen Ländern des Westbalkan umfassender Diskriminierung ausgesetzt sind. Laut Frankfurter Rundschau kommt selbst das Auswärtige Amt kommt zu der Einschätzung, dass Roma in der Arbeitswelt, der gesundheitlichen Versorgung und im Bildungssystem massiv ausgegrenzt würden37.

      Mazedonien

      Mazedonien war bereits zu jugoslawischer Zeit die ärmste der Teilrepubliken, seit dem Zerfall Jugoslawiens hat sich die Lage nicht gebessert. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei circa 28 Prozent, das durchschnittliche Einkommen bei 345 Euro im Monat38. Zusätzlich verschärft wird die Lage durch die anhaltend hohe Inflation. Mitte 2014 lag diese bei 20 Prozent39.

      Außerdem ist Mazedoniens politische Elite durch und durch korrupt und versucht Kritiker mit allerlei Methoden mundtot zu machen. Beispielsweise werden mithilfe des sogenannten Lustrationsverfahrens, dass offiziell dazu dient ehemalige jugoslawische Geheimdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter zu enttarnen und aus dem Staatsdienst zu entfernen, jegliche Kritikerinnen und Kritiker der Regierung angeschwärzt. Zwischenzeitlich wurde sogar versucht dieses Verfahren auf Journalistinnen und Journalisten oder NGO-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter auszuweiten, was jedoch vom Verfassungsgericht kassiert wurde40. Ein Drittel der anfangs auf Listen veröffentlichten Personen waren selbst Opfer des jugoslawischen Geheimdienstes. Verfahren gegen Mitglieder der konservativen Regierung verlaufen im Sande oder Richter werden ihres Amtes enthoben. Dies bedeutet nicht, dass Illusionen in die sozialdemokratische Partei in Mazedonien oder andere Parteien gerechtfertigt wären. Auch diese gelten als ähnlich korrupt.

      Mazedoniens Eliten baut lieber Denkmäler und Monumente um eine nationale Identität zu beschwören, als die Lage der einfachen Bevölkerung zu bessern. Auch wird der seit Jahren schwellende Konflikt zwischen der albanischen Minderheit und der mazedonischen Mehrheit angeheizt und zum Machterhalt genutzt. Im Mai diesen Jahres kam es in der Stadt Kumanovo zu Schießereien zwischen mazedonischem Militär und der Polizei einerseits und vermutlich albanischen Bewaffneten andererseits. Wer die Bewaffneten waren ist weiterhin unklar, doch einiges deutet darauf hin, dass dies von Teilen der konservativen Regierung fingiert war, die nach Korruptions- und Abhöraffären und Massenprotesten für den Rücktritt des Regierungschefs Nikola Gruevski geschwächt ist.

      Noch schlechter ist die Lage der im Land lebenden Roma, insbesondere der Roma ohne Papiere, überwiegend aus Kosova. Auch in Mazedonien gibt es das Phänomen der überwiegenden Abschiebung von Romakindern auf Sonderschulen41. Den öffentlichen Zahlen nach sind 70 Prozent der Roma arbeitslos und schlägt sich mit Kleinhandel, Altmetall- und Papiersammeln durch42.

      Nur 74 Prozent aller Roma besuchen die Grundschule und nur 27 Prozent eine Sekundarschule verglichen mit 90 und 64 Prozent in der restlichen Bevölkerung. Die Analphabetenrate von Roma liegt allgemein bei 17 Prozent, bei Romafrauen sogar noch höher43. Die Kindersterblichkeit ist unter Roma doppelt so hoch, wie in der Restbevölkerung44.

      Auch sind Roma ein bevorzugtes Ziel polizeilicher Schikanen und Gewalt. Beispielsweise wurden im Mai 2014 zwei Romakinder, die fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt wurden, von der Polizei geschlagen. Das ältere der beiden wurde von der Polizei zwei Stunden lang verhört und wies danach Verletzungen im Kopf-, Hals- und Brustbereich auf45.

      Seitdem die EU und insbesondere Deutschland Druck auf Serbien und Mazedonien ausübten, damit diese die Zahl von Asylbewerbern aus ihren Ländern verringern, wird vor allem Roma die Ausreise erschwert. Personen, die verdächtigt wurden in der Europäischen Union Asyl zu beantragen, erhielten Stempel oder Markierungen in ihren Pass und wurden gehindert auszureisen. Personen, die aus EU-Staaten abgeschoben wurden, konnte der Pass für ein Jahr entzogen werden, dank einer Änderung des Passgesetzes im Jahre 2011. Abgeschobene verloren nicht nur ihren Pass, sondern auch ihren Anspruch auf Sozialhilfe. Im selben Jahr wurde vom mazedonischen Parlament eine Gesetzesänderung verabschiedet, die „Missbrauch des visafreien Regimes mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ unter Strafe stellt. Das heißt ein Asylantrag in der EU wurde damit strafbar. Alle diese Maßnahmen zielten vor allem auf Roma und wurde vor allem selektiv gegen sie angewendet46. Auch wenn das Verfassungsgericht Mazedoniens das Passgesetz 2014 für teilweise verfassungswidrig erklärte47, haben diese Maßnahmen den Antiziganismus in Mazedonien verstärkt.

      Ferner werden auch Trans- und Interpersonen sowie Homosexuelle massiv diskriminiert. Homophobie wird von Regierungskreisen geschürt und ist weit verbreitet, das Lesben, Schwulen und Transsexuellenzentrum Skopjes war mehrfach Ziel homophober Angriffe, mazedonische Medien hetzen offen gegen die LGBTIQ-Community, Schwule und Lesben werden offen im Berufsleben benachteiligt und körperliche Attacken, die meist straffrei bleiben, sind häufig48.

      Keine sicheren Herkunftsstaaten

      Es sollte deutlich geworden sein, dass es mit der vielbeschworenen Sicherheit in den Ländern des westlichen Balkans nicht weit her ist. Selbst wer wirtschaftliche Stagnation und Perspektivlosigkeit nicht als Fluchtgrund anerkennen will, muss einsehen, dass mannigfache Fluchtgründe bleiben. Die umfassende Ausgrenzung bis hin zur Verfolgung der Roma und die Diskriminierung anderer ethnischer Minderheiten, Gewalt gegen Frauen, ein homophobes Klima, welches Repression gegen Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten den Weg ebnet, mafiöse Strukturen, Polizeigewalt und andere Gründe treiben Menschen in den Westbalkanländern in die Flucht.

      Der Maßnahmenkatalog der Bundesregierung zum Asylrecht, der neben der Aufnahme Kosovas, Albaniens und Montenegros in die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ auch längere Zwangsunterbringungen in Erstaufnahmeeinrichtungen, die Kürzung des Taschengeldes für abgelehnte Asylbewerber und eine Ausweitung des Sachleistungsprinzips enthält, wird auch mit den angeblichen „Asylbetrügern“ vom Balkan begründet. Die Bundesrepublik müsse so unattraktiv wie möglich für die „Wirtschaftsflüchtlinge“ gemacht werden. Angesichts der skizzierten westbalkanischen Zustände sind Behauptungen von der Sicherheit dieser Länder blanker Hohn. Bertolt Brecht legte einst seinem Galilei die Worte in den Mund: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“. Es gibt Menschen, die vom Westbalkan vertrieben werden. Die Hetzer auf der Straße und im Bundestag behaupten das Gegenteil.

      1www.proasyl.de/de/home/gemeinsam-gegen-rassismus/fakten-gegen-vorurteile/ , die Angaben beruhen auf den Statistiken von Eurostat: http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do

      2http://www.die-linke.de/fileadmin/download/themen/fluechtlinge_willkomme...

      3http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_...

      4http://www.ahk.de/fileadmin/ahk_ahk/GTaI/serbien.pdf

      5http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_...

      6http://www.sueddeutsche.de/politik/balkan-harte-heimat-1.2575597

      7http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/Serbien_kein_sicherer_Herkunftss...

      8Ebenda.

      9http://diefreiheitsliebe.de/balkan21/29878/

      10Ebenda.

      11http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_...

      12Amnesty International; Not Welcome Anywhere, Stop the Forced Return of Roma to Kosovo; London 2010, S. 40.

      13Ebenda.

      14http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/kosovo-fluechtlinge-beschaeft...

      15http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-11/kosovo-korruption-eulex

      16http://www.alle-bleiben.info/wp-content/uploads/2014/12/kosovo_web.pdf

      17http://www.sueddeutsche.de/politik/balkan-harte-heimat-1.2575597

      18http://www.swp-berlin.org/de/publikationen/kurz-gesagt/der-bosnische-auf...

      19http://mediendienst-integration.de/artikel/gastkommentar-albert-scherr-b...

      20https://www.hrw.org/report/2012/04/04/second-class-citizens/discriminati...

      21Ebenda.

      22Ebenda.

      23http://wko.at/awo/publikation/laenderprofil/lp_me.pdf

      24http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Mon...

      25http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2014/PRO_ASYL_Gut...

      26Ebenda.

      27Ebenda.

      28Ebenda.

      29Ebenda.

      30Ebenda.

      31Ebenda.

      32http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_...

      33http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Alb...

      34https://www.amnesty.de/jahresbericht/2015/albanien?destination=node%2F2871

      35Ebenda.

      36Ebenda.

      37http://www.fr-online.de/politik/zuwanderung-von-roma-blutrache-und-ausgr...

      38http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Maz...

      39Ebenda.

      40http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/Pro_Asyl_Gutachten_zum_...

      41Ebenda.

      42Ebenda.

      43Ebenda.

      44Ebenda.

      45https://www.amnesty.de/jahresbericht/2015/mazedonien?destination=node%2F...

      46http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/Pro_Asyl_Gutachten_zum_...

      47http://www.nds-fluerat.org/14235/aktuelles/verfassungsgericht-mazedonien...

      48http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/Pro_Asyl_Gutachten_zum_...

       

         

        Internationale Notizen September

        USA: Sozialistin führt Wahlen an
        Bei den Vorwahlen in Seattle wurde Kshama Sawant von der Socialist Alternative mit über 50% gewählt. Die Sozialistin konnte sich damit gegen ihre vier GegenkandidatInnen durchsetzen. Das Wahlergebnis ist ein Resultat der erfolgreichen Bewegung für einen 15 Dollar Mindestlohn und dem jetzigen Kampf für Mietkontrolle und hochwertigen, öffentlichen Wohnbau.
        www.socialistalternative.org

        Australien: Antirassismusdemo
        Am 18. Juli planten verschiedene australische Neonazigruppen einen Aufmarsch in Melbourne. Als Reaktion gingen über 3.000 Menschen unter dem Banner der #NoRoomForRacism-Kampagne auf die Straße. Ziel der von der Socialist Party (SP, Schwesterpartei der SLP) initiierten Kampagne war, das Gebiet um das Parlament friedlich zu besetzen. Über 400 Polizistinnen beschützten die Neonazis, sodass diese trotzdem bis zum Parlament ihre rassistische Hetze verbreiten konnten. Durch den Rassismus der etablierten Politik werden die Neonazis selbstbewusster. Sie auf offener Straße zu konfrontieren ist wichtig, erklärt die SP. Aber um den Rechten und Rassismus den Boden zu entziehen, braucht es ein konsequentes sozialistisches Programm für Wohnen und Soziales, und das hat die SP.
        www.socialistpartyaustralia.org

        Brasilien: Massenproteste gegen Regierung
        Die brasilianische Regierung unter Dilma Rousseff hat in den letzten Jahren mit immer mehr Widerstand gegen ihre Kürzungspolitik zu kämpfen. Der vorläufige Höhepunkt war am 20. August erreicht. Alleine in Sao Paulo folgten 40.000 dem Demo-Aufruf der Linkspartei PSOL. Gerade dort sind die Auswirkungen von Dilmas Politik, wie die Wasserkrise, besonders spürbar. LSR, die Schwesterorganisation der SLP, war in mehreren Städten aktiver Teil der Demos. AktivistInnen der LSR, die in PSOL aktiv ist, setzen sich für einen Aktionsplan für die nächsten Wochen und Monate ein. Dieser soll von verschiedenen linken Gruppen, vereinigt zu einer starken Plattform, umgesetzt werden, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, sie zu stürzen und durch eine Regierung der ArbeiterInnen zu ersetzen.
        www.lsr-cit.org

         

        Erscheint in Zeitungsausgabe: 

        Griechenland: Neuformierung der Linken

        Nach der Kapitulation von Tsipras braucht Griechenland eine revolutionäre Kampfpartei!
        Laura Rafetseder

        Mitte August verweigerten 43 Syriza-Abgeordnete dem 3. „Reform“paket die Zustimmung. Tsipras rief Neuwahlen aus. Sein Kalkül: KritikerInnen loswerden, solange die Kürzungsmaßnahmen nicht spürbar sind. Kräfte um die "linke Plattform" in Syriza, sowie linke Kräfte außerhalb Syrizas und Xekinima (CWI Griechenland) haben Schritte in Richtung einer neuen Partei gesetzt. Nun tritt die „Volkseinheit“ bei den kommenden Wahlen an. Ihr Programm beinhaltet die Nicht-Bezahlung der Schulden, Verstaatlichung der Banken und Überführung der Schlüsselindustrie in Gemeineigentum. Es fordert ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung sowie eine geplanten Wirtschaft. Diese Forderungen sind in der Eurozone nicht durchzusetzen. Die Rückkehr zu einer nationalen Währung ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel, um die Wirtschaft durch antikapitalistische Maßnahmen im Interesse der ArbeiterInnenklasse auszurichten.

        In Umfragen liegt die "Volkseinheit" bei 7-8 %. Doch viele werden aufgrund der Demoralisierung durch den Syriza-Verrat gar nicht wählen.

        Die "Volkseinheit" kann ein Schritt zu einer kämpferischen Massenpartei sein. Xekinima argumentiert für ein sozialistisches Programm und für demokratische Strukturen. Eine revolutionäre Kampfpartei muss auf die Bewegungen der ArbeiterInnenklasse orientieren. Das Potential ist riesig, wenn Programm, Orientierung und Strukturen den Notwendigkeiten entsprechen – wenn nicht, dann ist eine große Chance vertan!

         

         

        Erscheint in Zeitungsausgabe: 

        GB: Spaltet sich Labour?

        Es ist Panik in der sozialdemokratischen Labour Party (LP) ausgebrochen. Nach den letzten Parlamentswahlen im Mai, mit einem der schlechtesten Ergebnisse der Nachkriegszeit (30,5%), trat der Parteivorsitzende zurück. Die Parteiführung beschloss, die Wahlen zum nächsten Vorsitz für alle Labour-UnterstützerInnen zu öffnen. Was sie aber nicht wollten, ist jetzt eingetreten. Ein Linker, der vorher wenig bekannte Abgeordnete Jeremy Corbyn, wird laut Umfragen das Rennen machen. Innerhalb weniger Wochen registrierten sich 300.000 Menschen als Labour-UnterstützerInnen, da sie endlich die Chance gekommen sehen, die Politik zu ändern. Diese vertrat, auch durch die LP, bisher die Interessen der Unternehmen und Banken und verschlechterte durch Sparpakete die Lebensbedingungen der Menschen extrem. Corbyn möchte höhere Löhne einführen, Unternehmen und Superreiche stärker besteuern, Energieunternehmen und die Eisenbahn verstaatlichen. Er steht für eine Politik, wie sie die SPÖ in den 1970er Jahren betrieben hat. Nur haben sich alle sozialdemokratischen Parteien in Europa bedingungslos den Profiten der Unternehmen verschrieben - die Vorstellungen Corbyns gefährden diese Politik. Deshalb versucht die Parteiführung alles, um die Wahl Corbyns zu verhindern. Die Menschen hoffen, dass es mit Corbyn endlich wieder eine Partei gibt, die die Interessen der Lohnabhängigen und nicht der Londoner Börse vertritt. Die LP kann aber nicht mehr in diese Richtung reformiert werden. Das zeigen Aussagen von Abgeordneten, die mit einem Krieg gegen Corbyn drohen und davon sprechen, besser die Partei zu spalten als einen linken Vorsitzenden zu akzeptieren. Corbyn wird gewinnen, mit der LP aber seine Politik nicht durchsetzen können. Dazu ist eine neue ArbeiterInnenpartei notwendig, die in dieser Situation durch die Abspaltung der Mehrheit der neoliberalen LP Abgeordneten entstehen kann. Genauso notwendig ist aber ein sozialistisches Programm, um diese Forderungen durchzusetzen, denn wie Syriza in Griechenland gezeigt hat, können die Lebensbedingungen der Menschen ohne einen Bruch mit dem Kapitalismus nicht verbessert werden. 

         

        Erscheint in Zeitungsausgabe: 

        Katalonien: Generalprobe für linkes Wahlbündnis

        Neue Plattform tritt zu Wahlen in katalanischer Region am 27. September an
        von René Kiesel, Berlin

        Der Gang der politischen Ereignisse im spanischen Staat wird dieses Jahr vom Wahlkalender geprägt. Vorgezogene Wahlen in Andalusien im März, landesweite Kommunal- und in 13 von 17 Regionen Regionalwahlen. Im Dezember wird das nationale Parlament, der Cortes, neu gewählt. Der Regierungschef Kataloniens, Artur Mas, kündigte Anfang des Jahres die Auflösung und somit Neuwahl der Generalitat (Regionalparlament Kataloniens) an. Eine neue Plattform, die viele linke Kräfte umfasst, gab Mitte September ihren gemeinsamen Antritt bekannt.

        Das ganze Jahr über gab es in allen Städten und Communidades, was in etwa Bundesländern in Deutschland entspricht, Diskussionen über einen gemeinsamen Wahlantritt linker und linkspopulistischer Kräfte. Nun scheint es geschafft: die zwei großen alternative Wahlplattformen schließen sich in Katalonien zusammen: CUP-CC (Candidatura d’Unitat Popular – Crida Constituent), welches mit Kandidatur der Volkseinheit – Konstituierender Ruf übersetzt werden kann und Catalunya Sí que es Pot (Katalonien, ja wir können!). Letzteres wird von Podemos, der Vereinigten Linken – Izquierda Unida, Katalanische Grüne Initiative – ICV und den Grünen – EQUO geformt. Die grünen befinden sich in einer Partei mit B’90/Grünen auf europäischer Ebene, sind jedoch nur eine von mehr als einem dutzend ökologischer Parteien mi spanischen Staat und treten mit einem wesentlich kämpferischeren und linkeren Profil zur Wahl an. Bereits früher gab es Ansätze gemeinsamer Kandidaturen auf kommunaler Ebene mit Bündnissen um Podemos und andere linke Kräfte, die sich “Guanyem/Ganemos” (“wir gewinnen”) nannten, oder später beispielsweise“Barcelona en comú”, das für “Barcelona gemeinsam” steht. In der katalanischen Hauptstadt gelang es, mit der Beteiligung der in den Stadtteilen fest verankerten “Plattform für die von Hypothekenschulden Betroffenen” (PAH) deren Sprecherin Ada Colau zur Bürgemeisterin zu machen. Die PAH hat in den letzten Jahren durch organisierte Aktionen in den Nachbarschaften dutzende Zangsräumungen verhindern, womit sich Colau in den börgerlichen Medien einer Hetzkampagne gegenüber sah, die ihr den Titel “Terroristin” gab. Doch das scheinbar Unmögliche passierte: das Wahlbündnis ging als Siegerin im Mai hervor. Ähnliches geschah in Madrid, wo die linke Richterin Manuela Carmela als Spitzenkandidatin des Bündnisses “Ahora Madrid” (Jetzt Madrid!) Bürgermeisterin der Hauptstadt mi spanischen Staat wurde. Grundlage der Erfolges waren vor allem der Unmut mit den traditionellen Parteien, der bürgerlichen PSOE (Sozialistische Partei) und PP (Volkspartei) und das Gefühl, durch linkspopulistische Kandidaturen und Wahlversammlungen in den Stadtteilen etwas mitbewegen zu können. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es zwar Mobilisierungen für Wahlkampf und Wahl gab, jedoch die Führungsebenen äußerst akademisch geprägt sind und keine tief verwurzelte demokratische Organisation entstanden ist, die über punktuelle Asambleas (Versammlungen) hinaus geht.

        Auf regionaler Ebene lehnte Podemos zu den Regionalwahlen noch gemeinsame Kandidaturen ab und bekam in Madrid und Umgebung 400.000 Stimmen weniger als das Bündnis, dessen Teil sie waren, in der Stadt selbst. Die Vereinigte Linke war an der Frage vielerorts politisch und teilweise organisatorisch gespalten. Einen krassen Ausdruck bekam dies in Badalona, der Nachbarstadt von Barcelona, wo die bürokratischen Teile der Izquierda Unida einen gemeinsamen Wahlantritt verhinderten und so die Stimmen spalteten. In Badalona erzielte das Bündnis “Guanyem Badalona” zwar ein sehr gutes Ergebnis, verfehlte die Mehrheit jedoch. In einigen Regionen setzte, ausgehend von dieser und anderer Fragen, ein Verfallsprozess der Vereinigten Linken ein. Der Druck von unten, die linken Stimmen nicht zu spalten, war groß und die Führungen von Podemos und Vereinigter Linker wechselten ihren Kurs. Ein Element dabei war die Angst, die Kontrolle über die Entwicklungen zu verlieren, wenn die Basis sich ihren eigenen Weg sucht.

        Das „Manifest für den Bruch“

        Mitte September gaben die Platfformen in einem gemeinsamen Manifest ihren Wahlantritt bekannt. In dem zweiseitigen Papier wird analysiert, dass es drei grundlegende Krisen gibt: die demokratische, die nationale und die wirtschaftlich-soziale. Die Plattform fasst inhaltlich verschiedene Bereiche zusammen und setzt sich zum Ziel, die Bewegungen der letzten Jahre in die Institutionen zu bringen. Die VerfasserInnen beziehen sich auf die Mareas (Wellen), die sich gegen die Kürzungen und Privatisierungen im öffentlichenDienst und Bildungssektor in Katalonien wandten oder die Bewegung der Indignados/15M, die landesweitzu Hunderttausenden die Straßen und Plätze aus Protest gegen ein korruptes und undemokratisches System besetzten.

        Zwar gibt es nun eine Chance, dass sich der Widerstand auf der Wahlebene niederschlägt. Jedoch konkurrieren die AktivistInnen, von denen der überwiegende Teil ehrenamtlich ist, mit professionellen Medienagenturen der pro-kapitalistischen Parteien im Dauerwahlkampf inklusive der Propagandamaschine, die die Medienlandschaft darstellt und auf Seiten von PSOE und PP steht. Von der persönlichen Erschöpfung abgesehen, beherrscht außerdem die Wahllogik das Geschehen. Protestkundgebungen werden zu Wahlkundgebungen, auf denen kaum eine andere Antwort gegeben wird, als das Kreuz bei der richtigen Stelle zu setzen. Die politische Diskussion in den Organisationen wird überschattet und zum Teil durch kurzfristige taktische oder pragmatische Überlegungen ersetzt. Die Strategie der Führung von Podemos, klassenunspezifische Ausdrücke und Slogans zu verwenden, kommt noch mehr zum tragen. Es wird vor allem nach Parolen gesucht, die eine möglichst breite Mehrheit hinter sich bringen können, wobei der konkrete Inhalt oder politische Klarheit oft auf der Strecke bleibt.

        Trotz positiver Ansätze bleibt das Programm sehr allgemein. Es wird von einer Antwort auf die soziale Not gesprochen, vom Bruch mit dem patriarchalem System und einem nachhaltigen Leben. Ein Ende des Schuldendiktats wird ebenso gefordert, wie ein Wiederaufbau einer inklusiven und effizienten Demokratie. Daher wird zum Bruch mit dem bestehenden Regime aufgerufen. Bei diesen Schlagwörtern bleibt es jedoch, wobei die Organisationen der Wahlplattform weitergehende Programme anzubieten haben.

        Katalonien und die nationale Frage

        In Ländern mit Bevölkerungsgruppen verschiedener Identität (religiös, national usw.) kommt es vor allem in Zeiten der kapitalistischen Krise zu vermehrten Spannungen. Im spanischen Staat gibt es vor allem in Katalonien und im Baskenland jahrelange Spannungen mit der Zentralregierung. Diese wird als Schuldige für die eigene soziale Misere angesehen. Die Unterdrückung der jeweiligen Sprache und Kultur im frankistischen Spanien sorgte für eine Verschärfung dieses Konflikts. Das Bestreben nach nationaler Unabhängigkeit, um der sozialen Krise zu entkommen, wird von lokalen Kapitalisten gezielt genutzt. Sie schüren das Gefühl der Unterdrückung, um es als Faustpfand in Verhandlungen mit der Madrider Zentralregierung zu nutzen und gleichzeitig der Bevölkerung die Illusion einzutrichtern, dass sich in einem unabhängigen Katalonien oder Baskenland unter ihrer Führung alles zum Besseren wenden würde. Dabei geht es ihnen lediglich um einen größeren Anteil am Gewinn, nicht jedoch um das Wohlergehen der Menschen. Während bürgerliche Politiker wie Artur Mas von der Regierungspartei CiU (Convergència i Unió – Übereinstimmung und Einheit) in Barcelona dem Nationalparlament drohen, stimmen sie im Cortes jeder Kürzung zu und setzen sie in der eigenen Region selbst um. Die nationale Frage hat für die Massen einen anderen Charakter und vor allem sozialen Inhalt. Die MarxistInnen von „Socialismo Revolucionario“ (Schwesterorganisation der SAV im spanischen Staat) schreiben, dass es keine soziale Gleichheit ohne das Recht auf Selbstbestimmung geben kann, aber genauso wenig eine wirkliche Unabhängigkeit ohne soziale Gleichheit.

        Gerade an dieser Frage könnte das neue Wahlbündnis zerreißen. Während CUP-CC vor allem Kräfte sammelt, die prominent ein unabhängiges Katalonien gefordert haben und deren Kern die seit jeher links-nationalistische CUP bildet, schloss der anderen Teil Gruppierungen ein, die eher autonome Rechte in einem spanischen Staat fordern. Der Kompromiss in ihrem Manifest ist nun ein Bekenntnis zum Einheitsstaat und eine unbestimmte Zukunftsperspektive für die republikanische Entwicklung Kataloniens zu entwickeln. Viele KatalanInnen sind jedoch der Meinung, dass erst die Unabhängigkeit und dann die Revolution kommt. Die bürgerliche Politik der Spaltung entlang nationaler Grenzen im eigenen Staat sowie eine mangelnde Alternative hat den Nationalismus und die Entfremdung der katalanischen von der spanischen Arbeiterklasse befördert.

        Ausblick

        Das Versprechen ist, nach der Wahl eine „Regierung der Kontinuität“ zu bilden. Damit wäre der verkündete „Bruch“ allein auf den Gang zur Wahlurne beschränkt, da keine Perspektive der weitergehenden Organisierung gegeben wird oder ein Aufruf an eine aktive Unterstützung dieser Regierung ergeht. Gerade in Katalonien, einer der industrialisiertesten Regionen mit einer Arbeiterklasse, die eine sehr kämpferische Tradition besitzt, wird dies ein folgenschwerer Fehler sein. Allein auf die politische Ebene bezogen, Zeit sich deutlich bei Parteien wie Podemos, wie weit das Programm verwässert und nach rechts gehen kann, wenn die Kontrolle und Diskussion durch eine demokratische organisierte Basis fehlt.

        Was nach dem Wahltag geschieht, wird Gradmesser für die Parlamentswahlen sein und zeigen, ob die Massen für ein Programm des wirklichen Bruchs auf der Straße, in den Betrieben und den öffentlichen Einrichtungen mobilisiert werden, oder ob es, wie in Griechenland, ein Scheitern der reformerischen Illusionen gibt. Die Herrschenden haben eines klar gemacht: Bei Verhandlungen am Runden Tisch werden sie nicht von ihrem Programm abweichen.

        Das schwache Programm, die Unklarheit bei der nationalen Frage und das Scheitern SYRIZAs, inklusive der fortwährenden Unterstützung Pablo Iglesias’ für Tsipras, drücken auf die Umfragewerte. Dennoch wird das bisherige Regierungsbündnis CiU, die bereits bei den letzten Wahlen 2012 über sieben Prozent verlor, weiter verlieren. Gemeinsam mit der ERC (republikanischen Linken) haben sie das Wahlbündnis „Junts pel Sí“ (Alle für das Ja [zur Unabhängigkeit A. d. A.]) gegründet.

        Sie haben jedoch in diesem Jahr an Glaubwürdigkeit eingebüßt, nachdem sie ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens sang- und klanglos absagten, als die Zentralregierung es untersagte. Weder CiU noch ERC wiesen einen wirklichen Weg vorwärts. Zudem ist die alte Regierungspartei in den armen Schichten der Bevölkerung aufgrund der Kürzungen verhasst. Gemeinsam wird ihnen ein Umfrageergebnis von nicht einmal vierzig Prozent vorhergesagt, was weit hinter den letzten Wahlen liegt. Das neue Wahlbündnis könnte auf 20 bis 25 Prozent der Stimmen kommen. Von den bürgerlichen Medien wird die Abstimmung allerdings gezielt als eine Abstimmung pro- oder contra der Unabhängigkeit dargestellt. So wird die linke CUP mit ihrer Postition für die Unabhängigkeit mit der bürgerlichen CiU in einen Topf geworfen, was vor allem die Unterstützung für linke Positionen untergraben und linke Forderungen verwischen soll.

        Dennoch ist die Wahlebene nur eine Momentaufnahme und innerhalb kurzer Zeit kann sich die Situation ändern. Wenn die AktivistInnen der linken Parteien es schaffen, die Brücke zu der Gewerkschaftsbasis zu schlagen, wenn es ihnen gelingt, für ein internationalistisches Programm Begeisterung zu schaffen und sie die Verankerung in den Stadtteilen und Betrieben erreichen, wird sich das Blatt wenden. Nicht nur für den Klassenkampf in Katalonien, der sich in den letzten Monaten auf einem niedrigen Level befand. Sondern für alle Kräfte in Europa, die gegen das Schuldendiktat Merkels und der Troika und für eine sozialistische Veränderung Europas kämpfen.

         

        Mehr zum Thema: 

        Seiten