Internationales

Horror in Paris : Wir lassen uns weder einschüchtern – noch spalten!

Stellungnahme der Gauche Révolutionnaire (CWI in Frankreich)

Erneut ist es in Paris zu abscheulicher Gewalt gekommen. Über 120 Tote und Dutzende Verletzte, an Orten die üblicherweise von ArbeiterInnen und Jugendlichen am Ende der Woche stark frequentiert sind (Stade de France, die Musikhalle Bataclan und diverse Lokale im 10. und 11. Bezirk). Diese Barbaren hatten es auf wahllosen Massenmord abgesehen, dem erneut unschuldige Menschen zum Opfer fielen. Es war die bunt gemischte Bevölkerung jener Pariser ArbeiterInnenbezirke die diese Tragödie erleiden mussten.

Nichts kann diese verblendeten Attentate rechtfertigen. Weder jene in Paris, noch die in Bagdad oder Nigeria, welche an diesem selben Freitag stattfanden, genau sowenig jene des 12. Novembers auf einem Markt in Beirut im Libanon, jenes in Ankara am 10. Oktober oder jene in Tunesien. Es sind unsere Brüder und Schwestern, ArbeiterInnen, Jugendliche, Arbeitslose, alleinerziehende Mütter, PensionistInnen, Menschen egal welcher Herkunft oder Hautfarbe,... um die wir heute trauern und weinen.

Die Feigheit schlägt zu

Wir verurteilen die Attentate und die Feigheit, die hinter ihnen stehen. Hinter solchen eiskalten Exekutionen von schutzlosen Menschen verbirgt sich eine extrem rechte Ideologie, seien es eine sogenannte religiöse oder andere. Unfähig auch nur einen Hauch von Unterstützung jeglicher Schichten der Bevölkerung, schon gar nicht der muslimischen, zu gewinnen, verwenden die IS-Terroristen (der IS bekennt sich zu der Tat) Methoden die exakt denen von faschistischen Gruppen, Diktaturen oder Okkupationsarmeen gleichen. Terror ist eine politische Waffe um die Einheit der ArbeiterInnen zu bekämpfen indem Passivität durch Angst geschürt und Rassismus gestärkt wird. Doch wir lassen uns weder einschüchtern – noch spalten!

Einheit von ArbeiterInnen und Jugendlichen gegen Rassismus und Barbarei

Der wahllose IS-Terror zeigt das wahre Gesicht dieser Organisation, welche nicht mehr eine Bande von Plünderern und Schmugglern ist. ISIS ist nicht mehr als ein Produkt des Chaos in welches der Irak getaucht wurde, nachdem zwei Vernichtungskriege von europäischen Regierungen geführt wurden und welche sich heute in ihrer Methode von blinden Bombardements in Syrien und Irak unter dem Mantel des „Krieges gegen den Terror“ wiederholen. Während er blind in ArbeiterInnenbezirken wütet, spielt der IS eine erz-reaktionäre Rolle. Denn es werden MuslimInnen sein, die durch eine neue Welle der Islamophobie, der Intoleranz und des Rassismus für diese Taten bezahlen werden. Alles wird versucht werden, um die Repression gegen den Widerstand der ArbeiterInnenschaft und der Jugend zu rechtfertigen, ausgehend vom „Ausnahmezustand“ der rasch ausgerufen wurde und welcher alle gewerkschaftlichen Demonstrationen untersagt.

Das ist nicht unser Krieg

Die PolitikerInnen von PS (Sozialdemokratie) bis Front National (FN) sprechen unisono von „Krieg". Ein Krieg, den sie erzeugt haben und für den die Bevölkerung heute den Preis zahlt. Aber dieser Krieg ist nicht unser Krieg.

Die gleiche Regierung unterstützt weiterhin das Regime des Präsidenten der Türkei, Erdogan. Doch es ist derselbe Erdogan, der seit Jahren dem IS hilft, indem er die Terroristen und ihren Nachschub an seiner Grenze passieren lässt, während er sie dicht macht für die WiderstandskämpferInnen von Kobanî (der kurdischen Stadt im Norden Syriens, die den IS im Januar besiegte). Der selbe Erdogan hat die Städte des türkischen Kurdistans bombardiert, die zu Hilfe geeilt sind, um die Stadt Sindschar im Irak aus den Händen des IS zu befreien.

Es sind die europäischen Regierungen, die die Regimes von Katar und Saudi-Arabien unterstützen und ihnen sogar Waffen verkaufen, während diese Länder den IS unterstützen oder auch eine Politik des Massakers im Jemen betreiben.

Gegen die extreme Rechte, sei sie „religiös" oder politisch

Die Haltung der Regierung Hollande ist es - mit Unterstützung der FN und der sich auf die Tradition der Republik berufenden bürgerlichen Kräfte - jede Massensolidaritätsinitiative zu blockieren. Die Folge des „Ausnahmezustands" wird sein, eine Kundgebung der Solidarisierung wie im letzten Januar nach dem Angriff auf Charlie Hebdo zu verhindern. Ebenso werden viele laufende soziale Kämpfe, Streiks gegen Entlassungen bei Krankenhäusern in Paris und bei Air France sicherlich verboten werden. Der Ausnahmezustand ermöglicht insbesondere „Versammlungen allgemeinen oder besonderen Charakters zu verbieten, die wahrscheinlich provozierenden Charakter haben oder zu öffentlicher Unordnung führen" oder „erlaubt obengenannten Behörden, alle Maßnahmen zu treffen, um die Kontrolle über die Presse und Publikationen aller Art zu gewährleisten". Wir dürfen nicht akzeptieren, dass unsere Rechte und unsere Kämpfe so eingeschränkt werden, wovon nur KapitalistInnenen (Großunternehmen, Aktionärsgruppen, ...) und ihnen dienende PolitikerInnen profitieren, die aber kein Hindernis für Terrorgruppen darstellen.

Es ist wichtig, dass die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, Gewerkschaften, Parteien, Verbände, zusammenkommen und ihre Opposition gegen Kriege und gegen die mörderische Politik des Kapitalismus und seines Kriegs für Öl und Profit erklären.

Das soziale Elend, in das ganze Teile der Bevölkerung gestürzt wurden, muss zu moralischem Elend und Verwirrung führen, die Obskurantismus und Spaltungen in die Hände spielen. Die im Nahen Osten und Afrika betriebene Politik heizt als logische Folge das Chaos an. Die Folgen sind schrecklich, weil einfache ArbeiterInnen den Preis zahlen, während hier die PolitikerInnen die Situation ausnützen, um noch mehr Kriege zu rechtfertigen. Dort nutzen Terrorgruppen, deren einzige wirkliche Motivation Schmuggel und Plünderungen sind, die Verzweiflung, um Selbstmordattentäter auszuschicken, während ihre Führer in Palästen leben.

Noch mehr Krieg wird noch mehr Terrorismus zu bringen!

Wie lange werden wir den Preis für ein System zahlen, das militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krieg führt gegen den Großteil der Bevölkerung des Planeten für die Gewinne einer Handvoll, die sicher im warmen Nest sitzen?

Und wir sollen leiden unter schlimmstem Terror, Tod, Misstrauen und Angst. Genug! Wir werden nicht zulassen, dass RassistInnen, Rechtsextreme vom Typ FN und Reaktionäre davon profitieren!

Wir lassen uns weder einschüchtern noch spalten, und wir werden auch weiterhin für eine geschwisterliche und tolerante Gesellschaft frei von Kapitalismus und Ausbeutung kämpfen, für eine sozialistische und demokratische Gesellschaft.

Dies ist ein vereinigter Massenkampf der ArbeiterInnen und Jugend, unabhängig von Nationalität, Hautfarbe, Religion (oder Menschen ohne Religion) ... für ein menschenwürdiges Leben für alle, die die Dinge in die Hand nehmen und das soziale und wirtschaftliche Elend beseitigen können, das den Boden bereitet, auf dem politischer oder religiöser Rechtsextremismus gedeihen können. Wir sind in Trauer und Schmerz, weil so viele unschuldige Leben zerstört sind. Aber unsere Wut und Entschlossenheit, nicht länger diese unmenschliche System zu erdulden, das Terror und Chaos erzeugt ist noch weit größer!

Jugend bricht mit Kürzungspolitik

Flo Klabacher

Massenentlassungen, Lohn- & Pensionskürzungen, Privatisierungen, Angriffe auf gewerkschaftliche Rechte – diese und viele andere Forderungen der Troika setzt Syriza in Griechenland um. Vom Anti-Kürzungsprogramm, für das die Partei im Frühjahr gewählt wurde, ist nichts übrig. Syriza wurde in kurzer Zeit Teil des Establishments. Gleichzeitig kommen viele Basis-AktivistInnen aus sozialen Bewegungen. Sie können und wollen den Ausverkauf durch die Führung nicht mittragen. Das gilt v.a. für die Jugendorganisation. Nach der Zustimmung zum Spardiktat bricht die Syriza-Jugend mit der Mutterpartei. Sie erklärt: die Mitgliedschaft in Syriza steht im Widerspruch zu sozialen Bewegungen und Kämpfen gegen Kürzungspolitik.

Die Syriza-Jugend ist nicht die erste Organisation, die in Konflikt mit ihrer Mutterpartei gerät: Jugendorganisationen spielen oft eine wichtige Rolle im Aufbau von linken Flügeln. Beispiel Britannien: Während die Führung der Labour Party sich völlig mit dem Kapitalismus ausgesöhnt hat, kann die revolutionäre „Militant“-Strömung Anfang der 1970er eine Mehrheit der Jugendorganisation für ihre Positionen gewinnen. Sie setzt auf Massenbewegungen, um gegen Kürzungspolitik (u.a. der Thatcher-Regierung) zu kämpfen und gewinnt immer mehr Einfluss an der Parteibasis. Die Parteiführung startet eine Hexenjagd, es kommt zu Ausschlüssen linker AktivistInnen und Auflösung ganzer Ortsgruppen. Ähnliche Kampagnen gegen linke Strömungen gab es auch in Österreich Anfang der 1990er Jahre gegen die „Vorwärts“-Strömung (aus der die SLP entstanden ist).

Die SPÖ ist längst eine bürgerliche Partei geworden, ihre Jugendorganisation ist weitgehend brav, und fällt nicht wirklich durch offensive Opposition zur Parteiführung auf. Kürzungen, Privatisierungen, sogar eine Koalition mit der FPÖ auf Landesebene werden ohne große Proteste hingenommen. Immer neue Versuche, eine Parteilinke aufzubauen, sind ergebnislos gescheitert. Statt kleineres Übel braucht es eine neue ArbeiterInnenpartei, statt pragmatischem Taktieren einen klaren sozialistischen Kurs. Wer die Welt verändern will, braucht dafür die richtige Organisation – und muss bereit sein, diese auch neu aufzubauen, wenn nötig.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

USA: Sozialistische Stadträtin Kshama Sawant wiedergewählt

von Patrick Ayers, Seattle

Die politische Revolution geht weiter!

SozialistInnen werden nicht nur gewählt, sie können sogar wiedergewählt werden. Nach der Auszählung von einem Drittel der Stimmen, haben 52,6 Prozent der WählerInnen in Seattle im District 3 sich entschieden, Kshama für weitere vier Jahre ins Amt zu wählen. Da die weitere Auszählung dieses Ergebnis noch verbessern wird, können wir sicher von einem Sieg ausgehen.

Am Abend feierten bereits hunderte AktivistInnen Kshamas Sieg.

Jeremy Prickett, ein Mechaniker von Boing sagte am Montag noch bei einem Treffen der WahlkämpferInnen: „Brüder und Schwestern, es ist ein Privileg heute hier bei euch zu sein, denn die Politik wird nicht von arbeitenden Menschen gemacht. Die Socialist Alternative und Kshama Sawant ändern das.“

Über 600 Freiwillige, mehr als 30 Gewerkschaften und Dutzende fortschrittliche Organisationen standen hinter Kshama, während ihre Gegnerin von Managern, der Wirtschaftskammer, der Immobilienlobby, Amazon, sechs konservativen Mitgliedern des Stadtrats und sogar von einigen republikanischen Millionären unterstützt wurde.

Gegen diese Macht des Establishments und ihrer Mitteln setzten wir eine Kampagne, in der wir an 90.000 Türen klopften und 170.000 Anrufe machten. Wir redeten mit Tausenden über bezahlbare Wohnungen, Ungleichheit, Besteuerung der Reichen und Politik im Interesse der ArbeiterInnen. Das war eine bisher unerreichte Anstrengung von Basisaktivismus in der Politik von Seattle.

Eine neue Art der Politik

Wie es die Worte von Jeremy bereits ausdrückten, ging es für viele Menschen in dieser Kampagne um weit mehr als nur Kshama wieder zu wählen. Es ging darum, eine ganz neue Art der Politik zu etablieren, die für Arbeiterfamilien kämpft und nicht für Konzerne. Es ging darum zu zeigen, was möglich ist, wenn Beschäftigte sich organisieren.

In einem Jahr, wo die Konzerne in Seattle fünf mal so viel ausgegeben haben, wie jemals zuvor bei Wahlen zum Stadtrat, haben wir einen Spendenrekord aufgestellt. Wir haben fast 500.000 Dollar von 3.500 SpenderInnen gesammelt. Die durchschnittliche Spende betrug 50 Dollar und es haben mehr Menschen für uns gespendet als für irgendeinen andereN KandidatIn in ganz Seattle. So wie Bernie Sanders Kampagne es geschafft hat, 28 Millionen Dollar in drei Monaten zu sammeln, hat Kshamas Kampagne das enorme Potential für unabhängige Politik im Interesse der Beschäftigten aufgezeigt.

Aufbau der Bewegung

Niemand hat der dem politischen Establishment in Seattle in den letzten zwei Jahren mehr Kopfschmerzen bereitet als Kshama Sawant. „I trage die Bezeichnung Sozialistin mit Stolz“ sagte sie in ihrer Antrittsrede im Januar 2014 nachdem sie den Vorgänger nach 13 Jahren Amtszeit aus dem Amt jagte. Sie versprach damals „keine Hinterzimmerdeals mit Konzernen oder ihren politischen Vertretern zu machen. Es gibt keinen Ausverkauf der Menschen, die ich repräsentiere.“

Und Kshama hielt, was sie versprach. Ihr Stadtratsposten wurde das Zentrum von Widerstand, Unterstützer von MieterInnen, ArbeiterInnen, Schwarzen, MigrantInnen sowie LGBTQ AktivistInnen. Kshama rückte die politische Debatte nach links. „Bezahlbarkeit“ wurde zu einem der am meisten wiederholten Schlagwort. Nichtsdestotrotz wurde sie viele Male von der konservativen Mehrheit im Stadtrat blockiert. Aber Kshama gab in ihrem Kampf für die Interessen der arbeitenden Menschen niemals auf und erklärte wieder und wieder, dass alles, was im Rathaus gewonnen werden kann, von der Stärke der Bewegung auf der Straße abhängt – und sie tat alles, was sie konnte, diese Bewegungen zu unterstützen.

Der gleiche Geist umgab auch die Wahlkampagne. Wir wussten zwar, dass wir mit dem Meer an roten Postern, die überall in der Stadt aufgestellt wurden, in einer starken Position waren. Wir wussten aber auch, dass nichts sicher ist, da die Demokratie am Kapitalismus hängt, Geld Stimmen kaufen kann und die großen Medien die Diskussion verengt und verzerrt.

Stattdessen haben wir uns auf den Aufbau einer unabhängigen Kraft verlassen, die tausende WählerInnen erreichen kann, in dem sie ArbeiterInnen und Jugendliche aktiviert und mit tausenden Menschen spricht.

Als 60.000 Dollar in den letzten Wochen von unseren Gegnern ausgegeben wurde, um unsere Kampagne zu diskreditieren, waren wir vorbereitet. Innerhalb weniger Tage haben wir mit einem Flugblatt geantwortet und über diese plötzliche Geldflut der Gegner aufgeklärt. Zwei weitere Angriffe beantworteten wir mit einem weiteren Flugblatt, indem wir über die Lügen unserer Gegner aufklärten und brachten das tausende Haushalte.

Ein Beispiel zum Nachahmen

Mit der ersten gewählten Sozialistin dieses Jahrhunderts in Seattle hatte die Wahlkampagne eine viel höhere Bedeutung als eine normale Kommunalwahl. Al Jazeera nannte es eine von sieben Wahlen in den USA, die man verfolgen müsse. Die Kampagne fand vor dem Hintergrund der wachsenden Unterstützung für Bernie Sanders sozialistischer Präsidentschaftskampagne statt und seinem Aufruf für eine „politische Revolution gegen die Klasse der Milliardäre“.

Zweifellos ergeben die letzten zwei Jahre in Seattle eine Reihe von wichtigen Lehren für SozialistInnen und AktivistInnen überall. Kshama selbst würde sagen, dass den Hauptunterschied in Seattle gemacht hat, dass es eine organisierte sozialistische Bewegung im Allgemeinen und die Socialist Alternative im Besonderen gab.

Wir gaben Kshama die politische Unterstützung, um ihr gegen den Druck im Amt und beim Aufbau der Bewegung zu helfen. Gemeinsam waren wir in der Lage der wachsenden Wut über Ungleichheit, steigenden Mieten und abgehobenen Politikern in eine Bewegung zu verwandeln, die sich auf ihre eigene Stärke, ihre eigene Organisation und ihre eigenen Mittel stützte.

Die Möglichkeit zum Aufbau einer sozialistischen Bewegung überall in den USA werden größer. Die Menschen haben die Schnauze voll von der Politik des Establishments und es gibt ein wachsendes Interesse an sozialistischen Ideen, was auch mit Bernie Sanders Äußerungen zu tun hat, als er sich als demokratischen Sozialisten in der Debatte mit Hillary Clinton bezeichnete. Die Bewegung für 15 Dollar Mindestlohn hat eine Reihe von Siegen im ganzen Land errungen, Studierende wehren sich gegen Studiengebühren und eine ganze neue Generation junger Menschen aktivierte sich in der Black Lives Matter Kampagne.

Unsere Arbeit endet heute nicht. Wir müssen die Möglichkeiten nutzen und auf unserem Sieg aufbauen. Das bedeutet in erster Linie, dass wir uns besser organisieren müssen. Es war diese Bewegung, die uns so weit gebracht hat. Leute sollten sich der Socialist Alternative anschließen und mithelfen eine noch stärkere Bewegung aufzubauen, die noch mehr Erfolge in der Zukunft erreichen kann.

 

     

    Kuba am Scheideweg

    Errungenschaften der Revolution Che Guevaras und Fidel Castros sind bedroht
    von Tony Saunois

    Die Financial Times frohlockte: „Es gibt einen neuen Eintrag im kubanischen Verzeichnis der wichtigen Jahrestage. Neben Fidel Castros Bewegung des 26. Juli und dem Triumph der Revolution am 1. Januar steht nun der 17. Dezember 2014“ (Financial Times, 15.06.2015).

    Aber die Financial Times verwechselt Revolution und Konterrevolution. Am 17. Dezember 2014 verkündeten US-Präsident Obama und Raúl Castro eine Reihe historischer Abkommen zur Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen: die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern, eine Lockerung der Reisebeschränkungen, sowie die ersten vorsichtigen Schritte in Richtung einer Lockerung des Handelsembargos, welches die USA seit der Revolution 1959/60 aufrecht erhalten haben. Inzwischen hat die USA ihre Botschaft in Havanna wiedereröffnet.

    Diese Entwicklungen sind eine entscheidende Wende in der Politik des US-Imperialismus gegenüber Kuba. Sie bedeuten zugleich einen weiteren qualitativen Schritt des kubanischen Regimes in Richtung der Wiedereinführung des Kapitalismus. Letztere ist seit einigen Jahren im Gange.

    Obama sagte bei der Bekanntgabe dieser Maßnahmen, dass „man nicht [mehr als] fünfzig Jahre lang die gleichen Dinge tun und plötzlich unterschiedliche Resultate erwarten kann.“ Die europäischen herrschenden Klassen – sowie die kanadische und die meisten lateinamerikanischen – verfolgten einen anderen Ansatz, den Obama nunmehr ebenfalls übernommen hat.

    Raúl Castro sagte bei der Bekanntgabe, dass Obama der Friedensnobelpreis verliehen werden solle! Ein „Friedenspreis“ für einen US-Präsidenten, der mehr Drohnenangriffe ausgeführt hat als George Bush!

    Seit der kubanischen Revolution 1959/60 hat der US-Imperialismus ein strenges Embargo verhängt und durchgesetzt. Außerdem unternahm er zahlreiche Versuche, das kubanische Regime zu stürzen und den Kapitalismus wiedereinzuführen, und schreckten dabei sogar vor einer bewaffneten Invasion nicht zurück (1961). Aber trotz der verheerenden Konsequenzen des Embargos, welches die kubanische Wirtschaft insgesamt circa eine Billion US-Dollar gekostet hat, ist diese Politik gescheitert – denn die tiefen sozialen Wurzeln, die die Revolution geschlagen hatte, haben jahrzehntelang eine große Unterstützung durch die KubanerInnen bedeutet. Das US-Handelsembargo war übrigens auch ein Versuch, die ExilkubanerInnen in Miami, die während der Revolution geflohen waren, politisch für sich zu gewinnen.

    Der US-Imperialismus schlägt jetzt eine andere politische Richtung ein und beginnt, das Embargo zu lüften. Für einen isolierten Arbeiterstaat kann es die Bedrohung einer Wiedereinführung des Kapitalismus nicht nur durch eine militärische Intervention gegeben sein – sie kann auch in der Form von „billigen Waren im Güterzug des Imperialismus“ kommen, wie Trotzki auf die ehemalige UdSSR bezogen warnte. Das Ziel des US-Imperialismus bleibt das gleiche, aber sie hoffen nun, es auf einem anderen Weg zu erreichen: sie versuchen, die kubanische Wirtschaft mit Waren und Investitionen zu überfluten, um letztendlich den Kapitalismus vollständig wiedereinzuführen und Kubas Ressourcen wieder selbst auszubeuten. Wenn ihnen dies gelingt, wird es auch Kubas Rolle, als Referenz für eine Alternative zum Kapitalismus zu gelten, beenden – sowohl in Lateinamerika als auch in anderen Teilen der Welt.

    Dieser Richtungswechsel der imperialistischen US-Politik wurde durch eine Veränderung der Zusammensetzung der exilkubanischen Community angestoßen. Deren jüngere Generation setzt nicht mehr auf einen sofortigen Sturz des Regimes auf der Insel, sondern nach manchen Umfragen sind 52 Prozent der in den USA lebenden KubanerInnen nun für ein Ende des Embargos. Teile der Kapitalistenklasse, darunter der Zuckerboss Alfy Fanjul, sprechen sich offen für die Aufhebung aus – der Grund ist zweifellos die Aussicht auf neue Märkte und Rohstoffe, die sie in einem kapitalistischen Kuba ausbeuten könnten.

    Kuba ist in einer verheerenden wirtschaftlichen Lage. Viele KubanerInnen sind auf die Gelder, die ihnen Familienangehörige aus den USA schicken, angewiesen. Dies betrifft geschätzte 62 Prozent aller Haushalte auf der Insel. Einige Wirtschaftsanalysten gehen sogar davon aus, dass bis zu 90 Prozent aller Konsumgüter mit diesen Geldern bezahlt werden!

    Diese düstere ökonomische Lage bedeutet seit langem ein soziales Desaster für die Massen. Die riesigen sozialen Fortschritte, die durch die Revolution und den Sturz des Kapitalismus gemacht wurden, werden immer weiter ausgehöhlt. Der Zusammenbruch der ehemaligen UdSSR und ihrer Unterstützungsleistungen traf die kubanische Wirtschaft extrem schwer. Doch unglaublicherweise war das Regime in der Lage, die geplante Wirtschaft und das bürokratische System durch die 1990er Jahre hindurch (die „Spezialperiode“) und bis ins frühe 21. Jahrhundert aufrechtzuerhalten – der Hauptgrund war abermals die anhaltende Sympathie und Unterstützung der KubanerInnen für die Revolution und die weit verbreitete Feindseligkeit gegenüber dem US-Imperialismus. Dabei beträgt das Reallohnniveau heute nur noch 28 Prozent des Niveaus vor dem Kollaps der ehemaligen UdSSR!

    Das kubanische Regime und die Planwirtschaft konnten sich also während dieser Periode auf den Beinen halten, obwohl damals eine Flutwelle des entfesselten Kapitalismus über die Weltmärkte schwappte. Auf der politischen Ebene nutzte die Bürokratie das US-Embargo, um die Abneigung gegenüber dem US-Imperialismus aufrechtzuerhalten. Als Hugo Chavéz in Venezuela an die Macht kam, verschafften seine billigen Erdöllieferungen dem kubanischen Regime ein bisschen Luft. Die Unterstützung Venezuelas summiert sich jährlich auf circa 1,5 Milliarden US-Dollar, während das kubanische Bruttoinlandsprodukt bei circa achtzig Milliarden US-Dollar liegt.

    Aber obwohl die wirtschaftliche und soziale Krise vom Embargo und der Isolierung verursacht wurde, wurde sie doch auch durch das Fehlen wirklicher Arbeiterkontrolle und -demokratie und durch die daraus folgende bürokratische Misswirtschaft und Korruption vertieft.

    Die revolutionären Erschütterungen zu Beginn des Jahrhunderts in Venezuela, Bolivien und Ecuador eröffneten Kuba die Aussicht, aus seiner Isolation ausbrechen zu können. Eine wirkliche Arbeiterdemokratie hätte diese Gelegenheit ergriffen und die notwendigen Schritte unternommen, um eine sozialistische Föderation dieser Länder zu schaffen. Diese hätte wirtschaftliche Zusammenarbeit und Planung zwischen ihnen erlaubt und hätte anfangen können, der Arbeiterklasse in ganz Lateinamerika eine Alternative zum Kapitalismus aufzuzeigen.

    Leider waren weder das kubanische bürokratische Regime noch die reformistischen Führungen um Morales, Chavéz und Correa bereit, diesen Schritt zu gehen. Letztere blieben – trotz anfänglicher Reformen und einzelner Maßnahmen, die die Interessen der herrschenden Klasse und des Imperialismus etwas gefährdeten – im Kapitalismus gefangen. Das kubanische Regime andererseits hat eine Serie kleinerer Schritte unternommen und damit den Prozess der Wiedereinführung des Kapitalismus begonnen. Die neuesten Entwicklungen bedeuten einen bedrohlichen Anstieg der Gefahr der Konterrevolution.

    Zwar wird die Lockerung der Reisebeschränkungen willkommen sein, aber andere der neuen Maßnahmen sind eine Bedrohung der übrig gebliebenen Erfolge der Revolution. Diese wurden in der Vergangenheit schon stark ausgehöhlt, aber jetzt sind sämtliche Überbleibsel ernsthaft bedroht. Die neue Arbeitsgesetzgebung ist ein scharfer Angriff auf die Rechte der ArbeiterInnen. Das Renteneintrittsalter wurde schon 2008 um fünf Jahre erhöht. Die Einführung des „dualen“ Währungssystems, in dem manche ArbeiterInnen in Dollar und die anderen in Peso bezahlt werden, verschärfte die Ungleichheit enorm. Das Regime schuf den „konvertiblen Peso“ CUC, der 1:1 an den Dollar gekoppelt ist und im Tourismussektor benutzt wird; außerdem müssen importierte Güter in dieser Währung bezahlt werden. Kubanische Produkte hingegen werden im normalen Peso abgerechnet, der nur etwa 1/25 des CUC-Wertes hat. Die Regierung hat angekündigt, diese Parallelwährung wieder abzuschaffen, aber das ist bisher nicht geschehen.

    Unter diesen Bedingungen war ein Erstarken des Schwarzmarktes folgerichtig bzw. unvermeidbar. Die Regierung hatte sich zum Ziel gesetzt, mehr als eine Million ArbeiterInnen aus dem Staatssektor zu entfernen und die Gründung tausender kleiner und mittlerer Unternehmen, „Cuentapropistas“ [„auf eigene Rechnung“] zu erlauben – dafür wurden bisher über 500.000 Lizenzen ausgegeben. Die meisten von ihnen sind aber kleine Geschäfte wie Restaurants, die hauptsächlich in Privatwohnungen oder -häusern operieren.

    Die Anzahl der Beschäftigten im Privatsektor stieg seit 2007 von circa 140.000 auf 400.000. Das ist zwar eine bedeutende Menge, aber immer noch die klare Minderheit der über fünf Millionen kubanischer ArbeiterInnen.

    Ein Brückenkopf für die Wiedereinführung des Kapitalismus wurde im Tourismussektor errichtet, der bisher das Zentrum der ausländischen Direktinvestitionen europäischer, kanadischer, brasilianischer und seit neuestem chinesischer Unternehmen ist. Die Prostitution, die nach der Revolution überwunden worden war, ist auf Havannas Straßen zurückgekehrt, insbesondere in den touristischen Stadtvierteln.

    Sonderwirtschaftszonen wurden eröffnet, zum Beispiel der Bau einer neuen Hafenanlage in der Mariel-Bucht, die von kapitalistischen Investoren aus Brasilien und Singapur finanziert wird. Sie schielen schon auf das mögliche Ende des US-Handelsembargos, die Verbreiterung des Panamakanals sowie die Eröffnung des neuen zweiten Kanals durch Nikaragua. In der Sonderwirtschaftszone werden den Investoren Verträge auf fünfzig Jahre gegeben anstatt wie sonst auf 25 Jahre, und sie können 100 Prozent des Eigentums behalten. Sie sind von Arbeits- oder kommunalen Steuern befreit und müssen zehn Jahre lang nicht die Gewinnsteuer in Höhe von 12 Prozent bezahlen.

    Aber trotz dieser Entwicklungen sind Verhandlungen mit dem Staat oder den staatlichen Betrieben für die ausländischen Investoren obligatorisch. Das kubanische Regime benutzt weiterhin manchmal sozialistische Rhetorik, um die anhaltende Unterstützung insbesondere der älteren Generation für die Revolution zu nutzen, bezieht sich aber immer öfter auf José Martí, den Führer der Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonisatoren.

    Die jüngere Generation, die es nach den neuen Freiheiten wie Internetnutzung und Reisemöglichkeiten dürstet, hat nicht die Erfolge, sondern den Abbau der Revolution, die wirtschaftliche und soziale Krise und den lähmenden Würgegriff der Bürokratie erlebt.

    Anfangs mögen die „billigen Waren, die im Güterzug des Imperialismus“ ankommen, attraktiv erscheinen, bevor die Realität des Lebens in einer kapitalistischen Gesellschaft deutlich wird.

    Diese Entwicklungen bedeuten also eindeutig einen bedeutenden Rückschritt, nämlich in Richtung der Wiedereinführung des Kapitalismus. Der Prozess ist in einigen Bereichen der Wirtschaft schon weit fortgeschritten, ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Schritte auf den „freien Markt“ werden nur unter staatlicher Kontrolle, Zustimmung und Überwachung erlaubt, und der Staat hat weiterhin effektive Kontrollinstrumente in der Hand, um die Entwicklung gegebenenfalls umkehren zu können. Ausländische Investoren müssen weiterhin direkt mit der Regierung verhandeln oder sich an die Staatsbetriebe wenden. Die Schlüsselsektoren der Wirtschaft sind bisher nicht privatisiert oder an ausländische Kapitalisten verkauft worden.

    Wie der Herausgeber des staatlichen kubanischen Kulturmagazins „Temas“, Rafael Hernandez, gesagt hat: „Jede von Raúls wirtschaftlichen Reformen dreht sich um Dezentralisierung, was gut ist, weil Kuba sie benötigt. Das Problem ist nur… sie findet nicht statt“ (Financial Times, 15. Juni 2015).

    Sogar der US-amerikanische Kapitalismus geht vorsichtig vor, obwohl er begierig ist, die in der Revolution verlorenen Betriebe und Vermögen wieder in seinen Besitz zu bringen. Ein Investor sagte: „Es ist sinnvoll, klein anzufangen, zu lernen, wie das System funktioniert, und dann weiterzusehen.“

    Für SozialistInnen und für die Arbeiterklasse bedeuten die Schritte in Richtung der Wiedereinführung des Kapitalismus konkrete Rückschritte, die den Abbau der Fortschritte im Lebensstandard der kubanischen Massen nach der erfolgreichen Revolution weiter treiben. Zudem wird die herrschende Klasse, insbesondere in Lateinamerika, versuchen, die Idee des Sozialismus als einer Alternative zum Kapitalismus abermals zu diskreditieren.

    Aber dies wird nicht die gleiche Wirkung haben wie die ideologische Offensive gegen die Idee des Sozialismus, die die herrschende Klasse nach dem Kollaps der stalinistischen Regime in der ehemaligen UdSSR und Osteuropa führten. Eine neue Phase kapitalistischer Krisen und von weltweiten Kämpfen der ArbeiterInnen hat begonnen. Die Arbeiterklasse und die Massen haben 25 Jahre der „Überlegenheit der freien Märkte“ durchgemacht und beginnen, direkt dagegen zu kämpfen. In Brasilien, Argentinien, Chile und anderen Ländern hat eine neue Etappe von Kämpfen begonnen.

    Die Aufhebung des Embargos würde eine Niederlage für die vergangene Politik des US-Imperialismus und dessen Versuche, das kubanische Regime zu stürzen, bedeuten. Es wird Kuba mehr Möglichkeiten geben, auf dem Weltmarkt Handel zu treiben. Jedoch wird es ohne eine wirkliche Arbeiterdemokratie auch die Gefahr einer Beschleunigung der Wiedereinführung des Kapitalismus geben. Ein staatliches, demokratisch von der Arbeiterklasse kontrolliertes Monopol auf den Außenhandel ist unverzichtbar, um diese steigende Gefahr im Zaun zu halten. SozialistInnen begrüßen die erweiterte Reisefreiheit.

    Der Übergang zu einer vollen Wiedereinführung des Kapitalismus wird aber kein kontinuierlicher Prozess ohne Unterbrechungen sein. Teile des Regimes scheinen in eine andere Richtung gehen zu wollen. Wichtig ist dabei Maiela Castro, die Tochter von Raúl, und ihre deutliche Aussage nach der offiziellen Bekanntgabe des Deals mit der USA: „Die Bevölkerung von Kuba will keine Rückkehr zum Kapitalismus.“

    Es gibt viele Hindernisse, die für eine Aufhebung des Handelsembargos noch aus dem Weg geräumt werden müssten. Dazu zählt auch der Widerstand des rechten Flügels der Republikaner im US-Kongress und die Frage der Wiedergutmachungsforderungen in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar von ehemaligen BesitzerInnen von in der Revolution verstaatlichter Firmen an den kubanischen Staat. Dagegen steht zum Beispiel das, was Fidel Castro an seinem 89. Geburtstag sagte, nämlich dass „zahlreiche Millionen Dollar“ an Schadenersatz von den USA an Kuba gezahlt werden müssten, um die Kosten des Embargos wiedergutzumachen.

    Unter den Bedingungen neuer kapitalistischer Krisen können Bewegungen in Richtung einer Wiedereinführung des Kapitalismus in Schach gehalten werden, und eine gemischte oder hybride Situation könnte eine Weile bestehen bleiben. Anfänglich könnten sogar (die Reste) solcher Revolutionsgewinne wie das gute Gesundheits- und Bildungssystem aufrecht erhalten werden, und das trotz der seit Jahren andauernden Unterfinanzierung. Die Hindernisse sind bedeutend und ein gewisses Niveau an Widerstand durch die KubanerInnen ist wahrscheinlich, sobald die Realität eines wiedereingeführten Kapitalismus klar zu werden beginnt. Teile der Bevölkerung fürchten bereits heute, die Gewinne der Revolution vollständig zu verlieren und dass Kuba zu einem zweiten Puerto Rico werden könnte.

    Die Notwendigkeit des Widerstands gegen die sich beschleunigende Wiedereinführung des Kapitalismus und für eine wirkliche Arbeiterdemokratie und eine verstaatlichte geplante Wirtschaft ist dringender als jemals zuvor. Solch eine Bewegung könnte an die Arbeiterklasse und die Jugend in ganz Lateinamerika appellieren und sich mit diesen verbinden, um ihre zunehmenden Kämpfe zur Verteidigung ihrer Interessen zu unterstützen und dabei eine echte sozialistische Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln, die die Lektionen der kubanischen Revolution gründlich gelernt hat.

     

    Das deutsche Kapital und die Flüchtlingskrise

    von Claus Ludwig, Köln

    Schaffen wir das – und wer ist eigentlich „wir“?

    „Wir schaffen das“ – dieser Satz von Angela Merkel suggeriert, die derzeitige Fluchtbewegung wäre eine gemeinsame Herausforderung, der sich Bevölkerung und Staat gemeinsam stellen müssten. Tatsächlich haben unterschiedliche Klassen und Schichten unterschiedliche Interessen bezüglich der Zuwanderung. Ein zentraler Faktor dabei ist das Interesse des Kapitals, der ökonomisch herrschenden Klasse in diesem Land. Auf dessen Interesse basiert zunächst die Politik der etablierten Parteien von der CDU über die SPD zu den Grünen. Allerdings agieren diese Parteien nicht als reine Vollstrecker der Kapitalinteressen, sondern in einem politischen Spannungsfeld.

    Anfang der 1990er Jahre brauchte das deutsche Kapital keine Zuwanderung. Gerade erst war die DDR der Bundesrepublik angeschlossen worden, günstige Arbeitskräfte waren genug bzw. zu viel vorhanden. Große Teile der ostdeutschen Industrie mussten noch „abgewickelt“ werden, die Arbeitslosigkeit stieg. Auf dieser Grundlage reagierten Kapital und Staat auf die Flüchtlingsbewegung damals mit einer Politik der Abschottung, vor allem durch die massive Einschränkung des Asylrechts.

    Die bürgerlichen Parteien, allen voran die CDU, waren sich mit dem Kapital einig. Sie nutzen das Thema zudem, um von der ökonomischen und sozialen Krise im Zuge der Zerstörung der DDR-Betriebe abzulenken bzw. die Verantwortung der Herrschenden für diese Krise zu verschleiern und diese den ZuwandererInnen zuzuschieben. Etablierte Politiker und Medien entwickelten eine relativ geschlossene Propaganda vom angeblich zu vollen Boot und erzeugten ein politisches Klima, in dem die rassistischen Gewalttäter ihren Terror entfalten konnten. Ihre Grenze erreichte die bürgerliche Propaganda gegen die Flüchtlinge erst, als die Faschisten allzu dreist wurden und den Staat blamierten und als antifaschistische Gegenbewegung aus Sicht der Herrschenden überhand nahm und sich viele junge Menschen nach links politisierten.

    Refugees welcomed by Daimler und Deutsche Bank?

    Die Lage heute ist anders. Statt einer einheitlichen Propaganda gegen Flüchtlinge erleben wir heftige Schwankungen in den bürgerlichen Medien und den etablierten Parteien. Innerhalb weniger Wochen wurden und werden Positionen verändert. Selbst die BILD-Zeitung verstieg sich zu einer Werbekampagne mit dem Slogan „Refugees welcome“, um wenige Tage später wieder auf die gewohnte Hetze umzuschalten. Es heißt in vielen Berichten, die Stimmung „würde kippen“, hätte sich massiv geändert seit den „Willkommen“-Aktionen auf den Bahnhöfen in der ersten Septemberwoche. Es mag sein, dass sich die Stimmung in Teilen der Bevölkerung ändert. Deutlich umgeschwenkt sind allerdings zunächst viele Medien, die vom „Sommermärchen“-Modus auf Bedrohungsszenarien umgeschaltet haben und große Teile der etablierten Parteien, die statt Merkels „Wir schaffen das“ jetzt betonen, man wäre schon an die Grenzen gestoßen. Während die CSU schon Anfang September eine Position eingenommen hat, die an die frühen 1990er erinnert, schwenken auch immer mehr CDU- und SPD-Politiker auf diese Linie ein, benutzen Formulierungen, die Ängste und Vorurteile schüren.

    Diese Schwankungen basieren nicht darauf, dass der Staat tatsächlich an seine Grenzen stößt, weil viel mehr Menschen kommen als erwartet. Das staatliche Versagen bei der Unterbringung ist hausgemacht, ist zu einem geringeren Teil Ergebnis von Unfähigkeit, zum größeren Teil jedoch Produkt der Verweigerung von öffentlichen Investitionen. Die Situation könnte, wenn dies gewollt wäre, schnell verbessert werden. Grundlage der Schwankungen in der Darstellung ist hingegen dass gegenüber den 1990ern veränderte Interesse des Kapitals und das Spannungsfeld zwischen diesem Klasseninteresse der ökonomisch Herrschenden und ihren politischen Vertretern in den bürgerlichen Parteien, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage und willens sind, die Kapitalinteressen 1:1 umzusetzen.

    Die deutschen Konzerne gehen davon aus, dass sie aufgrund der demografischen Entwicklung für die Zukunft eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt benötigen. In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren werden jährlich ca. 500.000 Menschen mehr aus dem Arbeitsleben ausscheiden als neu eintreten. In einem Land mit einer starken Binnenmarkt-Orientierung würde sich das Problem stärker relativieren, weil gleichzeitig Nachfrage und Kaufkraft stark schrumpfen würden. Im Land des „Exportweltmeisters mit seiner extremen Weltmarktorientierung ist der schrumpfende Binnenmarkt hingegen weniger wichtig.

    Ein weltweiter Kriseneinbruch würde diese Entwicklung konterkarieren und es mag sein, dass die deutschen Konzerne perspektivisch weniger Arbeitskräfte brauchen als sie heute denken. Solch ein Einbruch ist auch keineswegs unwahrscheinlich. Aber aus der Sicht des Kapitals ist das nicht die Perspektive, denn die Konzerne müssen aus der Logik des Profits heraus davon ausgehen bzw. alles dafür tun, dass sie auch aus kommenden Krise als Gewinner hervorgehen.

    In einer sozialistischen Gesellschaft könnten solche demografischen Veränderungen durch eine Ausweitung der Produktivität und den Einsatz der Wirtschaft im Interesse der Menschen begegnet werden. Im Kapitalismus geht es nur um den Profit. Abgesehen davon, dass die Produktivitätsentwicklung in Deutschland trotz fortschreitender Automatisierung relativ niedrig ist, wollen die Kapitalisten nicht, dass diese dazu genutzt wird, mit weniger Arbeitskräften mehr RentnerInnen zu finanzieren, sondern dazu, ihre Gewinne zu maximieren. Insofern braucht das Kapital eine Verjüngung der Bevölkerung oder glaubt diese zu brauchen, die aus seiner Sicht nur durch Zuwanderung kommen kann.

    Kommender Arbeitskräftemangel?

    Der „Fachkräftemangel“ ist ein zurecht umstrittener Begriff. Heute kann man kaum von einem absoluten Fachkräftemangel sprechen, zu viele Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung sind erwerbslos. Sie werden aber vom kapitalistischen Arbeitsmarkt nicht aufgenommen, weil mit ihnen nicht genug Profit erzielt werden kann. Etwa weil sie aus Sicht des Kapitals zu alt, nicht flexibel genug, nicht belastbar genug etc. sind oder ganz einfach am falschen Ort wohnen. In unterschiedlichen Berufsgruppen und Regionen ist die Situation sehr verschieden.

    Vor allem ist der heutige Mangel an Arbeitskräften in bestimmten Berufen und Regionen das Produkt der Weigerung der Herrschenden, genügend Ressourcen in die allgemeine schulische und die berufsspezifische Bildung zu investieren. Er ist das Produkt eines unterfinanzierten, auf Ausgrenzung basierenden Bildungssystems, welches dazu führt, dass ein Teil der Jugend, darunter viele junge MigrantInnen, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wird.

    Das deutsche Kapital wollte den billigen und einfachen Weg gehen und nicht wirklich in die „human resources“ investieren, sondern die Bildung und Ausbildung durch andere Länder finanzieren lassen und die fertigen Arbeitskräfte dort einkaufen. Das hat allerdings nur in sehr geringem Maße funktioniert, unter Anderem, weil die Einkommen in Deutschland niedriger sind als in vergleichbaren entwickelten Ländern und auch weil Deutschland unter den gut Ausgebildeten den Ruf rassistischer Übergriffe hat.

    Das Kapital – immer hoffnungsfroh, was den eigenen Erfolg im kapitalistischen Konkurrenzkampf angeht – befürchtet, dass es 2025 nicht nur Fachkräfte- sondern einen allgemeinen Arbeitskräftemangel gibt. Ob diese Erwartung so eintreten wird, ob ein Arbeitskräftemangel absolut wäre, überwiegend durch die demografische Entwicklung bestimmt oder relativ, sich also durch Investitionen in Bildung und Ausbildung und Bereitschaft, höhere Löhne zu zahlen, deutlich konterkarieren ließe, können wir heute nicht abschließend beurteilen. Sicher ist allerdings, dass der demografische Faktor weit schwerer wiegen wird als heute. Sicher ist auch, dass das Kapital weder einen größeren Anteil aus dem Profit über Steuern dem Staat zukommen lassen noch die Bezahlung verbessern möchte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe.

    Auf dieser Interessenlage der Herrschenden entfaltet sich die scheinbar widersprüchliche Flüchtlingspolitik derzeit. Die ursprüngliche Idee, die Zuwanderung durch ein Green-Card-System komplett zu steuern, hat nicht funktioniert. Das Kapital hat daher die derzeitige Flüchtlingsbewegung als Chance erkannt, perspektivisch den vermuteten Arbeitskräftebedarf zu decken. Die veränderte Zusammensetzung der Geflüchteten – weniger arme und ausgegrenzte Menschen aus den Balkanländern, mehr akademisch gebildete Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak – haben dabei auch eine Rolle gespielt. Mehrere Konzernvertreter meldeten sich freudig zu Wort, dass sie die jungen Leute brauchen können und verlangten schnellere Deutsch-Kurse und die Erleichterung des Zugangs der Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt.

    Merkel bezieht Position und verliert Unterstützung

    Auf politischer Ebene kombinierte Angela Merkel diese ökonomischen Interessen des Kapitals mit der einfachen Erkenntnis, dass eine Abschottung Deutschlands nur mit massiver Gewalt und weiteren politischen Verwerfungen möglich ist. Die Bilder von getöteten Kindern im Mittelmeer, die brutale Abschottung Ungarns unter der Regierung Orbán, die überfüllten Lager auf Kos und Lesbos, das Wissen um die mörderischen Kriege in Syrien und Irak und das entschlossene Handeln der Flüchtlinge in Ungarn erzeugten einen Druck auf die deutsche Regierung, „humanitär“ zu handeln und die Dublin-Regelungen nicht anzuwenden.

    Die Aussitzerin Angela Merkel, die häufig mögliche Kontroversen vermied, nahm damit eine klare Position ein, die vor allem in ihrer eigenen Partei auf Widerstand stieß. Entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten verteidigte sie diese Haltung zunächst offensiv. Dies könnte der Anfang vom Ende der Ära Merkel ein. Die CSU ohnehin, aber auch große Teile der CDU und die wie immer lavierende SPD positionierten sich rechts von Merkel. In den bürgerlichen Medien waren erste Abgesänge zu lesen. Nach Merkels Auftritt bei „Anne Will“, bei der sie ihre Idee verteidigte, dass die Grenzen nicht geschlossen werden sollen, schrieb die Thüringische Landeszeitung, offensichtlich befeuert von den zunehmenden rechten Demonstrationen in Thüringen und Sachsen:

    „Hilflos, planlos, machtlos […] Zunehmender Realitätsverlust und überstarke Ichbezogenheit kann man der Kanzlerin ebenfalls attestieren, deren Fernsehauftritt erneut wie ein globaler Aufruf an Flüchtlinge wirkte, nach Deutschland zu kommen.“

    Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Position Angela Merkels ist nicht humanitär motiviert, sie vertritt keine Position „Pro Flüchtlinge“, ist nicht „links“ von der CSU. Es ist ihre staatsmännisch-stabilisierende Interpretation der Klasseninteressen des deutschen Kapitals, die sowohl die Möglichkeit der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der ZuwandererInnen als auch stabile politische Verhältnissen umfassen.

    Allerdings ist jede Ökonomie politische Ökonomie. Auch Horst Seehofer will weiterhin die Interessen des Kapitals vertreten. Ob er und andere lautstarke Asylgegner in den bürgerlichen Parteien anderer Meinung als viele Konzernvertreter sind und eine Zuwanderung im großen Maßstab nicht für nötig halten, ist schwer zu beurteilen. Sicher ist allerdings, dass CSU- und CDU-Politiker eine Schwächung ihrer Parteien fürchten, eine Abwanderung des rechten Randes hin zu AfD und anderen rechtspopulistischen bzw. faschistischen Organisationen.

    Sie wissen selbst sehr gut, dass sie mit ihrer Politik in den letzten Jahren die Grundlagen für eine Stärkung der Rechten geschaffen haben, dachten aber bisher, sie hätten das unter Kontrolle. Daher nutzt die CSU stärker Elemente des rechten Populismus. Der Rechtspopulismus ist auch prokapitalistische Politik, aber er setzt darauf, eine stärkere Verankerung durch Polarisierung und durch eine scheinbar gegen das Establishment gerichtete Agitation zu erreichen. Die SPD schwankt wie immer, nutzt aber auch mehr populistische Elemente.

    Die politischen Vertreter der herrschenden Klasse ringen um den richtigen Umgang mit der Flüchtlingsbewegung. Sie haben den gemeinsamen Konsens verworfen und sind zur offenen Auseinandersetzung übergegangen. Ob der Plan von Seehofer, rechte Wähler an die CSU zu binden, aufgehen wird, ist zweifelhaft. Von dieser Spaltung der Etablierten profitieren erst einmal die echten Rechtspopulisten in Form der AfD. Die „Volkspartei“ CDU gerät in Gefahr, geschwächt zu werden, die SPD hat in dieser Auseinandersetzung wenig zu gewinnen aber viel zu verlieren.

    Soziale Kämpfe verändern die Debatte

    Dass die Flüchtlingsdebatte gesellschaftlich eine solche Dominanz erlangt hat, hängt auch mit dem relativ niedrigen Niveau des Klassenkampfes, der sozialen Auseinandersetzungen zusammen. Nur relativ wenige Beschäftigte sind aktiv involviert in Aktionen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Es gibt aktuelle keine größere Bewegung gegen den Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Daher erleben die meisten Lohnabhängigen die „Flüchtlingskrise“ und die sich daraus ergebenden Fragen bezüglich des Zusammenlebens und der sozialen Infrastruktur nur als Zuschauer. Die Prozesse vollziehen sich ohne ihr Zutun. Zwar hat es im Rahmen von Willkommen-Initiativen sehr viel Solidarität gegeben, doch diese besteht in der Regel aus direkten Hilfsaktionen und hat wenig Zusammenhang zum Alltagsleben der hier lebenden Bevölkerung.

    Nach Jahren der Ruhe in den Betrieben hat es 2015 mehrere längere Streiks gegeben, zum Beispiel bei der Bahn, der Post sowie dem Sozial- und Erziehungsdienst. Diese Kämpfe, die sich auch um die Frage drehten, inwieweit der Staat bereit ist, in die Infrastruktur zu investieren, waren von großer Bedeutung, haben Tausende in den Kampf für die eigenen Interessen einbezogen, sie wurden aber durch die Gewerkschaftsführung nicht zu politischen Kämpfen verallgemeinrt und haben der gesamtgesellschaftlichen Stimmung noch nicht den Stempel in einem Maß aufgedrückt, dass sie die Flüchtlingsdebatte beeinflussen könnten. Sie haben vor allem, wie auch die riesige Demonstration gegen TTIP und die vielen antirassistischen Demonstrationen in diesem Jahr, das Potenzial für eine Gegenbewegung von links zum Ausdruck gebracht und gezeigt, dass wir es nicht mit einem einfachen Rechtsruck, sondern einer gesellschaftlichen Polarisierung zu tun haben. Dieses Potenzial wird zur Zeit leider nicht organisiert und mobilisiert. Das nicht zuletzt auch, weil wesentliche Teile der LINKE-Führung, vor allem in Ostdeutschland, auf die Regierungssessel schielen und nicht ausreichend den Kampf gegen Rassismus mit dem Kampf gegen die Macht der Banken und Konzerne verbinden.

    Käme es zu größeren Arbeitskämpfen würden diese erst einmal die mediale Omnipräsenz des Flüchtlingsthemas beenden. Nicht die Frage, „da kommen Menschen, die schaffen Problem“, sondern „wie können wir hier Gerechtigkeit erreichen“ würde stärker diskutiert. Zudem würden mehr Menschen aktiv eingreifen, ihre Interessen in die eigene Hand nehmen. Daraus würden sich Ansatzpunkte ergeben, gemeinsame Interesse von Deutschen, MigrantInnen und Flüchtlinge zu konkretisieren, zum Beispiel im Kampf für bessere Bezahlung oder eine besser Bildung für alle Kinder.

    Dies würde auch die öffentliche Debatte in Politik und Medien ein Stück weit verschieben. Es ist nicht genau vorherzusagen, wann es zu solchen Kämpfen kommen wird. Die Gewerkschaften hätten die Möglichkeit anstehende Tarifrunden in kämpferischer Art und Weise zu führen und zu gesamtgesellschaftlichen Umverteilungskämpfen zu machen. Die Gewerkschaftsspitzen haben sich bisher geweigert, die zu tun. Aber die Fortsetzung neoliberaler Politik und die sich verschlechternde Weltwirtschaftslage werden früher oder später wieder zu Angriffen auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Sozialstandards führen, die Gegenwehr provozieren werden.

    Ideologie des Niedergangs

    Ein massives Wachstum der Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit müsste eigentlich auch fanatische Kürzungspolitiker dazu bringen, die „schwarze Null“ zurückzustellen und öffentliche Investitionen in großem Umfang anzustoßen, um den nötigen Ausbau der Infrastruktur stemmen zu können. Doch Schäuble predigt vom ausgeglichenen Haushalt als würde er selber glauben, dass es sich dabei um vernünftige Wirtschaftspolitik handelt. Alle Forderungen z.B. des IWF oder der US-Regierung, Deutschland möge mehr investieren, werden konsequent ignoriert.

    Auch deutsche Kapitalisten müssten, wenn sie ernsthaft eine Integration eines Teils der Zugewanderten in den Arbeitsmarkt für sinnvoll halten, dabei in Kauf nehmen, dass die Staatsschulden und auch die Besteuerung von Profiten und Vermögen zumindest vorübergehend ansteigen. Doch von ihnen ist diesbezüglich nichts zu hören.

    Wer jetzt jedoch glaubt, die bürgerlichen Politiker wären dumm, würden eine „falsche“ Politik betreiben und könnten mit etwas Nachdenken vom Neoliberalismus abkehren, der irrt. Die neoliberale Ideologie ist nicht für konjunkturelle Auf- und Abschwünge gedacht, sie ist die dominierende Ideologie einer gesamten historischen Epoche, der Epoche des in die Länge gezogenen weltweiten kapitalistischen Niedergangs. Privatisierung, Deregulierung, Unterfinanzierung des Staates, Verfall der öffentlichen Infrastruktur, Lohndumping, Sozialkürzungen dominieren diese gesamte Phase, sie sind für das Kapital die zentralen Mittel, um den Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen unten zu halten und die Profitabilität aufrecht zu halten.

    Die Konzerne und ihre Politiker fürchten, dass auch nur das Lockern der neoliberalen Daumenschraube die Arbeiterklasse zu selbstbewusst werden lässt, fürchten Einbrüche der Profitabilität. Sie riskieren kurzfristig enorme politische und wirtschaftliche Verwerfungen – wie auch bei der Erpressung Griechenlands – um zu verhindern, auch nur kleine Spielräume zu eröffnen.

    Die Schuldenbremse, eine einseitige und offensichtlich gefährliche Finanzpolitik, hat Verfassungsrang bekommen, der Neoliberalismus strömt durch den Blutkreislauf der Politiker aller bürgerlichen Parteien.

    Man muss kein Antikapitalist sein, um auf die Idee zu kommen, angesichts eines Zuzugs von vielleicht einer Million Menschen müssten im großem Maßstab Wohnungen neu gebaut oder nicht genutzte Gebäude in Wohnungen umgewandelt werden. Man muss nur ein bisschen nachdenken, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass solch ein Projekt durch private Bauträger und Immobilienbesitzer schlicht nicht gestemmt werden kann und notwendigerweise durch den Staat erledigt werden muss. Doch bezahlbarer Wohnraum in größerem Umfang wird nicht geschaffen. Auch wenn einzelne Maßnahmen beschlossen wurden, wie zum Beispiel der Bau von 15.000 Wohnungen in Leichtbauweise durch den Berliner Senat oder es einzelne Beschlagnahmungen leerstehender Gebäude gegeben hat, gilt: Die bisher beschlossenen Maßnahmen sind einfach nicht umfangreich genug, um eine Wirkung zu entfalten.

    Die Notmaßnahmen, die ergriffen werden, um das Chaos zu bändigen, werden sogar genutzt, um, ganz im Sinne der neoliberalen Ideologie, privaten Investoren die Möglichkeit zu geben, sich daran zu bereichern. Container-Vermieter, Hotelbesitzer, private Sicherheitsdienste usw. verdienen an der Flüchtlingskrise, kosten den Staat riesige Summen und tragen nicht zur Lösung organisatorischer Probleme bei, sondern vergrößern diese durch Profitgier und Inkompetenz.

    Sogenannte „Wirtschaftsweise“ wie Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut vertreten Thesen, die geradezu himmelschreiend unsinnig sind. „Für die Flüchtlinge“ müsse das Rentenalter erhöht werden, behauptet Sinn. Bisher wurde uns immer erzählt, das Rentenalter müsse erhöht werden, weil „die Deutschen“ immer älter werden und zu wenige Junge nachrücken. Jetzt kommen überwiegend junge Menschen und die Antwort ist gleich geblieben? Sinn forderte auch, den Mindestlohn abzuschaffen, um die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

    Diese Reaktion der herrschenden Klasse und ihrer Politiker und Propagandisten auf die Fluchtbewegung führt zu einem Anstieg der politischen Spannungen und zu einer Stärkung der Basis der rassistischen Bewegungen. Diese sind ohnehin Geister, die von den bürgerlichen Parteien gerufen wurden, die inzwischen seit Jahrzehnten immer wieder aus Spaltung und Ausgrenzung setzen, MigrantInnen, Muslime oder Flüchtlinge zu Sündenböcken machen. Es existiert ein nicht unbeträchtlicher rassistischer Bodensatz, der in den letzten Jahren immer wieder Futter vom Establishment bekommen hat.

    Der humanitär und moralisch motivierten „Willkommenskultur“ wird durch die Spaltungspropaganda der Boden unter den Füßen weggezogen. Teile der lohnabhängigen Bevölkerung, vor allem diejenigen mit geringen Einkommen und prekären Jobs sowie schlechten Chancen auf dem Wohnungsmarkt, fühlen sich dahin gedrängt, mit den Flüchtlingen um angeblich „knappe Ressourcen“ zu kämpfen. Es werden Ängste geschaffen, noch weniger Chancen auf eine Wohnung zu haben und die Kinder in überfüllte Kitas und noch weiter zerfallende Schulen mit sinkendem pädagogischem Niveau schicken zu müssen. Diese Knappheit entsteht durch die Weigerung des Staates zu investieren.

    Teile der bürgerlichen Politiker schüren die Spaltung bewusst. Aber selbst ohne sie würde diese Spaltung durch das Handeln von Kapital, Staat und Politik vertieft. Die herrschende Klasse kann nicht anders. Sie und die kapitaltreuen Politiker um Merkel herum sind Getriebene der kapitalistischen Profitlogik. Sie würden gerne die Verwerfungen in Grenzen halten. Eine massive Schwächung des bisherigen Stabilitätsfaktors CDU, der weitere Niedergang der SPD sowie massive Stimmengewinne für die AfD und häufigere Mobilisierungen von Rassisten und antifaschistischer Bewegung sind eigentlich nicht in ihrem Interesse. Aber sie sind unfähig, nachhaltig wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen, die die Situation entspannen könnten, weil sie dazu eine deutliche Umverteilung von oben nach unten einleiten müsste.

    Merkels „Wir schaffen das“ entsprach objektiv den Klasseninteressen des Kapitals nach ökonomischer Verwertbarkeit und politischer Stabilisierung. Aber diese Position ist als Hauptlinie der bürgerlichen Politik nicht auf Dauer haltbar. Sie widerspricht der eigenen Wirtschaftspolitik und der Politik der verschärften Konkurrenz und Spaltung, die seit Jahrzehnten betrieben wird.

    Das Akzeptieren des CSU-Vorschlages, „Transitzonen“ an der Grenze zu Österreich einzurichten, weist darauf hin, dass Merkel einknickt. In den „Transitzonen“ werden die Flüchtlinge faktisch entrechtet und vorsortiert in diejenigen, denen ein reguläres Asylverfahren zugestanden wird und diejenigen, die kurzerhand aus dem Land geworfen werden sollen. Diese Zonen höhlen das Asylrecht weiter aus, vertiefen die Spaltung. Und – sie führen nicht dazu, dass weniger Flüchtlinge kommen. Ohne eine Abschottung der gesamten Grenze erfüllen sie ohnehin nur eine symbolische Wirkung. Aber sie sind ein symbolisches Zugeständnis an den Mob, der sich ermutigt fühlen wird, noch härtere Maßnahmen durchzuführen, um die gewünschte Abschottung zu erzielen. Das widerspricht Merkels ursprünglicher Haltung, ist aber mit den Interessen des Kapitals vereinbar.

    Flüchtlinge erkämpfen sich den Weg

    In den letzten Wochen hat sich auf der Grundlage der beschriebenen Parameter und Widersprüche eine Haltung der herrschenden Klasse herausgebildet, die auf ökonomischen Interessen basiert, aber die Interessen des Staates und der bürgerlichen Parteien berücksichtigt.

    Die begonnene Abkehr von der „Willkommenskultur“ beruht nicht auf der schieren Zahl der Geflüchteten, sondern vielmehr auf dem Verlust der Kontrolle. Die Flüchtlinge hatten sich ihren Weg nach Mitteleuropa selbst erkämpft. Merkel hat sie entgegen der jetzt betriebenen Legendenbildung nicht eingeladen, sondern lediglich darauf verzichtet, sie gewaltsam draußen zu halten. Die Flüchtlinge haben die ungarischen Grenzanlagen belagert, umgangen und überrannt, sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Dieser Verlust der Kontrolle hat die politischen Vertreter der Herrschenden aufgeschreckt.

    Die Medien sind voll davon, wie schlimm die Schlepper seien. Tatsächlich haben die Regierungen überhaupt kein Problem mit der zentralen Wirkung des Schlepperwesens. Die Notwendigkeit, mehrere Tausend Euro pro Person aufzubringen, um die europäischen Hindernisse zu überwinden, führt dazu, dass die Chancen der Gebildeten und Wohlhabenderen, es zu schaffen, gegenüber denen der Habenichtse ansteigen. Dieses Art Regulierung ist im Interesse der Herrschenden in Europa. Und gerade deswegen waren sie durch die spätsommerliche Fluchtbewegung auf der Balkan-Route alarmiert. Dort brauchte man keinen Schlepper mehr, es reichten einige Dutzend Euros, um, allerdings überteuerte, Fähren, Bus- und Zugtickets zu kaufen. Durch die Masse der Flüchtlinge wurden die besten Routen zur Grenzüberquerung schnell ausgemacht. Ungarn, Österreicher und Deutsche engagierten sich solidarisch und brachten Flüchtlinge an ihre Zielorte. Auf einmal konnte jede/r kommen, der es bis auf die griechischen Inseln geschafft hatte.

    Diesen Kontrollverlust galt es auch Sicht der Herrschenden wieder wettzumachen. Die Vertreter des Kapitals und der etablierten Parteien sind sich im Detail nicht einig, nach wie vor wird gestritten. Die Grünen und Teile der CDU um Merkel scheinen am „reinsten“ die Kapitalinteressen umzusetzen und auf eine regulierte Zuwanderung abzuzielen. Die CSU, Teile der CDU und auch die SPD schielen mehr auf Wählerstimmen und knüpfen populistisch an rechten Ideen an, betonen die angeblich Überlastung. Diese Parolen sind keineswegs harmlos, sie spielen PEGIDA, AfD und anderen Rassisten in die Hände. Die etablierten Kräfte werden sich offen streiten, tiefe Gräben sind möglich. Aber es ist letztlich davon auszugehen, dass sich in der Auseinandersetzung eine gemeinsame Linie herausbildet, die dann auch Zugeständnisse an die Propaganda-Notwendigkeiten der einen oder anderen Seite beinhaltet.

    Im Groben ist diese Linie bereits erkennbar. Die Kontrolle über die Zuwanderung nach Deutschland soll wieder hergestellt werden. Das Mittel der Wahl ist nicht die komplette Abschottung der deutschen Grenzen samt Wiedereinführung permanenter Grenzkontrollen. Die Herrschenden hierzulande setzen darauf, die Zuwanderung durch ein System von Hindernissen im Vorfeld zu begrenzen und zu kontrollieren.

    Hindernislauf durch Europa

    Die vorderste Frontlinie stellen die Flüchtlingslager in der Türkei, Libanon und Jordanien dar. Diese sollen finanziell besser ausgestattet werden, um die Unerträglichkeit der Lebensbedingungen zu mildern. Die zweite Linie ist die türkische Außengrenze. Erdoğan soll verpflichtet werden, nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Europa zu lassen. Diese Funktion als Europas Türwächter wird sich das türkische Regime teuer bezahlen lassen.

    Die herrschenden Klassen Europas scheinen bereit, zum Krieg des türkischen Regimes gegen die Kurden, zur Unterdrückung von Meinungs- und Pressefreiheit und zur Festigung des autoritären Regimes zu schweigen. In der Diskussion ist sogar, dass die Türkei zu einem „sicheren Herkunftsland“ erklärt und die Asylchancen von Geflüchteten dadurch minimiert werden sollen. Besonders bizarr wird dieser Deal dadurch, dass die türkische Regierung den mörderischen Krieg in Syrien selbst mit angeheizt hat und die Terroristen von Al-Nusrah und ISIS unterstützt oder gewähren lassen hat.

    Parallel zur Landroute soll eine stärker militarisierte Frontex-Mission die Überquerung des Mittelmeers erschweren. Durch mehr Kontrollen und die Zerstörung von Schleuserschiffen- und booten soll die Zahl der Überquerungen gesenkt werden. Nebeneffekt wird sein, dass die Flüchtlinge höhere Kosten und Risiken auf sich nehmen müssen, um die Überfahrt zu schaffen.

    Als dritte Linie sollen Auffanglager in den EU-Frontstaaten Griechenland und Italien dienen, welche Dublin III wieder zur Wirksamkeit verhelfen sollen. Diese beiden Länder sollen mit einer Mischung aus Finanzhilfen und Druck („denkt an eure prekären Finanzen, wir können den Hahn auch zudrehen“) dazu gebracht werden, mehr Flüchtlinge zu behalten und ihre Ausreise in andere EU-Länder zu erschweren. Im Zuge dessen sollen die chaotischen Zustände wie auf den griechischen Inseln Kos und Lesbos gemildert werden, um überhaupt eine Chance zu haben, die Flüchtlinge in Griechenland zu halten. Ob dies zu einer echten Verbesserung der Lebensumstände in Griechenland führt, ist zu bezweifeln.

    Als Hindernis der vierten Linie dienen die diversen Grenzen auf dem Balkan und deren unterschiedliche Systeme von Abschottung und Abschreckung, über die wir in der Zukunft gewiss nicht mehr so viel lesen werden wie im September.

    Als fünfte und letzte Frontlinie soll das veränderte deutsche Asylrecht dienen. Diejenigen, die es bis nach Deutschland schaffen, sollen schneller und effektiver sortiert werden, u.a über die „Transitzonen“. Menschen mit Bleibe-Perspektive (z.B. aktuell Syrien-Flüchtlinge) sollen schneller in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt überführt werden, Menschen mit schlechten Aussichten auf Asyl (z.B. aus dem Kosovo oder Albanien) sollen durch verlängerte Kasernierung in Auffanglagern, einer Reihe von materiellen und repressiven Schikanen und beschleunigten Verfahren mit dem Vorab-Stempel „chancenlos“ (wg. der Regelung der „sicheren Herkunftsländer“) schneller zur Ausreise gedrängt oder abgeschoben werden. Durch die institutionell und propagandistisch verankerte Unterscheidung in „politische Flüchtlinge“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ sollen Abschiebungen legitimiert werden.

    Wahrscheinlich wird auch die schrittweise Wiederinkraftsetzung von Dublin III eine Rolle dabei spielen, die Zuwanderung nach Deutschland zu verringern.

    Im Ergebnis würde es so auf absehbare Zeit zu einer Zuwanderung von einigen Hunderttausend Menschen jährlich nach Deutschland kommen. Je nach ökonomischen Interessen könnte durch das Asylverfahren gesteuert werden, ob davon 25, 50 oder 75 Prozent bleiben dürfen.

    Die herrschende Klasse in Deutschland ist bemüht, die öffentlichen Ausgaben nicht wesentlich zu erhöhen und die eigene Steuerbelastung weiter zu senken. Insofern wäre die Reduzierung der Kosten bei Unterbringung, Versorgung und Bürokratie ein gewünschter Nebeneffekt. Allerdings dürften Kapital und Staat bereit sein, einige Milliarden in den Hand zu nehmen, um a) die Hindernisse in anderen Ländern zu finanzieren und b) die Eingliederung eines Teils der Zugewanderten in die deutsche Wirtschaft zu beschleunigen, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Austerität und Verstärkung des Drucks auf Löhne und Arbeitsbedingungen.

    Unwägbarkeiten von Syrien bis Mitteleuropa

    Bei dieser Beschreibung der abgestuften Hindernisse handelt es sich keineswegs um einen ausgeklügelten Plan des deutschen Kapitals. Es ist die Reaktion auf eine schnell eskalierende Situation, der Versuch, aus einem Zusammenbruch der normalen kapitalistischen Verhältnisse in einigen Teilen der Welt das Beste zu machen. Es ist keineswegs gesichert, dass dies funktioniert.

    Das Problem fängt schon vor der vordersten Linie an. Außenminister Steinmeier hat viel davon geredet, es gelte die „Fluchtursachen“ zu bekämpfen. Aber dazu ist die herrschende Klasse in Deutschland nicht in der Lage, weder allgemein noch konkret in Syrien (ganz abgesehen davon, dass der „Kampf gegen die Fluchtursachen“ auch zur Begründung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr herhalten wird).

    Der deutsche Kapitalismus ist aufgrund seiner Erfolge eine treibende Kraft dabei, die Welt ungleicher zu machen. Die ökonomischen und sozialen Widersprüche zwischen Afrika und dem Mittleren Osten einerseits und Europa und den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern andererseits sind massiv gewachsen, ebenso die Widersprüche zwischen Nord- und Mitteleuropa und der europäischen Peripherie. Auf Grundlage des wirtschaftlichen Niedergangs entwickeln sich Konflikte, Kriege, zerfallen Staaten. Dies sind die tieferen Ursachen der Fluchtbewegungen. Und das deutsche Kapital trägt täglich dazu bei, dass die Ungleichheit wächst. Nebenbei beliefern deutsche Konzerne kriegführende Staaten und rüsten Diktaturen auf, so dass sie auch direkt an der Produktion von Elend und Flucht beteiligt sind. Selbst humanitäre Zahlungen in bisher ungekannter Höhe würden diese Entwicklung nicht konterkarieren.

    Bezüglich der Entwicklung in Syrien, dem Ground Zero der aktuellen Flüchtlingskrise, hat Deutschlands herrschende Klasse wenig bis überhaupt keinen Einfluss. Frankreich und Russland haben durch ihr Eingreifen in Syrien die Lage massiv verschärft. Es ist nicht abzusehen, was im Einzelnen passieren wird. Wenn es zu einer erfolgreichen kombinierten Offensive der russischen Luftwaffe und syrischer, iranischer und Hizbollah-Bodentruppen Richtung Nordsyrien kommt, würden die Flüchtlingszahlen weiter steigen. Die von der Türkei anvisierte „Sicherheitszone“ in Nordsyrien, in die auch Flüchtlinge überführt werden sollten, wäre dann endgültig hinfällig. Eine Spaltung Syriens würde die Frage eines unabhängigen Kurdistans noch schärfer stellen und die Türkei tiefer in den Konflikt hineinziehen.

    Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu militärischen Konfrontationen zwischen russischen Fliegern auf der einen und türkischen, israelischen und alliierten Kampfflugzeugen auf der anderen Seite kommt. Als Reaktion auf die russisch-iranische Offensive werden Saudi-Arabien und Katar ihre Unterstützung für die sunnitischen Dschihadisten erneut verstärken, die sie im Rahmen der „Anti-IS-Koalition“ auf Eis gelegt haben. Schon jetzt gibt es Berichte über eine Intensivierung der Waffenlieferungen für die syrischen Dschihadisten durch Saudi-Arabien und die Golfstaaten mit Billigung der USA.

    Natürlich kann auch die Erschöpfung der kämpfenden Seiten eine Rolle spielen. Russland und die USA könnten angesichts des Blicks in den Abgrund Vereinbarungen treffen, welche zu einer Entspannung in Syrien führen könnten. Allerdings ist dies konkret überhaupt nicht sichtbar. Es handelt sich zwar auch um einen Stellvertreterkrieg zwischen den Großmächten, aber es gibt viele regionale Player, die relativ unabhängig agieren und kaum in einen Deal einzubinden wären. Es gibt deutlich mehr Hinweise auf eine erneute Verschärfung der syrischen Krise als auf eine Entspannung.

    Die anderen Krisenherde – Afghanistan, Irak, mehrere afrikanische Länder, Jemen – können hier nicht ausführlich behandelt werden, aber auch dort sieht es eher danach aus, als würden sich die Lebensumstände weiter verschlechtern.

    Türkei weiter destabilisiert

    Die zweite Haltelinie in der Türkei ist ebenso unsicher. Wenn Erdoğan die Zusicherung der EU bekommt, wegzuschauen, wenn es blutig wird, wird er sich ermutigt fühlen, die Repression zu verschärfen. Durch seine Syrien-Politik hat er die Türkei mit in das mittelöstliche Chaos hinein gezogen. Das Massaker von Ankara vom 10. Oktober 2015, der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte der Türkei, steht symbolisch für diese Entwicklung. Entweder waren es IS-Terroristen, einst von Erdoğan gehätschelt und jetzt außer Rand und Band oder es waren seine Schergen, die er von der Leine gelassen hat, um den Terror gegen die Kurden und die Linke zu intensivieren; ermuntert, weil die EU ihre Bereitschaft signalisiert hat wegzuschauen.

    Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten entlang religiöser und ethnischer Linien. Es gibt viele IS-Sympathisanten des in der Türkei. Wenn noch mehr Flüchtlinge in die Türkei kommen, in ein Land, was weder Sicherheit vor Gewalt noch ausreichend Jobs bietet, dann können die Spannungen zunehmen, unabhängig von den EU-Milliarden, mit denen die Flüchtlingslager gepimpt werden sollen. Wenn ich einen notorischen Schwerverbrecher zum Polizisten in zentraler Funktion ernenne, mag das kurzfristig dazu führen, dass Ruhe und Ordnung in Verbrecherkreisen herrscht. Mittelfristig wird dies aber das Verbrechen verallgemeinern.

    Das erste Opfer der EU-Abschottung könnte somit die Türkei werden, deren innere Widersprüche dadurch eskalieren. Statt ein „sicheres Herkunftsland“ zu sein, welches als Außenposten dient, könnte die Türkei zusätzlich zu den durchreisenden Menschen aus Syrien erneut Flüchtlinge in größerer Zahl produzieren, die vor Unterdrückung und Bürgerkrieg fliehen. Merkels Besuch bei Erdoğan war nicht nur zynisch und verwerflich, sie trägt damit aktiv zur weiteren Destabilisierung der Türkei bei, um einen kurzfristigen Vorteil zu erzielen. Und sie kann nicht so dumm sein, das nicht zu wissen.

    Ob die Grenzregime auf dem Balkan und Dublin III weiter funktionieren, sich die nationalen Interessen der EU-Länder koordinieren lassen oder überwiegend Alleingänge vorherrschen, die dazu führen, dass es statt einem regulierten System von Hindernissen ein Hin und Her der Flüchtlingsbewegungen gibt wie bei einem Tischtennis-Match, lässt sich nicht vorhersagen.

    Ob die Pläne des deutschen Kapitals, die Flüchtlingsbewegung zu regulieren und damit sowohl den vermuteten eigenen Arbeitskräftebedarf zu decken als auch die Polarisierung über diese Frage im Zaum zu halten und eine politische Destabilisierung zu verhindern, sich verwirklichen lassen, ist ebenso offen. Sowohl die außenpolitischen Faktoren als auch die innere Auseinandersetzung darüber können dies verhindern.

    Die Fluchtursachen werden nicht geringer in den nächsten Jahren. Der deutsche Staat scheint nicht bereit zu nötigen Investitionen. Die bürgerlichen Parteien und Medien erklären die Flüchtlinge zum Problem. Sie kündigen Lösungen an, die sich als wirkungslos erweisen werden und den Rechten ermöglichen, weitergehende Maßnahmen zu fordern. Dazu könnten auch in Deutschland mehr wirtschaftliche Probleme kommen.

    Vor diesem Hintergrund ist absehbar, dass die politische Lage instabiler wird und die gesellschaftliche Polarisierung zunehmen wird. Zunächst werden die Rechtspopulisten und Rassisten verschiedener Prägung profitieren können. Ihre Radikalisierung nach Rechts, ihr immer offener auftretender Rassismus und die zum Beispiel von Pegida-Demonstrationen ausgehende Gewalt, wird aber auch ihre Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung verkleinern und das Potenzial für Gegenbewegungen wieder erhöhen. All das wird die etablierten Parteien in stärkere Auseinandersetzungen stürzen und zu Umgruppierungen und möglicherweise neuen Formationen führen.

    Die Kapitalisten mögen das mit Sorge sehen, aber können damit leben, solange die politischen Unruhen nicht die Profite minimieren, das politische Regime nicht zu Gänze instabil wird und und solange trotzdem eine gewisse Einwanderung gesichert ist.

     

     

       

      Die Socialist Party und Jeremy Corbyn

      Interview mit Peter Taaffe

      Vor einigen Tagen hatte sich das Polit-Magazin New Statesman bei der Socialist Party gemeldet, um einige Fragen hinsichtlich der Wahl von Jeremy Corbyn zum neuen Vorsitzenden der sozialdemokratischen Labour Party zu stellen. Leider sind unsere Antworten am Ende nicht in den Artikel zu diesem Thema mit eingeflossen. Im Folgenden veröffentlichen wir hier die nicht abgedruckten Antworten, die Peter Taaffe, der Generalsekretär der Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV in England und Wales) gegeben hat.

      Betrachtet Ihre Partei die Wahl Corbyns zum neuen Vorsitzenden von „Labour“ als positiv, negativ oder eher neutral? Was sind die Gründe dafür?

      Das ist überaus positiv, weil es die Tatsache widerspiegelt, dass die Masse der Bevölkerung die Austerität ablehnt. Sichtbar wurde dies bei der jüngsten Großdemonstration des Gewerkschaftsbundes TUC in Manchester (gegen den dort abgehaltenen Parteitag der konservativen Tories; Erg. d. Übers.). Einige Tage zuvor hatte es bereits einen ziemlich wütenden Protestmarsch von ÄrztInnen im Praktikum gegeben, die vor das Parlament in London-Westminster gezogen sind. Das zeigt, dass die Wut-Spirale hinsichtlich der unaufhörlichen Austeritätspolitik der Regierung die Ebene der Arbeiterklasse bereits verlassen hat und bereits auf Teile der Mittelschicht überspringt.

      Corbyn erlebte einen Erdrutschsieg. Das steht für die Ablehnung der rechtslastigen Fraktion der Labour Party im Parlament und ihre in Misskredit geratene Politik à la Tony Blair. Damit ist in Großbritannien eine vollkommen neue politische Phase eingeläutet worden.

      Gibt es Bestandteile in der Vision, die Corbyn für Großbritannien hat, die auch Ihre Partei vertritt?

      Ja. Seine Kampagne hat die Idee vom Sozialismus nach vorne gebracht. Das ist das Ziel, das unsere Partei verfolgt. Er hat eine breitere Debatte in der Arbeiterbewegung und der gesamten Gesellschaft darüber eröffnet, wie der Kapitalismus bezwungen werden kann.

      Welche politischen Ansätze von Corbyn stimmen mit Ihren Ansichten überein und welche unterscheiden sich davon?

      In Corbyns Programm gibt es wichtige Elemente, die wir unterstützen: die Ablehnung des kapitalistischen Neoliberalismus, Verstaatlichung der Energiekonzerne und der Bahn (was eine unheimlich beliebte Forderung ist) und die Abschaffung der Studiengebühren, die für junge Leute eine schwere Last darstellt. Sie gehörten übrigens zu den größten Befürwortern von Corbyns Kandidatur zum Labour-Vorsitzenden.

      Wir sind gegen das Atomprogramm „Trident“ und jegliche Nuklearwaffen. Wenn „Trident“ auf Eis gelegt und das eingesparte Geld dazu genutzt wird, um die öffentliche Daseinsvorsorge zu finanzieren, dann würde das helfen, die Last der Austerität, unter der die arbeitenden Menschen zu leiden haben, zu lindern.

      Wir sind nicht der Ansicht, dass er in puncto Widerstand gegen die kapitalistische EU einen Rückzieher machen sollte. Schließlich will diese den ArbeiterInnen in Griechenland und dem Rest Europas die Austerität aufbürden. Wir werden uns für eine Stimme für den Austritt aus der EU einsetzen, wenn es hier zum Referendum kommt – allerdings auf der Basis einer sozialistischen Kampagne und nicht im Bündnis mit der extremen Rechten.

      Wir stimmen mit großen Teilen seines Programms überein, sind uns allerdings sicher, dass dieses nicht bis ins Letzte umgesetzt werden kann, wenn man im Rahmen des Kapitalismus verbleibt und dass eine wirklich sozialistische Veränderung erkämpft werden muss. Natürlich wird sich die Labour-Parlamentsfraktion dagegen stellen, weshalb die Anhängerschaft von Corbyn sich gegen die innerparteiliche Rechte wird organisieren müssen.

      Welche sozialen und politischen Aspekte sind für Ihre Mitglieder am wichtigsten?

      Dass wir ein Programm haben, mit dem die Probleme der arbeitenden Menschen in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeitsplatz gelöst werden können, das beim Kampf gegen die diktatorischen gewerkschaftsfeindlichen Gesetze der Regierung hilft.

      Ein entscheidender Aspekt besteht in den Kürzungen im Umfang von weiteren zwanzig Milliarden britische Pfund (circa 27 Milliarden Euro), die dem Parlament vorgelegt werden sollen und gegen die wir uns zur Wehr setzen müssen. Wie John McDonnell (Mitglied von Corbyns Schattenkabinett; Anm. d. Übers.) gesagt hat: „Bei der Austerität handelt es sich um eine politische Entscheidung und nicht um ökonomische Notwendigkeit.“

      Wir wünschen uns, dass die Labour-Stadt- und GemeinderätInnen sich gegen die Kürzungen stellen und bedarfsgerechte Haushalte aufstellen, die von den Menschen unterstützt werden. Das politische Instrument, um dies realisieren zu können, kann nur darin bestehen, dass wir zu einer neuen Massenpartei der Arbeiterklasse kommen. Die Bewegung um Corbyn weist starke Elemente auf, die in diese Richtung führen könnten. Die Welle, auf der Corbyn reitet, ist wichtig, sie wird aber nicht ewig halten – wenn nicht die entsprechende Organisationsarbeit geleistet und für nachhaltigen Wandel gekämpft wird.

      Wenn die Rechte sich weiterhin gegen den Willen der Mitglieder stellt, die für sozialistische Ideen eintreten, dann müssen sie sich auflehnen. Die Kampagne von Corbyn trägt in Wirklichkeit bereits Elemente einer neuen, in Gründung befindlichen Partei in sich.

      Sind Mitglieder Ihrer Partei in den letzten Wochen auf diese Welle aufgesprungen und Teil von Corbyns Bewegung geworden?

      Im Gegenteil erleben wir, dass viele Menschen sich aufgrund unserer Analyse dessen, wofür Corbyn steht und welche Möglichkeiten es für anhaltenden Wandel gibt, uns anschließen. Wir sind eine offen sozialistische Partei, und ArbeiterInnen und junge Leute halten Ausschau nach sozialistischen Ideen. Zu einer nennenswerten Anzahl an Austritten aus unserer Partei ist es bislang nicht gekommen.

      Betrachten Sie es als positiv oder doch eher als negativ, wenn Mitglieder Ihrer Partei bei Corbyn mitmachen oder ihn unterstützen?

      Wie gesagt: Sowohl das Mitmachen bei Corbyn als auch ihn zu unterstützen ist positiv, weil sich eine Debatte darüber aufgetan hat, wie die Linke gemeinsam handeln kann. Die Barrieren zwischen Labour und denjenigen, die nicht in dieser Partei Mitglied sind, beginnen abzubröckeln. Wenn die Labour Party sich öffnet und zu ihrer historischen Tradition einer föderalen Struktur zurückkehrt, dann kann und wird es Möglichkeiten zur Stärkung von Corbyns Kampgne geben – innerhalb wie außerhalb der Labour Party.

      Könnte es sein, dass Ihre Partei eine Zusammenarbeit mit Corbyn in Betracht zieht oder würden Sie Ihre Mitglieder aufrufen, seine Kampagnen zu unterstützen? Warum bzw. warum nicht?

      Ja, das würden wir. Die Labour-Rechte formiert sich bereits gegen ihn. Deswegen müssen Corbyn und seine AnhängerInnen innerhalb wie auch außerhalb von Labour mobilisieren, um die Rechte daran zu hindern, ihn kaltzustellen bzw. seines Amtes zu entheben.

      Wir werden an breit angelegten Kampagnen auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene teilnehmen, um die Lage mittels eines Programms gegen die Austerität zu verändern. Wenn Corbyn und seine UnterstützerInnen innerhalb von Labour gegen Wände rennen sollten, dann sollten sie aus den oben genannten Gründen eine neue Partei ins Leben rufen.

      Würden Sie Ihre Partei als radikal bezeichnen? Ist Jeremy Corbyn radikal?

      Ja, auch wenn der Begriff „radikal“ missbräuchlich verwendet wird. Er wurde benutzt, um reaktionäre Tories wie Margaret Thatcher zu beschreiben, die extreme Rechte und einen rechtsgerichteten politischen Islam.

      Wir meinen, dass Jeremy ein radikaler Sozialist ist und es sich bei unserer Partei um eine radikal sozialistische Partei handelt. Unsere gesellschaftliche Klasse braucht ein radikal sozialistische Politik, und mit unserem Programm treiben wir diese voran.

       

      Türkei: Am Rande des Bürgerkriegs

      Erdogan provoziert Bürgerkrieg zwecks Machterhalt – nur Einheit der ArbeiterInnenklasse kann ihn stoppen!
      Nihat Boyraz, www.sosyalistalternatif.com

      Am 7. und 8. September kam es zu explosiven Massenprotesten. Die Proteste richteten sich diesmal nicht gegen die Regierung, wie vor zwei Jahren bei den Gezi-Protesten. Diesmal standen sie in Zusammenhang mit Angriffen gegen im Westen der Türkei lebende KurdInnen. Auslöser war, dass 16 Soldaten durch einen Angriff der PKK ums Leben gekommen waren. Geführt von NationalistInnen wandte sich die Stimmung schnell gegen KurdInnen. Unter Duldung der Polizei wurden Büros der linken pro-kurdischen HDP, Geschäfte, Buchhandlungen und kurdische Cafes mit Brandanschlägen angegriffen. Viele bezeichneten diese Ereignisse als die „türkische Kristallnacht“.

      Hintergrund sind die neuerlichen Parlamentswahlen am 1. November. Die regierende AKP hatte bei den Wahlen im Juli ihre absolute Mehrheit verloren und konnte nicht mehr allein regieren. Zu dieser Niederlage hatte nicht zuletzt die HDP (Demokratischen Partei der Völker, eine neue linke Formation, die aus der kurdischen Bewegung entstanden ist) beigetragen. Sie erreichte 13% der Stimmen, ein sensationelles Ergebnis. Damit brachte sie die ganze Parteienarithmetik im bürgerlichen Parlament, sowie die Machtpläne von Erdogan, durcheinander. Erdogan boykottierte Koalitionspläne mit anderen Parteien. Dann ließ er PKK-Stellungen bombardieren und beendete damit die 2-jährige Waffenruhe. Jetzt versucht er mit nationalistischer Propaganda Stimmen von WählerInnen der nationalistischen MHP zu gewinnen. Parallel dazu tut er alles, um die HDP an der 10%igen Wahlhürde scheitern zu lassen, indem er sie politisch zu diskreditieren versucht.

      Nicht alle, die sich in der ersten Septemberwoche an diesen Ereignissen beteiligten, hassen KurdInnen oder sind FaschistInnen. Die Mehrheit davon waren Jugendliche und einfache Leute, die keine linke Alternative sahen. Gäbe es eine linke Massenkraft, hätte dies eine zweite „Gezi“-Bewegung sein können. Die Wut hätte sich nicht gegen KurdInnen, sondern gegen die AKP und die herrschende Klasse gerichtet.

      Die Lage in der Region ist sehr kompliziert. Sie wird sich politisch und sozial weiter destabilisieren. Der Erfolg der HDP war ein riesiger Schritt für die Einheit der türkischen und kurdischen ArbeiterInnenklasse. Das jagte den Herrschenden und der AKP einen gehörigen Schreck ein. Die HDP hatte es geschafft, auch Unterstützung eines Teiles der türkischen ArbeiterInnenklasse zu gewinnen. Allerdings sind die Achillesferse der HDP die falschen Kampfmethoden der PKK. Eben darauf schießen sich die nationalistischen Kräfte ein.

      Die programmatischen und strukturellen Schwächen der HDP machen ihre weitere Entwicklung unklar. Daher muss die Linke, während sie die HDP kritisch unterstützt, gleichzeitig für den Aufbau einer linken Kraft stehen, die ein klares sozialistisches Programm hat. Dieses Programm muss die demokratischen Forderungen der KurdInnen und anderer Minderheiten mit sozialen Forderungen der gesamten ArbeiterInnenklasse verbinden. Die im letzten Jahr gegründete BHH (Vereinte Juni Bewegung) könnte neben der HDP eine solche Kraft werden. Allerdings hatte ihre sektiererische Haltung bei den Wahlen im Juni sie fast in die Bedeutungslosigkeit getrieben. Eine von linken Gewerkschaften, Berufsverbänden, HDP und BHH organisierte Konferenz für eine breitere antikapitalistische Front könnte ein wichtiger Schritt in Richtung einer linken Kraft werden.

      Sosyalist Alternatif lehnt alle Kampfmethoden ab, die zur Spaltung der Arbeiterklasse führen – so auch individuellen Terrorismus. Wir verteidigen die demokratischen Forderungen der kurdischen Bevölkerung bis hin zum Recht auf Lostrennung. Um diese Forderungen durchzusetzen, müssen die KurdInnen die türkische ArbeiterInnenklasse dafür gewinnen. Daher ist es notwendig, den Kampf um demokratische Rechte mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung zu verbinden, unter der alle ArbeiterInnen in der Türkei leiden. Kampfmethoden, durch die ihre Kinder ums Leben kommen, werden die ArbeiterInnenklasse nie überzeugen. Sie können nur die Spaltung, die schon existiert, weiter vertiefen – und damit den Herrschenden und ihrem Vertreter Erdogan in die Hände spielen.

      Sosyalist Alternatif fordert u.a. eine sofortige Beendigung aller militärischen Operationen, Nein zu den rassistischen Angriffen auf die KurdInnen, sofortiger Stopp der Angriffe durch die PKK, Stopp der Unterstützung jihadistischer Gruppen durch die Türkei. Wir stehen für den gemeinsamen Kampf der türkischen und kurdischen ArbeiterInnenklasse gegen jihadistische Angriffe und gegen die AKP-Regierung sowie für eine demokratische und sozialistische Föderation des Nahen Ostens auf freiwilliger Basis. Nur so ist ein Ende der Gewalt möglich.

       

      Erscheint in Zeitungsausgabe: 

      Kölner Politikerin überlebt Mordversuch

      Die rassistische Welle bringt rechte Terroristen hervor
      von Claus Ludwig, Köln

      Einen Tag vor der Wahl überfiel ein Nazi die damalige Kandidatin und inzwischen gewählte Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Kölner Stadtteil Braunsfeld und verletzte sie mit einem Messer lebensgefährlich am Hals. Reker konnte gerettet werden und ist auf dem Weg der Genesung. Vier weitere Menschen wurden bei dem terroristischen Angriff durch Messerstiche verletzt. Der Täter Frank Steffen wurde überwältigt und gestand seine Tat. Er sagte, er hätte es „für eure Kinder“ getan und wolle damit gegen die Flüchtlingspolitik von Reker protestieren.

      Henriette Reker war die gemeinsame Kandidatin von Grünen, CDU und FDP und zweier lokaler Wählerbündnisse und gewann am Tag nach der Attacke die Wahl gegen den SPD-Kandidaten Jochen Ott mit 52 Prozent zu 32 Prozent im ersten Wahlgang.

      Bis dahin war sie als Sozialdezernentin unter anderem zuständig für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen. Erfolgreich war sie dabei nicht. Seit Jahren waren die Flüchtlingszahlen gestiegen, Reker hatte sich wie die gesamte Verwaltung von einem Provisorium zum nächsten gehangelt und die Standards für die Unterbringung immer weiter verschlechtert. Den Bau dringend benötigter neuer Wohnungen für Flüchtlinge und andere Wohnungssuchende hatte auch sie nicht veranlasst.

      Allerdings hatte sich Reker für eine „Willkommenskultur“ ausgesprochen und trat auf Veranstaltungen zur Bürgerinformationen in den Stadtteilen als diejenige auf, welche die Einrichtung neuer Unterkünfte begründete. Als SPD-Kandidat Ott im Wahlkampf die Forderung erhob, die als Flüchtlingsunterkünfte genutzten Turnhallen müssten bis Jahresende wieder für den Sport freigegeben werden, bezeichnete sie dies als populistisch.

      Offensichtlich reichte dies, um sie in der Vorstellung von Rassisten zu einer Verkörperung des „Gutmenschen“ zu machen, die „für Flüchtlinge“ eintritt.

      Medien zurückhaltend

      Die bürgerlichen Medien reagierten seltsam zurückhaltend auf den nur knapp gescheiterten Mordversuch. Am Tag selbst war das Thema überall in den Schlagzeilen, aber danach gingen die überregionalen Medien schnell zu anderen Themen über. In Zeiten der „Brennpunkt“-Inflation und der „Breaking News“ in Permanenz verwundert diese eher ruhige Berichterstattung.

      Dies war der erste gezielte Mordanschlag eines Faschisten auf eine bürgerliche Politikerin seit mehreren Jahrzehnten. Es sollte keinen Flüchtling treffen, keinen Migranten, keinen Obdachlosen, Punk oder linken Aktivisten, es sollte „eine von ihnen“ treffen, aus dem Establishment. Das sollte den bürgerlichen Politikern und Medien eine groß angelegte öffentliche Debatte wert sein.

      Das sollte zum Beispiel den Kölner Express, Spezialist für Marktschreierei, veranlassen, einen Aufruf in großen Lettern zu bringen, dass jetzt, nach dem rechten Mordversuch an unserer Oberbürgermeisterin, alle auf die Straße müssten gegen die Nazis und Hooligans, die am 25. Oktober durch Köln marschieren wollen.

      Und genau da liegt wohl das Problem. Bürgerliche Medien und Politiker wollen offensichtlich nicht betonen, welch neue Qualität der Angriff auf Henriette Reker darstellt, wollen die ohnehin laufende Diskussion darüber, was das für Menschen bedeutet, die sich in irgendeiner Weise für Flüchtlinge engagieren oder auch nur so wahrgenommen werden, nicht weiter befördern. Sie haben Angst vor der Welle rassistischer Hetze und Gewalt, die durch das Land zieht. Aber sie scheinen ebenso Angst zu haben vor einer massiven antifaschistischen Reaktion.

      Erneut der „Verfassungsschutz“?

      Die Zahlstelle für Nazis mit knapper Kasse, umgangssprachlich „Verfassungsschutz“ genannt, hatte zunächst behauptet, nichts über die Vorgeschichte des Täters Frank Steffen zu wissen. AntifaschistInnen aus Nordrhein-Westfalen waren besser informiert. Sie guckten in ihre Archive und fanden innerhalb weniger Stunden heraus, dass Steffen Anfang der 1990er Jahre im Umfeld der faschistischen FAP („Freiheitliche Arbeiterpartei“) im Raum Bonn/Rhein-Sieg aktiv war. Die FAP war eine der größten Nazi-Organisationen Anfang in dieser Zeit und wurde 1995 verboten.

      Steffen hatte danach keine große Rolle mehr gespielt, sich aber seit 2007 immer wieder in Online-Foren mit rassistischer Propaganda hervor getan. Er hatte sich wohl für die German Defence League interessiert, die nach dem Vorbild der English Defence League eine Schlägertruppe aufbauen wollte, die sich als „bewaffneter Arm“ der rechtspopulistischen, islamfeindlichen Strömung darstellt und sich verbal von den Nazi-Gruppen distanziert. Im August hatte die German Defence League einen Marsch mit rund hundert Teilnehmern durch die Kölner Innenstadt organisiert, einige ihrer Aktiven landeten später bei KÖGIDA.

      Steffen ist 44 Jahre, gelernter Maler und seit vielen Jahren erwerbslos. Laut Informationen des Kölner Stadtanzeiger (KStA) war er nie bei der Arbeitsagentur aufgetaucht oder in Arbeit vermittelt worden. Allerdings behauptet er, die ganze Zeit Sozialleistungen bezogen zu haben. Seine Akte bei der Arbeitsagentur ist gesperrt. „In Sicherheitskreisen wird vehement dementiert, dass S. Als Informant etwa für den Verfassungsschutz gearbeitet haben soll.“ Dieses Dementi kam ziemlich schnell, juristisch ausgedrückt könnte man wohl davon sprechen, dass es einen „Anfangsverdacht“ gibt, dass der „Verfassungsschutz“ seine Finger im Spiel hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Informant des Inlands-Geheimdienstes von der Leine geht und selbst rechts motivierte Straftaten begeht.

      Steffen gibt sich als Mensch, der nichts zu verlieren hatte. Laut Express und KStA sprach er von Suizid-Absichten und behauptete „Ich bin heute morgen aufgestanden, um heute Abend als Mörder im Gefängnis zu sitzen“. Er wolle nicht „in zwanzig Jahren in einer muslimisch geprägten Gesellschaft leben“.

      Allerdings hat er seine Wohnung komplett gesäubert. Die Festplatten waren aus den Computern ausgebaut worden, die Polizei konnte bei der Durchsuchung keine Papiere finden. Nach Angaben des Express wurde seine Facebook-Seite auch nach der Festnahme noch benutzt. Frank Steffen mag sich selbst „geopfert“ haben, aber er wusste, was er tat, schützt möglicherweise seine Hintermänner.

      Im Frühjahr 2015 hatten Faschisten um Melanie Dittmer, Anmelderin der rechten DÜGIDA-Aufmärsche in Düsseldorf, ein Video auf Youtube verbreitet, dass sie bei Messerkampf-Übungen zeigt. Der Angriff auf Frau Reker wurde gezielt ausgeführt, der Täter wusste, wie er das Messer führen müsste. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Polizei prüft, ob es einen Zusammenhang gibt.

      Neue Generation rechter Terroristen

      Frank Steffen kommt aus der „klassischen“ Nazi-Szene der frühen 1990er, aus der sich auch der NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) gebildet hat. Sein Terrorakt selbst ist allerdings nicht nach dem Vorbild des NSU abgelaufen. Stattdessen orientiert er sich an der ersten Generation der rechtspopulistischen, islamophoben Terroristen wie Anders Breivik in Norwegen, Hans van Themsche in Belgien oder Alex W. in Dresden.

      Breivik hatte im Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 76 Menschen ermordet. Sein Ziel war es offensichtlich nicht, eine lebensfähige rechte terroristische Struktur aufzubauen, sondern ein Fanal zu setzen, die eigene Freiheit zu opfern, um zum Bürgerkrieg gegen die „Islamisierung“ aufzurufen. Dieser schlimmste rechte Terrorakt in Europas Nachkriegsgeschichte ist in Deutschland schon fast wieder in Vergessenheit geraten.

      Im belgischen Antwerpen, einer Hochburg der rechten flämischen Bewegung Vlaams Belang, erschoss im Mai 2006 der 18jährige Hans van Themsche eine afrikanisches Au-Pair-Mädchen und ein zweijähriges Kind, welches von der Frau betreut wurde. Eine türkische Frau überlebte schwerverletzt. van Themsche weigerte sich aufzugeben und wurde von einem Polizisten niedergeschossen, überlebte aber und wurde später zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. In einem Brief hatte er festgehalten, er wolle so viele Ausländer wie möglich töten. Zuvor hatte der Vlaams Belang von „Antwerpistan“ gesprochen, der angeblich drohenden Umwandlung der flämischen Hafenstadt in ein islamisches Reich.

      Im Juli 2009 wurde die Deutsch-Ägypterin Marwa El-Sherbini im Gerichtssaal in Dresden ermordet, ihr Mann schwer verletzt. Ihren Mörder, Alex W., traf sie im Gericht, weil dieser sie auf einem Spielplatz verbal als „Islamistin“ und „Terroristin“ attackiert hatte. Er wollte die Strafe wegen Beleidigung nicht akzeptieren und ging in Berufung. Er sah „Islamistin“ nicht als Beleidigung, sondern als „Bezeichnung“. Noch vor Gericht erklärte El-Sherbini ihre Haltung zur Religion, versuchte, die Denkweise von Alex W. mit Argumenten zu verändern. Dieser ließ sich nicht beeindrucken und stach auf sie ein. Die im dritten Monat schwangere junge Frau starb vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes.

      Die meisten Gruppen aus dem rechtspopulistischen Spektrum propagieren nicht den Aufbau gewalttätiger Abteilungen. Trotzdem ist die Gefahr weiterer terroristischer Akte aus dieser Ecke vorhanden. Die Ideologie und die Funktionsweisen der islamfeindlichen Blogs und Gruppen sind geradezu prädestiniert, sogenannte „Einzeltäter“ hervorzubringen.

      Durch das geistige Klima, das die neuen Rechten aller Schattierungen erzeugen, werden Menschen angezogen, die für Verschwörungstheorien offen sind. Wenn zudem individuelle psychische Voraussetzungen wie ein Mangel an Empathie gegeben sind, können die islam- und flüchtlingsfeindlichen Ideen zum Katalysator rechter Gewalt werden. Bei den meisten der neuen Rechtsterroristen wird man wohl schwere Persönlichkeitsstörungen finden – die paranoide Vorstellung von der „Überfremdung“ braucht paranoide Vollstrecker.

      Der Publizist Kay Sokolowski diagnostiziert den Rassisten eine kollektive „Angststörung“ mit zuweilen tödlichen Konsequenzen: „Weil der Angsthaber die Angst selbst nicht überwinden will, kann er sich kein anderes Mittel gegen sie vorstellen, als das Objekt auszumerzen, das ihm Grauen bereitet … Die rassistische Theorie will immer auf die Praxis hinaus. Es gibt kein Spiel mit rassistischen Vorurteilen. Dem Fremdenhasser ist jedes Wort todernst.” (Sokolowsky: Feindbild Islam, Berlin 2009, S. 133 + 136)

      Da wächst was zusammen …

      Frank Steffen steht, auch wenn er sich dessen selbst nicht bewusst sein mag, für die Synthese aus traditioneller Nazi-Szene und neuer rechtspopulistischer Bewegung.

      Dieses Zusammenwachsen der Methoden des „klassischen“ Faschismus – Gewalt auf der Straße, NS-Orientierung, Feindschaft gegen alles Linke und Liberale – und der in den letzten zwanzig Jahren entstandenen Szene der „Rechtspopulisten“ und Islamhasser, vor allem ihre hysterische Propaganda bezüglich der „Islamisierung“ und der Übernahme Deutschlands durch MigrantInnen, erleben wir auch bei PEGIDA und der AfD.

      Zu Beginn orientierten sich sowohl PEGIDA als auch der rechte AfD-Flügel noch am scheinbar gemäßigten rechtspopulistischen Modell, wie es im Westen vor allem durch ProKöln/ProNRW verkörpert wurde. Doch sie haben inzwischen mehr faschistische Elemente und Methoden übernommen, ebenso wie ProNRW selbst, welche den Schafspelz abgelegt hat und bei der Zusammenarbeit mit HoGeSa und diversen -GIDAs in Nordrhein-Westfalen ihr Wolfsgrinsen erkennen lässt.

      Eine klare Trennlinie zwischen Nazis und Rechtspopulisten lässt sich in der derzeitigen Lage kaum ziehen. Bewegungen wie PEGIDA setzen sich aus verschiedenen Strömungen von Rassisten zusammen. Die Dynamik der Flüchtlingsdebatte, vor allem Anheizen der Diskussion durch rechtspopulistische Zickzacks etablierter Politiker aus CSU, CDU und SPD sowie den Schutz rassistischer Aufmärsche und das Weggucken bei Gewalttaten durch den Staatsapparat haben den Spielraum der Faschisten deutlich erweitert.

      Der Frage des Selbstschutzes von antifaschistischen Aktivitäten kommt dadurch eine größere Bedeutung zu. Den Politikern bürgerlicher Parteien sei geraten, das Attentat auf Henriette Reker als ernste Warnung zu verstehen und sowohl die Rolle der Polizei als Schutzmacht der rechten Aufmärsche als auch ihre eigene Rolle bei der Flüchtlingsdebatte zu hinterfragen.

       

      Spanien: Podemos rückt nach rechts

      Linke Shootingstars unterstützen Kapitulationskurs von Tsipras und verlieren in Umfragen
      Viki Lara, Socialismo Revolucionario (CWI in Spanien), www.socialismorevolucionario.org

      Die EU-Wahlen im Mai 2014 haben den Aufstieg einer neuen politischen Kraft in Spanien gesehen: Mit Podemos fand die Indignados Bewegung, die drei Jahre davor gestartet hatte, auf Parteiebene eine politische Form. Es war zu Beginn klar, dass viele ihrer Forderungen linke Forderungen waren, auch wenn ihre Führung versuchte, sie als „weder links noch rechts“ darzustellen. Zu den radikalsten Forderungen zählten Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Nicht-Bezahlung der „illegitimen“ Schulden, sowie bedingungsloses Grundeinkommen, das dem Mindestlohn entsprechen sollte. Der Wahlerfolg von Podemos zeigte das Potential an Unterstützung, das solche Forderungen in einer weiteren Schicht von ArbeiterInnen und Jugendlichen in Spanien finden könnten.

      Ein Jahr später, bei den Lokal- und Regionalwahlen im Mai 2015, war das Wahlergebnis weit weniger spektakulär. Verschiedene Faktoren können diese Stagnation erklären, aber es ist klar, dass ein Hauptgrund der klare Ruck nach rechts der Partei im letzten Jahr war. Das kann man deutlich am neuen Programm erkennen, das die radikalsten Forderungen für defensive Forderungen fallen gelassen hat. Das Programm beinhaltet jetzt z.B. Rücknahme der Privatisierung im Gesundheitssystem statt Verstaatlichung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft und Neuverhandlung der Schulden statt Nicht-Bezahlung.

      Die Führung von Podemos ist sehr darauf bedacht, nicht als linksradikal in den Medien zu erscheinen. Sie haben selbst den Ausverkauf von Tsipras gegenüber der EU nach dem „Oxi“ (Nein) im Referendum verteidigt und klargestellt, sie hätten das Selbe getan. Alle diese Faktoren haben natürlich eine Auswirkung auf die Perspektiven für Podemos in den Wahlen im Herbst/Winter diesen Jahres. Jüngste Umfragen zeigen nicht nur eine Stagnation, sondern einen Rückgang in der Unterstützung von 23,9% im Oktober 2014 auf 15,7% im Juli 2015.

      Viele auf der Linken analysieren, dass Podemos alleine nicht die Situation in Spanien verändern kann, und rufen nach einem gemeinsamen Wahlbündnis in den nächsten Wahlen. Das entspricht ähnlichen Entwicklungen die bei den Lokalwahlen stattgefunden haben. Damals haben sich in vielen Städten AktivistInnen von Podemos, Izquierda Unida (Vereinigte Linke, ein linkes Parteienbündnis) und anderen linken Gruppen in demokratischen Versammlungen zusammengetan, die gemeinsam über KandidatInnen und Programm entschieden.

      Allerdings bedeutet der Mangel an interner Demokratie in Podemos, dass es der Führung möglich ist, ihre Pläne für ein eigenständiges Antreten bei den Wahlen fortzuführen. Das mag widersprüchlich klingen. Ja, Podemos ist in lokalen Versammlungen oder „Kreisen“ organisiert. Aber diese Kreise haben kein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen wie Strategie oder Programm. Andere Entscheidungen, wie die Wahl der Führung oder von KandidatInnen werden zentralisiert ausgeführt, über Online-Wahlen, was bedeutet, dass es keine wirkliche Debatte oder Entscheidungen über KandidatInnen in den Versammlungen gibt. Außerdem beschränkt Podemos die Teilnahme anderer linker Kräfte: Ihre internen Regeln besagen, dass keinE FunktionärIn Mitglied einer anderen Partei sein darf, außer die andere Partei löst sich in Podemos auf. Diese Regel wird so weit ausgelegt und auch durchgeführt, dass linke AktivistInnen anderer Parteien oder Gruppen nicht an den Versammlungen teilnehmen dürfen.

      Wo es möglich ist, nimmt Socialismo Revolucionario (CWI in Spanien) an diesen Versammlungen teil. Wir fordern dabei u.a. eine fundamentale Veränderung der internen Demokratie von Podemos und des Programms. Gemeinsam mit anderen Linken rufen wir für eine gemeinsame Front bei den nächsten Wahlen auf. Allerdings sagen wir klar, dass das bedeutet, eine neue Organisation mit revolutionärem Programm aufzubauen, die wirklich demokratisch ist, wo lokale Versammlungen über Strategie und Programm entscheiden können, statt der Parteiführung alleine.

      Genauso wichtig wie die Frage der internen Demokratie ist die Frage eines sozialistischen Programms, mit Forderungen wie der Nicht-Bezahlung der Schulden, Mindestlohn für alle (auch für Arbeitslose), Verstaatlichung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft, um Jobs und Dienstleistungen für die gesamte Gesellschaft zur Verfügung stellen zu können, statt nur die Profite einer Minderheit zu sichern. All das ist verbunden mit der Notwendigkeit, mit dem Kapitalismus zu brechen, um Armut und Ungleichheit endlich zu beenden.

       

      Erscheint in Zeitungsausgabe: 

      Internationale Notizen Juli/August

      BRD: Streik in Charité
      Am Montag, den 22. Juni, starteten Beschäftigte der Charité in Berlin, der größten Universitätsklinik in Europa, einen Streik für bessere Arbeitsbedingungen. Mehr als 600 nehmen von Beginn an teil, was sich auf ein Drittel des gesamten Krankenhausbetriebes auswirkt. Die Charité hat in den letzten Jahren schon Streikerfahrung gemacht. Es ist ein aktiver Streik von unten, bis zu 100 VertreterInnen aus verschiedenen Stationen sind in Planung und Verhandlungen einbezogen. Zentrale Forderung ist die Aufstockung der Belegschaft. Aus der Bevölkerung kommt große Unterstützung, was sich u.a. in einer Demonstration mit 2.000 Leuten zeigte. Dafür verantwortlich ist auch die Arbeit des Solidaritätskomitees, an dem ebenfalls Mitglieder der SAV (CWI in Deutschland) beteiligt sind.
      www.sozialismus.info

      Brasilien: Wasserkrise
      Im brasilianischen Sao Paulo findet momentan eine schwere Wasserkrise statt. Millionen BewohnerInnen, vor allem in den ärmeren Vierteln, sind von Wasserrationen abhängig. Ein Kollaps und in Folge Unruhen stehen bevor. Grund ist die marode Infrastruktur der privatisierten Wasserversorger und, dass die Agrar- und Bergbauindustrie Vorrang hat. Während der Wasserversorger Sabesp Gewinne macht, steigen die Wasserpreise (+23%) und werden Beschäftigte gekündigt. So auch Marzeni Periera, Aktivist der LSR (CWI in Brasilien), seit 22 Jahren bei Sabesp und Betriebsrat. Er ist auch Teil der Kampagne „Wasser JA! Profite Nein!“ Das Management hat ihn gefeuert – unliebsame Kritik am Profitsystem Wasser war nicht erwünscht. Es folgt eine internationale Solidaritätskampagne mit Marzeni.
      www.lsr-cit.org

      Schottland: Protest
      Am 20. Juni rief der schottische Gewerkschaftsverband zum Protest gegen Kürzungen. VertreterInnen von aktuellen und früheren Streiks und sozialen Bewegungen sprachen. Klar war, egal welche Regierung, sie alle wollen kürzen. Die Forderung der Socialist Party Scotland (CWI) nach einem 24-stündigen schottlandweiten Streik erhielt daher auch sehr große Unterstützung.

      www.socialistpartyscotland.org.uk

       

      Erscheint in Zeitungsausgabe: 

      Seiten