Internationales

Türkei: Regime geht über Leichen

Oliver Giel

Am 6. Februar brach bei der südostanatolischen Millionenstadt Gaziantep nahe der türkisch-syrischen Grenze ein Erdbeben der Stärke 7.8 aus. Dass dieses Gebiet erdbebengefährdet ist, ist lange bekannt, liegt es doch am Treffpunkt dreier tektonischer Platten. Hier findet etwa einmal im Jahrzehnt ein Erdbeben statt. Bereits 1999 ereignete sich östlich von Istanbul ein Erdbeben ähnlicher Stärke. Keine geologischen Ursachen dagegen haben die menschlichen Opfer: Zehntausende Menschen starben, davon die meisten in der Türkei. Hunderttausende wurden verwundet oder verstümmelt, Millionen Menschen obdachlos.

Ein großer Teil der Opfer geht auf das Konto der türkischen Bauwirtschaft, denn obwohl die Erdbebengefahr bekannt ist, wurden die Häuser instabil gebaut. Als Baustoff wurde überwiegend Beton verwendet, der mit Sand gestreckt wurde, was billig und einfach herzustellen ist. Stütze der Macht des Erdoğan-Regimes waren neben nationalistisch-religiösem Populismus lange auch die Jobs durch den staatlich geförderten Bauboom. Hauptprofiteur war allerdings stets die Bauwirtschaft, eine von Erdoğans Hauptbündnispartnern. Dass die nach dem Erdbeben 1999 erlassenen Vorschriften für Erdbebengebiete durch die Baufirmen massiv unterlaufen wurden, ist wohl kein Zufall, aber profitabel. Selbst massive Verstöße gegen die Bauvorschriften wurden nachträglich gebilligt. Die Menschen wurden nicht nur Opfer des Erdbebens, sondern auch einer Clique aus Kapital und Erdoğans Partei AKP.

Mit der Wirtschaftskrise in der Türkei in den letzten Jahren ließ die Unterstützung für Erdoğan rapide nach. Die hohe Inflation hat dramatische Folgen, die Arbeiter*innen wehren sich mit einer Serie von Streiks in der Auto-, Elektro- und Textilindustrie, unter Amazon-Beschäftigten, Bauarbeiter*innen und im Gesundheitswesen und Anfang des Jahres erkämpften Metallarbeiter*innen eine Lohnsteigerung von 84%.

Nun beugt Erdoğan das Gesetz, um in den Wahlen im (voraussichtlich) Mai erneut antreten zu können. Das türkische Regime reagiert auf die sinkende Unterstützung mit wachsender Repression gegen Frauen, Arbeiter*innen, Minderheiten und die Opposition, sowie gegen kurdische Gebiete in der Türkei und Nordsyrien – doch das kann auch zu einer neuen Welle des Widerstands von unten führen.

Erdbeben im Erdoğan-Staat

Dass Regierungen nicht, zu spät und zu wenig helfen, dass viel Hilfe in dunklen Kanälen verschwindet – das hat politische Sprengkraft. 1972 ereignete sich in Nicaragua ein Erdbeben, in dessen Folge Tausende ihr Leben und Hunderttausende ihr Obdach verloren. Als die Korruption des Regimes im Umgang mit Hilfsgeldern immer deutlicher wurde, wuchs die Opposition. 1979 wurde das Regime durch eine Revolution gestürzt, geführt von einer links-katholischen Guerilla-Bewegung. Nach anfänglich vielen Hoffnungen und einigen Verbesserungen arrangierte sich das neue Regime mit dem Kapital, verscherbelte das Sozialsystem und verbietet ungewollt Schwangeren den Zugang zu Abbrüchen.

Um die Korruption Erdoğans zu sehen, braucht es keine Veruntreuung von Aufbauhilfe – auch wenn diese zu erwarten ist. Die Organisierung der Hilfe und Verteilung der Lieferungen durch demokratisch gewählte Komitees ist nötig. Erdoğans Glaubwürdigkeit bricht schneller zusammen als Billigbeton im Erdbebengebiet. Die türkischen Bauarbeiter*innen und Ingenieur*innen wissen am besten, wie man sicheren Wohnraum in erdbebengefährdeten Gebieten schafft – sie müssen den Wiederaufbau leiten, finanziert aus den Superprofiten der Bauwirtschaft. Hier liegt auch der Schlüssel für den Sturz des Regimes. Denn die Türkei wird nicht durch eine militärische Übernahme des Staates durch eine Guerilla-Truppe befreit werden, deren es viele in der Türkei gibt , sondern nur durch den gemeinsamen bewussten Kampf am Arbeitsplatz, in der Schule und den Nachbarschaften.

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Pflegestreik in Britannien

Peter Hauer

INFO:

Gegründet wurde die RCN, allerdings noch nicht als Gewerkschaft, Anfang 1916 mit 34 Mitgliedern, Ende 1916 waren es über 2.000. Aktiver wurde sie 1961 angesichts einer Wirtschaftskrise für Lohnerhöhungen. Erst seit 1995 kann sie auch formal Streiks ausrufen, begann sich weiter aufzubauen und breitere Schichten an Beschäftigten zu organisieren. Inzwischen verfügt sie über fast 500.000 Mitglieder.

 

“Die Patient*innen sterben nicht, weil wir streiken. Wir streiken, weil die Patient*innen sterben.” Das sind die Worte einer streikenden Person. Das Vereinigte Königreich (UK) erfährt aktuell eine historische Streikwelle wie schon seit knapp 40 Jahren nicht mehr. An der Spitze dabei der Gesundheits- und Pflegebereich. Das öffentliche National Health System (NHS) wurde über Jahrzehnte hinweg kaputtgespart, die Reallöhne sind in 13 Jahren um ca. 17% gesunken - und das obwohl die Löhne historisch schon immer niedrig waren, auch weil Gesundheitsberufe “Frauensache” sind. Die neoliberalen Angriffe der letzten Jahrzehnte haben dazu geführt, dass das Gesundheitssystem nur mehr ein Notfallsystem ist. Die Beschäftigten sind überlastet, überarbeitet, kündigen, und für die Verbleibenden sieht es nicht nach Besserung aus, weil es auch an Nachschub an Auszubildenden mangelt. Zu allem Überdruss werden auch kleinere Arbeitsstellen geschlossen, weil es an Geld fehlt.

Zehntausende streiken im ganze Land

Die Gewerkschaft “Royal College of Nursing” (RCN) hat ihre 465.000 Mitglieder befragt, ob sie für höhere Löhne und Anerkennung streiken wollen und in der Urabstimmung stimmten 92.5% dafür. Trotz der enormen Stärke des Ergebnisses wird es durch die Anti-Streik-Gesetze der Regierung geschwächt. Denn die RCN hält sich an diese Regelungen und warnt Mitglieder auch davor, sich über die Gesetze hinwegzusetzen - anstatt den Streik für bessere Arbeitsbedingungen mit jenem gegen die Angriffe der Regierung zu verbinden!

Trotzdem streikten am 6. und 7.2. an unglaublichen 73 Krankenhäusern, Ambulanzen, Blutspendezentralen… mehrere zehntausend Beschäftigte. An weiteren 176 Institutionen haben sich Arbeiter*innen über die Anti-Streik-Gesetze hinweggesetzt. Es war der größte Streik in der Geschichte des NHS. Auch die Gewerkschaften UNITE und GMB haben mit einem Teil der Mitgliedschaft zum Streik aufgerufen. Es zeigt sich, dass das Potential für eine Organisation vorhanden ist, die die Beschäftigten vor Ort einbezieht. Die RCN diente ursprünglich lediglich als Register für Leute, die im Gesundheitsbereich arbeiten und gerade deswegen hat das RCN eine große Reichweite. Sie ist eigentlich keine kämpferische Gewerkschaft, der erste Streik des RCN wurde erst 2019 abgehalten. Das bedeutet auch, dass die Erfahrungen mit Streiks noch sehr gering sind und die Beteiligung der Mitgliedschaft an der Gewerkschaft ebenso - es zeigt aber auch, wie sich Strukturen in Kämpfen entwickeln und verändern und von den Mitgliedern mit Leben gefüllt werden können.

Breite Unterstützung - Generalstreik nötig!

Hoch ist mit 70% die Unterstützung der Bevölkerung für die Streiks des NHS. Angesichts der historischen Streikwelle, welche sich noch ausbreitet, ist die einzige richtige Antwort, die Streiks auszuweiten. Bis in den März hinein gibt es Streiks verschiedenster Teile im Sozialsystem. Socialist Alternative (ISA in England-Wales-Schottland) erklärt die Notwendigkeit eines Generalstreiks. Alle Gewerkschaften sollen dazu aufrufen und die vielen Aktionen und Streiks müssen auch an der Basis von den Beschäftigten selbst organisiert und koordiniert werden. Eine Ausweitung des Kampfs ist notwendig, um ein ausfinanziertes Gesundheitssystem zu erkämpfen, aber auch, um die vorhandene Unterstützung in maximale Schlagkraft zu verwandeln.

socialistalternative.info

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Weltkongress der ISA in einer neuen Ära

Yasmin Morag

Anfang Februar verhandelten die imperialistischen Kriegstreiber die Details zu Panzern und Kampfflugzeugen und damit zur Eskalation des Krieges in der Ukraine. Zeitgleich versammelte das höchste Gremium der ISA, der Weltkongress, über 100 Mitglieder aus mehr als 30 Ländern. Im Zentrum stand der Charakter der Periode, deren Herausforderungen und Chancen.

Die Diskussionen konzentrierten sich auf die eskalierenden imperialistischen Spannungen, die am deutlichsten im Krieg in der Ukraine zum Ausdruck kommen, aber auch im Pazifik. Das charakterisiert das Ende der Ära des Neoliberalismus und eine neue Periode mit einer verstärkten Rolle des Staates, u.a. mit massiven Militärausgaben. Während Sozialist*innen im Westen gegen die westliche Propaganda aufstehen müssen, berichten ISA-Mitglieder aus neokolonialen Ländern, dass die Erfahrung der Massen mit der kriminellen Ausbeutung durch den westlichen Imperialismus bedeutet, dass wir aufzeigen müssen, dass China und Russland nicht weniger ausbeuterisch sind. Vor dem Hintergrund der Inflation und der Unfähigkeit der politischen Eliten, einen Ausweg zu bieten, zeigen neue Wellen des Kampfes, von der Streikwelle in Britannien bis zum mutigen Aufstand im Iran, den Weg nach vorn. Die Kämpfe im Interesse der arbeitenden Massen und nicht der einen oder anderen ausbeuterischen, imperialistischen Kraft nehmen zu.

Bei den Massenkämpfen in dieser neuen, turbulenten Periode stehen oft Frauen im Vordergrund. Sie arbeiten oft in den am stärksten von schlechter Bezahlung und Personalmangel betroffenen Sektoren wie Gesundheit oder Bildung und erleben zusätzlich, wie ihre Rechte bedroht und angegriffen werden - all das politisiert und radikalisiert. Die Krise des Kapitalismus ist für Arbeiter*innen überall zu spüren. Sie bedroht unsere Sicherheit und unsere Zukunft auf diesem Planeten - der Kampf dagegen muss organisiert und koordiniert werden. Er braucht ein internationales sozialistisches Programm, das für die Interessen der arbeitenden Massen kämpft. Mit Blick auf den Kampf für eine menschenwürdige Zukunft ist die ISA aktiv - am Internationalen Frauentag, unserer sozialistischen feministischen Rosa-Konferenz (18.-19.3.), dem Internationalen Tag der Pflege (12.5.) und vielen anderen Initiativen. Schließt euch uns an!

Aktiv auf 5 Kontinenten

Covid, Krieg und Klimakatastrophe zeigen, dass ein grundlegender Wandel nötig ist. Widerstand und Organisierung findet statt und wir sind dabei! In den USA ist ISA Teil der gewerkschaftlichen Organisierungskampagne und startet "workers strike back", bei der Streikwelle in Britannien treten ISA-Mitglieder für einen Generalstreik ein.

In China, Hongkong und Russland arbeiten Sozialist*innen unter repressiven Bedingungen und in Südafrika, Nigeria und der Elfenbeinküste ist Armut eine große Herausforderung. Dennoch war die ISA in Südafrika (WASP) führend bei den Clover-Streiks, unterstützt von ISA-Mitgliedern in Israel-Palästina (wo das Mutter-Unternehmen seinen Sitz hat). Israel ist mit der reaktionärsten Regierung seiner Geschichte konfrontiert und hier kämpfen wir nicht nur gegen die Unterdrückung von LGBTQ+ Personen, Frauen und Palästinenser*innen sondern auch gegen ein Regime, das für Elend und Blutvergießen auf beiden Seiten des Konflikts verantwortlich ist. Die ISA in Mexiko ist massiv gewachsen und konzentriert sich auf die extreme Krise der Lebenshaltungskosten sowie die Pandemie und gegen Gewalt gegen Frauen. ISA in Brasilien stellt am 8.3. ihr sozialistisch-feministisches Banner vor und betont, dass der Kampf gegen Bolsonaro von der Arbeiter*innenklasse geführt werden muss. 

Die ISA wird weltweit stärker, auch in neuen Ländern wie Rumänien, Frankreich, Italien, Indien und Iran. Wir bereiten uns auf eine turbulentere Periode vor, in der internationale, sozialistische Organisierung entscheidend sein wird.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Israel-Palästina: Generalstreik gegen Netanjahu und die extreme Rechte

Die politische Krise erreicht historisches Ausmaß
Shahar Ben Horin, Yasha Marmer - Socialist Struggle (ISA in Israel/Palästina)

​Dieser Artikel wurde am 27. März auf englisch veröffentlicht. Auch wenn sich seither die Ereignisse überschlagen ist diese Analyse weiterhin gültig. Wir veröffentlichen aber laufend Updates.

Dies sind die Folgen der erneuten Machtübernahme eines geschwächten Netanjahu, der ein Bündnis mit den jüdischen Ultraorthodoxen und der extremen Rechten eingegangen ist. Dies ist der schwerwiegendste politische Konflikt in der Geschichte des Staates Israel und stellt die Grundlagen des Systems der Herrschaft über die "offizielle" Bevölkerung in Frage. In diesem System existiert eine Form der diskriminierenden bürgerlichen Demokratie neben verschiedenen Formen der polizeilichen und militärischen Kontrolle über die palästinensische Bevölkerung in den Gebieten von '67.

Es sind die letzten Tage der Winterperiode der Knesset, des israelischen Parlaments. Die neue Regierung von Netanjahu befindet sich teilweise auf dem Rückzug und ist offen zerstritten über ihren geplanten "Justizputsch". Dieser Versuch, nach der Macht zu greifen, ein Element eines "Staatsstreichs von oben", bei dem eine Regierung, die mit weniger als 50 % der Stimmen gewählt wurde, eine Mehrheit von vier Sitzen in der Knesset in Anspruch nimmt, war ursprünglich mit einer Reihe von Gesetzesentwürfen zur Gegenreform der Justiz geplant. Neben anderen reaktionären Gesetzen zielt die Reform im Wesentlichen darauf ab, die Kontrolle der Regierung über die Justiz und insbesondere über den "Obersten Gerichtshof" (Bagatz, dieser übernimmt quasi die Rolle eines Verfassungsgerichts) zu stärken. Damit würde das politische Regime in Israel in eine autoritärere, bonapartistische Richtung gelenkt.

Die unpopuläre, schwache Regierung hat jedoch das Potenzial für eine Widerstandsbewegung unterschätzt. Sie hat eine unermüdliche israelische Massenbewegung losgetreten, die ihrerseits auf eine beispiellosen Gegenwehr der herrschenden kapitalistischen Klasse und des Staatsapparats gestoßen ist. Ein möglicher Konflikt zwischen der Regierung und dem Obersten Gerichtshof hat sie nun an den Rand einer "Verfassungskrise" gebracht. Der Oberste Gerichtshof könnte die von der Regierung erlassenen Gesetze als "verfassungswidrig" aufheben und dann seinerseits von der Regierung ausgehebelt werden. Damit wäre es möglich, dass der Staatsapparat, mitsamt der Streitkräfte, sich auf die Seite des Obersten Gerichtshofs und nicht auf die der Regierung stellen könnte. Unter Druck deutet die Regierung Netanjahu nun an, dass sie sich angeblich an jede Bagatz-Entscheidung bezüglich der von ihr geplanten Gesetze halten würde. Für einige in der Regierung scheint dies ein sicherer Weg zu sein, die Krise zu überwinden und die Regierung zu stabilisieren. Dies könnte jedoch die Regierungskoalition zerreißen, da der Justizminister und andere aus seinem Umfeld, die mehr auf Eskalation setzen, dies als inakzeptables Zugeständnis betrachten würden. Sie gehen davon aus, alle Möglichkeiten ihrer Machtposition voll ausschöpfen zu können.

Netanjahus sechste Regierung ist auch dem wachsenden Druck des US-Imperialismus und seiner regionalen Verbündeten ausgesetzt. Diese fürchten insbesondere die Folgen der von der Regierung eifrig vorangetriebenen Verschärfung der militärischen Besatzung und der kolonialen Besiedlung, nicht zuletzt durch blutige Razzien im Herzen des Westjordanlandes. Diese lösten mehrere breite palästinensische Proteststreiks und Demonstrationen aus, auch vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl von Todesopfern: Seit Anfang 2023 haben israelische Besatzungstruppen etwa 90 Palästinenser*innen im Westjordanland und in Ostjerusalem getötet.

Unterdessen ist die Zahl der im nationalen Konflikt getöteten Israelis auf 14 angestiegen, ohne dass die israelische Massenbewegung dadurch gestoppt worden wäre. Darüber hinaus wurde die israelische Polizei, die zur Unterdrückung israelischer Demonstrierender eingesetzt wurde (mit Wasserwerfern, Blendgranaten, Verhaftungen), immer wieder mit dem Slogan: "Wo wart ihr in Huwara?" empfangen - eine Anspielung auf den pogromartigen Überfall israelischer rechtsextremer Siedler*innen auf die palästinensische Stadt Ḥuwara (حوّارة) im Westjordanland am 26. Februar. Diese Stimmung ist da, obwohl die Führung der Bewegung durch das Finanzkapital, ehemalige Generäle und etablierte Parteien der "Mitte" vereinnahmt worden ist. Das hat zu einem reaktionären Wettstreit in der Bewegung geführt, wer gegenüber der israelischen Regierung die größeren "Patriot*innen" seien. Dazu gehörte das gezielte Überfluten der Proteste mit israelischen Flaggen in einem Ausmaß, das man früher nur von Auftritten der kolonialen Siedlerbewegung kannte. Es kam auch zu Angriffen gegen palästinensische Flaggen bei den Demonstrationen. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Mitglied von Socialist Struggle (ISA in Israel-Palästina) von einem Anhänger des "Zentrums" angegriffen, weil wir mit einem gesellschaftsübergreifenden Programm der Arbeiter*innenklasse für die Ausweitung des Kampfes "für Demokratie", gegen die Herrschaft des Kapitals und gegen die Besatzung interveniert haben und auch, weil wir Demonstrierende, die palästinensische Fahnen schwenkten, gegen Angriffe verteidigt haben.

Die Krise des Besatzungsregimes verschärft sich
Die Regierung Biden hat die Netanjahu-Regierung offen aufgefordert, ihre Justizreform zu stoppen und ihre provokativen Aktionen gegen die Palästinenser*innen zu unterlassen. Im Januar hat Biden für eine Reihe von Besuchen in Israel gesorgt - durch US-Außenminister Blinken, den nationalen Sicherheitsberater Sullivan und den CIA-Direktors Burns. Berichten zufolge boten sie Netanjahu einen Deal an: die Einstellung der Justizreform, die Beibehaltung des Status quo in Al-Haram Al-Sharif/Tempelberg (dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee) und die Einschränkung der Siedlungsaktivitäten im Abtausch gegen eine verstärkte Zusammenarbeit bei Maßnahmen gegen den Iran und bei der israelisch-saudischen Normalisierung. Der US-Botschafter in Israel, Nides, bestätigte diese Linie. Ohne Erfolg. Nach der Erklärung Israels zu umfangreichen Bautätigkeiten in den kolonialen Siedlungen und der offiziellen Legalisierung von neun ehemals illegalen Siedlungs-"Außenposten" - ein bedeutender Schritt der schleichenden Annexion - unterzeichneten die USA eine sanfte Kritik durch den UN-"Sicherheitsrat". Dies geschah jedoch anstelle einer formellen Abstimmung über eine von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) vorgeschlagene offene Resolution zur Verurteilung der Vorgänge - jener VAE, die im Jahr 2020 an der Spitze der Normalisierung ihrer Beziehungen zum israelischen Kapitalismus gestanden hatte.

In Aqaba (26. Februar) und Sharm El-Sheikh (19. März) wurden zwei Dringlichkeitsgipfel einberufen, bei denen Abgesandte der USA, Ägyptens, Jordaniens und der Palästinensischen Autonomiebehörde, die quasi im Schlepptau mitgenommen worden war, Vertreter*innen Netanjahus – nicht seiner Regierung – und des israelischen Sicherheitsapparats direkt unter Druck setzten.

Das Gipfeltreffen in Akaba entpuppte sich innerhalb weniger Stunden als große Farce. Die Vertreter*innen Netanjahus verpflichteten sich zu dem zynischen, hohlen Zugeständnis, den neuen kolonialen Siedlungsbaus für vier Monate einzufrieren (mit Ausnahme des oben erwähnten umfangreichen Baus, der genehmigt worden war), woraufhin der rechtsextreme israelische Minister für Finanzen und Siedlungen, Bezalel Smotrich, twitterte, dass nichts dergleichen geschehen werde. Nach dem Amoklauf rechtsextremer israelischer Siedler*innen in Huwara am selben Abend erklärte er, dass "das Dorf Huwara ausgelöscht werden sollte, ich denke, dass der Staat Israel das tun sollte". Daraufhin boykottierte die Biden-Administration seinen Besuch in den USA, da sie trotz ihrer entscheidenden praktischen Hilfe bei der Unterdrückung von Millionen Palästinenser*innen nicht zulassen kann, dass sie unmittelbar mit solchen Elementen in Verbindung gebracht wird. Diese offene Erklärung, die die Logik des zionistischen Chauvinismus auf die Spitze treibt, befeuerte ihrerseits die Welle von Drohungen seitens israelischer Militärpilot*innen und Eliteeinheiten, den Dienst zu verweigern, was wiederum die Legitimationskrise der israelischen Regierung noch verschärfte. Ein ähnlicher Trend könnte sich bei einem Teil der einfachen Reservist*innen entwickeln, auch im Falle einer militärischen Eskalation.

Das Gipfeltreffen in Sharm El-Sheikh, kurz vor Beginn des Ramadan (23. März), endete mit dem erneuten leeren Versprechen eines viermonatigen Einfrierens der Siedlungsaktivitäten als Zeichen der "Verpflichtung". Smotrich, der sich gezwungen sah, sich mit rhetorischen Verdrehungen von seinen früheren Äußerungen zu Huwara zu distanzieren, lehnte diesen Schritt nicht offen ab. Stattdessen hielt er bei einer Konferenz in Paris eine Rede auf einem Podium, wo eine Karte einer maximalistischen Version von "Groß-Israel" abgebildet war, die das historische Palästina und das heutige Jordanien umfasst, und erklärte, dass "es so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht gibt... Diese Wahrheit sollte hier im Élysée-Palast gehört werden, sie sollte auch vom jüdischen Volk im Staat Israel gehört werden, das ein wenig verwirrt ist, und diese Wahrheit sollte im Weißen Haus in Washington gehört werden". Offiziell wurde  diese Äußerung in Statements aus den USA, der EU, China, Jordanien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien verurteilt. Das jordanische Parlament stimmte in einer Sitzung, in der eine Karte mit der jordanischen Flagge und dem historischen Palästina gezeigt wurde, für die Ausweisung des israelischen Botschafters. Die saudische Monarchie verschärfte ihre Rhetorik, um "die rassistischen Äußerungen eines Spitzenbeamten der israelischen Besatzungsregierung gegen das palästinensische Volk anzuprangern". Nur einen Tag nach dieser Rede verabschiedete die von der israelischen Regierung kontrollierte Knesset ein Gesetz, das es Siedler*innen erlaubt, in die 2005 "geräumten" Gebiete im nördlichen Westjordanland zurückzukehren.

Erschwerend kam hinzu, dass die saudisch-iranischen Verhandlungen in einer Entspannung und der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen gipfelten, was in Peking verkündet wurde - eine Aufwertung der regionalen Rolle des chinesischen Imperialismus. Diesem Abkommen soll ein Gipfeltreffen zwischen dem Iran und dem Golf-Kooperationsrat (GCC) in Peking folgen. Obwohl Washington zuvor neue Sanktionen gegen Firmen, auch aus China, verhängt hat, die den iranischen Export fossiler Brennstoffe erleichtern, wird durch diese neue Verschiebung in den regionalen Beziehungen der frühere iranische "Atomdeal" (JCPOA) noch tiefer begraben und die vom israelischen Imperialismus unter US-imperialistischer Schirmherrschaft angestrebte "anti-iranische Front" in der Region weiter abgebaut. Dies würde die geostrategischen Bestrebungen des israelischen Regimes nach Normalisierung mit Saudi-Arabien und einen möglichen israelischen Militärschlag gegen iranische Atomanlagen erschweren.

Der von der gegenwärtigen israelischen Regierung eingeschlagene Kurs heizt die internationale öffentliche Meinung gegen die israelische Besatzung weiter an. Aus einer Gallup-Umfrage (16. März) geht hervor, dass zum ersten Mal in diesem Jahrhundert die Anhänger*innen der Demokratischen Partei in den USA, nach einem Jahrzehnt abnehmender Sympathien für Israel, nun mit den Palästinenser*innen sympathisieren. Diese Entwicklung trägt dazu bei, dass die Unterstützung des US-Imperialismus für das israelische Regime relativ stark zurückgeht. Das ist ein Beispiel dafür, wie Netanjahus Regierungskoalition mit der extremen Rechten, die aus einer Systemkrise hervorgegangen ist, den israelischen Kapitalismus ins Chaos stürzt. Der Hungerstreik der palästinensischen Gefangenen, der von einem Gefangenenkomitee für den Beginn des Ramadan geplant war, nachdem der rechtsextreme Minister für "Nationale Sicherheit" Ben-Gvir eine Verschlechterung ihrer Haftbedingungen diktiert hatte, ist derzeit aufgrund von Zugeständnissen der ängstlichen israelischen Gefängnisbehörde ausgesetzt.

Das israelische "Institut für Nationale Sicherheitsstudien" (INSS) hat eine außerordentliche "Strategische Warnung" herausgegeben, in der es die israelische Regierung auffordert, ihre reaktionäre Justizreform zu stoppen, da sie ihrer Ansicht nach die Fähigkeit des Staates behindert, mit "einer unheilvollen Kombination aus schwerwiegenden Bedrohungen für seine nationale Sicherheit, sich ausweitenden Rissen in seinen Beziehungen zu den USA und zunehmenden wirtschaftlichen Risiken inmitten der globalen Wirtschaftskrise" fertig zu werden. Zuvor hatte sich der Generalsekretär der rechtspopulistischen Hisbollah im Libanon, Nasrallah, über die Krise des israelischen Regimes lustig gemacht und erklärt, dass "das strategische Umfeld und die derzeitige törichte Regierung die Dinge in zwei große Zusammenstöße treiben, den ersten innerhalb Israels und den zweiten mit den Palästinenser*innen, und das kann sich auf die gesamte Region ausweiten”. Spekulationen zufolge handelte es sich um ein gemeinsames Unternehmen der Hisbollah und der Hamas, als eine aus dem Libanon kommende Bombe im Norden Israels gezündet und ein palästinensischer Bürger Israels verletzt wurde (13. März). Innerhalb weniger Tage fanden Treffen zwischen Nasrallah und der Führung des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) und der Hamas statt, wobei ein PIJ-Kommandeur in Syrien ermordet wurde, offenbar durch den Mossad (israelischer Auslandsgeheimdienst).

Die verstärkten staatlichen Terrormaßnahmen Israels gegen die Palästinenser*innen im Westjordanland und in Ostjerusalem könnten zu einem erneuten Aufflammen des Widerstands und militärischer Konfrontationen während des Ramadan führen, bis hin zu einer größeren israelischen Militäroffensive, wie sie im Mai 2021 stattfand. Der Druck wird durch die drohende ethnische Säuberung von 12 Dörfern in Masafer Yatta im Westjordanland, die vom israelischen "Obersten Gerichtshof" genehmigt wurde, und die Zwangsräumungen in Sheikh Jarah noch verstärkt. Das israelische Militär hat mit zynischen, dürftigen zivilen Hilfsmaßnahmen für einen Teil der palästinensischen Bevölkerung, die unter der militärischen Besatzung und Belagerung in den Gebieten von '67 steht, versucht, die Situation taktisch einzudämmen. Dies verblasst jedoch gegenüber dem chauvinistischen Speichel von Elementen in der derzeitigen israelischen Regierung, die darauf aus sind, eine große nationalistische Konfrontation und einen "Sicherheits"-Konflikt auszulösen, der, in gewisser Weise, die israelische Massenbewegung brechen könnte. Provokationen rund um die Al-Aqsa-Moschee oder die böswillige Ausnutzung einzelner terroristischer Anschläge gegen israelische Zivilist*innen, um militärische Aktionen oder welche von rechtsextremen Siedler*innen auszulösen, können ein Pulverfass zum Explodieren bringen.

Die Zunahme des wahllosen Raketenbeschusses durch den PIJ aus dem belagerten Gazastreifen in diesem Jahr deutet auf das Potenzial einer militärischen Eskalation in mehreren Stadien hin. Der relative Anstieg der palästinensischen Mobilisierung für Proteststreiks und Demonstrationen gegen die Besatzung sowie die verstärkten organisierten Aktionen der Arbeiter*innen, einschließlich des jüngsten palästinensischen Lehrer*innenstreiks, und der palästinensischen Jugendlichen, die nach Methoden der Verteidigung durch politischen Kampf suchen, spiegeln jedoch alle den Aufbau eines konkreten Potenzials für einen von Großteilen der Bevölkerung ausgehenden oder sogar Massenkampf gegen die Besatzung wider.

Opposition der israelischen herrschenden Klasse

Der Versuch der 6. Regierung Netanjahu, die Macht in der Justiz an sich zu reißen, weist Parallelen zu den Gegenreformen in der Justiz auf, die in den letzten zehn Jahren in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, um mehr Macht in der Regierung zu konzentrieren und die politischen Regime in eine bonapartistische Richtung zu verändern. In ihrem Bestreben, die Macht zu konzentrieren, sind Netanjahu und seine Regierung jedoch eine Antithese zu den Modellen des "starken Führers" und der "starken Regierung", die Erdoğan, Orban, Putin oder die polnische PiS auf dem Höhepunkt ihrer Macht repräsentierten. Anders als diese hat Netanjahu keinen bedeutenden Flügel der herrschenden Klasse hinter sich. Er wird sogar in einer noch nie dagewesenen Weise vom Kapital, dem Staatsapparat und der Militär- und Sicherheitselite offen bekämpft.

Der Präsident des “Obersten Gerichtshofs” wetterte öffentlich gegen die Agenda der Regierung. Der Generalstaatsanwalt stellte die Rechtsgrundlage für mehrere Maßnahmen der Regierung in Frage und verärgerte damit die Minister*innen, die u. a. einen Versuch des Ministers für "nationale Sicherheit" Ben-Gvir vereitelten, den Polizeichef der Region Tel Aviv zu entlassen, weil er angeblich nicht hart genug gegen Demonstrationen vorgegangen war. Auf Druck des Mossad und des Militärs wurde erklärt, dass alle außer hochrangigen Offizier*innen an der Bewegung gegen den "Justizputsch" teilnehmen können.

Die wichtigsten Kapitalverbände forderten offen, dass die Regierung ihre juristischen Maßnahmen zurücknimmt. High-Tech-Unternehmen drohten mit Kapitalflucht, die einige Dutzend in begrenztem Umfang durchgeführt haben, wobei schätzungsweise mehrere Milliarden USD ins Ausland transferiert wurden. Dies hat zum Teil auch mit der Schwächung des Schekels gegenüber dem US-Dollar zu tun, die die Kosten für Importe in Zeiten der Lebenshaltungskostenkrise in die Höhe treibt.

Der High-Tech-Sektor macht den größten Teil der israelischen Exporte und etwa 15 % des BIP aus, was dem kapitalistischen Branding des israelischen Kapitalismus als "Start-up-Nation" diente. Jetzt ist der politische Konflikt ein Katalysator für eine wirtschaftliche Verlangsamung, die durch eine Verlangsamung des globalen Technologiesektors und der Wirtschaft im Allgemeinen verstärkt wird. Obwohl die israelischen Banken im vergangenen Jahr dank steigender Zinsen einen Rekordgewinn von über 22 Milliarden Schekel erzielten und nicht so dereguliert und gefährdet sind wie ihre US-amerikanischen Pendants, stellen sich ihre Tycoon-Eigentümer auch offen gegen den Justizplan der israelischen Regierung und sind besorgt über die weitreichenden Auswirkungen auf das Finanzkapital in Israel, die mögliche Herabstufung durch die Rating-Agenturen, den Rückgang ausländischer Investitionen und ein Rezessionsszenario. Der Gouverneur der Zentralbank warnte, dass jederzeit eine Wirtschaftskrise ausbrechen könne. Das Großkapital traf sich mit Netanjahu und Spitzenpolitiker*innen des Likud, um vor den Auswirkungen des Justizplans zu warnen. Dies und der Druck innerhalb des Militärs und einer fragenden und schwindenden Wähler*innenbasis haben die Spaltung an der Spitze des Likud verschärft, wobei einige darauf drängen, die Gesetzgebung einzufrieren. Sicherheitsminister Galant, ein ranghohes Likud-Mitglied, rief dazu auf, den Gesetzgebungsprozess zu stoppen, und wurde von Netanjahu entlassen, um die Gesetzgebung voranzutreiben, was jedoch nur noch mehr Öl ins Feuer goss.

Zuvor hatte Staatspräsident Herzog einen "Kompromiss" vorgeschlagen, der von der Regierung umgehend abgelehnt wurde, aber die Unterstützung der herrschenden Klasse fand. Sein Programmentwurf war ein Versuch, dem israelischen Kapitalismus einen stabilisierenden Weg aus der akuten politischen Krise zu bieten. Es enthielt Elemente aus dem Regierungsprogramm, nämlich die Stärkung der Regierung gegenüber der Justiz sowie ein komplexeres Verfahren für die Verabschiedung der "Grundgesetze", die als Quasi-Verfassung in der Entstehung zu begreifen sind.

Natürlich geht es diesen Verfechter*innen der Diktatur des Kapitals und der Diktatur der Besatzung nicht darum, die demokratischen Rechte der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten zu verteidigen. Ihnen geht es vor allem darum, dass die Macht in den Händen der kleinbürgerlichen, rechtspopulistischen und rechtsextremen politischen Kräfte konzentriert wird, die derzeit die Regierung steuern.

Von der "Verfassungsrevolution" zum "Justizputsch"

Je mehr sich das politische Regime Israels destabilisierte, desto mehr übernahm der Bagatz eine größere Rolle als Regulator des politischen und legislativen Prozesses. Dies geschah vor allem seit den 1980er Jahren, als die Hegemonie der "Labor"-Partei zusammenbrach, die neoliberale Konterrevolution aufkam, sich der Widerstand der Arbeiter*innenklasse entwickelte, die Hyperinflation zunahm, der verheerende Libanonkrieg von 1982 und die Antikriegsbewegung stattfand, die neofaschistische Kahan-Bewegung aufkam und sich schließlich der palästinensische Aufstand der ersten Intifada ereignete. Der Bagatz war natürlich nie eine fortschrittliche Hochburg, da es im Grunde ein Apparat zur Aufrechterhaltung der Gesetze des Kapitalismus und des zionistischen Chauvinismus ist. Obwohl er von Zeit zu Zeit eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Regierung zuließ, diente er immer wieder als Stempel für brutale Angriffe gegen die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten und um die Verbrechen der Besatzung und der Enteignung der palästinensischen Massen zu beschönigen.

Die Hinwendung des Bagatz zum "juristischen Aktivismus" wurde 1992 vor dem Hintergrund der sich verschärfenden politischen Krise mit der Verabschiedung des "Grundgesetz: Freiheit der Arbeit" und "Grundgesetz: Menschenwürde und Freiheit" in der Knesset, sowie durch das kurzlebige Experiment zur Direktwahl des Ministerpräsidenten deutlich.

Die sehr dünnen Bürger*innenrechts-"Verfassungs"-Gesetze kamen nach Jahrzehnten, in denen keine "Charta der Freiheiten" verabschiedet werden konnte. Der Staat Israel hat aufgrund der nationalen und religiösen Widersprüche, auf denen er gegründet wurde, kein offizielles Verfassungsdokument. Nach 1948 und der barbarischen Nakba, als die palästinensischen Bürger*innen Israels noch unter Militärherrschaft standen, wurde in der Erklärung des Staates Israel ursprünglich angeordnet, dass die verfassunggebende Versammlung eine Verfassung ausarbeiten sollte. Doch Ben-Gurion entschied sich schnell dagegen. Er behauptete, man brauche keine "Erklärung der Freiheiten", sondern ein "Gesetz der Pflichten", und war besorgt, dass die Justiz dazu benutzt werden könnte, "verfassungsmäßige" Gesetze aufrechtzuerhalten und Regierungsmaßnahmen abzuwürgen - insbesondere infolge von Klagen palästinensischer Bürger*innen Israels oder oppositioneller Minderheitselemente auf Seite der Linken ("Kommunistische Partei") und der Rechten (Herut, der Vorgänger des Likud). Der historische Führer der Herut, Menachem Begin, stand an der Spitze einer schwachen Opposition auf der rechten Seite der Regierung und verlangte im Gegensatz zur heutigen Propaganda des Likud, dass die Justiz in der Lage sein sollte, Gesetze aufzuheben, die gegen die Bürger*innenrechte verstoßen, die in den Worten der Verfassungsgesetze versprochen werden. Ein Kompromiss bestand darin, dass die Knesset schrittweise "Grundgesetze" erlassen würde, die als angebliche Grundlage für eine künftige Verfassung gelten sollten, obwohl diese zunächst nur einen semantischen Unterschied zur normalen Gesetzgebung darstellten.

Die Grundgesetze von 1992 basierten auf einem Kompromiss der "liberalen" bürgerlichen Kräfte mit den Parteien der jüdischen religiösen Rechten und waren Teil eines Versuchs, das politische Regime Israels zu stabilisieren und zu "normalisieren". Obwohl in der Gesetzgebung taktisch ausgelassen wurde, dass die Justiz ermächtigt werden sollte, "verfassungswidrige" Gesetze aufzuheben, war dies das von den Hauptinitiator*innen, den etablierten Parteien einschließlich eines Flügels des Likud, aus beabsichtigte Ergebnis. Der Bagatz hat diese Rolle seit 1995 übernommen, in einer vom damaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs ausgerufenen "Verfassungsrevolution", die in Wirklichkeit eine blutarme Reform war. Bislang wurden 22 Gesetze für ungültig erklärt.

Diese Verfassungsreform versprach formell einige Rechte, wie das Recht auf Menschenwürde (angesichts von zwei Millionen Bürger*innen in Armut und Millionen weiterer unter schlimmen Bedingungen unter der Besatzung) oder das Recht, nicht willkürlich inhaftiert zu werden (während Israel regelmäßig Palästinenser*innen ohne Gerichtsverfahren in "Verwaltungshaft" nimmt). Mit der Reform wurde aber auch die Macht der religiösen Gerichte verewigt, und zum ersten Mal wurde in der Gesetzgebung die Formulierung "jüdischer und demokratischer Staat" verwendet, um zu unterstreichen, dass die liberalen Versprechen entsprechend den Interessen der herrschenden Klasse national-religiösen ideologischen Erwägungen unterworfen würden. Die Grundgesetze verteidigen gegen die Schädigung des "Eigentums", im Wesentlichen für die Besitzenden gegen die Besitzlosen, und für die Freiheit der Arbeit, im Wesentlichen für Arbeitgeber*innen und Selbstständige, räumten aber nicht einmal nominell das Recht ein, sich zu organisieren und zu streiken, ganz zu schweigen von den sozialen und materiellen Rechten.

In den folgenden Jahren, als der Bagatz seine Autorität als Selbstverteidigungsmechanismus des israelischen Kapitalismus gegen eine Destabilisierung weiter ausbauen konnte, wurde die lange Kampagne von rechtsradikalen, ultraorthodoxen und rechtsextremen Elementen zur Rückgängigmachung der Reform und zur Wiederherstellung der Regierung über den Bagatz immer deutlicher. Nach dem "Rückzugsplan" aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 und der zunehmenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung hat sich diese Kampagne beschleunigt und in den letzten Jahren ein neues Ausmaß erreicht. Akzeptierte Appelle an den Bagatz gegen einige der unverblümteren Angriffe auf zum Sündenbock gemachte Minderheiten werden dann demagogisch als Behinderung von Lösungen für soziale oder "Sicherheits"-Probleme dargestellt, wie z. B. Urteile zur Begrenzung der Masseninhaftierung von Asylbewerber*innen aus dem Sudan und Eritrea. Die Destabilisierungstendenzen haben dazu geführt, dass die Regierungen dazu neigen, mehr "verfassungsmäßige" Erfindungen anzustreben, die häufiger in den Grundgesetzen verankert sind, wie etwa der halbjährliche Staatshaushalt oder, auf dem Höhepunkt der Covid-Krise und nach einem parlamentarischen Stillstand, eine "gleichgestellte" gemeinsame Regierung. 2018, als Netanjahu bereits mit Anti-Korruptions-Protesten konfrontiert war und zu rechtspopulistischen Angriffen auf die Justiz überging, gab es neue Versuche, die Macht des Bagatz zurückzuerobern. In diesem Jahr wurde auch das "Staatsangehörigkeitsgesetz" als "Grundgesetz" verabschiedet. Das Gegenteil eines liberalen, abstrakten Versprechens von Bürger*innenrechten, es verankerte die nationale Diskriminierung. Der Bagatz hatte noch nie ein Grundgesetz für ungültig erklärt, aber er begann, den Boden für ein solches Szenario zu bereiten, und damit in Frage stellte, wie herrschende Koalitionen Grundgesetze nutzen, um Gesetze vor einer gerichtlichen Überprüfung zu immunisieren.

Lenin erklärte, dass "eine demokratische Republik die bestmögliche politische Hülle für den Kapitalismus ist" (Staat und Revolution), da sie das höchste Maß an Flexibilität des Systems erlaubt. In dem Maße, in dem jedmögliche Variante des Systems von den Interessen der herrschenden Klasse ausreichend kontrolliert werden kann, würde sie wahrscheinlich vom Kapital bevorzugt werden. Doch gerade die Aushöhlung der bürgerlichen Kontrolle über die politischen Prozesse in dieser Ära hat die "demokratischen" Regimes seit dem letzten Jahrzehnt in stärkerem Maße in eine bonapartistische Richtung getrieben. Die herrschende Klasse Israels ist zwar gegen die Machtübernahme durch die derzeitige Regierung Netanjahu, aber verschiedene Sprecher*innen der herrschenden Klasse haben deutlich gemacht, dass sie es vorziehen würden, wenn die derzeitige politische Krise in einem "Kompromiss" enden würde, der den Vorstellungen des Staatspräsidenten entspricht, dass der Versuch einer Stabilisierung Elemente enthalten würde, die die Regierung stärken und gleichzeitig die Grundgesetze verschärfen würden.

Der Rechtspopulismus nährt sich aus dem Misstrauen der Masse gegenüber der Judikative. Das Vertrauen in den Obersten Gerichtshof wird unter jüdischen Bürger*innen auf 42 % und unter arabischen Bürger*innen auf 39 % geschätzt, während die Vertrauenswerte für die Regierung, die Knesset und die politischen Parteien noch niedriger sind. Die Richter*innen im Elfenbeinturm leben von sehr hohen Gehältern, bis zu 102.000 Schekel (26.000 Euro) pro Monat für die Leiter*innen des Obersten Gerichtshofs und des obersten Arbeitsgerichts - derzeit etwa das 19-fache des Mindestlohns. Der Begriff der Diversifizierung der Richterschaft war in den letzten Jahren ein falscher Deckmantel für rechtsradikale Elemente, die sich für eine Stärkung der Regierung gegenüber des Bagatz einsetzen. Sie meinen damit nicht eine stärkere arabisch-palästinensische Vertretung, die heute lediglich 9 % aller Posten ausmacht, sondern in erster Linie Nicht-Aschkenasische Jüd*innen. Unter einem millionenschweren, korrupten aschkenasischen Premierminister will diese Regierung jedoch zum ersten Mal seit 1953 wieder die volle Kontrolle über die Ernennung von Richter*innen übernehmen, um leichter konservative Richter*innen zur Durchsetzung ihrer Politik ernennen zu können, deren mögliche Auswirkungen in den letzten Jahren in Polen, der Türkei oder den USA beispielhaft vorgeführt wurden. Eine echte Reform des Justizwesens im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten aller Bevölkerungsgruppen müsste radikal sein und darf natürlich nicht der Stärkung einer reaktionären Regierung oder einer bloßen "Diversifizierung" dienen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, sich dem gefährlichen "Justizputsch" entgegenzustellen, aber auch zu warnen, dass unabhängig vom Kräfteverhältnis zwischen Justiz und Regierung die Justiz als richterlicher Arm des kapitalistischen Staates, der für die Auslegung der in der Regel von der Regierung erlassenen Gesetze durch eine ausgewählte Elite zuständig ist, niemals grundlegend unabhängig von der Regierung ist. Marx bemerkte, wie in der Revolution der Pariser Kommune von 1871 "die Justizfunktionäre jener Scheinunabhängigkeit beraubt werden sollten, die nur dazu diente, ihre erbärmliche Unterwürfigkeit gegenüber allen nachfolgenden Regierungen zu verschleiern, denen sie ihrerseits den Treueeid geschworen und gebrochen hatten. Wie die übrigen Staatsbediensteten sollten auch die Richter und Staatsanwälte wählbar, verantwortlich und widerrufbar sein." ("Der Bürgerkrieg in Frankreich").

Parallel zu den Militärgerichten, die im Rahmen der richterlichen Apartheid unter der militärischen Besatzung im Westjordanland über die Palästinenser*innen verhängt wurden, fehlt es den israelischen Zivilgerichten an elementaren demokratischen Bestandteilen wie dem Recht auf Geschworene oder sogar einer begrenzten Wahl der Richter*innen durch das Volk. Natürlich setzt die herrschende Klasse im Kapitalismus ihre geballte soziale Kraft ein, um alle demokratischen Mechanismen in der Gesellschaft zu deformieren. Lenin stellte fest, dass die systematische Auswahl der Geschworenen zu seiner Zeit bedeutete, dass "wegen des Ausschlusses der Arbeiter*innen die meisten Geschworenen oft besonders reaktionäre Kleinbürger*innen sind. Diesem Übel muss abgeholfen werden, indem die Demokratie zu ihrer konsequenten und integralen Form weiterentwickelt wird, und nicht, indem die Demokratie grundsätzlich abgelehnt wird" (1912).

Eine grundlegende Skizze, die aufzeigen soll, wie eine alternative, echte israelische Justizreform im Interesse der Arbeiter*innenklasse aussehen könnte, könnte wie folgt aussehen:

  • Stoppt den Netanjahu-Levin-Plan. Nein zum Kapern der Macht, um die demokratischen Freiheiten zu beschneiden, nein zu einem autoritären Regime. Kämpfen für die Ausweitung des demokratischen Raums und für eine tiefgreifende Veränderung der Lebenswirklichkeit zugunsten der Arbeiter*innenklasse und der diskriminierten Schichten.

  • Schluss mit der Überlastung der und Aufschiebungen in den Gerichten. Die Einstellung von Verwaltungsangestellten, Hilfs- und Unterstützungskräfte etc. und Richter*innen zu einem existenzsichernden Lohn als Grundlage. Investitionen in Infrastruktur und Technologie. Angemessene öffentliche Finanzierung, u. a. durch die Erhöhung der Gerichtsgebühren für Großunternehmen und eine Abgabe für Großkanzleien.

  • Ein gleichberechtigteres Gerichtsverfahren. Förderung einer angemessenen Ausbildung und demokratischer Aufsicht über die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte und den Strafvollzug im Hinblick auf ein gerechteres, rechenschaftspflichtigeres Verfahren als Teil der Bekämpfung von Klassenvorurteilen gegenüber arbeitenden und armen Menschen sowie von sexistischen, rassistischen oder gegen LGBTQI+ Personen gerichteten Vorurteilen. Einrichtung eines Tribunals für Sexualdelikte.

  • Demokratische Justizrechte. Anwendung des (nicht vorhandenen) demokratischen Rechts auf Geschworene in israelischen Gerichten - Gewährleistung einer Zusammensetzung die die gesellschaftliche, geschlechtermässige und national gemischten Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegel, mit der Möglichkeit einer Anhörung zur Disqualifizierung wegen Befangenheit. Ausweitung der Dienstleistungen des Amts für Pflichtverteidigung und Begrenzung der Honorare für Anwält*innen. Abschaffung der Freiheitsstrafe als Ersatz für eine Geldstrafe.

  • Demokratische Wahlen. Ersetzung der Kommission für die "Wahl" von Richter*innen. Ein substanzielles demokratisches Verfahren für die Wahl und die Möglichkeit der Amtsenthebung, wie z.B. eine Wahlversammlung, die gleichberechtigt und repräsentativ für Minderheiten ist und aus Delegierten besteht, die in allgemeinen Wahlen von jeder lokalen Behörde, von der organisierten Arbeiterschaft und von kommunalen Rechtsorganisationen gewählt werden.

  • Demokratisierung des Arbeitsgerichts. Direkte demokratische Wahl der Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse im gerichtlichen Gremium, neben der bereits erwähnten Abhängigkeit aller Richter*innen von demokratischen Wahlverfahren und die Möglichkeit der Amtsenthebung. Ausweitung des Streikrechts, Nein zu Unterlassungsanordnungen.

  • Nein zur Ausweitung der Befugnisse der Religionsgerichte. Das Recht auf Zivilehe und Scheidung, auch für gleichgeschlechtliche Paare. Trennung der religiösen Gerichte vom Staat und Betrieb als unabhängige Gemeinschaftsinstitutionen ohne gerichtliche Befugnisse, nur mit unabhängiger Gemeinschaftsfinanzierung. Garantie der Religionsfreiheit und der Trennung von Religion und Staat.

  • Nein zu einer "Außerkraftsetzungsklausel", die die Außerkraftsetzung von Grundrechten erlauben würde. Verfassungsmäßige Anerkennung des Rechts auf Gleichberechtigung, Organisations-, Meinungs- und Streikfreiheit sowie des Rechts auf Wohnung, Bildung, Gesundheit, Nahrungsmittelsicherheit und Sozialhilfe. Nein zum Schutz der Eigentumsrechte von Kapitalist*innen auf Kosten der öffentlichen Interesses. Schluss mit der Vertreibung und Enteignung von Einwohner*innen zugunsten von Immobilienmagnaten oder Siedler*innen. Abschaffung des "Nationalitätengesetzes".

  • Beendigung der Verwaltungshaft. Schluss mit willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren. Schutz des Rechts aller Gefangener auf einen Rechtsbeistand, auf Kenntnis der gegen sie erhobenen Vorwürfe und auf ein faires Verfahren. Abschaffung der Militärgerichte im Westjordanland, ein Ende der Diktatur der Besatzer. Ja zu einem unabhängigen, demokratischen, sozialistischen und gleichberechtigten palästinensischen Staat mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem an der Seite eines sozialistischen und demokratischen Israels, das echte Gleichberechtigung für alle garantiert, als Teil des Kampfes für eine sozialistische Veränderung und für den Frieden im Nahen Osten.

  • Bekämpfung von antisozialer Kriminalität und Ungleichheit. Umfangreiche Investitionen in die Rehabilitation von Gefangenen und in lokale Gerichte. Verstaatlichung der Banken und der wichtigsten Ressourcen in der Wirtschaft, um die hohen Lebenshaltungskosten und Armut zu bekämpfen, und für qualitativ hochwertige Arbeitsplätze, angemessenen öffentlichen Wohnungsbau sowie gesundheitliche und psychologische Unterstützungsdienste, zusammen mit Sozialhilfe, Bildungs- und Freizeitsangeboten. Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaft, die über eine demokratische Planung strukturiert ist, um Ungleichheit und die Herrschaft des Kapitals zu beseitigen und das Wohlergehen aller zu sichern.

Die zentrale Bedeutung der Idee des Generalstreiks

In dieser klassenübergreifenden Bewegung hat das Finanzkapital zusammen mit dem Staatsapparat und der Militär- und Sicherheitselite in außergewöhnlicher Weise energisch interveniert, um sich auf einen Massenkampf und wirtschaftliche Störungen zu stützen, wobei Elemente eines Teilstreiks des Kapitals mit einigen Aufrufen zu einem Arbeiter*innenstreik kombiniert wurden. Dazu gehörte auch der Druck auf die Allgemeine Histadrut, die ultra-zentralistische und gleichzeitig größte Arbeiter*innenorganisation, sich zu mobilisieren. Die rechte Büokratie des Histadrut hatte sich in der aktuellen Eskalation auch in der 13. Woche der Bewegung verweigert. 

Dies ist nicht nur ein Versuch der herrschenden Klasse, Teile der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschichten für ihre eigenen Ziele zu mobilisieren, sondern auch ein starker Impuls für eine Massenmobilisierung von unten in der bisher umfassendsten und dauerhaftesten israelischen Massenbewegung. Als Indiz für eine Mobilisierung von unten bildeten sich Protestgruppen, die nicht nur aus relativ gut situierten Hightech-Angestellten und Ärzt*innen, sondern auch aus Sozialarbeiter*innen, Krankenpfleger*innen und Lehrer*innen bestanden. Einige Gewerkschaftler*innen haben sich gegen den "Justizputsch" ausgesprochen. Der relativ kleine, aber wichtige unabhängige demokratische Gewerkschaftsverband "Power to the Workers" hat auf seiner Delegiertenversammlung beschlossen, eine Kampagne gegen die Bedrohung des Streikrechts durch rechtsextreme Elemente in der Regierung zu starten, auch wenn er sich nicht offen gegen diesen Plan ausspricht.

In einem Land, in dem "politische Streiks" sogar durch die Entscheidungen der Bagatz selbst verboten sind, war die Idee, einen Arbeiter*innenstreik als Mittel im aktuellen politischen Kampf einzusetzen, von zentraler Bedeutung für die Bewegung. Die Idee eines Streiks im Allgemeinen findet ihren Widerhall in den massenhaften koordinierten Straßenblockaden während der Aktionstage - eine davon zwang Netanjahu dazu, auf seinem Weg zu einem Besuch bei der rechtsextremen italienischen Regierung mit einem Hubschrauber zu einem belagerten Flughafen gebracht zu werden. Sie ist auch bei Student*innengruppen beliebt. Sie spiegelt sich sogar im kleinbürgerlich-nationalistischen Ungehorsam von Reserve-Eliteoffizier*innen im Militär und bei Arbeiter*innen in der Rüstungsindustrie wider, die den Zugang zu ihrer Fabrik blockierten. Obwohl dies an sich nicht fortschrittlich ist, wenn es nicht mit dem Widerstand gegen die Besatzung und die von der Kriegsmaschinerie des israelischen Kapitalismus betriebene Politik verbunden ist, ist es ein Hinweis auf die Tiefe der Legitimitätskrise der gegenwärtigen Regierung und auf das Potenzial für künftige Entwicklungen einer populäreren und weitreichenderen Form des Widerstands im Kontext fortgeschrittener politischer Kämpfe.

Während ein Teil der Kapitalist*innen vorsichtiger ist, als einen Generalstreik explizit zu unterstützen, war die Bourgeoisie im Allgemeinen verzweifelt bemüht, die Idee selbst in den Raum zu stellen. Das ist nicht nur ein Zeichen für ihr Vertrauen in die rechte Führung der Histadrut, der sie zutraut, diese Prozesse zu kontrollieren und zu bändigen. Es schürt auch ungewollt das Gefühl für die Kraft des Massenkampfes und letztlich den Hinweis auf die Macht der Arbeiter*innenklasse, was die künftigen Angriffe der Bourgeoisie gegen "politische Streiks" untergräbt. Anfänglich wurden unter Umgehung der Histadrut-Bürokratie tagelange, begrenzte Proteststreiks nach dem Muster von "Streiks der Bürger*innen" auf individueller Basis organisiert. Jetzt wird in dramatischer Weise ein organisierter, nicht genehmigter Generalstreik der Arbeiter*innen eingeleitet.

Dieser defensive politische Massenkampf mobilisiert sich vor allem aus dem Drang heraus, ein autoritäreres Regime und eine nationalistisch-religiöse Reaktion zu verhindern, die mit Angriffen auf Frauen und LGBTQI+-Personen, religiösem Zwang und unverhohlenem Rassismus einhergehen würde. Pride-Flaggen, feministische Plakate und Performance-Kunst auf der Grundlage der Fernsehserie “The Handmaid's Tale” haben diese Gefühle unterstrichen. Diese sind in der Bewegung natürlich ebenso vertreten wie konservativere, ältere Mittelschichten, die Anhänger*innnen der "politischen Mitte". Obwohl der Klassenantagonismus im Vergleich zur offensiven Massenbewegung gegen die Lebenshaltungskosten im Jahr 2011 etwas zurückgedrängt wurde, hat er sich in gewisser Hinsicht auf einem höheren Niveau entwickelt, mit weniger Naivität gegenüber der Regierung und mit dem Sprung im Verständnis des Potenzials der Waffe des Arbeiter*innenstreiks. Die Proteste schwollen an und entwickelten sich nicht nur in der Metropole Tel Aviv und in Jerusalem, sondern auch in den anderen großen Städten, einschließlich großer Proteste in Haifa und Be`er Sheva, wo es etwas mehr Raum für linke Elemente gab, um zu intervenieren, wobei ausnahmsweise und nicht ohne Gegendruck Redner*innen beteiligt waren, die palästinensische Bürger*innen Israels sind und sich gegen die Besatzung und die nationale Unterdrückung aussprachen.

Das sträfliche Ausweichen der rechten Histadrut-Führung, an der leider auch die linke Hadash/AlJabha (KP-Front) festhält, hat die Bewegung geschwächt. Auch wenn wir nicht in eine Sackgasse geraten sind, bleibt es dabei, dass die Regierung nicht besiegt worden ist. Und die Bourgeoisie hatte relativ freie Hand, ihre eigene Agenda in der Bewegung zu diktieren. Der Histadrut-Vorsitzende behauptete sogar in einer Rede mit dem Verkehrsminister, dass die Regierung keine Bedrohung für die Arbeitnehmer*innen darstelle, kurz bevor er einen sehr schwachen Tarifvertrag für den öffentlichen Sektor abschloss. Zuvor hatte die Histadrut-Führung sogar ihre anämische Kampagne gegen die hohen Lebenshaltungskosten auf Eis gelegt, und das auf dem Höhepunkt einer Lebenshaltungskostenkrise, die durch die steigenden Zinssätze noch verschärft wurde - wo Berichten zufolge 22% der Bürger*innen im letzten Jahr gezwungen waren, auf Medikamente und lebensnotwendige Lebensmittel zu verzichten; 44% verzichteten auf medizinische Dienstleistungen; und unter den arabisch-palästinensischen Bürger*innen verzichteten 77% auf medizinische Produkte oder Dienstleistungen. Hätte eine Führung mit dem Schwerpunkt auf diesem brennenden Problem interveniert, die Regierung und die Großkonzerne bloßgestellt und gleichzeitig gegen die Bedrohungen durch die von der Regierung vorgeschlagenen Gesetze mobilisiert, hätte sie eine auf der Arbeiter*innenklasse basierende Agenda in den Vordergrund der Bewegung stellen und die Ausbreitung der Bewegung und den Rückzug der Regierung beschleunigen können. Stattdessen haben die bürgerlichen Elemente an der Spitze der Bewegung in einem reaktionären "Teile und herrsche"-Schritt das Feuer auf die arme Haredi (religiöse ultraorthodoxe) Bevölkerung gerichtet.

Die schwache Regierung befindet sich derzeit auf dem Rückzug und könnte möglicherweise gestürzt werden. Obwohl die letzte Wahl im November (und die fünfte seit 2019) angesichts des ungebremsten Vorstoßes von Netanjahu stattfand, gibt es jetzt eine wachsende Stimmung, die sich zu einem allgemeinen Kampf gegen die Legitimität von Netanjahu und seiner Regierung wendet. Die Spaltungen an der Spitze der Regierungskoalition deuten ohnehin darauf hin, dass sie "von innen" zerbrechen könnte. Diese erzreaktionäre Regierung ist ein politisches Erbe der vorherigen, außerordentlich kapitalistischen Koalitionsregierung des Status quo unter Lapid und Bennet, die sich selbst als "Regierung des Wandels" bezeichnete. Mit ihrer Verteidigung des Kapitalismus und der Besatzung ebnete sie den Weg für die Rückkehr Netanjahus an die Macht mit einer wiedererstarkten extremen Rechten. Dies ist ein Warnzeichen dafür, dass in der gegenwärtigen Bewegung die Idee einer gesellschaftsübergreifenden politischen Alternative für die Arbeiter*innenklasse - basierend auf einem sozialistischen Programm, sowohl der Regierung als auch den unpopulären pro-kapitalistischen etablierten Parteien der "Mitte" vorgelegt werden muss.

https://socialism.org.il/

Deutschland: Der "Megastreik-Tag" - Anfang oder Ende einer Megastreikwelle?

Am 27. März haben die Gewerkschaften einen sogenannten "Megastreik" gestartet. Ist dies der Beginn einer größeren Streikbewegung in Deutschland?
ISA-Deutschland

Streikposten am Kölner Hauptbahnhof

Seit 2015 hat es in Deutschland kaum noch große Streikbewegungen gegeben. Seit Jahren blicken Sozialist*innen und linke Gewerkschafter*innen mit Neid nach Frankreich und Britannien und wünschen sich eine ähnliche Streikbewegung. Seit Anfang 2023 könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen: eine durchschnittliche Inflation von etwa 8 %, ein gewissermaßen hausgemachter Arbeitskräftemangel in einigen Branchen, wachsende Wut über hohe Gewinne (vor allem in den privatisierten Verkehrs- und Paketdiensten Deutsche Post und Deutsche Bahn) und ein Pflegenotstand in Krankenhäusern und Kindergärten. All dies hat die Beschäftigten auf die Straße und in die Streikpostenkette gebracht. Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mehr als 65.000 neue Mitglieder geworben.

Die Streikbewegung fällt mit mehreren größeren Verhandlungsrunden in verschiedenen Sektoren zusammen. Die größte ist jene der Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Kommunen und der Landesbeschäftigten. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fordert 10,5 % mehr Lohn und mindestens 500 Euro mehr pro Monat, also bis zu 20 % für die am schlechtesten bezahlten Gruppen im öffentlichen Dienst. Dazu gehören Krankenpfleger*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, aber auch verschiedenste Beschäftigte im öffentlichen Dienst: Flughafen- und Hafenbeschäftigte, Tunnelsicherheitsdienste und Beschäftigte im öffentlichen Nahverkehr bei Bus- und Straßenbahnen.

Die zweite Verhandlungsrunde betrifft den Postsektor, die bereits abgeschlossen sein könnte - zum Zeitpunkt als dieser Artikels verfasst wird gibt es immer Abstimmungen zu einer neuen Vereinbarung. Ursprünglich forderte ver.di eine Lohnerhöhung von 15 % für ein Jahr, hat diese aber inzwischen auf weniger als 11 % heruntergeschraubt. Nicht vergessen werden darf, dass die Deutsche Post im Jahr 2022 einen Gewinn von 8,4 Milliarden Euro gemacht hat. Viele Postbeschäftigte sind mit dem neuen Angebot unzufrieden.

Drittens verhandelt die Eisenbahngewerkschaft EVG derzeit mit der Deutschen Bahn über eine Lohnerhöhung von 12%, während das Management der Deutschen Bahn eine Gehaltserhöhung von 14% für ihre eigenen Vorstandsvorsitzenden beschlossen hat.

Politische Streikbewegung

Bereits am 3. März traten die Klimabewegung und die Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs (Bus und Straßenbahn) in einen gemeinsamen Klimastreik. Am 8. März rief ver.di parallel zum feministischen internationalen Frauenstreiktag die Krankenpfleger*innen und die Beschäftigten der Kindergärten zum Streik auf. Politische Streiks sind in Deutschland offiziell nicht erlaubt, aber es wurde versucht, die Arbeiter*innenbewegung und die sozialen Bewegungen zu verbinden. Am 22. März wurde ein weiterer großer Streiktag im öffentlichen Dienst organisiert, der bisher größte und politischste Streiktag, an dem Tausende von Beschäftigten nicht nur streikten, sondern sich an Demonstrationen und Streikpostenketten in mehreren hundert Städten beteiligten.

Mega-Streik-Tag

Am Montag dem 27. März organisierten ver.di und EVG zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen koordinierten Streik. Wie ver.di in ihrer Erklärung vom 23. März schrieb: "Das hat es in dieser Form noch nie gegeben: Aus Protest gegen unzureichende Angebote in den Tarifauseinandersetzungen für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen sowie für die Beschäftigten der Unternehmen der Deutschen Bahn AG legen die Mitglieder der DGB-Mobilitätsgewerkschaften ver.di und EVG am kommenden Montag (27. März) erstmals gemeinsam die Arbeit nieder (...) und senden damit ein deutliches Signal an die Arbeitgeber: 'Gemeinsam können wir mehr erreichen!'"

Und tatsächlich: Der deutsche Verkehr war lahmgelegt. Kaum ein Flugzeug, Zug, Bus, Straßenbahn oder anderes öffentliches Verkehrsmittel bewegte sich. Frachtschiffe wurden gestoppt, Tunnel gesperrt. Für ver.di war dies eine wichtige Botschaft: Die dritte Verhandlungsrunde mit Bund und Kommunen hat begonnen. Sie wird drei Tage dauern. Die ver.di-Führung hofft auf einen ordentlichen Abschluss, sodass die Beschäftigten keine Urabstimmung über einen unbefristeten Streik fordern. Deshalb hat sie viel Energie in den "Megastreik" investiert, um ihn zum Endpunkt einer beginnenden Streikbewegung zu machen.

Viele Gewerkschaftssekretär*innen der mittleren Ebene und einfache Gewerkschaftsmitglieder hoffen jedoch auf eine Urabstimmung und einen unbefristeten Streik, um mehr als das zu erreichen. In Wirklichkeit geht es bei dem Streik nicht nur um die Löhne. Es geht um Unterbesetzung, Burn-outs und Arbeitsbedingungen, die Kinder in der Kinderbetreuung, Patient*innen in Krankenhäusern und Fahrgäste in Zügen und Bussen gefährden. Es ist eine Bewegung von zentraler Bedeutung, die bereits das Potenzial gezeigt hat, einen großen Teil der deutschen Arbeiter*innenklasse zu re-politisieren. In einigen Sektoren wie Flughäfen, Häfen und einigen Eisenbahnen hatte es seit mehr als 30 Jahren keine Streiks mehr gegeben.

Es gibt eine enorme Kampfbereitschaft. Viele Kolleg*innen sagen, dass die geforderten 500 Euro Festgehalt für zwölf Monate schon ein Minimum sind und dass man nicht darunter gehen darf. Auch eine Kompensation in Form einer steuer- und beitragsfreien Einmalzahlung ist inakzeptabel. Eine solche Einmalzahlung muss zusätzlich gezahlt werden. Aber eine fixe Lohnerhöhung von 500 Euro muss jetzt kommen.

Keine faulen Kompromisse

Die Post-Tarifrunde ist ein wichtiges Zeichen für den gesamten öffentlichen Dienst. Denn obwohl 85,9 % der Postbeschäftigten für einen unbefristeten Streik gestimmt haben, ist ver.di am Tag des Urabstimmungsergebnisses sofort wieder an den Verhandlungstisch zurückgekehrt und hat sich auf ein Angebot geeinigt, das nicht viel besser ist als das, das die Beschäftigten gerade abgelehnt haben. Das ist eine Warnung an die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die in der gleichen Gewerkschaft organisiert sind. Viele Kolleg*innen bei der Post sind unzufrieden, und es gibt viele Petitionen unter den Beschäftigten, mit "Nein" zu stimmen und für ein besseres Angebot wieder an die Streikposten zu gehen. Die Abstimmung über die Annahme des Ergebnisses wird bis zum 30. März stattfinden. Und obwohl die Medien die Briefwahlrunde bereits als abgeschlossen bezeichnet haben, bleibt der Ausgang ungewiss. Allerdings ist die Hürde für die Ablehnung eines Angebots in einer Urabstimmung in Deutschland sehr hoch: Mehr als 75 % der Beschäftigten müssen das Angebot ablehnen, sonst gilt es als angenommen.

Gleichzeitig erklärte die Eisenbahngewerkschaft EVG, dass die nächsten Streiktermine nach Ostern liegen werden - das untergräbt das Potenzial den Druck zu erhöhen und jetzt eine echte Streikbewegung aufzubauen. Rund 30.000 Eisenbahner*innen und mehr als 120.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes an 800 Standorten beteiligten sich am Megastreik. Allerdings blieben die Reden und Aktivitäten politisch weit hinter jener kämpferischen Stimmung zurück, die in den vorangegangenen Streiktagen des öffentlichen Dienstes sichtbar war. Dennoch unterstützte die Klimabewegung, wie z.B. Fridays for Future, offen den Megastreik im Gegenzug zur Unterstützung des Klimastreiks Anfang März durch die Beschäftigten.

SAV-Mitglieder in Deutschland haben für die aktuelle Streikbewegung mobilisiert und sich an ihr beteiligt. Wir fordern die vollständige Umsetzung der Forderungen, eine eskalierende Streikstrategie hin zu einem unbefristeten Vollstreik und den Aufbau von demokratischen Strukturen mit Delegierten und Streikkomitees in allen Betrieben. Wir haben entlang der Demonstrationsrouten der Streiks Flugblätter verteilt, uns an Protesten und Streikpostenketten beteiligt, Unterschriften zur Unterstützung der Streiks gesammelt, unsere Zeitung verkauft und wurden eingeladen, auf Streikkundgebungen zu sprechen. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob die Streiks weiter eskalieren, weil die Beschäftigten niedrige Angebote ablehnen, oder ob es der Gewerkschaftsführung gelingt, die Wut noch einmal zu dämpfen. Selbst dann rechnet die SAV damit, dass weitere Verhandlungsrunden, die noch in diesem Jahr zu erwarten sind, die Stimmung weiter eskalieren lassen könnten. Auch die fieberhaften Äußerungen der Unternehmensverbände zur weiteren "Regulierung des Streikrechts" deuten wohl in diese Richtung.

Weltwirtschaft: Auf holprigem Weg Richtung Krise

Diese erweiterte Analyse basiert auf einem Beitrag, der jüngst auf dem Weltkongress der ISA gehalten wurde.
Eric Byl, Mitglied der Internationalen Leitung

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hat Gita Gopinath vom IWF überraschend angekündigt, dass der Fonds seine Wirtschaftsprognose anheben wird. Dies geschah nachdem monatelang die verschiedenen internationalen Institutionen die Erwartungen bezüglich des Wachstums nach unten korrigiert hatten. Und zwar so sehr, dass es wahrscheinlich noch nie eine Rezession gab, die dermaßen erwartet worden war. Weniger als drei Wochen zuvor hatte Gita Gopinath selbst wiederholt, dass für ein Drittel der Welt eine Rezession erwartet wird und dass sich selbst in jenen Ländern, die sich technisch gesehen nicht in einer Rezession befinden, hunderte Millionen Menschen fühlen werden, als ob sie in einer solchen wären. Entsprechend haben die Kommentator*innen erwartet, dass der IWF bei seiner für Davos typischen Aktualisierung der Weltwirtschaftsprognose eine weitere Herabstufung und keine Aufwertung vornehmen würde. Was ist geschehen?

Zwei Drittel der vom Weltwirtschaftsforum befragten Chefökonom*innen hielten eine weltweite Rezession im Jahr 2023 für wahrscheinlich, 18 % sogar für sehr wahrscheinlich. 73 % der Geschäftsführer*innen gingen davon aus, dass das Wachstum der Weltwachstum in den nächsten 12 Monaten zurückgehen wird. Die Aufgabe von Gopinath bestand darin, in dieser hochkonzentrierten Masse potenzieller Investor*innen und politischer Entscheidungsträger*innen die ohnehin schon gedrückten Aussichten der Anwesenden nicht noch weiter zu dämpfen was zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hätte führen können. Sie musste die Stimmung heben und tatsächlich nannte sie eine Reihe von Entwicklungen, die vorübergehend in eine weniger katastrophale Richtung weisen könnten. Dazu gehört das Ende der chinesischen Nullzinspolitik, der Beginn eines "grünen" Investitionsbooms in den USA und eine weniger schmerzhafte Anpassung Westeuropas an Russlands Krieg in der Ukraine.

Man hofft, dass eine rasche Wiederbelebung der chinesischen Wirtschaft zu einem Kaufrausch und einem neuerlichen Aufschwung führen wird. Zumal die Ersparnisse der privaten Haushalte seit Anfang 2020 um 42% auf 4,8 Mrd. $ gestiegen sind - eine Summe, die größer ist als das deutsche BIP. Weil die Nullzinspolitik die Wirtschaft lähmte und zu einem Rekord bei der Jugendarbeitslosigkeit geführt hat, war China - im Gegensatz zum weltweiten Trend - nicht mit hoher Inflation konfrontiert und senkte seine Zinssätze sogar. Gleichzeitig setzte man Maßnahmen zur Stützung des zusammenbrechenden Immobilien- und Grundstücksmarktes. So haben die staatlichen Banken schätzungsweise 256 Mrd. Dollar an potenziellen Krediten für ausgewählte Bauträger zugesagt.

In den USA sind mit im dem "Inflation Reduction Act" (IRA - Inflationsbekämpfungsgesetz) enthaltenen Subventionen und Steuergutschriften in Höhe von 369 Mrd. Dollar sowie im CHIPS-Act vorgesehenen Produktionszuschüsse und Forschungsinvestitionen in Höhe von 52 Mrd. Dollar gewaltige Summen vorgesehen, die den Appetit der Finanzinvestor*innen anregen. Beide zielen darauf ab, China einen Schritt voraus zu sein und es zu überholen. All das wird auch als"Tech-Nationalismus" bezeichnet.

Der milde Herbst und Winter in Europa (und den USA) hat dazu beigetragen, dass die Speicherkapazität für flüssiges Erdgas zu 88 % gefüllt war. Dadurch sind die Energiepreise seit ihrem Höchststand im August gesunken, während die Länder der Europäischen Union seit September 2021 Fördermittel in Höhe von rund 600 Milliarden Euro bereitgestellt haben, um Verbraucher*innen und Unternehmen vor steigenden Kosten zu schützen. All dies sowie die Ankündigung von Ursula von der Leyen, dass Brüssel als Reaktion auf den "Inflation Reduction Act" der USA die Vorschriften für staatliche Beihilfen vorübergehend aufweichen und strategisch klimafreundliche Unternehmen subventionieren wird, hat die katastrophalen Aussichten für die europäische Wirtschaft gemildert.

Dies sind reale Entwicklungen, die sich auf den Zeitpunkt und vorläufig auch auf das Ausmaß einer drohenden Rezession auswirken können und werden. Sie sind jedoch weitgehend staatlich gesteuert und haben konjunkturellen Charakter. Sie werden die zugrundeliegenden strukturellen Schwächen nicht beseitigen, geschweige denn lösen, sondern eher verstärken. Jene strukturellen Schwäche die eher früher als später mit neuer Kraft in den Vordergrund treten werden.

Wie haben sich die globalen Wirtschaftsaussichten entwickelt?!

Es war eben die Manifestation dieser Schwächen die ursprünglich die internationalen Institutionen dazu veranlasst haben, ihre Prognosen ab Ende 2022 nach unten zu korrigieren. Im Oktober senkte der IWF seine Prognose für das weltweite Wachstum im Jahr 2023 auf 2,7 %. Damit wäre dies das niedrigste Wachstum des 21. Jahrhunderts, abgesehen vom Pandemiejahr 2020 (-3 %), der Großen Rezession 2009 (-0,1 %) und der Dotcom-Rezession 2001 (2,5 %). Der IWF fügte hinzu, dass die Risiken bezüglich dieser Prognose ungewöhnlich groß und abwärts gerichtet seien.

Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) prognostizierte für 2023 einen Rückgang des globalen Wachstums auf 2,2 % und fügte hinzu, dass das reale Welt-BIP dann deutlich unter dem Trend von vor der Pandemie liegen würde, was einen Verlust von 17 Mrd. Dollar bedeuten würde und fast 20 % des jährlichen Welteinkommens entspricht. Die Welthandelsorganisation warnte, dass sich der Welthandel im Jahr 2023 unter der Last hoher Energiepreise, steigender Zinssätze und kriegsbedingter Störungen drastisch abschwächen werde. Sie senkte ihre globale Wachstumsprognose auf 2,3 % mit der Warnung, dass eine stärkere Verlangsamung zu erwarten sei, wenn die Zentralbanken in ihrem Bemühen, die hohe Inflation einzudämmen, die Zinssätze zu stark anheben.

Bis vor einem Jahrzehnt galt - unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums, der relativ höheren Wachstumszahlen in den sog. Entwicklungsländern und der Ersatzinvestitionen (dienen der Wiederherstellung dessen, was an Wert verloren gegangen ist, ohne dass die Produktionskapazität erweitert wird) ein globales Wachstum unter 2,5 - 3 % per Definition als globalen Rezession - heute scheinen nur noch einige der seriöseren Wirtschaftswissenschaftler*innen diese Definition zu verwenden. Andernfalls wären nicht einmal die schweren Abschwünge in den Jahren 1974-75 (0,6 % globales BIP-Wachstum im Jahr 1975) und 1981-82 (0,4 % globales BIP-Wachstum im Jahr 1982) als globale Rezessionen eingestuft worden.

Das Peterson-Institut hat einen niedrigeren Wert vorausgesagt und geht von 1,8 % globalem Wachstum für 2023 mit einer Rezession in der Eurozone, den USA, dem Vereinigten Königreich und Brasilien aus. Das Institute for International Finance (IIF) schätzt das globale Wachstum für 2023 auf 1,3 % und spricht von einer weiteren "Großen Rezession".

In der zweiten Woche des Jahres 2023 gab die Weltbank dann bekannt, dass die Risiken, vor denen sie vor sechs Monaten gewarnt hatte, eingetreten sind und dass ihr vorheriges Worst-Case-Szenario zu ihrem Basisszenario geworden ist, indem sie das weltweite Wachstum für 2023 auf 1,7 % gegenüber 2,9 % sechs Monate zuvor schätzt. Die Weltbank fügte hinzu, dass dies bedeuten würde, dass das Jahrzehnt das erste seit den 1930er Jahren wäre, das zwei globale Rezessionen erleben würde. Als Hauptursachen nannte die Weltbank die hohe Inflation, die hohen Zinssätze, den Rückgang der Investitionen und die durch den Einmarsch Russlands in der Ukraine verursachten Unruhen. Sie fügte hinzu, dass es "eine ganze Reihe von Risiken" gebe, und wies darauf hin, dass ein weiterer Anstieg der durchschnittlichen weltweiten Zinssätze um 1 %, die derzeit bei 5 % liegen, das weltweite Wachstum auf 0,6 % reduzieren würde, was einen Rückgang von 0,3 % pro Kopf der Bevölkerung bedeuten würde.

Die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen wird untergraben

Aber selbst wenn es den großen Volkswirtschaften auf der Grundlage der oben beschriebenen konjunkturellen Entwicklungen gelingen sollte, die Konjunktur weiter zu drosseln, um einen unmittelbaren wirtschaftlichen Einbruch hinauszuzögern, würde dies für Milliarden Menschen im globalen Süden nur wenig bringen und dennoch die Lebensgrundlage von Millionen Menschen in den "fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern" untergraben. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) war 2022 zum ersten Mal seit Beginn vergleichbarer Aufzeichnungen im Jahr 1999 das weltweite Reallohnwachstum negativ, da die Löhne nicht mit den steigenden Preisen mithalten konnten.

In den USA sanken die Reallöhne je Beschäftigten zwischen dem 3. Quartal 2021 und dem Vergleichsquartal 2022 um 2,2 %. In Deutschland (-4,3 %) und Spanien (-5,4 %) war der Rückgang noch größer. Selbst in Frankreich, wo aus Angst vor sozialen Explosionen frühzeitig Preisobergrenzen eingeführt wurden, und in Belgien, wo es den kapitalistischen Politiker*innen nicht gelang, den Widerstand gegen die vollständige Abschaffung Indexierung von Löhnen und Gehältern zu brechen, sanken die Reallöhne um 0,8 % bzw. 0,6 %. Seit dem Ende der Pandemie sind die Reallöhne in der Eurozone um 8 % gesunken.

Die Lohnquote, der Anteil der Arbeitseinkommen am Gesamteinkommen ging ebenfalls zurück, da 2022 die größte Lücke seit 1999 zwischen dem Wachstum der realen Arbeitsproduktivität und dem Reallohnwachstum zu verzeichnen war. Die Erosion der Reallöhne betrifft zwar alle Lohnabhängigen, wirkt sich aber stärker auf Haushalte mit niedrigem Einkommen aus, da diese einen höheren Anteil ihres verfügbaren Einkommens für lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen ausgeben - und deren Preise in den meisten Ländern schneller steigen als die Preise für nicht lebensnotwendige Güter.

Es ist allgemein bekannt, dass die Inflation die Ungleichheit erhöht, aber neuere Studien bestätigen auch, dass die Ungleichheit die Inflation aus mehreren Gründen tendenziell verschärft. Der wichtigste Grund ist, dass ärmere Haushalte es sich nicht leisten können, ihre Ausgaben zu streuen, da sie proportional stärker von lebensnotwendigen Gütern abhängig sind, und auch, weil sie im Verhältnis zum Gesamteinkommen mehr nominale Vermögenswerte (Bargeld, Bankguthaben und Schuldverschreibungen) besitzen als die Wohlhabenden (die einen Großteil ihrer Vermögen in Immobilien und längerfristigen Anlageformen haben, die weniger von Inflation betroffen sind, Anm.d.Ü).

Bislang ist das Wachstum der Löhne hinter jenem der Preise zurückgeblieben und hat somit die Inflation nicht angekurbelt, sondern gedämpft. Es gibt keine Lohn-Preis-Spirale, sondern im Gegenteil: es sind die Gewinne, die im Verhältnis zum Wert stark gestiegen sind. Wenn überhaupt, dann gibt es eine Gewinn-Preis-Spirale, und die Forderung nach höheren Löhnen ist nur eine Reaktion, um frühere Preissteigerungen zu kompensieren.

Entfesselte Ungleichheit

Im Gegensatz dazu hat der von Oxfam anlässlich des Weltwirtschaftsforums veröffentlichte Jahresbericht über Ungleichheit gezeigt, dass die 1 % Superreichen der Welt in den letzten zwei Jahren fast doppelt so viel neuen Reichtum (63 %) erworben haben wie die übrigen 99 % zusammen (37 %). Nur 10 % des neuen Reichtums ging an die ärmsten 90 %.

Nach Angaben der Credit Suisse wird das weltweite Privatvermögen bis Ende 2021 auf 463,6 Mrd. $ ansteigen. Das entspricht dem 4,5-fachen der weltweiten Produktion pro Jahr. 47,8 % davon befinden sich im Besitz der obersten 1,2 %, d. h. von 62,5 Mio. Menschen. Demgegenüber stehen 24 %, die auf die unteren 87 % entfallen. Oxfam weist auch darauf hin, dass für jeden einzelnen Dollar, der an Steuern eingenommen wird, nur 0,04 Dollar aus Vermögenssteuern stammen, während der Spitzensteuersatz für Einkommen von durchschnittlich 58% im Jahr 1980 auf derzeit 42% in den OECD-Ländern und 31% in 100 Ländern gesunken ist.
Oxfam hat errechnet, dass eine Vermögenssteuer von 5 % auf die Multimillionär*innen und Milliardär*innen der Welt jährlich 1,7 Milliarden Dollar einbringen könnte, genug, um 2 Milliarden Menschen aus der Armut zu befreien und einen globalen Plan zur Beendigung des Hungers zu finanzieren. Auch wenn die selbsternannten "Patriotischen Millionär*innen" während des WEF mit ihrer Forderung das sie besteuert werden sollten überproportionale viel Aufmerksamkeit in den Medien erlangten, würde eine tatsächliche Umsetzung massenhafte Kämpfe auf internationaler Ebene brauchen sowie eine Arbeiter*innenklasse, die eine Bedrohung, den Kapitalismus vollständig abzuschaffen, darstellt. Mit anderen Worten: Anstatt den Kampf auf eine bescheidene Verringerung der gigantischen Ungleichheit zu beschränken, muss der Kapitalismus, die eigentliche Ursache der Ungleichheit, ausgerottet werden.

Was treibt die Preise in die Höhe?

Im September 2022 errechnete der Europäische Gewerkschaftsbund, dass die durchschnittliche jährliche Energierechnung in den meisten EU-Mitgliedstaaten mehr als einen Monatslohn für Niedriglohnempfänger*innen ausmacht. In einigen Fällen waren es sogar mehr als zwei Monatsgehälter. In Belgien war der Warenkorb Ende 2022 um 18 % teurer als zu Beginn des Jahres. In den USA lag die Inflation für Wohnen bei 7 % mit steigender Tendenz, aber dieser Wert täuscht über die tatsächlichen Auswirkungen bezüglich Wohnens hinweg. Die durchschnittliche Hypothekenzahlung war im Oktober um 77 % höher als im Vorjahr. In den neokolonialen Ländern löste die Lebensmittel- und Energieknappheit nicht weniger als Katastrophen aus.

Es gibt viele Faktoren, die die Preise in die Höhe treiben. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine ließ die Lebensmittel- und Energiepreise in die Höhe schnellen. Zwischen 2020 und März 2022 stieg der Preisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) für Lebensmittel um 60 %, für Getreide um 70 % und für Pflanzenöle um 150 %. Die Preissteigerungen wurden zwar durch den Krieg verschärft, begannen aber schon vorher.

Sobald sich nach dem Höhepunkt der Pandemie die Volkswirtschaften wieder öffneten wurde die Unterbrechung der Lieferketten zu einem wichtigen Inflationstreiber. Ende 2021 erreichte der Index der Federal Reserve Bank of New York für den globalen Druck auf die Lieferketten 4,30 Punkte, nachdem er im Oktober desselben Jahres einen Tiefstand von 0,10 Punkten verzeichnet hatte. Dies wurde als vorübergehend bzw. nur von kurzer Dauer angesehen, als Ergebnis der pandemiebedingten Schließungen, die sich bald auflösen würden - aber es spielten viele andere Faktoren hinein, die die Inflation viel hartnäckiger machten als erwartet.
In den vergangenen Jahrzehnten der neoliberalen Globalisierung kam es zu einer starken globalen Integration der Produktion. Zwischen 1980 und 2002 hat sich der Welthandel mehr als verdreifacht, während sich die Weltproduktion verdoppelt hat. Die weltweiten ausländischen Direktinvestitionen (FDI) erreichten Ende der neunziger Jahre 1,4 Billionen Dollar, während es in den achtziger Jahren noch 5 Milliarden Dollar jährlich gewesen waren. Der globale Kapitalismus machte sich die kapitalistische Diktatur in China zunutze, die billige, gut ausgebildete Sklavenarbeit bot. Die Nutzung ausländischer Direktinvestitionen durch China hat sich zwischen 1983 und 2018 versechzigfacht. Asien wurde ab 2010 zum Kontinent mit der größten Volkswirtschaft und überholte in Bezug auf das BIP in Kaufkraftparität die Volkswirtschaften Europas und Nordamerikas zusammen.
In gewissem Sinne wurde der westliche Imperialismus Opfer jener Kräfte, die er freigesetzt hat, da die Kräfte der Globalisierung die relative wirtschaftliche Dominanz der USA und insbesondere Europas schmälerten. Die Große Rezession von 2008/9 war ein Wendepunkt. Von da an wurde China nicht mehr als gigantischer billiger Ausbeuterbetrieb für die Welt gesehen, sondern als wichtige Konkurrenz und als Bedrohung für die globale Vorherrschaft. Die Globalisierung erreichte ihren Höhepunkt. Der Welthandel wurde von einer treibenden Kraft zu einem Hemmschuh für die Wirtschaft. Der daraus resultierende Neue Kalte Krieg ist ein Versuch der alten Imperien, zurück zuschlagen. Ein Vertreter der USA machte deutlich: "Wir wollen eine neue Globalisierung, die für uns arbeitet".
Die globale Integration der Produktion setzt stabile internationale Beziehungen voraus, doch diese sind mit dem sich beschleunigenden Neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China, der durch den Krieg in der Ukraine noch verschärft wurde, verschwunden. Nichts deutet darauf hin, dass die Spannungen abnehmen werden, im Gegenteil. Wir befinden uns mitten in einem Wirtschaftskrieg um Halbleiter und Elektronikchips, mit zunehmenden Streitigkeiten darüber, wer Zugang zu den Ressourcen hat und sie wirtschaftlich, technologisch und militärisch dominiert, auf und unter der Erde, zu Wasser, in der Luft und im Weltraum.

US-Präsident Biden sprach im Oktober 2022 Klartext, als er dieses Jahrzehnt als das entscheidende bezeichnete. Die Herausforderung sei "nicht weniger als die Zerstörung der amerikanisch geprägten Weltordnung durch China", die "größere Bedrohung der Weltordnung". Russland stelle "das akute Problem" dar, beide würden sich zwangsläufig annähern.

Das bedeutet wirtschaftlichen Nationalismus, den Einsatz von Umwelt- und Sozialgesetzen zum Schutz der eigenen Interessen sowie klassischen Protektionismus durch Zölle; Re-, Near- und Friendshoring, Entkopplung und Endglobalisierung; Formen nationaler Industriepolitik durch selektive Investitionen. Diese haben nicht das Ausmaß von Roosevelts New Deal erreicht, da der wirtschaftliche Spielraum durch die bereits historisch hohe Verschuldung einfach zu begrenzt ist. Dennoch wird es mehr Elemente staatlicher Intervention geben, um die zunehmende Militarisierung zu finanzieren aber auch um Aufstände gegen das System zu bekämpfen.
Die Just-in-time-Produktion, die in den vergangenen Jahrzehnten so lukrativ war, weil sie Kosten und Preise senkte und Lagerbestände und Lagerkapazitäten auflöste, hat sich in ihr dialektisches Gegenteil verkehrt. Von einem Faktor, der den Welthandel ankurbelte, hat sie sich in einen Faktor verwandelt, der Unterbrechungen in den Lieferketten verschärft und die Produktionskosten und Preise in die Höhe treibt. Die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage wurde zum Haupttreiber der Inflation. Wenn dieser Zustand nicht beseitigt wird, könnte es in einer Periode der Stagflation enden, d. h. einer wirtschaftlichen Stagnation oder Schrumpfung in Verbindung mit einer hohen Inflation.

Der Kampf gegen die Inflation wird neu aufgerollt

Es war dieses Schreckgespenst, das die US-Notenbank (Fed) und andere Zentralbanken davon überzeugte, von einer lockeren Politik des billigen Geldes und der quantitativen Lockerung ("Quantitative Easing") auf eine quantitative Straffung umzustellen ("Quantitative Tightening" - geldpolitisches Instrument der Zentralbanken um die Geldmenge zu verringern, Anm.d.Ü.). Dies geschah schnell und drastisch, in historischem Tempo, und sollte die Nachfrage der Haushalte und Unternehmen senken, um sie mit dem Angebot in Einklang zu bringen. Dieser Ansatz erschwert allerdings die Rückzahlung von Schulden für Staaten, Unternehmen und Verbraucher*innen gleichermaßen. Er wird eine Flucht der Finanzinvestor*innen in sichere Märkte auslösen und damit unweigerlich auch die Angebotsseite treffen. Die Inflation wird zwar zurückgehen, aber nur, um durch höhere Arbeitslosigkeit und Insolvenzen ersetzt zu werden.

Dieser Ansatz erinnert an die stark ideologisch geprägte Schocktherapie, die der ehemalige Vorsitzende der Federal Reserve Bank, Paul Volcker, in den frühen 1980er Jahren anwandte. Er erhöhte die Zinssätze auf 20 %, was nach Abzug der Inflation bedeutete, dass die Realzinsen von negativ auf 5 % stiegen. Innerhalb von drei Jahren ging die Inflation von 13 auf 3 % zurück, aber die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich auf über 10 %. In Lateinamerika löste dies das "verlorene Jahrzehnt" aus. Auf die Frage, ob seine Politik funktionieren würde, antwortete Volcker damals: "Ja, durch Bankrotte".

Aber selbst das ist fraglich. Mindestens ebenso wichtig war die Niederlage, die der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1981 den Fluglots*innen und damit der gesamten Arbeiter*innenbewegung zufügte. Außerdem sank während Reagans Präsidentschaft die Staatsverschuldung nicht, sondern verdreifachte sich fast von 738 Milliarden auf 2,1 Billionen Dollar. Die USA, die bis dahin der größte internationale Gläubiger der Welt gewesen waren, wurden zur größten Schuldnernation.

Aus diesem Grund stellten die Vorläufer*innen der ISA in ironischer Art Reagans monetaristische Darstellung in Frage und nannten ihn einen negativen Keynesianer. Keynesianisch, weil er eine Politik der Staatsausgaben betrieb, aber negativ, weil er nicht für Dienstleistungen, Löhne oder Zuschüsse ausgab, sondern zur Subvention von Unternehmen, insbesondere für das Wettrüsten, und für Steuersenkungen für die Reichen. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher verfolgte eine eher klassisch monetaristische Politik, die zum völligen Ruin der industriellen Basis des Vereinigten Königreichs führte.

Marx und die Inflation

Marx hat nie eine umfassende Inflationstheorie veröffentlicht, aber er teilte nicht die monetaristische Ansicht, dass die Geldmenge die Preise bestimmt. Er vertrat stattdessen die Ansicht, dass die Preise die Geldmenge bestimmen, da die Preise den Arbeitsaufwand für die Produktion von Waren und Dienstleistungen darstellen. Wenn Investitionen in die reale Produktion die Menge der im Umlauf befindlichen Waren und Dienstleistungen erhöhen, muss die Geldmenge dem folgen, und zwar auf einem etwas höheren Niveau, um den Markt geschmeidig zu halten.
Die Illusion, dass es einfach durch das Drucken von Geld automatisch zu einer gleichwertigen Investitionen kommt, um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen anzukurbeln - was der heilige Gral der modernen Geldtheorie ist - wird nachweislich von der Realität überholt. Wie zu erwarten, entwertet dies nur die Menge an Arbeit, die das Geld repräsentiert, was wir Inflation nennen.
Die billige Geldschöpfung läuft seit der Großen Rezession von 2008/9. Damals wurden die Realzinsen auf null oder negativ gesenkt und die Fed und alle anderen großen Zentralbanken haben mit Hilfe der Quantitativen Lockerung die ausstehenden Schulden monetarisiert. Der einzige Grund, warum dies damals keine Inflation auslöste, ist, dass der Großteil dieses zusätzlichen Geldes in die Aktienmärkte floss, wo es zu einer Inflation der Vermögenswerte führte.
Wenn dieses zusätzliche Geld jedoch seinen Weg in die Realwirtschaft findet, führt sein Multiplikatoreffekt - die Tatsache, dass das Geld den Kreislauf nie wirklich verlässt, es sei denn, es wird gehortet, und von Tasche zu Tasche spring - zu einer raschen Überhitzung der Wirtschaft, die sich in einer galoppierenden und in einigen Fällen in einer Hyperinflation äußert.
Marx lehnte auch die klassische keynesianische These ab, dass die Inflation von den Löhnen angetrieben würde, und wies darauf hin, dass der Kampf um Lohnerhöhungen nur aus früheren Veränderungen der Preise, der Produktivität usw. resultiere. Er sah die Wirtschaft als ein viel komplexeres Zusammenspiel widersprüchlicher Kräfte.
Heute wirken viele Faktoren zusammen, die die Inflation nähren, vom Neuen Kalten Krieg und dem daraus resultierenden Prozess der Deglobalisierung und Entkopplung bis hin zu demografischen Verschiebungen, Klimakatastrophen, dem neuen Rüstungswettlauf, dem historischen Ausmaß an Ungleichheit zwischen und innerhalb von Nationalstaaten, der Schuldenlast, der Finanzspekulation, der Konzentration von Reichtum in wenigen Händen und vor allem der Überakkumulation (Anhäufung, Anm.d.Ü.) von Kapital, die zu einem tendenziellen Rückgang des pro Einheit investierten Kapitals erzielten Gewinns (der Profitrate) und einem historisch niedrigen Niveau der Investitionen in die reale Produktion führt.
Die Tatsache, dass sowohl die neoliberale Austerität als auch die Geldschöpfung nur neue Probleme verursachen, macht um so deutlicher, wie die gesellschaftliche Entwicklung in Konflikt mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln und den Beschränkungen durch die eigentlich längst überholten Nationalstaaten gerät.

Eine langwierige, harte Landung ist möglicherweise verschoben, aber fixer Bestandteil der Situation

Die quantitative Straffung hat sicherlich dazu beigetragen, die Inflationsrate in den USA zu senken, die eindeutig ihren Höhepunkt erreicht hat und nun zurückgeht. Im Dezember lag sie im Jahresvergleich bei 6,4 % und damit unter dem Höchststand von 9 % im Sommer. Aber es gibt auch andere Faktoren, die dazu beigetragen haben. Die Lebensmittel- und Energiepreise haben sich am stärksten verlangsamt, letztere, weil ein ungewöhnlich warmer Winter in den USA und Europa die Nachfrage nach Erdgas verringert hat. Allein im letzten Monat fielen die Gaspreise um über 50 %, und die Energieerzeuger diskutieren bereits über eine Einschränkung der Produktion, um die Preise nach oben zu treiben.

Die Kerninflation, bei der die Lebensmittel- und Energiepreise nicht berücksichtigt werden, erreichte ebenfalls einen Höchststand, wenn auch nicht im selben Ausmaß, zumal die Wohnungskosten weiter steigen, während die Preise für andere Dienstleistungen nur mäßig sanken. Auch der Angebotsschock für die Preise blieb zwar bestehen, ging aber, wie erwartet ab einem bestimmten Zeitpunkt zurück. Im Dezember 2022 war der Index für den weltweiten Druck auf die Versorgungskette der New Yorker Fed auf 1,18 Punkte gesunken - immer noch viel höher ist als zu irgendeinem Zeitpunkt vor der Pandemie, aber viel weniger als noch im Jahr zuvor. Schließlich wird die Inflation auch deshalb zurückgehen, weil sich das Wachstum in den großen Volkswirtschaften verlangsamt.

Bedeutet das, dass alle Probleme überwunden sind, die Inflation gebändigt ist und ein e Krise vermieden wurde, auch wenn das Wachstum im historischen Vergleich niedrig sein mag?

Die Anzeichen dafür, dass die großen Volkswirtschaften in der ersten Hälfte dieses Jahres nur knapp einem unmittelbaren Einbruch und möglicherweise einer Rezession entgehen könnten, haben in den letzten Wochen sicherlich zugenommen. Allerdings gibt es immer noch mindestens ebenso viele große Gefahren die das fragile Gleichgewicht in die andere Richtung kippen könnten. Nouriel Roubini, alias Dr. Doom (Dr. Unheil, Anm.d.Ü), räumt zwar ein, dass "die Mutter aller Stagflationskrisen" aufgeschoben sein könnte - aber eben nicht vermieden werden und weißt systematisch auf die seit Jahrzehnten anhaltende Explosion von Defiziten, Kreditaufnahme und Verschuldung hin.

Die globale private und öffentliche Verschuldung im Verhältnis zum weltweiten BIP ist von 200 % im Jahr 1999 auf 350 % im Jahr 2021 gestiegen und liegt jetzt bei 420 % in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und 330 % in China. In den USA ist sie höher als während der Großen Depression. Das betrifft jeden. Jahrzehntelang wurde den Haushalten gesagt, sie sollten auf Kredit leben und quasi ihr künftiges Einkommen ausgeben, die Unternehmenssteuern und die Steuern für hohe Einkommen wurden gesenkt, während die Ausgaben stiegen, und Schulden wurden durch eine ultralockere Geldmengenpolitik dem Eigenkapital vorgezogen. Allein im letzten Jahrzehnt stieg die weltweite Verschuldung um 90 Mrd. US-Dollar, während das weltweite BIP nur um 20 Mrd. US-Dollar wuchs.

Als Reaktion auf die Pandemiekrise 2020 pumpten die Zentralbanken um einen Finanzcrash zu verhindern Billionen von Dollar in die Wirtschaft - neunmal so viel wie während der Großen Rezession 2008/9. Darüber hinaus erhöhten die Regierungen die öffentlichen Ausgaben, um den Zusammenbruch des Systems zu verhindern und um die Auswirkungen abzufedern um so soziale Explosionen zu vermeiden. In diesem Jahr stieg die weltweite Verschuldung um 29 %, der größte Anstieg in einem Jahr seit dem Zweiten Weltkrieg.

Das bedeutet, dass viele Kreditnehmer - Haushalte, Unternehmen, Banken, Schattenbanken, Regierungen und ganze Staaten - zu Zombies wurden, die durch Null- oder Negativzins-Politik, quantitative Lockerung und fiskalische Rettungsmaßnahmen am Leben erhalten wurden. Im Zuge der quantitativen Straffung werden sie nun mit stark steigenden Kreditkosten, sinkenden Erträgen und sinkenden Vermögenswerten konfrontiert sein - und das alles gleichzeitig.

Während der Großen Rezession von 2008/9 konnten die G20 Staaten mit einer untereinander abgestimmten Politik gegensteuern, aber nun mit zunehmenden globalen Spannungen ist das nicht mehr möglich. Damals hat China ein umfangreiches Konjunkturprogramm eingeleitet, doch jetzt bricht das staatskapitalistische Modell in China wie die aktuelle Immobilienkrise zeigt. Auch wenn das Ende der Nullzinspolitik einen gewissen Aufschwung der Wirtschaft bedeutet, stellt sich doch die Frage, wann das Ausgabenfüllhorn versiegt und ob dies nicht dazu führen wird, dass China bezüglich Inflation dem weltweiten folgt, wenn auch mit Verzögerung. Dazu kommt noch, das China selbst ein große Schuldnernation geworden ist.

Private und öffentliche Schuldner*innen einfach "zu retten" wie es in einer Reihe von Fällen erfolgt ist, wird mit der Zeit die Inflation weiter anheizen. Eine harte Landung, eine tiefe, lang anhaltende Rezession, in der sich Wirtschaftskrise und Finanzcrash gegenseitig verstärken, ist immer noch eine sehr reale Gefahr.

Auf Kosten eines "systemischen Risikos"

Dass dies noch nicht geschehen ist, liegt zum Teil daran, dass die Inflation die "reale" Belastung durch die Kreditkosten gesenkt hat. Es liegt auch daran, dass trotz steigender Kosten für die Kreditaufnahme und den Schuldendienst im Jahr 2022 ein enormer Kreditboom stattfand, mit einem Anstieg der US-Bankkredite um 1,5 Billionen Dollar.

Neben den Bankkrediten kam es auch zu einer massiven Zunahme von Krediten "niedriger Qualität". Die Gesamtverschuldung von US-Unternehmen außerhalb des Finanzsektors beläuft sich auf 12,7 Billionen US-Dollar, wobei der Anteil der minderwertigen Kredite 40 % des Gesamtvolumens erreicht. Finanzinstitute außerhalb des Bankensektors wie Hedge-Fonds und Private-Equity-Firmen machen inzwischen einen sehr großen Teil der Aktivitäten des Finanzsektors aus und stellen "ein systemisches Risiko für die Finanzstabilität" dar.

Dies hängt zwar auch mit der Flucht in sichere Anlagen, hier konkret in den US-Dollar, zusammen, sollte aber nicht als Zeichen des Vertrauens in die US-Wirtschaft gewertet werden. Die Tatsache, dass die Renditekurve der US-Staatsanleihen seit über einem Jahr tief invertiert ist (also einen untypischen Verlauf hat, Anm.d.Ü), dass die Rendite zehnjähriger Anleihen unter den kurzfristigen Zinssätze (3 Monate oder 1 Jahr) liegt, verdeutlicht den Mangel an Vertrauen. Eine invertierte Renditekurve gilt als guter Indikator für einen bevorstehenden Konjunktureinbruch. Allen der letzten acht Rezessionen ging eine ebensolche Umkehrung der Renditekurve voraus.

Dies wurde auch dadurch begünstigt, dass die Unternehmensgewinne, die bis 2019 nicht mehr gestiegen und dann während des Pandemieeinbruchs um 15 % eingebrochen waren, sich bis 2021 auf 40 % erholten. Die Gewinnmargen der US-Unternehmen außerhalb des Finanzsektors erreichten Höchststände wie seit Jahrzehnten nicht mehr, da die Gelegenheit genutzt wurde, die Preise zu erhöhen, während die Löhne hinterherhinkten. Infolgedessen konnten die US-Unternehmen ihre Schulden problemlos bedienen. Bis zum 3. Quartal 2022 verlangsamte sich das Gewinnwachstum jedoch auf 3,4 % und es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzt.

Die Aktienkurse von führenden Technologieunternehmen wie Tesla und Meta sind bereits stark gefallen. Insgesamt hat der Technologiesektor über 200.000 Arbeitsplätze abgebaut. Die Verknappung der Kredite hat ernsthafte Zweifel am Schneeballsystem der Kryptowährungen aufkommen lassen. Zu Beginn des Jahres hatte die Marktkapitalisierung von Kryptowährungen 70 % ihres Höchststands vom November 2021 verloren. Dies könnte sich zwar teilweise auf einem niedrigeren Niveau wieder einpendeln, da ein Einbruch weniger unmittelbar bevor zustehen scheint, doch ist dies nur ein Auswuchs der Spekulation, die in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs produktive Investitionen ersetzt. Damit der Kryptomarkt die Dynamik der vergangenen Jahre wiedererlangt, wäre eine wesentlich robustere Wachstumsphase erforderlich, die vorerst ausgeschlossen ist.

Wenn die Zentralbanken in den nächsten Monaten ihre straffe Geldpolitik fortsetzen, könnte es für Unternehmen zunehmend schwieriger werden, ihre Schulden zu bedienen, was wiederum zu Insolvenzen führen könnte. Allgemeiner ausgedrückt: Wenn die Rentabilität weiter sinkt und zu einem Rückgang der Gesamtgewinne führt, folgen die Investitionen und die Beschäftigung. Dies ist der stärkste Indikator für einen bevorstehenden Konjunktureinbruch. Tim Gramatovich, langjähriger Investmentchef bei Gateway Credit, hat die Märkte diesbezüglich eindringlich gewarnt. Während die Aktienkurse normalerweise als gesund gelten, wenn sie zum 18- bis 20-fachen des Gewinns gehandelt werden, schätzt er, dass sie heute eher zum 10-fachen des Gewinns gehandelt werden sollten.

Die Straffung der Geldpolitik durch die Zentralbanken der G7-Staaten ähnelt in Tempo und Ausmaß mehr derjenigen in den 1970er und frühen 1980er Jahren als jede andere seither. Das könnte eine neue Euro-Krise auslösen, beginnend mit Italien, dem schwächsten Glied. Die rechtsextreme Ministerpräsidentin Meloni war bereits gezwungen, ihre euroskeptische Rhetorik aufzugeben, und zu versprechen, Draghis Politik fortzusetzen. Darüber haben wir eine besonders starke Aufwertung des US-Dollars gesehen was allerdings kein Indikator für wirtschaftliche Gesundheit ist, sondern Ausdruck eines extremen Pessimismus auf den internationalen Geldmärkten, da die Anleger*innen den "am wenigsten schlechten Standort" suchen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die USA nach wie vor von der Dominanz des Dollars bei internationalen Transaktionen, Währungsreserven und internationalen Krediten profitieren.

In Ländern, in denen die Einkommen der arbeitenden Bevölkerung und die Einnahmen aus Unternehmen und Steuern in der eigenen Währung laufen, während die Ausgaben für Waren und Dienstleistungen aus den USA oder die Rückzahlung von Krediten steigen, hat dies verheerende Auswirkungen. Sri Lanka, Sambia und Ghana sind bereits mit ihren Schulden in Verzug geraten, Ägypten und Pakistan stehen am Rande des Abgrunds. Die UNO schätzt, dass die Zinserhöhungen in den USA im Jahr 2022 den so genannten Entwicklungsländern - mit Ausnahme Chinas - künftige Einkommen in Höhe von 360 Milliarden US-Dollar entziehen.

Nach Angaben des IWF sind etwa 15 % der Länder mit niedrigem Einkommen bereits zahlungsunfähig und für weitere 45 % besteht ein hohes Risiko dafür. Von den Schwellenländern sind 25 % stark gefährdet und sehen sich mit ausfallähnlichen Kreditspreads konfrontiert. Nach Angaben der Weltbank werden die ärmsten Länder der Welt in diesem Jahr voraussichtlich 35 % mehr an Zinsen für ihre Schulden zahlen müssen, um die zusätzlichen Kosten abzudecken die im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie und dem dramatischen Anstieg der Preise für Lebensmittelimporte entstanden sind. Die Zahl der Menschen, die in Ländern mit niedrigem Einkommen unter Ernährungsunsicherheit leiden, stieg von 56 Millionen im Jahr 2019 auf 105 Millionen im Jahr 2022.

Auch wenn es noch ein weiter Weg bis dahin ist, aber die dominante Stellung des US-Dollars wird zunehmend durch den chinesischen Yuan in Frage gestellt. Seit mehr als sechs Jahren, als die Beziehungen zu den USA komplizierter wurden, gab es immer wieder Gespräche zwischen Saudi-Arabien und China, die im letzten Jahr an Fahrt aufgenommen haben, über Ölverträge in Yuan. Dies wird durch die Schwäche der chinesischen und auch der russischen Wirtschaft untergraben. Russland handelt sein Ural-Rohöl mit einem Abschlag von 30 bis 40 % gegenüber dem Brent-Rohöl, was in diesem Jahr einen Verlust von 150 Mrd. US-Dollar bedeutet. Dadurch könnte sich sein Haushaltsdefizit von 2,3 % des BIP im letzten Jahr auf 7 % in diesem Jahr erhöhen. Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da die erwarteten Auswirkungen der westlichen Sanktionen, auch wenn sie spürbar sind, bisher nicht annähernd die Erwartungen und Prognosen erfüllt haben.

Die größte Bedrohung für die Vorherrschaft des US-Dollars kommt derzeit eher aus der Innenpolitik, nämlich dem Scheitern des Kongresses, eine Einigung über die Anhebung der gesetzlichen Schuldenobergrenze zu erzielen. Ein technischer Zahlungsausfall der USA würde die Position des Dollars ernsthaft schädigen. Insofern erlangt die Krise des politischen Regimes in den USA Bedeutung für die ganze Weltwirtschaft.

Schlussfolgerung

Während wir nicht ausschließen können, dass aufgrund konjunktureller Entwicklungen, die hauptsächlich die Folgen staatlicher Intervention sind, zumindest in der westlichen kapitalistischen Welt und in China, die drohende Entwicklung noch hinausgezögert werden kann ist es doch klar, dass alle strukturellen Entwicklungen in Richtung eines tiefen und lang anhaltenden globalen Einbruchs weisen. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die strukturellen Schwächen abhängig von kommenden Ereignisse diese konjunkturellen Faktoren noch überlagern und zunichte machen können. Selbst wenn das chinesische Wachstum stärker ausfallen sollte als erwartet, würde dies vom Rest der Welt nicht als positiv empfunden werden, sondern würde vielmehr den Inflationsdruck und die Treibhausgasemissionen erhöhen und zu einem noch heißeren Kalten Krieg führen.

Die Kapitalist*innen auf beiden Seiten des Neuen Kalten Krieges stehen diesen katastrophalen Aussichten mit ihren Institutionen, politische und andere, gegenüber, die zunehmend an Rückhalt verlieren, gespalten sind und denen es an Autorität fehlt. Dies führt zu einer politischen und sozialen Polarisierung, sowohl nach links als auch nach rechts. Dort, wo die kapitalistischen Staaten noch über einige Mittel verfügen, um die Auswirkungen der Krise abzufedern, werden sie dies auch tun, aber selbst dort wird dies von jenen Flügeln in Frage gestellt werden, die für eine repressivere und härtere, arbeiter*innenfeindliche Politik stehen, die sich einer Politik von "Teile und Herrsche" bedient. Der Klassenkampf wird härter und brutaler werden, und es wird kein wirklicher Raum für Reformen bleiben, und wo es sie gibt, werden sie vorübergehend und nur nach heftigen Kämpfen möglich sein. Linke und rechte Kräfte werden in einem viel schnelleren Rhythmus als in den vergangenen Jahrzehnten ausgetestet werden.

Wir haben bereits explosive Proteste erlebt, oft Rund um Fragen von Unterdrückung, aber auch, und das in zunehmendem Maße, wegen wirtschaftlicher Fragen, insbesondere wegen der Krise der Lebenshaltungskosten. Kämpfe um Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitsdruck werden sich mit Kämpfen um demokratische Rechte und Widerstand gegen Unterdrückung vermischen und diese beleben. Dies sind die objektiven Bedingungen, die dazu führen, dass die Arbeiter*innenklasse wieder in den Vordergrund tritt, wie es heute in Frankreich, dem Vereinigten Königreich und bis zu einem gewissen Grad auch in den USA geschieht. Vom Standpunkt der Arbeiter*innenklasse aus gesehen würde es uns Zeit geben, uns zu organisieren und vorzubereiten, wenn die Kapitalist*innen eine größere, lang anhaltende Krise noch hinausschieben können. Dies wäre objektiv besser und würde mehr Selbstvertrauen für den Kampf geben, während eine sofortige Krise zumindest für eine gewisse Zeit eine lähmende Wirkung haben könnte, obwohl selbst das wahrscheinlich von kürzerer Dauer wäre als bei der Großen Rezession von 2008/9.

USA: Linke Demokrat*innen versagen

Brettos

Als Reaktion auf die Wahl des rassistischen und sexistischen Trump 2016 gab es eine Welle der Opposition. Dies führte zum Wachsen der “Democratic Socialists of America (DSA)”, der derzeit größten sozialistischen Organisation in den USA, und 2018 zur Wahl von fünf linken Demokrat*innen, die als "the Squad" bekannt sind, in den Kongress. Was ist seither passiert?

“The Squad” und andere von der DSA unterstützte Kandidat*innen konnten 2018-20 breite Unterstützung für die Forderungen nach Anhebung des Mindestlohns, Medicare for All, etc. aufbauen. Allerdings argumentierten sie, dass sie für die Demokratische Partei kandidieren mussten, weil das Wahlsystem stark auf die beiden großen Parteien ausgerichtet ist. Die Sozialistische Alternative (ISA in den USA) warnte sie, dass sie dadurch von der pro-kapitalistischen Parteistruktur abhängig sind und ihre Anhänger*innen verraten würden.

Anstatt die Demokratische Partei von innen heraus nach links zu drängen (das erklärte Ziel), wurden sie selbst nach rechts gedrückt. 2 Jahre lang, als die Demokraten beide Kammern und den Vorsitz innehatten, weigerte sich die Gruppe, eine Abstimmung über "Medicare for All" oder einen Mindestlohn von 15 US-Dollar zu erzwingen. Kürzlich stimmten vier von ihnen mit dem Parteiestablishment, um einen Streik der Eisenbahner*innen zu verhindern!

Dies ist die unvermeidliche Schlussfolgerung der Logik des "kleineren Übels": Sie wollten ihre "Freunde" in der Demokratischen Partei nicht in Verlegenheit bringen und argumentierten (fälschlicherweise), dass sie nur dann große Reformen gewinnen könnten, wenn sie der Partei treu blieben. In der Praxis hat ihre linke Rhetorik zwar dem demokratischen Establishment geholfen, ohne dass sie selbst eines ihrer Ziele erreicht hätten.

Dies hat die vielen Millionen Menschen, die durch ihre Wahlen und die Kampagnen von Bernie Sanders inspiriert wurden, enttäuscht. Diese Taktik lenkt Sozialist*innen und Arbeiter*innen vom Kampf für Veränderung ab. Sie treibt Aktivist*innen in die Sackgasse der Demokratischen Partei, anstatt eine neue politische Kraft aufzubauen, die das Zweiparteiensystem und den Kapitalismus herausfordern kann.

 

Woher kann eine Arbeiter*innenpartei kommen?

Keine der beiden großen Parteien in den USA vertritt die Interessen der Arbeiter*innenklasse. Es wäre zwar schön, die Demokraten einfach in eine linke Partei zu verwandeln (das Ziel von "The Squad" und DSA), aber Konzerninteressen und kapitalistische Ideologie verhindern das.

Der Weg zum Aufbau einer Arbeiter*innen-Partei führt über Massenbewegungen und v.a. wirtschaftliche Kämpfe (d.h. Klassenkampf). 2018/19 brach in den USA eine Welle von Streiks und Kämpfen aus, u.a. von Lehrer*innen und Telekommunikationsarbeiter*innen, die jedoch durch Corona kurz unterbrochen wurde - gefolgt vom “Streiktober” 2020. Wir erleben eine neue kämpferische Welle und die Streiks 2021 mündeten in massive Organisierungskampagnen bei u.a. Amazon und Starbuck's.

Die Arbeiter*innen (v.a. die jungen) sind bereit zu kämpfen und sehen Kapitalismus und die Demokratische Partei zunehmend als Hindernisse für eine gute Zukunft. Die ISA in den USA ruft die verschiedenen Gewerkschaften und Beschäftigten, die bewiesen haben, dass sie bereit sind zu kämpfen, dazu auf, sich in einer politischen Organisation zusammenzuschließen. Sie könnten unabhängige Kandidat*innen aufstellen, v.a. bei Kommunalwahlen, und zwar auf der Grundlage eines klaren Programms der Arbeiter*innenklasse, das mit anderen Kämpfen gegen Sexismus, Rassismus und für die Umwelt verknüpft ist. Das würde bedeuten, dass sie sich den Demokraten und der Gewerkschaftsbürokratie entgegenstellen, die Hinterzimmerverhandlungen dem Klassenkampf vorziehen. Das wäre nicht einfach, aber das Leben im Kapitalismus ist schwieriger.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Irland: Kampf um Visa im Fischfang

Stefan Brandl

Das Justizministerium in Irland hat zu Jahresanfang allen außereuropäischen Fischer*innen (“Wanderfischer*innen”) vollen Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt: Das Ergebnis eines langen Kampfes gegen strukturelle und rassistische Benachteiligung.

Über Jahre hinweg haben Firmen Nichteuropäer*innen mit Transitvisa und mieser Bezahlung angestellt. Das Visum musste jährlich erneuert werden, wobei die Fischer*innen vollständig auf die Schiffsbesitzer*innen angewiesen waren; in erpresserischen Verhältnissen konnten die Unternehmen die Fischer*innen 20-Stunden Wochen am Papier beschäftigen, bis zu 40h zum Arbeiten zwingen, davon 20h bezahlen oder die Arbeitsverträge nicht verlängern.

Vor kurzem wurde Michael O’Brien, langjähriges Mitglied der Socialist Party (ISA in Irland), die zentrale Ansprechperson für die Fischerei Kampagne der ITF (Internationale Transportarbeiter*innen Föderation) in Irland. O’Brien hat als ersten Schritt eine Studie über die Arbeitsbedingungen von nicht-EWR-Arbeiter*innen in Auftrag gegeben, um Öffentlichkeit zu schaffen. Einige Wanderfischer*innen haben sich selbst individuell und kollektiv für Verbesserungen eingesetzt, z.B. bei einer gemeinsamen Protestaktion mit O’Brien und dem ITF vor dem irischen Parlament im Mai. Die wichtigsten Forderungen waren: Abschaffung der atypischen Arbeitsverhältnisse, Visa für alle Fischer*innen und ein Ende der Ausbeutung von migrantischen Fischer*innen, insbesondere, um jede Form der Spaltung oder Lohndrücken zwischen irischen und ausländischen Beschäftigten zu verhindern.

Bereits 2005 griff Joe Higgins, ebenfalls Socialist Party Mitglied und damals im Parlament, die ausbeuterische Situation von türkischen Beschäftigten in der Baufirma GAMA auf. Auch damals wurde den Arbeiter*innen nur ein Bruchteil des Lohnes bezahlt, illegale Überstunden waren weit verbreitet. Erst nach Kampagne und Streik wurden alle ausstehenden Gehälter bezahlt.

Das zeigt, dass eine Kombination aus kämpferischer Kampagne, selbst von den am meisten ausgebeuteten Arbeiter*innen, einer hartnäckigen Gewerkschaft plus einer Solidaritätskampagne erfolgreich sein werden. Ihr Sieg hat eine Leuchtturmfunktion für zehntausende Arbeiter*innen in anderen Sektoren wie der Fleischverarbeitung, der Landwirtschaft und der Altenpflege.

socialistparty.ie

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Lula da Silva: Das kleinere Übel

Nico Rastelli

“Bolsonaro muss gehen”, hört man am Wahltag auf Brasiliens Straßen. Als Lulas Wahlsieg bekannt wird, brechen die Massen in Freudenschreie aus. Ihre Freude gilt aber nicht dem zukünftigen Präsidenten – die meisten feiern nicht den Beginn der Lula-Präsidentschaft, sondern das Ende der Bolsonaro-Zeit. Lula ist kein gefeierter Held, sondern schlicht und einfach das kleinere Übel.

Bolsonaros Amtszeit war geprägt von der beschleunigten Zerstörung der Regenwälder, Angriffen auf verschiedenste Rechte, neoliberaler Politik, einem katastrophalen Umgang mit der Covid-Pandemie, Armut und Hunger: 29% der Bevölkerung kann sich nicht genügend ernähren. Jedoch ist Lula keine wirkliche Alternative – um sich dem brasilianischen Kapital anzubiedern, verbündet er sich mit Rechten, um Bolsonaro-Wähler*innen anzusprechen, äußert er sich gegen Abtreibungsrechte. Seine Geschichte zeigt, wohin es führt, wenn Linke innerhalb der kapitalistischen Logik und mit den Institutionen des bürgerlichen Staates agieren, anstatt auf Widerstand und Organisierung von unten zu bauen, um echte große Veränderungen anzustreben.

Während Brasiliens Militärdiktatur (1964-85) war Lula im Widerstand tätig und wurde Teil der Arbeitspartei, die ihn 2003 als Präsidentschaftskandidat aufstellte. Zu seiner Amtszeit führte er einige Sozialreformen ein, die sich positiv auswirkten. 2008 verschärfte sich jedoch die wirtschaftliche Lage: Durch die Krise wurde es unmöglich, Reformen für die arme und arbeitende Bevölkerung zu machen, ohne die Besitzverhältnisse in Frage zu stellen. So mussten statt den Reichen die Arbeiter*innen und Armen den Preis für die Krise zahlen. Dazu kamen zahlreiche Korruptionsskandale. Auch heute steht Brasilien vor einer wirtschaftlichen Katastrophe, deren Kommen durch Covid, den Ukrainekrieg und reaktionäre Angriffe auf die arbeitende Klasse nur beschleunigt wurde.

Nun ist es an Lula, mit der Krise umzugehen. Er hat schon deutlich gemacht, dass er den Interessen des brasilianischen Kapitals treu bleibt, wird also kaum was von Bolsonaros Verschlechterungen zurücknehmen und hat kaum Raum für echte Verbesserungen. Deshalb ist eine unabhängige Massenbewegung der Arbeiter*innen nötig, um ihn dazu zu zwingen, gegen Armut, Hunger, Imperialismus, Femizide, Diskriminierung und Zerstörung der Umwelt vorzugehen.

Der Kampf gegen Bolsonarismus

Bolsonaro wurde in dieser Wahl knapp besiegt. Doch er und seine Anhänger*innen weigern sich, das Ergebnis anzuerkennen, manche hoffen auf einen Militärputsch. Trotz Lulas Sieg hat Bolsonaro sich eine große Basis an Unterstützern aufgebaut. Die teilweise rechtsextreme und gewalttätige Gefolgschaft von Bolsonaro ist eine ernste Gefahr. Wie die brasilianische Sektion der ISA (LSR - Liberdade, Socialismo e Revolução) anlässlich rechter Strassenblockaden schreibt, wäre es falsch, sich hier nur auf den bürgerlichen Staats zu verlassen: „alle sozialen Bewegungen [und] Gewerkschaften (…) sollten zu Mobilisierung aufrufen, um Stärke zu demonstrieren, die Freigabe der Straßen zu fordern und die Amtseinführung des neuen Präsidenten zu garantieren“. LSR betont auch die Notwendigkeit einer unabhängigen Partei der Arbeiter*innenklasse, die ihre Wurzeln in den aktuellen Kämpfen mit einem sozialistischen Programm verbindet. 

Genau das kann auch Lula dazu zwingen, seine Wahlversprechen einzuhalten, anstatt Politik für die Reichen zu machen. Doch an diesem Punkt bedeuten alle großen Zugeständnisse für ihn zwangsläufig einen Konflikt mit Kapital oder Imperialismus. Eine breite Arbeiter*innenbewegung wäre nicht nur in der Lage, Rechtsextremismus zu bekämpfen, sondern Lula tatsächlich voranzutreiben und gegen Femizide, für kostenlose und sichere Abtreibungen, für Klimasicherheit und Schutz der indigenen Bevölkerung sowie für riesige Investitionen in den Sozialsektor und Sozialwohnungen zu kämpfen, die dringend benötigt werden.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Iran: Wie bauen wir Solidarität auf?

Kimi

Seit September 2022 protestieren die Menschen im ganzen Iran gegen das mörderische Regime. Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder, queere Personen und Kurd*innen gehen gemeinsam auf die Straße und trotzen der Gewalt der Sicherheitskräfte. In Kurdistan schließen sich die Menschen Selbstverteidigungskomitees an. Seitdem haben sich auch immer wieder die Streiks z.B. in der Stahlindustrie, im Bildungsbereich und im Öffentlichen Dienst ausgeweitet. Das zeigt die Möglichkeit eines Generalstreiks und die Notwendigkeit des Aufbaus von Arbeiter*innenräten, um die Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft wirklich übernehmen zu können und so eine Alternative zur Macht der Mullahs aufzubauen. Das iranische Regime ist bereit, alles zu tun, um diese Bewegung zu zerschlagen. Massaker richten sich gezielt gegen nationale und ethnische Minderheiten, ganz besonders in den kurdischen Regionen. Grund dafür ist die massive Ausweitung der Proteste in kurdischen Städten im Iran, vor allem im Mahabad – wo Protestierende teilweise die Kontrolle über ihre Städte übernommen hatten. Am 19. November hat Erdogan wieder angefangen, Rojava zu bombardieren, weil auch er die Stärke der kurdischen Freiheitsbewegung zu spüren bekommt. Es ist also kein Zufall, dass Erdogan und das iranische Regime einen koordinierten Krieg gegen diese Bewegungen führen. Beide wollen nicht, dass die Kämpfe sich gegenseitig inspirieren und stärken.

Aufgaben der Solidaritätsbewegung

Wir müssen den Kampf auch als unseren Kampf hier in Österreich sehen. Das bedeutet, nicht nur allgemeine Solidarität zu zeigen, sondern den Kampf hier real weiterzuführen: Durch die Brücke zu gewerkschaftlichen und sozialen Kämpfen, die sich gegen die Regierung und Herrschenden hier in Österreich richten. Durch den Kampf um konkrete Maßnahmen, die sich gegen diejenigen richten, die entweder direkt Teil des Regimes sind (z.B. ihre Vermögen in Ländern wie Österreich haben) oder durch Zusammenarbeit mit dem Regime profitiert haben. Auf Initiative von Rosa und ISA wurde z.B. in der Arbeiterkammer Wien eine Solidaritäts-Resolution beschlossen und an den Universitäten Unterschriftenlisten u.A. mit der Forderung nach gleichen Rechten für iranische Studierende hier in Österreich gestartet. Das sind kleine Schritte, die aber die Solidaritätsbewegung hier in konkrete Bahnen lenken können. Es braucht eine Solidaritätsbewegung von unten, ohne Illusionen in oder Zusammenarbeit mit den herrschenden Institutionen: Getragen von der Gewerkschafts-, Arbeiter*innen- und Jugendbewegung - von Betriebsrät*innen, Studierenden, Beschäftigten, um zum Beispiel für diese Forderungen zu kämpfen:

  • Die Offenlegung aller Firmenbücher von Konzernen und Firmen, wie der OMV, die mit dem Iran arbeiten und massiv vom iranischen Regime profitieren!
  • Offiziell sind 460 österreichische Firmen im Iran tätig, „Steyr Mannlicher“ (österreichischer Schusswaffenhersteller) verkaufte im Jahr 2004 800 Scharfschützengewehre an die iranische Polizei: Ihre Profite gehören durch die Solidaritätsbewegung beschlagnahmt!
  • Alle Sanktionen, die nur die arbeitende und arme Bevölkerung treffen, gehören sofort aufgehoben!
  • Wenn der österreichische Staat Visa und ähnliches verlangt, gibt er dem iranischen Staat Macht über Menschen, die hier leben und z.B. auch protestieren. Daher: Volle Rechte ohne Einschränkungen!

Das kannst du tun:

  • Nutze unsere Texte und die Resolution der Arbeiterkammer Wien: Schick sie über Verteiler und Newsletter aus, hänge am Schwarzen Brett aus, drucke in Schüler*innenn-, Uni- oder Betriebsratszeitung ab.
  • Nutze Betriebsratssitzung, Betriebsversammlung, etc. um zu informieren. 
  • Lehrende können Zeit “spenden” um in Schule/Uni zu informieren. Organisiere eine Diskussion oder auch Veranstaltung. 
  • Schreib uns für Unterstützung!

 

 

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Seiten