Internationales

Iran: 1 Jahr seit Jina Aminis Ermordung - Es gibt keinen Weg zurück!

von Christoph Glanninger

Am 16.9. jährt sich die brutale Ermordung der jungen Kurdin Jina Amini durch die iranische Sittenpolizei in Teheran. Ihre Ermordung war der Auslöser der größten Bewegung gegen das brutale Mullah-Regime seit seiner Etablierung. Ihre Ermordung wurde zum Symbol für die allseitige Unterdrückung durch das Regime. Der Aufstand, angeführt von jungen Frauen, versammelte hinter sich Industrie-Arbeiter*innen, nationale Minderheiten und Arme. Die Arbeiter*innen der Haft Tappeh-Fabrik schrieben in ihrem Aufruf zu landesweiten Streiks: „Mädchen der Sonne und der Revolution; Am Tag des Sieges wird die ganze Welt vor euch den Hut ziehen - ihr habt allen eine Lektion im Aufstehen und Widerstehen erteilt.“ Auch international hat die Bewegung Millionen inspiriert. Dass feministische Forderungen im Zentrum der Bewegung stehen, zeigt auch die Sprengkraft der globalen Revolte von jungen und arbeitenden Frauen.

Obwohl die Bewegung ein Jahr nach dem Mord - und den vielen die gefolgt sind - nicht mehr dieselbe Präsenz auf den Straßen hat, ist klar: für die Frauen, Unterdrückten, Arbeiter*innen und Jugendlichen im Iran gibt es kein Zurück: Sie haben gesehen, wie zum ersten Mal männliche Arbeiter für junge Frauen gestreikt und sich öffentlich solidarisch gezeigt haben; und wie zum ersten mal Jugendliche auf den Straßen Teherans ihr Leben riskierten, um durch Demo-Slogans ihre Solidarität mit der kurdischen oder baluchischen Bevölkerung auszudrücken.

“Ich war, ich bin, ich werde sein”

Das sehen wir auch tagtäglich auf den Straßen iranischer Städte, in denen das Regime versucht, die reaktionären Kleidervorschriften wieder durchzusetzen, aber dabei immer wieder auf Widerstand trifft. Im Frühjahr streikten Arbeiter*innen für höhere Löhne. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die revolutionäre Bewegung sich wieder erhebt und frei nach Rosa Luxemburg verkündet: „ich war, ich bin, ich werde sein!“ Für den Jahrestag der Ermordung werden wieder neue Proteste erwartet.

Gleichzeitig ist es notwendig, alle Schlussfolgerungen aus dem mangelnden Erfolg der Bewegung zu ziehen, im Iran und in der Solidaritätsbewegung international. Die Bewegung hat gezeigt, dass das Mullah-Regime keine Zugeständnisse machen kann; alle Fäden des iranischen Staates und der Wirtschaft laufen in seinen Händen zusammen. Sie werden Macht und Reichtum nicht freiwillig aufgeben. Um sie loszuwerden, braucht es die volle Mobilisierung aller Unterdrückten, aber allen voran die Arbeiter*innenklasse. Streiks sind nicht nur schwieriger zu zerschlagen als Demonstrationen - wenn die Arbeiter*innen in der Ölindustrie und anderen industriellen Zentren streiken, treffen sie das Regime nicht nur ins Mark; durch ihre Konzentration und die Kontrolle der Betriebe stellen sie auch alternative Machtzentren dar. Das kann nur gelingen, wenn sich eine selbstständige revolutionäre Führung der Arbeiter*innen, Frauen, Unterdrückten und Jugendlichen im Iran entwickelt. Dafür braucht es ein Programm, das nicht nur für die Befreiung von der religiösen Unterdrückung, sondern jeder Ausbeutung, Armut und Unterdrückung kämpft.

Gerade die internationale Solidaritätsbewegung und die Diskussionen im Ausland können bei der Entwicklung genau so einer revolutionären Führung und eines Programms eine zentrale Rolle spielen. Aber leider haben gerade hier die Unterstützer*innen von Reza Pahlavi (dem Sohn des ehemaligen Schah) in zahlreichen Ländern mit viel Geld und Unterstützung durch den westlichen Imperialismus die Kontrolle übernommen. Aber diese Kräfte werden nie eine Perspektive auf echte Befreiung im Iran aufzeigen können: Warum sollen Ölarbeiter*innen im Iran für den Sturz des Regimes streiken, wenn sie fürchten müssen, dass ihre Fabriken danach an westliche Konzerne verkauft werden? Deshalb wollen wir als ISA und ROSA einen sozialistischen Pol in der Bewegung aufbauen. Im Herbst 2022 haben wir antikapitalistische, feministische und internationalistische Demonstrationen mit tausenden Teilnehmer*innen organisiert. Wir werden auch am 16.9. auf die Straße gehen und für eine echte Befreiung von jeder Unterdrückung im Iran kämpfen.

 

 

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Erdogan vor dem Ende?

Kimi und Christoph

Am 15. Mai finden in der Türkei sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen vor dem Hintergrund von Erdbeben und anhaltenden wirtschaftlichen Problemen statt. Obwohl sich Erdogan noch immer als “starker Mann” präsentiert, bekommt dieses Image immer größere Risse und die brutale Realität seiner reaktionären und brutalen kapitalistischen Politik wird sichtbarer. Schon vor dem Erdbeben spitzten sich die wirtschaftlichen Probleme zu, die Inflation erreichte 50% - besonders bei Nahrungsmitteln. Unmut steigt und verwandelt sich auch in Widerstand - 2022 entwickelte sich trotz Repression eine wachsende Streikbewegung.

Aber v.a. die Reaktion auf das Erdbeben hat das Regime sogar in den Augen vieler Unterschützer*innen der Regierungsartei AKP entlarvt. In der direkten Reaktion verhinderte Erdogans Machtpolitik effektive Hilfe und das Ausmaß der Zerstörung zeigt die Verbrechen der eng mit Erdogan verbundenen Baulobby.

Kleineres Übel = Übel

Politisch stehen sich 2 Blöcke gegenüber: einerseits das breite Sechsparteienbündnis um die liberal-nationalistische CHP, dessen zentrale Gemeinsamkeit “alles außer Erdogan” ist; andererseits Erdogans Bündnis, das neben der AKP auch die ultranationalistische MHP und die islamistische BBP beinhaltet. Das Erdogan-Regime wird immer gefährlicher, umso mehr es unter Druck gerät: um sich an der Macht zu halten, setzt es auf die rechtesten Kräfte und intensiviert Angriffe auf nationale Minderheiten und Frauen. Es gab unmittelbar nach dem Erdbeben militärische Angriffe auf kurdische Gebiete und sowohl MHP als auch BBP wollen letzte noch verbliebene Regeln zum Schutz vor Gewalt an Frauen abschaffen. Man darf auch nicht davon ausgehen, dass Erdogan - ähnlich wie Trump oder Bolsonaro -  bei einer Wahlniederlage seine Position einfach räumt bzw. wie “fair” die Wahlen ablaufen. Aktuell sitzen z.B. unzählige Vertreter*innen der linken und kurdischen HDP im Gefängnis. 

Eine Alternative kann nur von unten kommen

Aber das Bündnis um die CHP ist nur eine begrenzte Alternative zum Erdogan-Block. Selbstverständlich atmen bei einem Regimewechsel Millionen türkische Arbeiter*innen, Jugendliche und Frauen auf. Aber die CHP ist keine echte Alternative, das zeigt sich besonders bei der Frage der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung: die CHP und andere Parteien aus dem Oppositionsbündnis unterstützen Unterdrückung und Militäreinsätze in kurdischen Gebieten. Und: dieses Bündnis ändert auch nichts an der Orientierung des türkischen Kapitalismus, die immer mehr Menschen in die Armut treibt. Eine neue Regierung, die die Lebensrealität der Bevölkerung nicht tatsächlich verbessert, würde dadurch auch den Boden für die Rückkehr der AKP oder noch reaktionärer Alternativen bereiten. Ähnliches sehen wir in Lateinamerika, wo das Scheitern von mitte-links-Regierungen, die nicht mit der kapitalistischen Logik brechen, die extreme Rechte immer wieder erstarken lässt. Eine echte Alternative zu Armut, Unterdrückung, Krieg und Nationalismus in der Türkei liegt im Bündnis mit Widerstand in der Region, im Iran, Afghanistan, Irak gegen repressive Regime. Liegt in der Ausweitung der Streiks, liegt in der Organisierung von unten von sowohl türkischen als auch kurdischen Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen gegen Repression und gegen kapitalistische Ausbeutung.

 

Info:

Nach dem Erdbeben ließ Erdogan, um Kritik zu verhindern, soziale Medien sperren, was Rettungsmaßnahmen erschwerte. Es gab deutlich weniger Hilfe für Gebiete, in denen es Opposition zum AKP-Regime oder einen größeren kurdischen Bevölkerungsanteil gibt. Der Wirtschaftsboom unter der AKP-Regierung ist eng verbunden mit einem Bauboom. Dabei hat die Bauindustrie u.a. durch schlechte Qualität riesige Profite erwirtschaftet.

 

Bild: President.az, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons

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Irland: Sozialistin wird Unite-Vorsitzende

Celina Brandstötter

Die irische Gewerkschafterin und Mitglied der Socialist Party (ISA in Irland), Susan Fitzgerald wurde Anfang März als erste Frau zur irischen Regionalvorsitzenden der britisch-irischen Gewerkschaft „Unite“. Diese Entwicklung ist ein Meilenstein in der irischen Gewerkschaftsbewegung und Vorbild für kämpferische Gewerkschafter*innen. Susans sozialistische Grundhaltung spiegelt sich offen in ihrer Arbeit als Gewerkschafterin wider. Ein besonders beeindruckendes Beispiel ihrer Arbeit ist ihre führende Rolle in der wochenlangen Betriebsbesetzung durch Beschäftigte und Gewerkschafter*innen der insolventen Werft „Harland & Wolff“ in Belfast 2019. Dieser Arbeitskampf konnte die Arbeitsplätze erfolgreich verteidigen. In ihrer Rolle als Vorsitzende sieht Susan nicht nur die Notwendigkeit für kämpferische Betriebsarbeit, sondern diese auch mit gesellschaftlichen Fragen der irischen Arbeiter*innenklasse zu verbinden: wie z.B Kämpfe um leistbares Wohnen, Klimagerechtigkeit, LGBTQI-Rechte, Anti-Sexismus- und, Anti-Teuerung-Kampagnen oder dem Kampf für Arbeiter*inneneinheit jenseits nationaler und religiöser Grenzen. Gerade in Nordirland mit einer Geschichte von nationaler Spannungen ist die Verbindung von Kämpfen und die aktive Rolle der Arbeiter*innenklasse die Basis für eine erfolgreiche Gewerkschaftsbewegung.

www.socialistparty.ie

www.instagram.com/unitehosponi/

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USA: Arbeiter*innen schlagen zurück

Margarita Wolf

„Es gibt ein Vakuum an echter linker Führung, auf lokaler und nationaler Ebene“, beschreibt Kshama Sawant die Situation in den USA. Gemeinsam mit Socialist Alternative (SA, Schwesterorganisation der ISA) gründete sie im März die Initiative „Workers strike back“ (WSB). Die Stadträtin aus Seattle nutzt ihre Bekanntheit, um eine linke Arbeiter*innenbewegung mit aufzubauen. Der Kongress hatte im Herbst 2022 den Streik der Eisenbahner*innen niedergeschlagen – das mit Hilfe linker Demokrat*innen. Dieser Verrat zeigt einmal mehr, warum der Aufbau einer neuen, unabhängigen Bewegung notwendig ist. Eine Forderung der WSB- Initiative ist: „Keine Ausverkäufe mehr – wir brauchen eine neue Partei“. Gleichzeitig stellt WSB aber auch Forderungen gegen Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungen, sowie für leistbaren Wohnraum und Gesundheitsversorgung auf.

Die Basis dafür ist das wieder erwachte Selbstvertrauen der Arbeiter*innenklasse und der Jugend in den USA. Es begann mit dem „Striketober“ (Streik-Oktober Anm. d. Red.) 2021 und zeigt sich in der Organisierung von Beschäftigten bei Starbucks, an den Universitäten und bei der Bahn. Am JFK8 (ein wichtiges Logistikzentrum) in New York haben Arbeiter*innen bei Amazon zum ersten Mal erfolgreich eine Gewerkschaft gegründet und das gegen den Druck der lokalen Bosse. Der historische Sieg war der Beginn einer Reihe von Initiativen an weiteren Amazon Standorten. Auch in Starbucks Filialen kommt es landesweit zu Organisierungen an der Basis, die WSB unterstützt. Mit diesen Entwicklungen einher gehen Streiks in den verschiedensten Branchen, die zusammengeführt werden müssen, z.B. an den Universitäten in Kaliforniern. Um die Forderungen „Gute gewerkschaftliche Arbeitsplätze für alle“ und „Beschäftigte brauchen eine echte Lohnerhöhung“ herum versucht genau das das Banner WSB. Außerdem haben WSB-Akitvist*innen gemeinsam mit Beschäftigten Streikposten bei American Airlines aufgestellt und an der Seite von Journalist*innen bei NBC gegen Entlassungen gekämpft.

www.socialistalternative.org

www.workersstrikeback.org

 

 

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Was wurde aus der Krise, von der alle gesprochen haben?

Yasmin Morag

In den letzten Monaten haben Institutionen wie der Internationale Währungsfonds IWF, aber auch die Österreichische Nationalbank ÖNB und viele andere immer wieder ihre Wirtschaftsprognosen aktualisiert. Sie sind geschwankt zwischen Prognosen für ein tiefes Eintauchen in eine Krise, zu einem optimistischeren Bild, dass genau diese vermieden werden kann. Und jetzt - nach dem Zusammenbruch einer Reihe von Banken - ändern sie ihre Prognosen erneut.

Wie wahrscheinlich ist eine Krise?

Wirtschaftswissenschaftler*innen haben im wesentlichen auf oberflächliche Auslöser für diese Krise hingewiesen, wie die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Nahrungsmittelproduktion und die Sanktionen gegen Russland und die damit verbundenen Probleme für die Energieversorgung. Selbst diese Faktoren haben bereits zu massiven Hungersnöten v.a. in den neokolonialen Ländern geführt und auch breite Schichten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in die Armut oder in die Nähe der Armut getrieben. Das hat die seit Jahrzehnten größte Streikwelle in Britannien ausgelöst, und, in Verbindung mit der Krise rund um die hohe Staatsverschuldung, auch den Aufstand in Sri Lanka.

Die Regierungen und Institutionen haben versucht, die Inflation unter Kontrolle zu bekommen, indem sie die Zinsen erhöht haben - in der Hoffnung, die Nachfrage zu kontrollieren und sie an die Angebotskrise anzupassen und um eine Stagflation zu verhindern (Inflation+Krise) eine "kontrollierte" Rezession zu riskieren. Aber die eigentlichen, tieferliegenden Ursachen einer Krise sind nicht die Faktoren, die sie auslösen. Auch deshalb kann das Drucken von Geld oder die Erhöhung der Zinsen diese strukturelle Ursache nicht lösen, sondern produziert weitere Probleme.

Warum gibt es eine Krise?

Nach Jahrzehnten des "freien" Welthandels und "offener" Märkte stößt das System bei der Konzentration von Reichtum und der Steigerung der Rentabilität durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und menschlicher Arbeit an seine Grenzen. Das liegt hinter den zunehmenden imperialistischen militärischen und wirtschaftlichen Konflikten zwischen China und den USA - das Ringen um den Zugang zu Ressourcen ist jetzt ihre beste Option, um die Profite zu steigern. Zusätzlich hat sich in diesen Jahrzehnten auch die Instabilität der Märkte erhöht - ein großer Teil des Reichtums ist mit dem Finanzsektor und verschiedenen Spekulationsblasen verbunden und kommt nicht aus realen Werten aus der Produktion. Das Ganze wurde weiter angetrieben durch ein riesiges Kreditvolumen und massive staatliche Rettungspakete im Zuge der Krise von 2008 – Geld, das zumeist in Spekulationsblasen und nicht in die Produktion geflossen ist. Bis heute haben viele Unternehmen und Wirtschaftszweige wegen dieser Gelder als „Zombies“ überlebt, aber irgendwann muss auch diese Blase platzen. Verschiedene Maßnahmen, wie die Erhöhung der Zinsen, könnten die Krise hinauszögern. Aber nichts kann die strukturellen Probleme lösen, die sich aus dem Verfall eines Systems ergeben, das längst todgeweiht ist.

Und was bedeutet das alles für Österreich?

Bundeskanzler Nehammer tut so, als ob die Katastrophe abgewendet worden wäre. Aber Österreich ist keine Insel - im Gegenteil. Die österreichische Wirtschaft ist hochgradig abhängig vom Handel mit den EU-Ländern, aber auch mit Russland, Kasachstan… Das macht sie um so anfälliger, wenn der Konflikt zwischen den Blöcken eskaliert. Gleichzeitig stehen Pflege- und Bildungsbereich vor dem Kollaps, Lohnerhöhungen reichen (im besten Fall) kaum an die Inflation heran. Und während viele nicht wissen, wie sie ihre Miete oder Stromrechnung zahlen sollen, weil die Inflation seit sechs Monaten zweistellig ist, profitieren die Superreichen: Die Erste Bank hat ihren Gewinn von 2021 auf 2022 um 20% (!) gesteigert.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer Rezession kommt, und wir können darauf wetten, dass die Kapitalist*innen versuchen werden, die Kosten wie bei jeder Krise auf unseren Rücken abzuwälzen. Das dürfen wir nicht zulassen! Der einzige Weg, um zu verhindern, dass die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft uns immer und immer wieder treffen, ist dafür zu kämpfen, die Ursache dieser Krisen endlich los zu werden - das verfallende kapitalistische System!

 

Info:

Während die Reichen ihr Vermögen in „krisensicheren“ Werten wie Immobilien oder Gold angelegt haben und genug besitzen, um „durchzutauchen“ oder sogar zu profitieren, haben „normale“ Menschen diese Spielräume nicht. Eine Krise trifft alle aus der Arbeiter*innenklasse hart, einige (Frauen, Arme) sogar noch mehr. Firmenpleiten und Stellenabbau führen zu massiver Arbeitslosigkeit und Wohungsnot. Wer den Job behalten kann, leidet unter höherem Arbeitsdruck und ist erpressbar und kann sich nicht gegen Belästigung wehren. Wer Hilfe benötigt, bekommt nicht, was nötig ist, da der Staat im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich kürzt.

 

 

 

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Israel/Palästina: Die Rückkehr des größeren Übels

Christian Steiner

Israel/Palästina hat die 5. Wahl in drei Jahren hinter sich, und auf den ersten Blick scheint alles beim Alten. Seit November 2022 ist Benjamin Netanjahu wieder Premierminister, diesmal in einer Koalitionsregierung mit ultra-rechten und ultra-orthodoxen Parteien.

Diese rufen zu jüdischem Terrorismus gegen Palästinenser*innen auf, sind für eine Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit und religiöse Bekleidungsvorschriften, sprechen sich gegen die Finanzierung von Organisationen für Menschen mit Behinderungen aus und befürworten Therapien, die darauf abzielen, die sexuelle Identität von Personen zu ändern.

2021 wurde Netanjahu von einer breiten Koalition an Parteien abgelöst. Diese Koalition war sehr brüchig und zerstritten und hatte als einzige Gemeinsamkeit – auch mit den Wähler*innen - Netanjahu um jeden Preis los zu werden. Doch die “Regierung des Wandels” erfüllte ihre Versprechung nicht und versagte auf ganzer Ebene. Dieses Versagen bereitete den Weg für Netanjahus Comeback und sorgt wahrscheinlich für langanhaltende Probleme.

Die neue rechte Regierung führt die Siedlungspolitik fort und intensiviert die Gewalt gegen Palästinenser*Innen. So droht eine weitere Eskalation im Nahen Osten, die alle Menschen in der Region gefährdet.

Netanjahus Comeback ist das jüngste Beispiel dafür, was uns droht, wenn der alleinige Fokus in einer Wahl darauf liegt, Kandidat*innen oder eine Partei zu verhindern (Stichwort: Kleineres Übel). Daher ist der Aufbau einer Arbeiter*Innen-Partei als echte Alternative so wichtig.

Für Generalstreik gegen die Regierung

Die rechtsextreme Regierung plant, demokratische Rechte abzubauen, um ihre Angriffe auf das Streikrecht sowie Frauen- und LGBTQI+ -Rechte durchzubringen. Dazu wurde ein Gesetzesentwurf eingebracht, der es einer Mehrheitsregierung erlaubt, das Veto des Obersten Gerichtshofs auszuschalten.

Aus Angst vor den Schritten in Richtung autoritärem Regime demonstrieren hunderttausende Menschen, in hunderten Städten und Dörfern seit Jänner auf den Straßen und es ist die größte Bewegung seit Jahren.

Weil die Gewerkschaftsführung trotz Druck von unten nichts tut, kommt die Führung der Bewegung aus Establishment und Staatsapparat. Sie wollen keine grundlegende Änderung der Lage, kein Ende der Besatzung, sondern die Beruhigung der Situation und einen stabilen Rahmen für ihre wirtschaftlichen Interessen. Die Bewegung selbst setzt sich aus sehr verschiedenen Menschen zusammen. Umso überraschender war es, als bei Protesten in Tel Aviv der Slogan “Wo wart ihr in Huwara?” aufkam. Dieser bezieht sich auf das Pogrom in Huwara, wo israelische Siedler*innen palästinensische Häuser in Brand steckten, während das israelische Militär nichts unternahm. Bei einer Rede in der Stadt Beer Sheva wurde gesagt, dass es keine Demokratie geben kann, solange die Besatzung anhält. Das sind wichtige Schritte, die zeigen, wie sich das Bewusstsein bei vielen Aktivist*innen verändert. Socialist Struggle (ISA in Israel-Palästina) Aktivist*Innen sind vor Ort an den Protesten beteiligt und bringen Programm und Forderungen ein. Sie treten für einen Generalstreik ein – ansetzend an den palästinensischen Lehrer*innenstreiks, den Protesten von Gesundheitsbeschäftigten und Lehrer*innen gegen die Justizreform. Sie fordern die Gewerkschaften auf, einen solchen Generalstreik zu organisieren, die Judikative und Polizei unter demokratische Arbeiter*innen Kontrolle zu bringen, ein Ende der Besatzung und ein Ende der systematischen Diskriminierung von Palästinenser*Innen. Sie verbinden das mit der Notwendigkeit, die steigenden Lebenshaltungskosten zu bekämpfen und fordern echte Rechte für Arbeiter*innen oder wie auf den Plakaten steht „Schluss mit den Angriffen auf unsere Rechte, mit der Herrschaft des Kapitals und mit der Besatzung!“

 

https://socialism.org.il/maavak/

 

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Nächster Schritt: Generalstreik

“Wir leben länger, also können wir auch länger arbeiten!” - jedenfalls wenn es nach dem französischen Parlament geht. Dass die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, ist korrekt, jene von Menschen mit geringerem Einkommen ist jedoch niedriger. Das Pensionssystem muss finanziert werden, “sozial” wie die Macron-Regierung ist, ist unter gewissen Voraussetzungen eine Anhebung der Pension auf 1.200€ geplant - von der laut einer Hochrechnung 48 (!!! achtundvierzig) Personen profitieren würden. Das Pensionsalter ist von 62 auf 64 und die Beitragsjahre von 41 auf 43 erhöht worden. „Wir“ sollen schließlich alle dazu beitragen, die Pensionen zu finanzieren - nur Firmen wälzen trotz Rekordgewinnen die Last auf die Arbeiter*innenklasse ab. Sie zahlen seit 2019 rund ⅓ weniger Steuern.

Die Abneigung gegen Macrons Pensionsreform ist hoch, jedoch richtet sich die Wut auch gegen die ganze Regierung, die das Gesetz am Parlament vorbei mittels Artikel 49.3 undemokratisch durchgedrückt hat.

Doch warum eine so unpopuläre Maßnahme durchsetzen? Das durchschnittliche Pensionsalter ist in Frankreich vergleichsweise niedrig – in Wirklichkeit geht es darum, die, ohnehin schon sehr hohe, französische Produktivität noch mehr zu erhöhen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.

 

Eine Rechnung ohne die Belegschaften

Acht der großen Gewerkschaften haben sich verbündet, um die Pensionsreform mit Widerstand zu beantworten, das war 2010 das letzte Mal der Fall. Es gab wochenlange Massenproteste und Streiks. Dass die Regierung Artikel 49.3. einsetzt, ist Ausdruck ihrer Angst davor. Mit dem Beschluss der Reform ist der Kampf aber nicht vorbei. Das Gewerkschaftsbündnis ist aufrecht. Die Proteste werden wohl die größten seit 1995. Weil viele von der Gewerkschaftsführung enttäuscht sind, weil diese zu wenig und zu spät getan hat, bilden sich demokratische Basisstrukturen. Längst geht es nicht mehr nur um die Pensionsreform, sondern gegen die ganze Regierung. Über 2/3 wollen ihr Ende.

Frankreich erlebt seit dem Herbst eine Streikwelle: Die Streiks, v.a. dort, wo sich an der Basis demokratische Strukturen gebildet haben, treffen das Großkapital da, wo es wirklich schmerzt - beim Profit. Raffinerien stehen still, es gibt Gratis-Strom für Schulen, Spitäler und die ärmeren Viertel, weil die Arbeiter*innen im Stromwerk deren Zähler auf Null gestellt haben, der öffentliche Verkehr ist massiv eingeschränkt, in Paris streikt die Müllabfuhr.

Die Pensionsreform noch per Klage oder Volksbegehren loszuwerden, wie manche es vorschlagen, heißt, die Wut von der Straße zu bringen. Viel wirkungsvoller wäre ein Generalstreik sowie ein Eskalationsplan (rollierende Streiks, längerer Generalstreik,...), der auch von den Gewerkschaften getragen wird. Andere Regierungen schauen, ob Macron und Premierministerin Borne mit der Reform durchkommen – deshalb ist es auch sinnvoll, die Streikwellen, die einige europäische Länder momentan erleben, zu verbinden. ISA-Mitglieder sind Teil der Bewegung und berichten, dass der Wunsch, Macron und Borne loszuwerden sowie die Forderung nach einem mehrtägigen Generalstreik lauter werden. Denn die Arbeiter*innen sind in Anbetracht der Pensionsreform, der hohen Lebenskosten sowie der halb-diktatorischen Methoden wütender und entschlossener als in den letzten Jahren.

 

Info:

Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (2017) haben Menschen in der untersten Einkommensklasse eine um 7 Jahre kürzere Lebenserwartung. Fast ein Viertel dieser Männer sterben vor der Pensionierung. Sie zahlen also ihr Leben lang in die Pensionskasse, um am Ende weniger oder gar nichts zu bekommen. Menschen mit mehr Einkommen beziehen dafür länger und höhere Pensionen.

 

Bild: G.Garitan, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

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1. Mai 2023: Die Arbeiter*innenklasse ist zurück!

Für eine internationale sozialistische Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise
Erklärung der Internationalen Sozialistischen Alternative (ISA)

Die Arbeiter*innenklasse ist zurück. Seit dem 1. Mai 2022 hat es einen bedeutenden Aufschwung in der Aktivitäten der Arbeiter*innenklasse in ihrer ganzen Vielfältigkeit gegeben. Sie war in Kämpfen auf der ganzen Welt aktiv - sie hat die Regime von Tyraneien erschüttert, die am stärksten unterdrückten Teile der Klasse verteidigt und sich gegen die Versuche der Bosse gewehrt, die Krise der Lebenshaltungskosten weiter auf die Schultern der Beschäftigten abzuwälzen. Obwohl es in jedem Kampf Höhen und Tiefen geben wird und er nicht überall zur gleichen Zeit mit dem gleichen Tempo voranschreiten wird, ist dieser Prozess nicht nur eine vorübergehende Erscheinung, sondern der Beginn einer entscheidenden und dauerhaften Wende.

Streikwellen, Massenstreiks und sogar Generalstreiks kennzeichnen die Situation in vielen Ländern (und dort, wo dies noch nicht der Fall ist, schauen Arbeit*innen und Jugendlichen voll Begeisterung und Solidarität darauf, was anderswo geschieht und lassen sich von denjenigen inspirieren, die bereits im Kampf stehen. Britannien befindet sich nunmehr seit fast einem Jahr in einer, immer noch andauernden, Streikwelle mit 2,7 Millionen Streiktagen zwischen Juni 2022 und Jänner 2023, wobei im Dezember die meisten Streiktage seit 1989 verzeichnet wurden.

Im November letzten Jahres erlebten die stark gewerkschaftlich organisierten die belgischen Arbeiter*innen ihren ersten Generalstreik seit 2014. Ende März fand in Deutschland der "Megastreik" statt, bei dem die Gewerkschaften ver.di (Dienstleistungsgewerkschaft) und EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft) zum ersten Mal in der Geschichte zu gemeinsamen Streiks aufriefen. Und die Bewegung des "erneuerbaren Generalstreiks" gegen Macrons Rentenreform und die anschließende diktatorische Durchsetzung derselben versetzte die französische Gesellschaft in eine offene Revolte, die zum Bezugspunkt für Arbeiter*innen in aller Welt geworden ist.

In Schweden, einem Land, in dem die Gewerkschaftsbewegung durch die miesen "sozialpartnerschaftlichen" Vereinbarungen der Bürokratie mit dem Staat und den Bossen gelähmt ist, hat ein kleiner, aber wichtiger dreitägiger wilder Streik von Fahrer*innen der öffentlichen Verkehrsmittel stattgefunden. Und das ist nur ein Vorzeichen dafür, was die Zukunft noch bringen kann. Die palästinensischen Lehrer*innen, die die zweitgrößte Gruppe öffentlich Beschäftigter der Palästinensischen Autonomiebehörde im besetzten Westjordanland und im belagerten Gazastreifen stellen, streiken seit dem 5. Februar für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, Unabhängigkeit im Bildungswesen und gewerkschaftliche Demokratie. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gingen in Südafrika 1,6 Millionen Arbeitstage durch Streiks verloren, ein Anstieg um das Dreißigfache gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2021.

Steigende Popularität

Mit der Zunahme von Klassenkämpfen geht in vielen Ländern ein allgemein positiveres Bild gegenüber den Gewerkschaften einher, was zeigt, dass eine mutige Führung einen breiteren Teil der Arbeiter*innenklasse mobilisieren kann. Die Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung in den USA ist nicht nur durch Phänomene wie "Striketober" gekennzeichnet, sondern auch durch eine Zunahme neuer gewerkschaftlicher Anläufe zu Organisierung wie bei Amazon und Starbucks und eine Rekordzustimmung von 71 % für Gewerkschaften in der Bevölkerung.

In England und Wales verzeichnet die Nationale Bildungsgewerkschaft während ihrer letzten beiden großen Auseinandersetzungen einen Anstieg von Zehntausenden neuer Mitglieder, darunter Hunderte, die sich zum ersten Mal als Betriebsrät*innen und gewerkschaftliche Vertrauensleute zur Verfügung stellten. Die deutsche Gewerkschaft ver.di hat allein im Jänner und Februar 65.000 neue Mitglieder geworben! Und in vielen Fällen ist dies auf den Zustrom von weiblichen und jungen Beschäftigten zurückzuführen. Die Auswirkung einer neuen Generation von Arbeiter*innen, die in den Kampf eintreten und sich an die Spitze des Klassenkampfes stellen, wird einen wichtigen Einfluss auf den Charakter der kommenden Kämpfe und auf die interne Situation in den Gewerkschaften selbst haben.

All das sind nur einige Beispiele mit unterschiedlichen unmittelbaren Auslösern, die aber alle zentrale Wahrheiten, die aktuell wohl überall gelten, unterstreichen. Es gibt keine "chinesische Mauer" zwischen den vielen Formen von Leid, Elend und Unterdrückung, von denen die Arbeiter*innen in diesem neuen "Zeitalter des Chaos" betroffen ist. Die Arbeiter*innen treten gemeinsam in Kämpfe, nicht nur um Fragen von Löhnen, sondern auch bei vielen politischen und sozialen Forderungen. Dazu gehören Themen von demokratischen Rechten bis zum Kampf gegen geschlechtsspezifische Unterdrückung. Auch wenn oft ein bestimmtes Thema der unmittelbare Auslöser sein mag, führt die sich überschneidende und miteinander verknüpfte Natur der Dauerkrise dazu, dass die Kämpfe in Umfang und Zielen viel breiter angelegt sind. Und vielleicht am wichtigsten ist, dass diese Aktionen durch den Druck von unten vorangetrieben wurden, oft gegen den Willen der offiziellen "Führung" der Organisationen der Beschäftigten.

Die Bewegung für die 2020er kommt mit neuer Energie daher

Dennoch kommen diese kleinen Anzeichen des Aufschwungs nach Jahrzehnten des Neoliberalismus und seiner zerstörerischen Auswirkungen auf die Arbeiter*innenbewegung, die das Bewusstsein und die Organisation der Arbeiter*innenklasse beeinträchtigen. Wir stehen immer noch vor vielen Hindernissen. Kräfte wie die Gewerkschaftsbürokratie - die konservativen Anführer*innen des größten Teils der weltweiten Arbeiter*innenbewegung - stellen ein echtes Hindernis für den Kampf dar, auch wenn einige Figuren stärker auf den Druck von unten reagieren als andere. Wie Marx im Jahr 1852 schrieb: "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden", und das ist es, was die Bürokrat*innenen repräsentieren. Viele von ihnen blicken auf eine oft fiktive Vergangenheit, in der eine Strategie der Zusammenarbeit und sogar der "Partnerschaft" mit den Unternehmen ihre Positionen (und hohe Gehälter) sichern und den sozialen Frieden aufrechterhalten konnte. Es ist zwar aktuell ein positives Zeichen, dass Anführer*innen von Gewerkschaften wie der RMT-Generalsekretär Mick Lynch quasi Promi-Status erlangen, weil sie die Bosse und ihre Sprachrohre in den Medien angreifen, aber militante Rhetorik ist kein Ersatz für eine Strategie, die in der grundlegenden Kraftquelle der Bewegung wurzelt - der Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse. Dieser Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit unserer Klasse, die Welt zu verändern, untergräbt die Bewegung.  Aber die Schwäche solcher Anführer*innen (selbst wenn sie es gut meinen) ist auch grundlegend politisch: Ohne die Perspektive einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft zum Sozialismus werden sie in der entscheidenden Stunde immer nach Wegen suchen, den Kampf zugunsten einer Rückkehr zu einer Version des Status quo zu demobilisieren.

Das bedeutet, dass die Basis sich organisieren muss. Wir brauchen ein Programm für eine kämpferische Politik, die wir in die Arbeiter*innenbewegung einbringen können, damit sie wirklich kämpferisch wird und der Arbeiterklasse gegenüber demokratisch rechenschaftspflichtig ist und nicht eine privilegierte Bürokratie. In den Gewerkschaften und anderen Arbeiter*innenorganisationen bedeutet dies, dass alle Funktionäre nur das durchschnittliche Arbeiter*innengehalt beziehen sollten und dass sie in ihre Positionen demokratisch gewählt und gegebenenfalls sofort abgewählt werden sollten. Streiks und Konflikte sollten von möglichst breiten Versammlungen und demokratischen Komitees der beteiligten Arbeitnehmer kontrolliert werden. Der Ansatz, sich nur auf die Lebensbedingungen eines kleinen Teils der Gewerkschaftsmitglieder zu konzentrieren, muss verworfen werden - unsere Bewegung muss eine der Solidarität für die gesamte Arbeiter*innenklasse sein: Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle.

Verstärkte Repression

Dieses Schlagwort gewinnt angesichts der zunehmend repressiven Regierungen, die verzweifelt versuchen, die geschwächte Herrschaft des Kapitals zu verteidigen, erneut an Bedeutung. In Britannien hat Premierminister Rishi Sunak die Welle der industriellen Kämpfen mit einer Flut von gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen bekämpft. Trotz des massiven Widerstands berief sich Macron auf den verhassten Artikel 49.3 und nahm diktatorische Befugnisse in Anspruch, um seine Rentenreform durchzupeitschen.

In Südkorea sehen sich die Gewerkschaften mit einer Welle gewerkschaftsfeindlicher Gesetze konfrontiert, nachdem die Regierung den Streik der 250.000 Trucker*innen Ende letzten Jahres in beispielloser Weise unterdrückt hatte. Unter dem Druck der Basis rief der peruanische Gewerkschaftsbund CGTP zu einem Generalstreik auf, um die Beendigung der brutalen staatlichen Repression und den Rücktritt der unrechtmäßigen Putschistin Dina Boluarte zu fordern. Der designierte nigerianische Präsident Bola Tinbu, ehemaliger Gouverneur des Bundesstaates Lagos, könnte versuchen, das, was er in Lagos getan hat, auf nationaler Ebene zu wiederholen - ganz Nigeria zu seinem persönlichen Lehnsgut zu machen und die arbeitenden Massen, die mit einer unglaublichen Lebenskostenkrise konfrontiert sind, weiter auszubeuten. Daher muss sich die mächtige nigerianische Arbeiter*innenbewegung auf eine ernsthafte Kampagne vorbereiten.

Die Arbeiter*innenklasse prägt die Geschehnisse

Peru ist eines der vielen Beispiele, in denen die Arbeiter*innenklasse ihre enorme Macht in breiteren politischen Bewegungen zum Tragen gebracht hat. In Israel/Palästina war es die Macht der organisierten Arbeiter*innenklasse - ausgedrückt durch einen eigentlich illegalen politischen Generalstreik Ende März - die Netanjahu zwang, seine Pläne für einen juristischen Staatsstreich vorübergehend zurückzunehmen. Obwohl die Mehrheit der herrschenden Klasse den Generalstreik unterstützte, tat sie dies als letztes Mittel, um Netanjahus weitere Destabilisierung des israelischen Kapitalismus zu stoppen - vor dem Hintergrund einer historischen politischen Krise, die mit der sich vertiefenden Krise des Besatzungsregimes verknüpft ist.

Dennoch haben die Streikenden, die jüdisch-israelischen Arbeiter*innen als auch ihre arabisch-palästinensischen Kolleg*innen, ein Gefühl für ihre Macht bekommen. Obwohl die israelischen Proteste und Streiks weitgehend von den Kräften des Establishments politisch vereinnahmt wurden, deren Agenda sich nicht grundlegend von der der gegenwärtigen kapitalistischen Besatzungsregierung unterscheidet, offenbaren sie tiefe Widersprüche in der israelischen Gesellschaft und sind Ausdruck eines Gefühls der Ausweglosigkeit und Abscheu vor der israelischen extremen Rechten und den Krisen des israelischen Kapitalismus, von den Lebenshaltungskosten bis zur persönlichen Unsicherheit. Auf lange Sicht können sie die unüberbrückbaren Widersprüche im Herzen des israelischen Staates und seiner barbarischen Kriegsmaschinerie offenlegen. Als palästinensische Arbeiter*innen im Jahr 2021 mit dem "Streik der Würde" die Bauarbeiten zum Stillstand brachten, demonstrierten sie ebenfalls ihre Stärke und gaben einen Einblick in die Art von Bewegung, die für die palästinensische Befreiung notwendig ist - eine Bewegung, die in der Lage ist, die Besatzung zu beenden und den Kapitalismus und Imperialismus in der Region hinwegzufegen. 

Kampf jeder Unterdrückung!

Ihre Worte spiegeln in der Tat einen weltweiten Trend wider, bei dem die Arbeiter*innen an Selbstvertrauen und Klarheit über unser Potenzial zur Veränderung der Gesellschaft gewinnen. Wir bringen die Welt zum Laufen; unsere Position in der Produktion verleiht uns eine latente Macht, sie zum Stillstand zu bringen. Der Streik ist daher unsere stärkste Waffe, die gegen alle Schrecken des Systems eingesetzt werden muss. Die Frauen der Arbeiter*innenklasse, die das Herzstück der weltweiten feministischen Revolte bilden, haben diese Schlussfolgerung gezogen. Feministische Streiks rufen Arbeiter*innen aller Geschlechter dazu auf, ihre Arbeit niederzulegen und das soziale Gewicht unserer Klasse gegen Ungleichheit und Sexismus zu bündeln,

In diesem Prozess schaffen wir die Einheit und den Zusammenhalt, die notwendig sind, um den verstärkten Angriffen der herrschenden Klasse mit ihrer Politik des Teilens und Herrschens zu widerstehen. ISA-Mitglieder haben sich an vorderster Front dafür eingesetzt, dass die Arbeiter*innenbewegung ihre Kräfte im Kampf gegen alle Formen der Unterdrückung mobilisiert. Während die Tories ihre Angriffe auf Trans-Rechte eskalieren und die Art von Gewalt schüren, die zur Ermordung von Brianna Ghey geführt hat, haben die Genoss*innen der Sozialistischen Alternative in mehreren Gewerkschaften einen Antrag verabschiedet, der neben anderen wichtigen Forderungen dazu aufruft, "Proteste und Kämpfe zur Verteidigung und Ausweitung der GRA-Reform zu unterstützen und jegliche transphobe Gewalt zu verhindern".

Internationalismus - Gegengift zur imperialistischen Kriegstreiberei

Das Wachstum der Reaktion ist eines der vielen Krankheitssymptome eines zerfallenden Systems, das uns auf eine Katastrophe zusteuert. Der Klimakollaps beschleunigt sich und der Krieg in der Ukraine eskaliert. Putin rechtfertigt das Blutvergießen, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur sowie die Besetzung und Annexion ganzer Regionen mit Kriegsp. Er ist nicht allein. Von den USA bis China haben alle imperialistischen Mächte ihren giftigen Nationalismus verschärft. Als Antwort darauf muss unsere Bewegung die Prinzipien des Internationalismus wiederentdecken und bekräftigen.

Die Werktätigen in Russland haben weit mehr mit ihren Klassengeschwistern in der Ukraine gemeinsam als die Kriegstreiber im Kreml. Der westliche Imperialismus und Zelenski verfolgen ihre eigenen geopolitischen Interessen, die im Widerspruch zu den nationalen und sozialen Bestrebungen der ukrainischen Massen stehen, die ihre Heimat und ihre Rechte, einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung, verteidigen. Um diese zu garantieren, muss der Kampf von unten auf der Basis der Arbeiter*innenklasse unabhängig von Sprache und Herkunft organisiert werden und sich zu einer internationalen Antikriegsbewegung zusammenschließen, die völlig unabhängig von allen imperialistischen Schlächtern ist und ihre Kraft aus der einzigartigen Fähigkeit unserer Klasse bezieht, die Kriegsmaschinerie stillzulegen.

Die Gesellschaft neu begründen

Hat es vor dem Hintergrund eines zerfallenden, krisengeschüttelten Systems jemals deutlicher gezeigt, dass die Arbeiter*innen der Welt diejenigen sind, die am besten geeignet sind, die Gesellschaft zu führen? Die Pandemie hat uns gezeigt, wer wirklich "systemrelevant" ist. Und in jeder Bewegung bekommen wir einen Vorgeschmack auf unser Potenzial, "die Gesellschaft neu zu begründen", wie Marx es ausdrückte. Mit ihren "Robin-Hood"-Aktionen haben die französischen Energiearbeiter*innen den Armen kostenlos Strom zur Verfügung gestellt und die Reichen abgeschaltet und uns einen kleinen Einblick in eine Welt gegeben, in der unsere Klasse im Sattel sitzt und die Produktion und die Verteilung der Ressourcen auf der Grundlage des Bedarfs und nicht des Profits plant.

Dennoch sind die Arbeiter*innen nach wie vor schlecht gerüstet, um es mit den skrupellosen Eliten aufzunehmen. Trotz der wachsenden Bereitschaft, den Kampf zu verstärken, lässt uns das Fehlen einer eigenen politischen Kraft nur einhändig kämpfen. Im Zeitalter der Dauerkrise werden selbst bedeutende Siege nur von kurzer Dauer sein. Was mit der einen Hand gegeben wird, wird mit der anderen genommen: Steigende Lebensmittelpreise verschlingen sofort die Lohnerhöhungen, Prämien landen in den Taschen der Vermieter*innen.

Wenn wir über den Kampf ums bloße Überleben hinausgehen wollen, muss sich die Arbeiter*innenbewegung wiederbewaffnen und die notwendigen Mittel bereitstellen, um unseren Kampf zu stärken und auszuweiten. Dazu müssen wir uns politisch organisieren und neue Organisationen schaffen, die alle Bewegungen, die als Reaktion auf das endlose Elend, das der Kapitalismus weiterhin hervorbringen wird, entstehen, vereinen und zusammenführen können.

In den letzten Jahren haben Massenkämpfe auf der ganzen Welt neue, kleine Formen der Selbstorganisation hervorgebracht: Widerstandskomitees im Sudan, die Cabildos in Chile, Nachbarschaftsversammlungen in Kolumbien und revolutionäre Jugendräte im Iran. Sie zeigen, was möglich ist. Aber sie müssen zu massenhaften, wirklich demokratischen Arbeiter*innenparteien zementiert werden, die unabhängig für unsere eigenen Interessen und gegen die kapitalistischen Parteien und Politiker*innen kämpfen; politische Organisationen, die die Erfahrungen unserer Klasse kollektivieren und es uns ermöglichen, die Strategie und Taktik, das Programm und die Forderungen für die Bewegung zu diskutieren.

Die ISA sendet den Arbeiter*innen auf der ganzen Welt solidarische Grüße zum 1. Mai und solidarisiert sich mit allen, die sich im Kampf befinden. Ihr erneuert unsere Zuversicht, dass die Arbeiter*innenklasse die Gesellschaft verändern kann! Andernfalls warten Barbarei und Katastrophen auf uns. Doch wenn wir den Umweltzerstörern, Kriegsherren und Profiteuren die wichtigsten Hebel der Wirtschaft aus der Hand nehmen, können die Arbeiter*innen einen alternativen Weg einschlagen. Ein demokratisch-sozialistischer Plan für die Produktion könnte die Grundlage für eine Gesellschaft schaffen, die nicht nur unser Überleben, sondern auch unsere Entfaltung garantiert - die uns nicht nur Brot, sondern auch Rosen gibt - und das volle kreative Potenzial der Menschheit freisetzt.

Epoche der multiplen Krisen - wir haben eine Welt zu gewinnen!

Dieses Dokument wurde am Weltkongress der ISA Anfang Februar 2023 beschlossen und zuerst am 16. März 2023 in englischer Sprache veröffentlich.
International Socialist Alternative (ISA)

Den zweiten Teil des Dokuments, der sich mehr mit den Auswirkungen in den verschiedenen Regionen der Welt befasst, findest du hier: https://www.slp.at/artikel/wie-sich-die-vielschichtige-globale-krise-auf...

 

Einleitung

1. Innerhalb von nur drei Jahren, seit dem letzten Weltkongress der ISA, waren die beiden historischen Krisen Covid19 und der Krieg in der Ukraine herausragende Wendepunkte, die die Widersprüche des Weltkapitalismus zum Ausdruck gebracht und enorm verschärft haben. Sie haben Anfang der 2020er Jahre mit dem Zusammenbruch des globalisierten neoliberalen Akkumulationsregimes des Kapitals und dem Rückzug des Kapitals auf eine verstärkte Abhängigkeit vom Nationalstaat die Zeichen einer neuen Epoche gesetzt. Das seit langem bestehende unipolare System ist einem zunehmend bipolaren System gewichen, wobei die scharfe Eskalation des zwischenimperialistischen Konflikts zwischen den USA und China im "Neuen Kalten Krieg" die wachsende Polarisierung der Weltbeziehungen und die zunehmende Aufteilung der Welt in zwei dominante imperialistische Lager überwacht, mit einem partiellen, komplexen, aber hartnäckigen Prozess der Entkopplung als Teil eines großen Trends der De-Globalisierung.

2. Das Ende des dritten Globalisierungszyklus, der einer geoökonomischen Fragmentierung und dem "Neuen Kalten Krieg" gewichen ist, spiegelt nicht nur eine neue Phase der allgemeinen Krise des neoliberalen Kapitalismus wider, die sich nach der Finanzkrise 2007-2009 und der Großen Rezession auftat. Die qualitative Veränderung der Weltbeziehungen mit dem Rückzug der nationalen herrschenden Klassen, die verzweifelt versuchen, ihre Positionen durch eine erneute Konvergenz um den Nationalstaat und die imperialistischen Blöcke auszugleichen, spiegelt einen qualitativen Bruch im historischen Prozess der neoliberalen Konterrevolution wider. Der Krieg der Kapitalist*innenklasse gegen die Arbeiter*innenklasse zur Vertiefung der Akkumulation hat dazu geführt, dass das kapitalistische System in allen Bereichen mit immer größerer Instabilität konfrontiert ist, was zu einer massenhaften Desillusionierung und Radikalisierung geführt hat, mit einer zunehmenden Klassenpolarisierung im Zusammenhang mit der Vielzahl miteinander verbundener Krisen und der Verschlechterung der Lebensbedingungen. Revolutionäre Prozesse haben politische Regime hinweggefegt und die herrschenden Klassen immer wieder in die Defensive gedrängt. Zentrale strategische kapitalistische Institutionen haben den "Neoliberalismus" offen in Frage gestellt und erkannt, dass ihre historische Offensive wirtschaftlich und im Hinblick auf die soziale Instabilität unhaltbar ist. Die herrschenden Klassen können ihr System mit einem alternativen Akkumulationsregime nicht grundlegend restabilisieren. Die kapitalistischen Regierungen werden ständig gezwungen sein, zwischen einer Mischung aus "keynesianischer" und "neoliberaler" Politik zu manövrieren, einschließlich Sparmaßnahmen und Privatisierungen, die durch staatliche Repressionen abgesichert werden. Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass die "Märkte" nicht mehr die erste heilige Überlegung sein können, wenn es um die Gesamtinteressen des Kapitalismus geht: Vielmehr werden staatskapitalistische Züge in den Vordergrund treten.

3. Während die fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen der Kapitalist*innen zur Vermeidung einer globalen Depression auf dem Höhepunkt der Pandemie zu einer Inflationskrise und dem Ende der Nullzinspolitik geführt haben, befindet sich die Weltwirtschaft potenziell auf dem Weg in eine neue Rezession, mit gleichzeitiger Verlangsamung des Produktionswachstums in den USA, Europa und China. Die kapitalistischen Regierungen, die mit immer größeren gigantischen Schulden belastet sind, befinden sich in einer noch prekäreren Lage, wenn sie versuchen, mit expansiven fiskalischen Maßnahmen den Rezessionstendenzen entgegenzuwirken, die ihrerseits die seit langem bestehenden depressiven Grundzüge der Weltwirtschaft widerspiegeln. Eine Energiekrise, die durch die Auswirkungen des Ukraine-Krieges angeheizt wurde, hat den Durst des Kapitals nach fossilen Brennstoffen erhöht, während die Klimakrise, die den grundlegenden ökologischen Widerspruch des Kapitalismus widerspiegelt, in eine deutlich aggressivere Phase eingetreten ist und bereits ein wichtiger destabilisierender Faktor ist, der auch mit akuteren Wasser- und Nahrungsmittelkrisen, Kriegen und einem explosionsartigen Anstieg der Zahl der Geflüchteten droht.

4. Angesichts der wachsenden Instabilität, der Implosion der sozialen Basis vieler traditioneller bürgerlicher Parteien in der politischen "Mitte" - die leeren Versprechungen des Liberalismus sind entlarvt und verlieren an Anziehungskraft in der Bevölkerung - hat sich die Hinwendung der kapitalistischen Staaten zum Bonapartismus weiter verfestigt. Der Erfolg des Kapitals bei der Überwindung des Stalinismus einerseits und bei der Desorientierung, Desorganisation und Entwaffnung der Arbeiter*innenbewegung andererseits stellt die sich entwickelnden sozialen Bewegungen immer noch vor ernsthafte Herausforderungen in Bezug auf politische Verwirrung und Desorganisation. Formationen und Figuren, die als neue linke Bezugspunkte, Elemente einer neuen Sozialdemokratie, um einen links-populistischen Appell und sanfte reformistische Programme herum entstanden sind, sind kaum in das Vakuum getreten, das die traditionellen sozialdemokratischen Parteien hinterlassen haben, die in die neoliberale Konterrevolution integriert wurden - bevor sie angesichts der kapitalistischen Systemkrise schnell als politische Schwachstellen entlarvt wurden. Die Schwäche der Linken, auch in den Arbeiter*innengewerkschaften, bedeutete einen größeren Raum für das Wiederaufleben der gewalttätigen Drohungen von rechtsextremen und rechtsradikalen Kräften, getarnt durch Varianten des Rechtspopulismus.

5. Nichtsdestotrotz war diese Periode unweigerlich durch verstärkte Prozesse der Massenradikalisierung gekennzeichnet, mit einem bedeutenden Anstieg der Militanz der Arbeiter*innenklasse, trotz der enormen Hindernisse, die von den zumeist auf Klassenzusammenarbeit ausgerichteten Gewerkschaftsbürokratien aufgestellt wurden. Vor allem unter breiten Teilen der Jugend hat sich eine linke und rebellische Tendenz entwickelt, die die Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die Unterdrückung durch den Staat und die Gesellschaft im Allgemeinen in Frage stellt und gleichzeitig die dystopische Zukunft erkennt, die der Kapitalismus garantiert. Letzteres findet seinen Widerhall nicht nur bei sozialen Bewegungen, die sich in Richtung eines "Anti-System"- und "Antikapitalismus"-Bewusstseins gewandt haben, sondern auch bei bürgerlichen Kommentator*innen, die mit der vagen Idee des "Post-Kapitalismus" spielen. Wir sehen immer noch eine historische Kluft zwischen dem Bewusstsein, der Organisation und der Führung der Arbeiter*innenklasse und der Jugend auf der einen Seite und der objektiven Situation auf der anderen Seite. Es gibt eine kombinierte und ungleichmäßige Entwicklung des Bewusstseins - während es einen weit verbreiteten Hass gegen "das System" und sogar Widerstand gibt, gibt es wenig Verständnis dafür, wie eine Alternative aussehen könnte oder wie der Kampf dafür organisiert werden könnte. Diese Faktoren stellen die grundlegenden Herausforderungen beim Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung dar - aber sie schaffen auch die Grundlage für die scharfen Veränderungen und explosiven Entwicklungen, die wir in der letzten Periode erlebt haben.

6. Untermauert wird dies durch die Radikalisierung als Reaktion auf die besondere Unterdrückung von Frauen und LGBTQ+-Personen, die ethnische und nationale Unterdrückung sowie die Klima- und Umweltkrisen. Die Bewegungen neigen dazu, auf internationaler Ebene aus den jüngsten Erfahrungen zu lernen, und zweifellos gibt es auch eine wachsende Suche nach historischen Erfahrungswerten, um das kollektive Gedächtnis der Massen wiederzubeleben. In diesem "Zeitalter der Unordnung", den sich entwickelnden Prozessen der Polarisierung sowie der Revolution und Konterrevolution im Weltsystem stehen die Kräfte des Sozialismus und des Marxismus vor neuen Herausforderungen und Möglichkeiten.

Verschärfung des zwischenimperialistischen Konflikts

Krieg in der Ukraine 

7. Der brutale Einmarsch des russischen Imperialismus in die Ukraine hat zu Zehntausenden Opfern geführt, sowohl militärisch als auch zivil, zu Millionen von Geflüchteten und zur massiven Zerstörung der Infrastruktur. Der bewaffnete Konflikt, der 2014 mit der Annexion der Krim und der Gründung der vom Putin-Regime unterstützten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk begann, eskalierte zu einem totalen Krieg, der voraussichtlich bis 2023 und darüber hinaus andauern wird. Er ist bereits jetzt der bei weitem bedeutendste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und ein wichtiger Wendepunkt in den Weltbeziehungen.

8. Der Krieg in der Ukraine kann, wie wir von Anfang an betont haben, nicht ohne den größeren Kontext des Neuen Kalten Krieges verstanden werden. Dieser Konflikt spiegelt die intensive kapitalistische Konkurrenz im Kontext der Krise wider und konzentriert sich auf den Kampf um die Vorherrschaft zwischen dem US- und dem chinesischen Imperialismus. Während Putin in den frühen 2000er Jahren mit dem westlichen Imperialismus kooperierte, verwandelte sich die Kooperation zunehmend in einen Wettbewerb, bei dem der russische und der westliche Imperialismus im gesamten ehemaligen Sowjetblock kontinuierlich um Einfluss rangen, insbesondere als die EU und die NATO immer weiter nach Osten vordrangen. Dieser brach häufig in Form von Aufständen aus - "gefärbten Revolutionen", bei denen die Unzufriedenheit der Bevölkerung von sich bekriegenden Teilen der herrschenden Elite genutzt wurde, um ihre eigenen Interessen und die ihrer bevorzugten imperialistischen Verbündeten durchzusetzen. Solche Konflikte und ihre Folgen waren häufig die Ursache für schärfere Konflikte wie den russisch-georgischen Krieg von 2008 und die Annexion der Krim und den Beginn des Krieges im Donbass im Jahr 2014.

9. Nach einer Phase des verstärkten Säbelrasselns des westlichen und russischen Imperialismus machte Putin im Februar 2022 den ersten Schritt. Angesichts der Pattsituation im Konflikt zwischen den USA und China, der Schwächung des US-Imperialismus, die sich im Rückzug aus Afghanistan und in der Spaltung der EU widerspiegelt, und angesichts seiner eigenen Erfolge bei der Aufrechterhaltung der Herrschaft von Assad in Syrien, Lukaschenko in Belarus und Tokajew in Kasachstan sowie der offensichtlichen "No limits"-Vereinbarung mit Xi Jinping nutzte Putin die Gelegenheit, um zu versuchen, die russische Dominanz in seiner "Einflusssphäre" wiederherzustellen.  Der als neuer Höhepunkt geplante Einmarsch in die Ukraine in diesem Jahr war ein schrecklicher Fehler des russischen Imperialismus. Die USA nutzten die Gelegenheit, um ihre "Führungsrolle" in der NATO zu bekräftigen und wichtige europäische Staaten sowie Australien, Japan und Südkorea enger in ihren "Block" aus dem Kalten Krieg einzubinden. Sie versuchen, Russland eine überzeugende Niederlage beizubringen und China auf diese Weise auf der Weltbühne weiter zu isolieren. In Wirklichkeit nutzen die USA die Gelegenheit, um ihren eigenen Stellvertreterkrieg gegen Russland in ihrem eigenen Interesse zu führen. Durch den Einsatz bösartiger Wirtschaftssanktionen und die Bewaffnung des ukrainischen Staates und des allgemeinen ukrainischen Widerstands gegen die Invasion wollen die USA neben ihrer eskalierenden wirtschaftlichen und technologischen Kriegsführung gegen China selbst auch Russland einen Schlag versetzen und dadurch China schwächen.

10. Die jüngsten Entwicklungen haben unsere Analyse des interimperialistischen Charakters als zentrales Merkmal des Konflikts, der Gefahr einer Eskalation und der Schwächen auf russischer Seite, die irgendwann zu einer inneren Umwälzung führen könnten, bestätigt. Gleichzeitig ist der Krieg auch ein Krieg der Landesverteidigung, in dem die nationale Selbstbestimmung an sich in Frage gestellt wird. Putin hat sich sogar auf Lenin und die Bolschewiki berufen und sie für die Existenz der Ukraine als moderne Nation verantwortlich gemacht, indem er deren Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts unterdrückter Nationen richtigerweise dem konterrevolutionären sozialchauvinistischen Ansatz der stalinistischen politischen Konterrevolution gegenüberstellte - die, wie Putin bedauert, bei der nationalen Unterdrückung nicht noch weiter gegangen ist. Letztlich würde die nationale Selbstbestimmung der Ukraine weiterhin durch den russischen Imperialismus sowie durch Diktate des westlichen Imperialismus in Frage gestellt und untergraben werden. Es gibt Elemente eines Kampfes für nationale Selbstbestimmung, aber auch Elemente eines Krieges für einen starken, konkurrenzfähigen Nationalstaat in der Ukraine. Echte Selbstbestimmung kann nicht auf kapitalistischer Basis erreicht werden. Die Ukraine wird, wenn sie den Krieg mit Unterstützung der NATO gewinnt, ein Vorposten des westlichen Imperialismus sein. Vor diesem Hintergrund ruft die brutale Invasion, Unterdrückung und Besetzung der Ukraine durch den russischen Imperialismus weiterhin den Massenwiderstand des ukrainischen Volkes hervor, das für die Verteidigung seiner Existenzgrundlage und seines legitimen Rechts auf Selbstbestimmung kämpft. Dies zeigt sich in einem dramatischen Wandel der Einstellung, der durch eine Umfrage unter den in der Ukraine lebenden Menschen [alle Gebiete außer der Krim und der DNR/LNR vor dem Februar] im Mai deutlich wurde. Während vor dem 24. Februar 34 % der Ukrainer Russland "positiv" gegenüberstanden, was einen dramatischen Rückgang gegenüber den 90 % vor 2014 bedeutete, äußerten sich im Mai nur 2 % positiv. Das zentrale Problem ist das Fehlen einer unabhängigen Arbeiter*innenklasse, die sich dem reaktionären pro-westlichen Zelenski-Regime entgegenstellt und versucht, diese Massenstimmung in einen Kampf für echte nationale Unabhängigkeit zu lenken, was den Bruch mit dem Kapitalismus und die Ablehnung jeglicher imperialistischer Intervention bedeutet. Dass es jetzt keine unabhängige Bewegung der Arbeiter*innenklasse gibt, bedeutet nicht, dass nicht im Laufe der zweifellos stürmischen Ereignisse, die sich in den kommenden Monaten und Jahren in der Region abspielen werden, eine solche Bewegung oder die Anfänge einer solchen entstehen könnten.

11. Nachdem die russische Armee in der Ost- und Südukraine über mehrere Monate hinweg mit einem Belagerungskrieg langsam vorankam, hat der Krieg eine dramatische Wende zugunsten des von der NATO unterstützten ukrainischen Militärs genommen. Dies begann mit einer am 6. September gestarteten ukrainischen Gegenoffensive, bei der ein bedeutender Teil des Territoriums im Nordosten des Landes um Charkiw zurückerobert wurde. Darauf folgten weitere ukrainische Geländegewinne im Osten und im Süden.

12. Zu den Ursachen für den Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive gehören überforderte und demoralisierte russische Streitkräfte, während die Ukraine über einen ständigen Nachschub an neuen kampfbereiten Truppen verfügt. Es besteht kein Zweifel, dass die Moral auf ukrainischer Seite weitaus höher ist. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die ukrainischen Truppen von dem echten Wunsch beseelt sind, ihre Heimat, ihre Familien und ihre Gemeinden gegen die russische Militäraggression zu verteidigen, die von der ukrainischen Bevölkerung insgesamt mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wird, während die militärische Unterstützung durch die NATO selbst die Entschlossenheit der ukrainischen Armee zweifellos ebenfalls stärkt. Eine kürzlich durchgeführte Gallup-Umfrage hat ergeben, dass fast drei Viertel der Ukrainer*innen der Meinung sind, dass das Land weiter kämpfen sollte, bis die russischen Truppen besiegt und aus dem Land vertrieben sind. Dies hat auch dazu geführt, dass eine große Schicht von Freiwilligen, Partisan*innen und lokalen Informant*innen täglich aktiv daran arbeitet, Russlands Kriegsanstrengungen zu vereiteln.

13. Dies sind nicht die einzigen Faktoren für den ukrainischen Vormarsch. Hinzu kommt die entscheidende militärische Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte durch die USA und die NATO-Staaten, einschließlich der HIMARS-Systeme und des Einsatzes US-amerikanischer/britischer Nachrichtendienste, die es den Ukrainer*innen ermöglicht haben, Ziele viele Kilometer hinter der Front mit einem hohen Maß an Präzision zu treffen.

14. Über 100 Milliarden Dollar/Euro haben westliche Regierungen für militärische, finanzielle und "humanitäre" Hilfen an das ukrainische Regime bereitgestellt. Das ist der größte Transfer von Rüstungsgütern durch NATO-Länder an ein Nicht-NATO-Land in so kurzer Zeit. Allein die USA haben seit Bidens Amtsantritt 24,9 Milliarden Dollar an Militärhilfe zugesagt. Seit Dezember übersteigt die Gesamthilfe der EU-Staaten diejenige der USA. Darin enthalten ist auch die Hilfe für einen längeren Zeitraum, was das langfristige Engagement des westlichen Imperialismus für die Integration der Ukraine in die EU/NATO-Zone widerspiegelt. Die nichtmilitärische Unterstützung in Form von Zuschüssen, Darlehen und Staatsgarantien ist an Bedingungen geknüpft, und ein Großteil muss über zehn Jahre hinweg zurückgezahlt werden.

15. Ab einem gewissen Punkt könnte die derzeitige nationale Einheit, die hinter Zelensky und seiner Regierung steht, ins Wanken geraten, insbesondere wenn sich der Krieg in die Länge zieht, die westliche Unterstützung schwindet und die Kämpfe an die Grenzen vom 24. Februar zurückkehren. Der Krieg hat einen wirtschaftlichen Zusammenbruch ausgelöst, der mit dem der 1990er Jahre vergleichbar ist - Schätzungen zufolge wird das BIP bis 2022 um über 30 % gesunken sein, und die Arbeitslosenquote liegt ebenfalls bei fast 30 %.

16. Indem er die westlichen Mächte um militärische und finanzielle Unterstützung bat, machte Zelensky die Ukraine zu einer Geisel der Schuldenrückzahlungen und der von Institutionen wie der EU, dem IWF und anderen auferlegten Kreditbedingungen. Schon vor der verheerenden Zerstörung der Strominfrastruktur wurden die Kosten für den Wiederaufbau auf 350 Milliarden Dollar geschätzt. Das Haushaltsdefizit der Ukraine wird für 2023 auf über 38 Milliarden Dollar geschätzt. Seit Beginn des Krieges hat sie Darlehen und Zuschüsse in Höhe von fast 100 Mrd. USD vereinbart, deren Rückzahlung mindestens ein Jahrzehnt dauern dürfte. Im Gegenzug kreisen die Geier der Kapitalist*innen. Um westliche Investitionen zu fördern, wurde das Arbeitsrecht überarbeitet, Null-Stunden-Verträge legalisiert, die Rentenreformen vorangetrieben und die Gehälter der staatlich angestellten Mitarbeiter*innen bei einer Inflation von 23 % eingefroren.

17. Der zu Beginn des Krieges ausgesetzte Privatisierungsprozess wurde im Oktober wieder aufgenommen, wobei 800 staatliche Unternehmen auf den staatlichen Eigentumsfonds übertragen wurden, von denen viele unter "neuen, vereinfachten Bedingungen" privatisiert werden sollen. Die Anfang November getroffene Entscheidung, fünf Industriegiganten - Hersteller von Militärmotoren, Fahrzeugen und elektrischer Infrastruktur sowie zwei Ölgesellschaften - zu verstaatlichen und unter die Kontrolle des Verteidigungsministeriums zu stellen, wurde von der Nachrichtenagentur Reuters als "der dramatischste Eingriff des Krieges in die Großindustrie beschrieben, der Unternehmen berührt, die mit Tycoons verbunden sind, deren politische Macht Zelenskijs Team seit langem zu beschneiden versucht". Dieser Schritt, der als notwendig zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen dargestellt wird, ohne dass die Arbeiter*innenklasse in den Prozess eingreift, insbesondere durch die Kontrolle der Arbeiter*innen, eröffnet die Aussicht, dass das Militär noch stärker wird und einen signifikanten Einfluss auf die industrielle Wirtschaft gewinnt.

18. Der Beginn des Krieges durch das Putin-Regime war eine große Fehlkalkulation, die die Isolation der bonapartistischen Clique im Kreml und den schlechten Zustand der Streitkräfte offenbart hat. Die anfänglichen Proteste, die vor allem von Jugendlichen getragen wurden, ebbten aufgrund der schlechten Führung und der massiven Unterdrückung schnell ab, und Hunderttausende von Kriegsgegnern flohen aus dem Land.

19. Die militärischen Rückschläge, die Russland hinnehmen musste, haben den Druck auf den Kreml erhöht. Der Verlust der Kontrolle über die Region Charkiw Mitte September steigerte die Wut der "Kriegspartei", was Putin zu neuen, verzweifelten Schritten veranlasste: gefälschte Referenden in den von Russland besetzten Gebieten, deren sofortige Angliederung an Russland und die Mobilisierung von Hunderttausenden von "Reservist*innen".

20. Die Mobilisierung markierte einen gewissen Wendepunkt, der einem viel größeren Teil der russischen Gesellschaft die Realitäten des Krieges vor Augen führte. Neue Proteste erschütterten das Land, als Mütter und Ehefrauen sich der Einberufung ihrer "Männer" widersetzten, insbesondere in den Regionen mit nicht-russischer Bevölkerung wie Tschetschenien und Dagestan im Kaukasus und Burjatien in Sibirien. Auf Dutzende von Rekrutierungsbüros wurden Brandanschläge verübt. Es gab ständige Proteste der Mobilisierten, in einigen Fällen mit massenhafter Desertation und Kampfverweigerung. Obwohl es dem Regime gelungen ist, die erste Protestwelle zu unterdrücken, wird diese neue Welle wahrscheinlich mit der Zeit zunehmen. Nach Meinungsumfragen, die exklusiv für den Kreml durchgeführt wurden, ist die Zahl der Russ*innen, die eine Fortsetzung des Krieges wünschen, von 57 % im Juli auf 25 % im November gesunken, während die Zahl derjenigen, die Friedensverhandlungen wünschen, von 32 % auf 55 % gestiegen ist.

21. Die Unzufriedenheit wird durch die wirtschaftliche Lage noch weiter angeheizt. Die Sanktionen haben Russland weitgehend von der Weltwirtschaft abgeschnitten, zumindest von dem vom Westen dominierten Teil. Sie haben jedoch nicht Russlands Finanzen und seine Fähigkeit, Kriege zu führen, gedrosselt. Der Einbruch der Importe, die Kapitalverkehrskontrollen, die den Rubel stärkten, und der Anstieg der Kohlenwasserstoffpreise haben dazu geführt, dass Russlands Leistungsbilanzüberschuss 2022 um 86 % auf 227 Mrd. USD gestiegen ist. Dies hat es dem Regime ermöglicht, zumindest einen Teil der abgewanderten ausländischen Unternehmen zu ersetzen und den Handel mit anderen Ländern, insbesondere der Türkei, Indien und bis zu einem gewissen Grad auch China, zu intensivieren. Dennoch ist das BIP im Jahr 2022 um etwa 3 % gesunken und wird voraussichtlich auch 2023 nicht wachsen. Der Trend der sinkenden Reallöhne, die seit 2008 um über 15 % gesunken sind, hat sich beschleunigt.

22. Wie auch immer der Krieg ausgeht, Putins Position ist durch die Ereignisse des Jahres 2022 dramatisch geschwächt worden. Er ist zunehmend zu schnellen Veränderungen gezwungen - der berüchtigte General Armageddon, den er im Oktober mit dem Kommando über die russischen Streitkräfte in der Ukraine betraut hatte, wurde bereits im Januar durch seinen gescheiterten Vorgänger General Gerasimow ersetzt. Die Streitigkeiten zwischen den Hardliner*innen und der Armeeführung sowie zwischen der Wagner-Söldnertruppe und den offiziellen Armeestrukturen treten immer deutlicher zutage.

23. Ob Putin als "lame duck" Präsident überlebt, wird nun von den Ereignissen abhängen. Wenn sich der Krieg in die Länge zieht und die Proteste unter den Mobilisierten, den Angehörigen und der Bevölkerung zunehmen, könnte es zu einem Aufstand allgemeineren Charakters wie in Belarus und Kasachstan oder zum Ausbruch von eher lokal begrenzten Protesten in den nationalen Republiken oder in Regionen wie in Chabarowsk 2020-21 kommen. Bei weiteren Niederlagen an der Front ist nicht auszuschließen, dass es innerhalb des Regimes Bestrebungen geben wird, Putin abzusetzen, um den Verlauf des Krieges zu ändern (und damit vielleicht die Niederlage einzugestehen) oder eine neue Massenbewegung zu verhindern. Angesichts der dramatischen Schwächung der Zentralgewalt ist es durchaus möglich, dass sich die zentrifugalen Tendenzen innerhalb Russlands verstärken und die Kämpfe der nationalen Republiken und anderer Gruppen wieder aufleben. Diese möglichen Perspektiven machen es umso wichtiger, dass eine starke, auf der Arbeiter*innenklasse basierende, sozialistische Alternative aufgebaut wird.  

24. Wie wir von Anfang an betont haben, hat die Dynamik des Krieges auf eine Eskalation hingedeutet. Jetzt, da sich beide Seiten in der Ostukraine verschanzt haben und versuchen, sich einen Vorteil zu verschaffen, erhöht der Westen sein Engagement. Es besteht die Sorge, dass die Ukraine den Schwung beibehält und Russland seine 300 000 neuen Truppen nutzen könnte, um in einer neuen Offensive Boden zurückzugewinnen. Beide Seiten haben im Kampf um Bakhmut enorm viele Soldat*innen verloren. Nachdem die westlichen Imperialist*innen Waffensysteme geschickt haben, die als "defensiv" dargestellt werden konnten, gehen sie nun dazu über, eindeutig "offensive" Waffen zu schicken, darunter "gepanzerte Kampffahrzeuge", Raketen mit größerer Reichweite und möglicherweise Kampfpanzer (obwohl die Regierungen Deutschlands und der USA dies bisher verhindern). Und laut der New York Times (19./23.1.) erwägen die USA ernsthaft, das ukrainische Militär bei einer Offensive gegen russische Stellungen auf der Krim zu unterstützen, um zumindest die Landbrücke zwischen der Krim und Russland abzuschneiden. Dies würde eine erhebliche Eskalation des Angriffs auf eine Region bedeuten, die seit 2014 Teil des russischen Staates ist und deren Bevölkerung dies zu akzeptieren scheint.

 

25. In der Resolution über den Krieg und seine Folgen, die der Internationale Ausschuss auf seiner Sitzung Ende März in Wien angenommen hat, heißt es: "Die Möglichkeit eines Krieges zwischen der NATO und Russland ist heute größer als zu jedem anderen Zeitpunkt des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion." Dies gilt heute umso mehr. In den westlichen Medien wird viel über die Möglichkeit diskutiert, dass Russland "taktische" Atomwaffen auf dem Schlachtfeld einsetzt. Obwohl das russische Militär sehr in der Defensive ist, ist dies aus mehreren Gründen unwahrscheinlich. Sollte Putin jedoch einen solchen Schritt unternehmen, würde die NATO - je nach dem genauen Charakter eines solchen Angriffs - wahrscheinlich nicht mit einem nuklearen Gegenschlag reagieren, sondern mit einer Kombination aus einer massiven "konventionellen" militärischen Antwort und diplomatischen Schritten wie der beschleunigten NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und der massiven Erhöhung des Drucks auf andere Regierungen, Russland zu verurteilen und die von den USA verhängten Sanktionen zu unterstützen. Der Einsatz taktischer Nuklearwaffen durch Russland sowie die wahrscheinliche militärische Antwort des Westens - selbst wenn sie mit konventionellen Waffen erfolgt - würde Russland und das Putin-Regime noch mehr in Verruf bringen, selbst China wäre gezwungen, sich zumindest rhetorisch zu distanzieren, und viele Halbverbündete müssten Abstand nehmen. Mit Sicherheit würde dies international eine Welle massiver Antikriegsproteste auslösen. Das liegt nicht nur an der schrecklichen Natur von Atomwaffen selbst und den unglaublichen Verwüstungen, die damit angerichtet würden, sondern auch daran, dass die ganze Situation eine massive Eskalation darstellen würde. Natürlich können wir nicht mit Sicherheit sagen, wie genau das Bewusstsein beeinflusst würde, wie groß eine solche Bewegung wäre oder wie die verschiedenen Beziehungen und Bündnisse zwischen den Mächten beeinflusst würden, aber es ist nicht auszuschließen, dass die Reaktion ein solches Ausmaß annehmen könnte, dass sie zumindest für eine gewisse Zeit das Gleichgewicht der Kräfte verändert und in einigen Regionen, auch in Russland selbst, sehr wichtige Möglichkeiten für Jugendliche und Arbeiter*innen eröffnet, sich zu organisieren. Gleichzeitig kann eine chauvinistische "antirussische" Stimmung nicht ausgeschlossen werden. Der Krieg hätte dann keinen "Stellvertreter"-Charakter mehr, sondern würde zu einem direkten Konflikt zwischen dem amerikanischen und dem russischen Imperialismus. Aber selbst wenn dieses Szenario nicht eintritt, deutet die Logik des Konflikts - mit russischen Streitkräften auf dem Rückzug und Putin verzweifelt bemüht, die Richtung des Krieges zu ändern - auf eine weitere gefährliche Eskalation hin.

26. Ein dritter Weltkrieg im Sinne eines ausgewachsenen Atomkriegs wird im Massenbewusstsein derzeit nicht als wahrscheinlich angesehen. Er ist sicherlich etwas, das seit langem nicht mehr als mögliches Szenario aufgetaucht ist. Aber der Krieg in der Ukraine wird als der Beginn eines umfassenderen Konflikts betrachtet werden, der viele Phasen haben wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die nächste Phase in den nächsten Jahren der Ausbruch eines Krieges um Taiwan sein könnte, an dem die USA mit Verbündeten wie Japan, Australien und NATO-Militärs gegen China beteiligt sind. Wenn der Taiwan-Konflikt in einen Krieg umschlägt, könnte er das Ausmaß der Zerstörung und die globalen Auswirkungen selbst des Ukraine-Krieges weit übertreffen. Ob die USA und ihre Verbündeten direkt intervenieren oder nach dem "Ukraine-Modell" einen indirekten Stellvertreterkrieg zur Unterstützung Taiwans führen, würde von vielen Faktoren abhängen, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht vollständig vorhergesagt werden können. Aber auch ein direkter Konflikt zwischen imperialistischen Mächten, zu dem der Krieg in der Ukraine noch werden könnte, kann mit konventionellen Waffen geführt werden.

Die weitere Entwicklung des Krieges

27. Ein völliger Zusammenbruch des russischen Militärs, ja sogar eine Rebellion in den eigenen Reihen wie beim US-Militär in Vietnam, die das Putin-Regime in eine enorme Krise stürzen würde, wird zwar häufig diskutiert, ist aber nicht das wahrscheinlichste Szenario. Aber mit der Konzentration und Intensivierung der Kämpfe in der Donbass-Region ist nicht auszuschließen, dass die russischen Streitkräfte den Rückzug beenden und in einigen Gebieten sogar in die Offensive gehen können. "General Armageddon", Sergej Surowikin, der das russische Militär zur Zerstörung von Kraftwerken und Energieinfrastrukturen antrieb, in der Hoffnung, die ukrainische Bevölkerung zu demoralisieren und sie den ganzen Winter über im Dunkeln frieren zu lassen, wurde nun, nur drei Monate nach seiner Ernennung, seines Amtes enthoben und durch den Chef des Generalstabs ersetzt. Die Umbesetzung der Kriegsspitze hat die Krisenstimmung bei den russischen Streitkräften noch einmal unterstrichen. Da Russland nicht in der Lage ist, auf dem Schlachtfeld echte Fortschritte zu erzielen, wird es, solange es die Ressourcen erlauben, seine Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur fortsetzen, um den Widerstand zu zermürben. Es hat nicht den Anschein, dass Russland jetzt in der Lage ist, den Krieg in dem Sinne zu gewinnen, dass es einen größeren Teil des ukrainischen Territoriums, einschließlich des gesamten Donbass und der Schwarzmeerküste, halten und annektieren kann.

28. Die negativen Folgen des Krieges für den russischen Imperialismus häufen sich bereits. Durch die völlige Ablenkung in der Ukraine, die seine regionale und globale Stärke erhöhen sollte, sieht der russische Imperialismus auch seinen geschätzten Einfluss in Zentralasien schwinden, vor allem zum Vorteil Chinas und der Türkei, aber auch der USA, der EU und Indiens. Die kasachische Regierung hat die Invasion in der Ukraine offen kritisiert und hält sich an die von den USA verhängten Sanktionen. Die jüngsten Unruhen zwischen Kirgisistan und Tadschikistan sowie zwischen Aserbaidschan und Armenien wurden von Russland und seiner OVKS ignoriert. Jetzt zieht die russische Armee ihre Truppen aus Syrien ab, um die ukrainische Front zu verstärken. Selbst der Autokrat von Belarus, Lukaschenko, konnte seinem großen Bruder Putin nicht helfen, weil er befürchtet, dass dies eine neue Protestwelle in seinem eigenen Land auslösen würde. 

29. Sogar der Autokrat von Belarus, Lukaschenko, wurde in seiner Unterstützung für seinen "großen Bruder" Putin zurückgehalten, da er befürchtete, dass dies eine neue Protestwelle in seinem eigenen Land auslösen würde. Der Aufstand von 2020 und die Unterdrückung der organisierten Arbeiter*innenklasse wurden von Russland unterstützt. Wirtschaftlich ist Belarus von China und Russland abhängig und als Kriegspartei gleichzeitig von den Sanktionen der EU und der USA betroffen. Es fungiert aber nur als Aufmarschgebiet für russisches Kriegsgerät. Das liegt daran, dass Lukaschenko seine Bevölkerung nicht für den Krieg begeistern konnte. Unabhängige Studien schätzen, dass nur etwa zwanzig Prozent den Krieg unterstützen, doch nur drei Prozent befürworten eine militärische Beteiligung. Trotz Drohungen und Repressionen seitens der Regierung stimmte der unabhängige Weißruss*innen-Gewerkschaftskongress für eine Resolution gegen den Krieg. Daraufhin erklärte das Lukaschenko-Regime eine Reihe unabhängiger Gewerkschaften, wie die Eisenbahn-, die Kommunikations- und die Elektrogewerkschaft, zu terroristischen Organisationen. Mehrere Gewerkschaftsführer*innen wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Zwischen Februar und April 2022 verübten Arbeiter*innen der Eisenbahn, Zivilist*innen und andere so genannte "Eisenbahn- und Cyberpartisanen" im Süden von Belarus über 80 Sabotageakte gegen das Schienennetz, um den russischen Einmarsch in der Nordukraine und den Angriff auf Kiew zu behindern. Über 40 weitere Personen wurden verhaftet. Drei Aktivist*innen wurden anschließend zu 20 bzw. 22 Jahren Haft verurteilt, weil sie den Verkehr um mehr als eine Woche verlangsamt hatten. Viele Linke und Gewerkschafter*innen haben das Land verlassen und organisieren die Opposition im Exil. Lukaschenko sitzt auf einem Pulverfass, denn die Inflation führt zu großer Armut. Je mehr der Krieg Russland schwächt, desto mehr Möglichkeiten sehen die Arbeiter*innen, das Regime in Frage zu stellen.

30. Bisher hatte Putin von der organisierten russischen Arbeiter*innenbewegung nichts zu befürchten. Der Vorsitzende des größeren der beiden relevanten russischen Verbände der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR) Michail W. Schmakow war stellvertretender Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB). Zwanzig Millionen russische Gewerkschafter*innen verließen nach Kriegsbeginn die internationale sozialdemokratische Gewerkschaftsfamilie. Sie organisierten sogar Autokonvois durch das ganze Land, um den Krieg zu unterstützen. Der Waffenstillstand zwischen den russischen Gewerkschaften und der herrschenden Klasse hat die Arbeiter*innenbewegung in Russland sicherlich gelähmt und verwirrt. Dennoch finden weiterhin illegale Streiks statt, um auf die Schließung internationaler Unternehmen angesichts der wirtschaftlichen Repression zu reagieren. Anarchistische Kollektive wie "Stop the Waggons", die von der Sabotage des Schienengüterverkehrs aus Belarus erfahren haben, blockieren ebenfalls die Eisenbahnlinien. Es gab Fälle, in denen Lokführer*innen selbstgebastelte Bomben auf die Gleise legten, um einen unerwarteten Halt zu rechtfertigen und den Kriegstransport zu verzögern. Parallel dazu gibt es täglich Bombendrohungen, Anschläge auf Rekrutierungsbüros, Autos mit Z-Symbolen, Stromleitungen, Umspannwerke und Getreidespeicher und vieles mehr. All dies macht deutlich, dass es im Hinterland der Hauptkriegspartei keine Ruhe gibt.

31. In einem bestimmten Stadium wird der Druck für Verhandlungen zunehmen, um den Krieg zu beenden. Die ersten Verhandlungsrunden beschränkten sich auf Themen wie Getreidelieferungen und Gefangenenaustäusche und wurden weitgehend von Erdogan organisiert. Der Druck zu Verhandlungen nahm zu, als Indien und China ihre Forderungen nach den russischen Raketenangriffen auf ukrainische Städte im Oktober erneuerten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind Verhandlungen für die Ukraine nur auf der Grundlage eines vollständigen Rückzugs der russischen Truppen akzeptabel. Sollte Zelensky unter dem Druck des Westens in dieser Phase Zugeständnisse machen, würde er mit einer Gegenreaktion und einer möglichen Ablösung innerhalb der Ukraine rechnen müssen. Russland seinerseits, das zunehmend mit dem Rücken zur Wand steht, ist noch nicht zu ernsthaften Verhandlungen bereit - sein einziges Ziel ist es, die ukrainische Offensive zu verzögern, um dem Land Zeit zu geben, sich neu zu formieren, die Gräben zwischen den NATO-Staaten zu vertiefen und seine Streitkräfte für eine neue Frühjahrsoffensive aufzurüsten.

32. Die USA und andere westliche Mächte wollen auf jeden Fall eine Niederlage Russlands, aber sie sind besorgt über einen zu schnellen Zusammenbruch des Putin-Regimes, weil es durch ein noch unberechenbareres Regime ersetzt werden könnte, aber auch, weil sie die Folgen eines massiven sozialen Umbruchs in Russland fürchten, der sich über seine Grenzen hinaus ausbreiten könnte. Dieses Szenario würde nicht automatisch zu einer revolutionären Situation führen, aber mit Sicherheit eine große Chance für die Bildung einer klaren Arbeiter*innenklasse-Opposition innerhalb Russlands schaffen. Die USA würden ein "kontrollierteres" Ergebnis bevorzugen, bei dem das russische Militär lahmgelegt wird und große Teile des ukrainischen Territoriums abtreten muss, was durch eine Verhandlungslösung abgesichert wäre.

33. Irgendwann wird der Druck für eine Lösung auf dem Verhandlungsweg zunehmen. Aber Verhandlungen, die unter dem Dach der imperialistischen Mächte geführt werden, bieten keinen Ausweg aus dieser Situation. Wie die Erfahrungen mit den Minsker Vereinbarungen nach 2014 zeigen, werden die Kriegstreiber und Oligarch*innen, solange sie die Kontrolle behalten, weiterhin militärische Mittel einsetzen, um ihre Interessen zu verteidigen. Bei den Verhandlungen wird es wahrscheinlich um Sicherheitsgarantien für die Ukraine gehen. Der Wunsch der Ukraine, der NATO beizutreten, wird, sofern sich die Lage nicht dramatisch ändert, noch einige Jahre aufgeschoben werden, da die NATO-Anführer*innen dies als Überschreitung der roten Linie Russlands ansehen. Außerdem bedeutet dies, dass sie verpflichtet sind, direkt einzugreifen, wenn Russland in Zukunft wieder aggressiv agiert. Gleichzeitig werden alle territorialen Zugeständnisse Zelenskis die nächste Phase des Konflikts nur hinausschieben. Vor allem, wenn die Zugeständnisse unter dem Druck des Westens gemacht werden, werden sich viele Menschen in der Ukraine vom Imperialismus im Stich gelassen fühlen.

34. Wir können keine endgültigen Aussagen über das Ergebnis machen, das noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Aber es ist wichtig zu fragen, welche Auswirkungen eine umfassende Niederlage für Russland hätte. Im Kontext des gesamten Kalten Krieges wäre dies ein großer Sieg für den westlichen und insbesondere den US-Imperialismus. Natürlich sind die USA besorgt über einen zu schnellen Zusammenbruch des Putin-Regimes, weil es durch ein noch unberechenbareres Regime ersetzt werden könnte, aber auch, weil sie die Folgen eines massiven sozialen Umbruchs in Russland fürchten, der sich auch außerhalb seiner Grenzen ausbreiten könnte. Dieses Szenario würde nicht automatisch zu einer revolutionären Situation führen, aber sicherlich eine große Chance für die Bildung einer klaren Opposition der Arbeiter*innenklasse innerhalb Russlands schaffen. Die USA würden ein "kontrollierteres" Ergebnis bevorzugen, bei dem das russische Militär lahmgelegt wird und große Gebiete in der Ukraine abtreten muss, was durch eine Verhandlungslösung abgesichert wäre.Aber sie wollen auf jeden Fall, dass diese Krise zu einem schweren Schlag für den russischen Imperialismus führt. Es stimmt, dass Frankreich und Deutschland eine Verhandlungslösung bevorzugen, die es Russland ermöglicht, "das Gesicht zu wahren". Darin spiegeln sich die Interessen des französischen und deutschen Imperialismus wider. Aber im Moment haben die USA das Sagen, und die EU ist gezwungen, sich an die Vorgaben zu halten. 

35. Für die ukrainische Bevölkerung wird das Ergebnis - selbst wenn die russischen Streitkräfte aus den meisten oder sogar, was sehr unwahrscheinlich ist, aus allen von ihnen eroberten Gebieten vertrieben werden - keine echte Unabhängigkeit sein, die auf der Grundlage des Kapitalismus unmöglich ist. Neben massiven Verlusten werden große Teile des Landes in Schutt und Asche gelegt und die Infrastruktur zerstört werden. Zelenskys Regime wird, wenn es noch an der Macht ist, versuchen, die Arbeiter*innenklasse und die russischsprachige Gemeinschaft im Namen der ukrainischen Oligarch*innen und des westlichen Imperialismus weiter zu unterdrücken. Letztere werden versuchen, die Ukraine in einen Klientenstaat und ein bewaffnetes Vorwärtslager zur Verteidigung ihrer Interessen zu verwandeln. Zelensky wird auf den Widerstand der Arbeiter*innenklasse stoßen, vor allem, wenn der Krieg mit einem Vertrag endet, der die Akzeptanz der Kontrolle von Teilen des ukrainischen Territoriums vor 2014 durch Russland beinhaltet. Dies könnte eine Massenopposition und sogar Unruhen innerhalb der Ukraine auslösen, die das Zelensky-Regime bedrohen. Das liegt auch an der arbeiter*innenklassenfeindlichen Politik der ukrainischen Regierung. Trotz internationaler Proteste hat Zelenski auch arbeitnehmer*innenfeindliche Gesetze unterzeichnet, die Verhandlungen mit Gewerkschaften in den meisten Betrieben ausschließen, das Verbot der Nachtarbeit für Eltern mit kleinen Kindern aufheben, Überstunden legalisieren und willkürliche Entlassungen vorsehen. Während des Krieges haben sich die Gewerkschafter*innen hauptsächlich an der Verteilung humanitärer Hilfe und der Organisation von Unterkünften für Binnenvertriebene beteiligt. Gleichzeitig hat die Regierung eine Reihe von Gewerkschaftssitzen und -gebäuden beschlagnahmt. Schon vor dem Krieg hatte Zelensky mit Bergarbeiter*innen in den staatlichen Bergwerken zu tun, die noch im Dezember 2021 für bessere Arbeitsbedingungen streikten. In der Westukraine kam es kürzlich zu einem Bergarbeiter*innenstreik gegen Korruption und Misswirtschaft in der Region. Die Regierung nutzt den Krieg, um Angriffe auf die Rechte der Arbeiter*innen durchzuführen, die sie vor dem Krieg nicht durchführen konnte. Dies kann zu Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegungen führen, die bewiesen haben, dass sie in der Lage sind, ihr Leben selbst zu organisieren und Infrastrukturen ohne die Einmischung einer kapitalistischen Regierung zu erhalten. Diese Punkte unterstreichen die Notwendigkeit eines unabhängigen Programms der Arbeiter*innenklasse im Gegensatz zu den vagen nationalistischen Slogans, die von der ukrainischen Bourgeoisie und dem westlichen Imperialismus zur Tarnung ihres eigenen katastrophalen Programms vorgebracht werden.

Spannungen innerhalb der Lager

36. Bei der Distanzierung Chinas von Russland geht es nicht darum, das Bündnis zu brechen, das ohnehin nur bedingt funktioniert - es erstreckt sich nicht auf militärische Unterstützung und dient vor allem dazu, eine gemeinsame diplomatische Front gegen die USA zu bilden -, sondern sie sind beunruhigt über die schwache Leistung der russischen Streitkräfte und die schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges sowie darüber, dass der westliche Imperialismus dadurch gestärkt und geeint wurde. Wir sollten uns nicht über Spannungen im von China geführten Lager wundern, ebenso wie es im westlichen Lager erhebliche Spannungen über die Art der Kriegsführung und das Endergebnis gibt. Diese können in einer bestimmten Phase zu größeren Spaltungen führen. Sollten die Russen beispielsweise taktische Atomwaffen in der Ukraine einsetzen, würde dies das Regime von Xi Jinping zweifellos vor neue Probleme stellen, obwohl es selbst in diesem Fall zunächst versuchen würde, sich mit ausweichenden Aufrufen zu "Frieden" und "Zurückhaltung" aus der Affäre zu ziehen. Ein vollständiger Bruch zwischen dem chinesischen und dem russischen Regime ist sehr unwahrscheinlich, da sie einander brauchen. Die Logik des Neuen Kalten Krieges bedingt, dass sie nicht so viele andere Optionen haben. 

37. Das Modi-Regime in Indien hat aus wirtschaftlichen und geopolitischen Gründen versucht, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Lagern herzustellen. Das Hauptanliegen der indischen herrschenden Klasse sind die zahlreichen Konflikte mit China. Indien hat sich in das US-Lager begeben, um China einzudämmen, und zwar durch die Teilnahme an QUAD, IPEF, eine engere Zusammenarbeit mit dem US-Militär und sogar in Fragen wie Taiwan, wo die indische Seemacht eine Rolle spielen könnte. Die indischen Kapitalist*innen erwarten, von der Entkopplung zwischen den USA und China und dem "Friendshoring" zu profitieren - sie positionieren sich als das "nächste China" und schlucken Teile der Lieferkette, die jetzt China verlassen. In der Ukraine sind Modi jedoch die Hände gebunden, da er eine Stärkung der Achse Russland-China befürchtet, bei der Xi stärker und Putin schwächer wird, je länger der Krieg andauert. Mit seiner Unterstützung für Russland will er verhindern, dass die traditionelle Unterstützung des Kremls für Indien, vor allem in Form von Militärlieferungen, unter Pekings Druck nachlässt. 

38. Wir haben bereits die Spaltung im westlichen Lager zwischen Deutschland und Frankreich, den wichtigsten EU-Mächten, auf der einen Seite und den USA, dem Vereinigten Königreich und den östlichsten EU-Staaten wie Polen und den baltischen Staaten auf der anderen Seite festgestellt. Kurzfristig sind die westlichen Schlüsselmächte jedoch näher zusammengerückt, um in diesem Krieg eine gemeinsame Front zu bilden, wobei sich insbesondere Macron dem Ansatz der USA angeschlossen und leichte Panzer in die Ukraine geschickt hat. Das kriegerischere Vorgehen Frankreichs (und in gewissem Maße auch Deutschlands) spiegelt zum Teil wider, dass die Energiekrise während eines wärmeren Winters nicht voll zum Tragen kam.

39. Bemerkenswerter ist jedoch, wie weit die EU hinter die Position der USA zurückgefallen ist, nicht nur in der Frage der Ukraine und der Unabhängigkeit von russischer Energie, sondern auch in der umfassenderen Strategie des Kalten Krieges gegen China. Bis vor ein paar Jahren versuchten die herrschenden Klassen Deutschlands und Frankreichs, eine mittlere Position der "strategischen Autonomie" einzunehmen und sich weiterhin mit China zu " verbünden". Dies begann sich schon vor dem Ukraine-Krieg zu ändern, als die EU China 2019 zum "Systemrivalen" erklärte, als Reaktion auf das chinesische Eindringen in Europa mit der Neuen Seidenstraße Initiative, einschließlich Investitionen in Mittel- und Osteuropa sowie in Italien und Griechenland. Dieser Prozess hat sich seit Beginn des Krieges beschleunigt, mit einer besonders starken Veränderung in Deutschland. In einem Papier, das für ein Treffen der EU-Außenminister*innen erstellt wurde, heißt es: "China ist zu einem noch stärkeren globalen Konkurrenten für die EU, die USA und andere gleichgesinnte Partner geworden. Es ist daher von entscheidender Bedeutung zu bewerten, wie man am besten auf die aktuellen und vorhersehbaren Herausforderungen reagieren kann". Diese werden wahrscheinlich "die Divergenz zwischen Chinas und unseren eigenen politischen Entscheidungen und Positionen vergrößern". (zitiert in der Financial Times vom 18. Oktober) Diese härtere Anti-China-Haltung wird in der NATO noch deutlicher, und alle bis auf vier eher kleine EU-Mitglieder sind Teil der NATO (Schweden und Finnland, die kurz vor einem Beitritt stehen, sowie Irland und Österreich).

40. Gleichzeitig hat das Vorgehen Saudi-Arabiens, das OPEC+1-Kartell gegen den ausdrücklichen Wunsch der Biden-Regierung zu einer erheblichen Kürzung der Ölförderung zu bewegen (von der Russland, aber auch der Iran profitieren), zu einer wütenden Reaktion des politischen Establishments der USA geführt, von denen einige damit drohen, Saudi-Arabien die militärische und sonstige Hilfe zu entziehen. Die Ölmonarchien auf der arabischen Halbinsel machen sich die Energiekrise zunutze und schließen neue profitable Geschäfte mit Mächten wie Deutschland, die verzweifelt nach Alternativen zu russischem Erdgas und Öl suchen. Auch das Erdoğan-Regime in der Türkei versucht, sich in dem Konflikt eine unabhängige Position zu verschaffen. 

Der breitere Kalte Krieg 

41. Wie wir bereits vor einigen Jahren feststellten, ist der Neue Kalte Krieg zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Imperialismus, dessen Wurzel in einer tiefen Krise des globalen Kapitalismus liegt, zum wichtigsten Element der Weltbeziehungen geworden. Unter Biden stellen die USA den Konflikt als Teil eines umfassenderen existenziellen Kampfes zwischen "Demokratie und Autokratie" dar, auch innerhalb der USA selbst. Immer mehr westliche Kommentator*innen argumentieren auch, dass die chinesische Form des Staatskapitalismus mit "offenen" Volkswirtschaften und Gesellschaften unvereinbar sei. Das chinesische Gegenargument konzentriert sich auf die Weigerung des Westens, den legitimen Aufstieg Chinas zu akzeptieren. Das KPCh-Regime stellt sich als Verbündeter der Entwicklungsländer gegen die alten Imperialist*innen dar - eine Maske, die von Zeit zu Zeit fällt, etwa als der hohe KPCh-Funktionär Yang Jiechi vor den Regierungen Südostasiens eine Rede hielt: "China ist ein großes Land und ihr seid kleine Länder, das ist eine Tatsache". Innenpolitisch hat Xis Regime zunehmend die Doktrin der Han-Vorherrschaft bekräftigt, der zufolge alle nationalen Minderheiten von Xinjiang bis Tibet minderwertig sind und zu ihrem eigenen Wohl in die han-chinesische Kultur assimiliert werden sollten. All diese Narrative auf beiden Seiten des Neuen Kalten Krieges sind Versuche, den zugrunde liegenden imperialistischen Charakter dieses Konflikts - um Märkte, Ressourcen und Kontrollbereiche - zwischen den herrschenden Klassen der USA und Chinas zu verschleiern. Diese zwischenimperialistischen Konflikte und die sie umgebenden Narrative der herrschenden Klassen sind an und für sich Zeichen der Schwäche und des Verfalls des Kapitalismus, da sich die Krisen häufen. 

42. Wie wir bereits erklärt haben, wäre es ein Fehler zu glauben, dass der Krieg in der Ukraine und die Reaktion der USA bedeuten, dass sie sich auf Europa und nicht auf den indopazifischen Raum konzentrieren. Das ist eindeutig falsch. In Wirklichkeit erleben wir gleichzeitig mit dem Ukraine-Konflikt eine erhebliche Eskalation des umfassenderen Kampfes um die Vorherrschaft im indopazifischen Raum, in dessen Mittelpunkt die USA und China stehen. Der Krieg in der Ukraine hat diesen Prozess beschleunigt und ist auch untrennbar mit ihm verbunden. 

43. Taiwan ist zu einem immer zentraleren Bestandteil dieses Konflikts geworden, vor dem sich keine Seite zurückziehen kann. Der KPCh-Kongress hat unterstrichen, wie zentral die sogenannte nationale Wiedervereinigung, also die Eroberung Taiwans, für die nationalistische und imperialistische Ideologie des Staates ist. Dies spiegelt Putins Besessenheit von der Wiederherstellung der "historischen Territorien" Russlands wider. Xi hat mehrfach erklärt, dass dies notfalls auch mit Gewalt erreicht werden würde. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Xi einen militärischen Angriff auf Taiwan starten würde, wenn er sich des Erfolgs sicher wäre. Aber das ist bei dem heutigen militärischen Kräfteverhältnis zu den USA nicht der Fall. Es gab eine Reihe von Warnungen aus US-Militärkreisen, dass ein chinesischer Angriff unmittelbar bevorstehen könnte. Im Oktober warnte Außenminister Blinken, dass ein Taiwan-Krieg "viel schneller" beginnen könnte. Seine Äußerungen wurden von Admiral Michael Gilday, dem Leiter der US-Marineoperationen, bestätigt, der behauptete, China könnte bereits 2023 einen Angriff starten. Diese Behauptungen erscheinen jedoch unwahrscheinlich, da Chinas Militär in bestimmten Schlüsselbereichen immer noch hinter den USA zurückbleibt und eine amphibische Invasion über die Straße von Taiwan logistisch äußerst schwierig ist. Wie wir bereits erläutert haben, hat Putins Debakel in der Ukraine die Zurückhaltung des chinesischen Regimes gegenüber einem Angriff auf Taiwan vorerst noch verstärkt.

44. Andererseits hat Biden jetzt nicht weniger als viermal erklärt, dass die USA Taiwan im Falle einer Invasion durch China militärisch verteidigen würden. Und auch wenn seine Sprecher dies jedes Mal zurücknehmen, so ist dies doch eine deutliche Abkehr der US-Politik von der "strategischen Zweideutigkeit" der vergangenen vier Jahrzehnte. Natürlich hat auch der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan im August die Spannungen verschärft. Biden hat sich auf die Entwicklung der "Quad"-Sicherheitsallianz konzentriert, der Indien, Japan, Australien und die USA angehören und die darauf abzielt, die wachsende chinesische Militärmacht einzudämmen und sich auf die Möglichkeit eines Krieges um Taiwan oder, in kleinerem Maßstab, um umstrittene Inseln im Ost- und Südchinesischen Meer vorzubereiten. In der Zwischenzeit hat die NATO auf ihrem Madrider Gipfel (zu dem auch Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland eingeladen waren) eine neue Aufgabenbeschreibung verabschiedet, in der China erstmals als systemische "Herausforderung" bezeichnet wird. Es wird nun offen über eine "asiatische NATO" spekuliert, die jedoch eher die Form einer Reihe von separaten, sich aber überschneidenden US-geführten Militärbündnissen gegen China annehmen wird, wie z.B. QUAD, AUKUS und der "VFA"-Pakt mit den Philippinen. 

45. Natürlich steht das chinesische Regime nicht untätig herum. Xi Jinping warb auf dem BRICS-Treffen 2022, dem neben China auch Brasilien, Russland, Indien und Südafrika angehören, für seine eigene "Globale Sicherheitsinitiative". BRICS ist jedoch kaum mehr als eine Gesprächsrunde und die GSI ist hauptsächlich eine Propagandaübung. Noch wichtiger ist, dass das KPCh-Regime weiterhin aggressiv auf die Entwicklung von Sicherheitsvereinbarungen mit pazifischen Inselstaaten drängt. Ein wichtiges Beispiel dafür ist ein Pakt, der mit den Salomonen unterzeichnet wurde, die weniger als 2.000 km von Australiens Küste entfernt liegen. China hat ein Machtvakuum in der Region ausgenutzt, das durch die jahrelange Vernachlässigung durch die USA und ihre Verbündeten, vor allem Australien, entstanden ist, indem es im Rahmen der Gürtel- und Straßeninitiative (BRI) Infrastrukturverträge abschloss und großzügige Bestechungsgelder an die lokalen Eliten zahlte. Während die USA in einer Region, die sie jahrzehntelang dominiert haben, überrumpelt wurden, drängen sie nun darauf, aufzuholen, haben einen eigenen Pakt mit den Salomonen unterzeichnet und einige chinesische Initiativen in der Region erfolgreich blockiert. 

46. Die westlichen Imperialist*innen und Japan im Kreis der G7 versuchen ebenfalls mit Verspätung, Chinas massive neue Seidenstraße zurückzudrängen, indem sie ihre eigenen Pläne für Infrastrukturinvestitionen entwickeln, um dem chinesischen Einfluss in "Entwicklungsländern" entgegenzuwirken. China nutzt auch Schulden, um die neokoloniale Abhängigkeit in verschiedenen Klientenstaaten zu verstärken. Dies ist nur eine Fortsetzung dessen, was der IWF und die Weltbank seit Jahrzehnten im Namen des US-Imperialismus tun, aber es unterstreicht, wie der zwischenimperialistische Konflikt seinen Weg in jeden Winkel der Welt findet. 

Entkopplung und Deglobalisierung 

47. Der Ukraine-Krieg hat den Trend zur Entglobalisierung massiv beschleunigt. Der deutlichste Ausdruck dafür ist die radikale Entkopplung zwischen dem Westen und Russland, der elftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Die Entkopplung zwischen den USA und China, die ein ganz anderes Ausmaß hat, hat sich ebenfalls dramatisch beschleunigt, auch wenn sie noch nicht an die russischen Extreme heranreicht. Nach vier Jahren Handelskrieg, der von Donald Trump angezettelt wurde, sind Chinas IT- und Elektronikexporte in die USA um fast zwei Drittel eingebrochen, von 38 auf 13 Prozent, wobei Taiwan und Mexiko auf Kosten Chinas Marktanteile gewonnen haben. Wir haben eine erhebliche Verlagerung der Produktion aus China in Länder wie Vietnam, Malaysia, Indien, Bangladesch und Taiwan beobachtet, und zwar sowohl wegen des zunehmend unsicheren Umfelds, das durch den Kalten Krieg entstanden ist, als auch wegen des Chaos, das durch Chinas "Null COVID"-Politik verursacht wurde. Dies stellt den Status Chinas als "Fabrik der Welt" in Frage. Es gibt auch einige Anzeichen für "Reshoring" und "Nearshoring" der Produktion in die USA und verbündete Staaten, wodurch kritische Sektoren und Ressourcen dorthin zurückgebracht werden, wo sie leichter kontrolliert werden können. 

48. Die größte Entwicklung im Abkopplungsprozess ist jedoch die Eskalation des US-Tech-Kriegs mit dem im August unterzeichneten CHIPS-Gesetz, das 50 Milliarden Dollar für den Bau von Mikroprozessor-Fabriken in den USA vorsieht, gefolgt von den neuen Exportkontrollen, die von der Biden-Regierung im Oktober angekündigt wurden. Diese untersagen den Verkauf von hochentwickelten Computerchips und den Werkzeugen zur Herstellung solcher Chips nach China. Die Maßnahmen des US-Handelsministeriums gelten nicht nur für US-Unternehmen, sondern auch für ausländische Unternehmen, wenn ihre Produkte in den USA hergestellte Komponenten oder Software enthalten. Ziel ist es, die wirtschaftliche Entwicklung Chinas und seine Pläne für einen Durchbruch in Schlüsselbereichen wie künstliche Intelligenz, Supercomputer, fortgeschrittene Robotik und vor allem Waffensysteme der nächsten Generation zu behindern. Eine weitere Sorge ist, dass der US-Imperialismus die Abhängigkeit von der taiwanesischen Halbleiterindustrie verringern will, vor allem wenn diese in einem Krieg unter die Kontrolle Chinas fallen sollte. In Deutschland wird die größte Mikrochipfabrik der Welt gebaut - mit hohen Subventionen des deutschen Staates und möglicherweise der EU und mit dem Ziel, die Abhängigkeit von Importen aus Ostasien zu verringern. 

49. Ein China-Experte, Paul Triolo, bezeichnete dies als "großen Wendepunkt" in den Beziehungen zwischen den USA und China und sagte: "Die USA haben Chinas Fähigkeit, die Nutzung von Hochleistungsrechnern für wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zwecke voranzutreiben, im Wesentlichen den Krieg erklärt." (New York Times, 10.12.22) Dass es sich hierbei um einen Krieg mit anderen Mitteln handelt, wird durch Bidens kürzlich veröffentlichtes 48-seitiges Dokument zur nationalen Sicherheitsstrategie bestätigt, in dem erklärt wird, dass es das Ziel der USA ist, "die Volksrepublik China in den Bereichen Technologie, Wirtschaft, Politik, Militär, Nachrichtendienste und Weltregierung zu überflügeln". Das Dokument fügt hinzu, dass die USA und China weiterhin "friedlich koexistieren" würden. 

50. Diese Entwicklungen zeigen auch, warum die westliche Propaganda, die darauf abzielt, die grundsätzliche Unvereinbarkeit des chinesischen Staatskapitalismus und der westlichen "offenen" Gesellschaften aufzuzeigen, übertrieben ist. Bei dem Kampf geht es um imperialistische Kontrolle, nicht um unterschiedliche Systeme. Es ist sicherlich richtig, dass unter Xi Jinping das Privatkapital in China stärker eingeschränkt und die Rolle des staatlichen Sektors betont wurde, aber die Logik der Deglobalisierung und des Neuen Kalten Krieges deutet auf eine Hinwendung aller Schlüsselmächte zu einer nationalistischen "Industriepolitik", einer Form des staatlich gelenkten Kapitalismus, hin. Hierauf haben wir immer wieder hingewiesen. 

51. Die ISA hat auch darauf hingewiesen, dass der Konflikt zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Imperialismus die Sackgasse des globalen Kapitalismus widerspiegelt und im Laufe der Zeit höchstwahrscheinlich zu einer Schwächung beider Mächte führen wird. Dies ist jedoch kein gleichmäßiger oder geradliniger Prozess. Im Jahr 2020/21 schien der US-Imperialismus durch das drastische Fehlverhalten bei der COVID-Pandemie, die massiven sozialen Unruhen und den gescheiterten Putschversuch von Trump ernsthaft geschwächt. 

52. Doch heute ist es China, das durch eine tiefgreifende wirtschaftliche und demografische Krise geschwächt zu sein scheint, einschließlich der selbst auferlegten Katastrophe der "Null-COVID"-Politik, die die größte Protestwelle im Land seit Tian'anmen ausgelöst hat. Aufgrund der ins Stocken geratenen Wirtschaft und der Abwertung des Yuan wird die Kluft zwischen dem chinesischen und dem amerikanischen BIP von 5,3 Billionen Dollar im Jahr 2021 auf schätzungsweise 8,3 Billionen Dollar im Jahr 2022 anwachsen. Damit wird ein mehr als 30-jähriger Trend gebrochen, wonach China Jahr für Jahr den Abstand zu den USA verringert hat. Es ist einer von vielen Datenpunkten, die darauf hinweisen, dass Chinas angeblich unaufhaltsamer Aufstieg in Wirklichkeit ins Stocken geraten ist. Dies kann die Situation sogar noch gefährlicher machen, da Xis Regime sich in der Defensive sieht und versucht, einen entscheidenden Vorteil zu erlangen, zum Beispiel durch die Übernahme der Kontrolle über Taiwan. 

53. Es lohnt sich, die Frage zu stellen, ob es zu einer Pause im Konflikt oder zu einer Art Entspannung kommen könnte, wenn beispielsweise der russische Imperialismus zu einem so bedeutenden Rückzug gezwungen wird, dass dies als allgemeine Niederlage gewertet würde und sich Chinas innere Krise verschärft. Dies ist nicht auszuschließen, scheint aber unwahrscheinlich, es sei denn, es kommt zu einer Absetzung Xis oder einer ähnlichen schweren Regierungskrise.

54. Vorerst scheint der Neue Kalte Krieg weiter zu eskalieren. Die Unterschiede zwischen diesem Konflikt und dem ursprünglichen Kalten Krieg scheinen inzwischen wichtiger zu sein als die Gemeinsamkeiten. Der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion war natürlich ein Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Gesellschaftssystemen. Außerdem entwickelte er, auf seinem Höhepunkt, sich während des Nachkriegsbooms, einer Phase der stabilen kapitalistischen Expansion und des raschen Wachstums der stalinistischen Volkswirtschaften, die sich stark von der Ära der Unordnung unterscheidet, in die wir eingetreten sind. 

55. Was jedoch vergleichbar ist, ist die Tatsache, dass der Konflikt jedes Land und jeden Konflikt in der Welt in dem einen oder anderen Maße betreffen wird, was nicht heißt, dass alle Konflikte einen eindeutig interimperialistischen Charakter haben werden, wie es beim Ukraine-Krieg der Fall ist. An verschiedenen Punkten wird es Teile der Bevölkerung und der Arbeiter*innenklasse geben, die für eine gewisse Zeit und als Ergebnis der Schwächen der Arbeiter*innenbewegung dem Nationalismus und Militarismus erliegen und in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und der neokolonialen Welt dazu neigen, die eine oder andere Seite zu unterstützen - aber das kann durch Kämpfe, die sich entwickeln werden, überwunden werden. Der Gesamteffekt wird jedoch im Laufe der Zeit darin bestehen, dass der völlig irrationale, parasitäre und zerstörerische Charakter des heutigen Kapitalismus noch deutlicher zutage tritt. 

Neue Phase der weltweiten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise

56. 2022 wurde eine Wirtschaftswachstumsprognose nach der anderen reduziert. Nach dem drastischen Abschwung aufgrund von Covid gab es ein Gefühl der Erleichterung, als sich die Volkswirtschaften im Jahr 2021 zu erholen schienen. Doch die Pandemie und die massiven geld- und fiskalpolitischen Anreize machten die Lieferketten anfällig und verschärften die Schuldenprobleme. Verstärkt durch den Krieg in der Ukraine und den neuen Kalten Krieg entstand ein neues Problem in Form der Inflation. Im Oktober 2022 prognostizierte der IWF, dass "ein Drittel der Weltwirtschaft in diesem oder im nächsten Jahr angesichts schrumpfender Realeinkommen und steigender Preise wahrscheinlich schrumpfen wird." Die Weltwirtschaft steht vor großen Problemen. Es ist eine eher seltene Situation, dass sich alle Wirtschaftsmächte - China, Japan, USA, Europa - in oder am Rande einer Rezession befinden. Die meisten seriösen bürgerlichen Kommentator*innen sind sehr besorgt über diese Situation: Der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini beispielsweise argumentiert, dass die Vorhersagen einer milden Rezession "wahnhaft" seien, weil eine gefährliche Mischung aus geringem Wachstum, hoher Inflation und hohen Schulden eine große Finanzkrise auslösen könnte. Der CEO von JP Morgan Jamie Dimon erklärt, dass in den USA "etwas Schlimmeres als eine Rezession bevorsteht" und verweist auf das geringe Vertrauen der Investor*innen "wegen der Inflation, wegen der Parteipolitik und einer Menge übrig gebliebener Wut aus COVID-19". Der IWF hat im Umfeld des Weltwirtschaftsforums im Januar signalisiert, dass er eine Anhebung seiner Prognosen in Betracht zieht. Eine vollständige globale Rezession im Jahr 2023 ist immer noch eine offene Frage, aber es ist auch der Fall, wie der Krieg in der Ukraine gezeigt hat, dass die globale Instabilität das Potenzial für plötzliche Entwicklungen erhöht, die die depressiven Trends nur noch verstärken können. Derselbe IWF hat auch davor gewarnt, dass die geoökonomische Fragmentierung an sich im Laufe der Zeit bis zu 7 % der weltweiten Produktion kosten wird.

57. Ein internationales Merkmal ist auch das Wiederauftauchen und die Verschärfung verschiedener nationaler Fragen, wie sie beispielsweise in der Ukraine, in Kaschmir, Taiwan, Irland und Schottland zu beobachten sind. In vielen Fällen hängt dies mit wachsenden zwischenimperialistischen Spannungen zusammen, aber dieser Faktor spricht auch für die tief verwurzelten aktuellen Krisen des Kapitalismus. Die wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Spannungen und Widersprüche zeigen die Grenzen des Kapitalismus einschließlich seiner nationalstaatlichen Basis auf und veranschaulichen, wie sich das kapitalistische System in dieser krisenhaften Phase als unfähig erweisen wird, die offenen nationalen Fragen zu lösen. Dies wird eindrucksvoll durch die Art und Weise veranschaulicht, wie wichtige Friedensabkommen, die in den 90er und frühen 2000er Jahren in einer aufsteigenden Phase des Kapitalismus erreicht wurden, nun auseinanderfallen, wie z. B. das Friedensabkommen in Nordirland von 1998.

Auf dem Weg zu einer neuen Rezession

58. Im Moment sind Europa und China stark betroffen. China erlebt (neben dem "Koronajahr" 2020) die niedrigsten Wachstumsraten seit 20 Jahren, einen Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und eine Zunahme von Wetterextremen sowie Probleme mit der industriellen Produktion aufgrund einer strikten Null-Covid-Strategie. Hinzu kommt die katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt: Jedes dritte Unternehmen ist bankrott und 13 Millionen Häuser sind unfertig - eine Krise, die einen beispiellosen Massenboykott von Hypothekenzahlungen ausgelöst hat. Allein auf dem chinesischen Wohnungsmarkt werden die Verluste auf bis zu 130 Milliarden Dollar geschätzt. Und das wird fast jeden betreffen, da 78 % des Privatvermögens in den Wohnungsmarkt investiert sind (USA: 35 %) und dieser etwa 25 % der gesamten chinesischen Wirtschaft ausmacht! Dies führt auch zu einem Rückgang der verfügbaren Gelder für die Provinzen, die für ihre Haushalte weitgehend auf den Verkauf von Grundstücken angewiesen sind. Es gibt Anzeichen für ernsthafte wirtschaftliche Probleme wie geringes Wachstum und steigende Arbeitslosigkeit. In einem verzweifelten Versuch, dem entgegenzuwirken, beschloss das Regime im Sommer, die Zinssätze zu senken - was wiederum die chinesische Währung weiter schwächte und zu Kapitalflucht führen könnte. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die demografische Krise: Chinas Bevölkerung wird 2022 zum ersten Mal seit 1961 schrumpfen, was China zur Nummer 2 in der Bevölkerungszahl nach Indien macht. Obwohl einige andere kapitalistische Mächte mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung konfrontiert sind, stellt das Ausmaß der Bevölkerung in China dieses Problem auf eine andere Ebene. Das chinesische Regime war gezwungen, die repressive Ein-Kind-Politik abzuschaffen, um diesem Trend entgegenzuwirken. Finanzielle Anreize und Propaganda, die auf eine höhere Geburtenrate abzielen, konnten die Massen bisher nicht überzeugen, und es hat sich de facto ein "Geburtenstreik" mit sinkenden Heirats- und Geburtenraten entwickelt.

59. Obwohl Xi den KPCh-Kongress im Oktober erfolgreich genutzt hat, um seine Herrschaft zu festigen, werden die Wirtschaftskrise und die schwelenden sozialen Krisen das in Wirklichkeit alles andere als stabile Regime im Laufe der Zeit unweigerlich schwächen. Sicherlich unterschätzt Xi die explosive Wirkung, die seine Ankündigung in Bezug auf die Rechte und den Körper der Frauen in Zukunft haben könnte: "Wir werden ein politisches System zur Steigerung der Geburtenraten einrichten und eine proaktive nationale Strategie als Antwort auf die Bevölkerungsalterung verfolgen", wird Xi auf dem KPCh-Kongress zitiert, der zum selben Zeitpunkt stattfand, als das iranische Regime nach der Ermordung von Zhina Amini und den dadurch ausgelösten Massenprotesten in Gefahr war.

60. Die US-Wirtschaft ist weniger abhängig von russischen und ukrainischen Importen als Europa und daher im Moment weniger betroffen. Bidens Bemerkung, die Wirtschaft sei "stark wie die Hölle", ist jedoch Wunschdenken. Trotz einer relativen Verlangsamung der Inflation, da die Preise für fossile Brennstoffe zurückgingen, und einer nach wie vor hohen offiziellen Beschäftigungsquote deutet die Verlangsamung der US-Wirtschaft vor dem Hintergrund eines weltweiten Abschwungs auf eine scheinbar wahrscheinliche Rezession hin. Nachdem die US-Aktienmärkte im Jahr 2022 das schlechteste erste Halbjahr seit einem halben Jahrhundert erlebten, erholten sie sich nach dem Sommer leicht, um dann wieder zu fallen. Die Aufschwünge an den Märkten werden hauptsächlich von Spekulationen angetrieben, nicht von einer glänzenden Perspektive, und gehen mit einem hochriskanten Immobilienmarkt einher. Die Versuche der US-Notenbank, die Inflation durch eine Anhebung der Zinssätze einzudämmen, stärken den Dollar international - mit negativen Auswirkungen auf der ganzen Welt für alle Länder, deren Schulden auf Dollar lauten, und dasselbe gilt für US-Unternehmen, die versuchen, im Ausland zu verkaufen.

61. Während also der US-Arbeitsmarkt Ende 2022 noch relativ stark war, könnte dies schneller vorbei sein als erwartet. Die Arbeiter*innenklasse und die Gewerkschaften sehen und nutzen dieses Zeitfenster, das sich als erste Reaktion in der "Großen Resignation" im Jahr 2021 widerspiegelte, gefolgt von einer Organisierungskampagne und Streikaktionen. Das kann sich mit einer beginnenden Rezession ändern. Was jedoch bleibt, ist eine veränderte Sichtweise auf die "Arbeit": Die neoliberale Ideologie vom "Leben, um zu arbeiten" wurde dramatisch unterminiert. Auch wenn viele im Gesundheits- und Bildungswesen und anderen sozialen Diensten ein Gefühl der "sozialen Pflicht" verspüren, hat sich dies von einer Bremse zum Kampf zu einer Motivation zum Kampf gewandelt. Selbst die Arbeiter*innenklasse aus stabileren Schichten hat sich von der Arbeit entfremdet. Dies hat zu dem Phänomen des "stillen Ausstiegs" geführt, bei dem einige ihre Arbeit aufgeben, während andere nur das notwendige Minimum tun. Hinzu kommt ein wachsendes Bewusstsein der arbeitenden Menschen, die durch den Covid und seine Folgen deutlicher sehen, wer die Gesellschaft und die Welt zum Funktionieren bringt.

62. Lateinamerika, Asien und Afrika stehen vor anhaltenden wirtschaftlichen Problemen, die mit schwerwiegenden sozialen Folgen einhergehen. Massenmigration aufgrund des Klimawandels und seiner Auswirkungen, explodierende Lebensmittelpreise, Kriege und Verzweiflung sind nur einige der Folgen. Die Kombination aus Inflation, dem starken Dollar und zunehmenden zwischenimperialistischen Spannungen ist ein tödlicher Cocktail für die ärmeren Teile der Welt. Der Anstieg der Zinssätze und der höhere Wert des US-Dollars werden sowohl die Höhe der Schulden (die oft in Dollar angegeben werden) als auch die Kosten für den Schuldendienst erhöhen. Nachdem die USA in den späten 1970er Jahren die Zinssätze angehoben hatten, dem "Volker-Schock", erlebten Lateinamerika und Afrika ein Jahrzehnt der Krise, das oft als "verlorenes Jahrzehnt" bezeichnet wird. Die nationalen Regierungen haben noch weniger Handlungsspielraum, während die starken Imperialist*innen ihren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Griff auf die Regionen, die sie zu kontrollieren versuchen, verstärken. Ein Teil davon ist der Prozess des "Nearshoring" oder "Friendshoring", wie die Finanzministerin der Vereinigten Staaten, Janet Yellen, ihn aufgrund geopolitischer Interessen nannte. Immer mehr Länder werden zu einem wirtschaftlichen, aber auch militärischen Schlachtfeld um Ressourcen und Einfluss. Am deutlichsten ist dies im pazifischen Raum, aber die gleichen Prozesse sind auch in Lateinamerika, Asien und Afrika zu beobachten.

63. Der Wettlauf um den Zugang zu Lithium ist nur ein Beispiel: Für ein Elektroauto werden je nach Größe 5-10 Kilo Lithium, das inzwischen auch als "weißes Gold" bezeichnet wird, benötigt. Die größten bekannten Reserven befinden sich in Australien, Chile, Argentinien und China. Das mag eine Erklärung dafür sein, warum die BRICS-Staaten bei einem Treffen im Jahr 2022 mit der Idee liebäugelten, Argentinien mit ins Boot zu holen. Das Zeitalter der Geopolitik mit der Bildung von zwei Blöcken bedeutet auch, dass die schwächeren Volkswirtschaften weniger Raum für nationale Politik haben. Sie versuchen zwar, zwischen China und den USA zu manövrieren (so sind beispielsweise elf Länder Mitglied des von den USA dominierten Wirtschaftsbündnisses IPEF und des von China dominierten RCEP), doch mehr Ressourcen erhalten sie dadurch nicht. Dies ist ein Prozess, der schwerwiegende soziale Auswirkungen hat und die Ausbeutung der neokolonialen Länder weiter verstärken wird. Ein Prozess, der gleichzeitig Widerstand und Aufstände provozieren kann, die durch Verzweiflung geschürt werden. Die Ereignisse in Sri Lanka im Jahr 2022 waren ein Vorgeschmack auf das, was in der Zukunft passieren kann - und wurden zu einer Bedrohung für die herrschenden Eliten auf der ganzen Welt, als die einfachen Menschen im Pool des Präsidenten badeten. n 2021 zu erholen schienen. Doch die Pandemie und die massiven geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen legten die fragilen Versorgungsketten offen, verschärften die Schuldenprobleme und schufen ein neues Problem in Form von Inflation. Im Oktober 2022 prognostizierte der IWF, dass "ein Drittel der Weltwirtschaft in diesem oder im nächsten Jahr angesichts schrumpfender Realeinkommen und steigender Preise wahrscheinlich schrumpfen wird." Die Weltwirtschaft steht vor großen Problemen. Es ist eine eher seltene Situation, dass sich alle Wirtschaftsmächte - China, Japan, USA, Europa - in oder am Rande einer Rezession befinden. Die meisten seriösen bürgerlichen Kommentator*innen sind sehr besorgt über diese Situation: Nouriel Roubini zum Beispiel argumentiert, dass die Vorhersagen einer milden Rezession "wahnhaft" sind, weil eine gefährliche Mischung aus geringem Wachstum, hoher Inflation und hohen Schulden eine große Finanzkrise auslösen könnte. Der Vorstandsvorsitzende von JP Morgan Jamie Dimon erklärt, dass in den USA "etwas Schlimmeres als eine Rezession im Anmarsch ist" und verweist auf das geringe Vertrauen der Investor*innen "wegen der Inflation, wegen der Parteipolitik und einer Menge übrig gebliebener Wut von COVID-19."

Das Ende der neoliberalen Ära 

64. All dies trägt zu den Auswirkungen früherer Krisen bei. Die Krise von 2007-2009 (die die herrschenden Klassen als reine Finanzkrise darzustellen versuchten) war noch nicht überwunden, als mit Covid und dem Ukraine-Krieg neue Krisen hinzukamen. Wahrscheinlich sind weit über 20 Millionen Menschen an dieser Pandemie gestorben, die von den herrschenden Klassen so gravierend missmanaged wurde. Sie ist zwar kein zentraler Faktor mehr, der die Weltbeziehungen bestimmt, aber sie ist noch lange nicht verschwunden, wie der letzte Massenausbruch in China gezeigt hat, und es kommen neue Varianten hinzu. Gleichzeitig haben in den armen Ländern weniger als 20 % der Bevölkerung auch nur eine einzige Impfung erhalten. Der Krieg in der Ukraine hat der Situation eine weitere gefährliche Dimension hinzugefügt: Krieg, der mit nuklearen Drohungen einhergeht.

65. Alles deutet auf einen weltweiten Abschwung hin, der mindestens so stark oder möglicherweise noch stärker ausfallen wird als 2008-9 oder 2020. Während der Krise von 2008-9 gab es ein hohes Maß an internationaler Koordinierung bei der Eindämmung der Finanzkrise, und China fungierte als Zugpferd der Weltwirtschaft. Beide Faktoren sind heute nicht mehr gegeben. Im Jahr 2020 waren die Zentralbanken und die wichtigsten Regierungen in der Lage, massive geld- und fiskalpolitische Mittel einzusetzen, um dem Nachfrageeinbruch entgegenzuwirken. Dies geschah jedoch vor dem Hintergrund niedriger Zinssätze und einer niedrigen Inflation. Die Zentralbanken und die meisten bürgerlichen Regierungen sind jetzt weitaus stärker durch die Notwendigkeit eingeschränkt, die Inflation zu stoppen, durch die Verschuldung des öffentlichen Sektors, die durch die Pandemie noch erheblich verschärft wurde, und jetzt durch die (in einigen Fällen noch größeren) Ausgabenpakete zur Bewältigung der Energiekrise und der erhebliche Anstieg der Rüstungsausgaben (der auch die Inflation anheizen wird).

66. All diese Krisen mit ihren spezifischen Ursachen und Auslösern sind auch in einer Reihe von tieferen Problemen verwurzelt, die die neoliberale Ära untergraben haben. Wie wir in früheren Beiträgen dargelegt haben, ist die Entstehung der neoliberalen Ära selbst auf die Krise der Rentabilität am Ende des Nachkriegsbooms zurückzuführen.  Der Neoliberalismus hat das Profitniveau bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt, vor allem durch eine verstärkte Ausbeutung der Arbeit, Spekulation und fiskalische Transfers von der Arbeiter*innenklasse an die Kapitalist*innen sowie durch die Ausweitung der Akkumulation infolge der Restauration des Kapitalismus in den ehemals stalinistischen Ländern. Heute ist das Profitniveau in einigen Sektoren hoch, aber das Produktivitätswachstum ist hartnäckig niedrig geblieben. Auch die Verschuldung ist extrem hoch. Im Allgemeinen haben die Kapitalist*innen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die Gewinne nicht in den Ausbau der Produktionskapazitäten reinvestiert. Viel mehr Kapital ist in Aktienrückkäufe und die Finanzmärkte geflossen und hat die Spekulationsblasen angeheizt, die 2008 geplatzt sind und sich nun wieder anschicken, dies zu tun. Die parasitären Züge des Kapitalismus, seine völlige Unfähigkeit, die Weltwirtschaft in ausgewogener Weise zu entwickeln oder in eine bessere Zukunft zu führen, sind jetzt viel deutlicher zu erkennen. 

67. Das Ende des Nachkriegsbooms führte in die Ära der neoliberalen Globalisierung, die durch Privatisierungen und Finanzialisierung gekennzeichnet ist. Wir sahen die plündernde Privatisierung der nationalen Industrien in den ehemaligen Planwirtschaften der stalinistischen Staaten und ihre Eingliederung in den kapitalistischen Weltmarkt. Wir sahen eine zunehmende Ausbeutung der neokolonialen Welt wie auch der Natur, der Arbeiter*innenklasse insgesamt und insbesondere der Frauen. All dies konnte die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus nicht lösen, so dass immer wieder Wirtschaftskrisen ausgelöst wurden. 

68. Seit dem letzten Weltkongress der ISA sind die Merkmale einer neuen Periode, die sich damals abzuzeichnen begann, nun viel deutlicher geworden. Wir haben damals erklärt, dass sich die Ära des Neoliberalismus ihrem Ende nähert. Das hindert die herrschende Klasse nicht daran, den Lebensstandard, die Arbeitsbedingungen oder sogar das Leben der Arbeiter*innenklasse anzugreifen, wenn es für die Akkumulation von Profit notwendig ist. Aber es bedeutet, dass die Merkmale, die die Wirtschaft in den ersten Jahrzehnten des Neoliberalismus angekurbelt haben, jetzt zu einer Quelle von Problemen geworden sind: der hohe Grad der Finanzialisierung der gesamten Wirtschaft, der zu Volatilität im Finanzsektor führt, und lange Lieferketten, die zu Engpässen im Produktionsprozess führen. Die Krise in Großbritannien, ausgelöst durch das Steuersenkungspaket von Truss und Kwarteng, ist ein gutes Beispiel für die veränderten Bedürfnisse des kapitalistischen Systems. "Die Märkte" haben sich über eine Maßnahme aufgeregt, die als "typischer Neoliberalismus" bezeichnet werden kann und die vor einigen Jahren von denselben "Märkten" begrüßt worden wäre. 

69. Die Wiederkehr des Staates und seine Einbindung in die Wirtschaft stellt keine Linkswende dar, sondern ist einfach auf die Bedürfnisse des jeweiligen nationalen Kapitals zurückzuführen, um die bestmöglichen Bedingungen zu erhalten. Dies ist ein gutes Beispiel für das, was Engels als den bürgerlichen Staat charakterisierte, den er als "ideale Verkörperung des gesamten nationalen Kapitals" bezeichnete, d.h. einen Staat, der nicht einfach von großen Konzernen "gekauft" wird, sondern im Interesse der gesamten Kapitalist*innenklasse handelt, was manchmal bedeutet, gegen einzelne Kapitalist*innen oder scheinbar sogar eine Mehrheit der Kapitalist*innenklasse zu handeln, wenn strategische Fragen (wie die Abhängigkeit von russischer Energie) dies erfordern im Interesse der herrschenden Klasse und ihres Systems. Zu den Maßnahmen kann die Aufkündigung von internationalen Langzeitverträgen wie Nord Stream gehören, aber auch die Verstaatlichung von Unternehmen und Banken (wie es bereits in einem gewissen Maße mit Energieunternehmen in Frankreich und Deutschland geschieht), um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Dazu gehört aber auch die Verteidigung der Märkte, Ressourcen und Einflussbereiche der jeweiligen nationalen Hauptstädte einschließlich ihrer militärischen Verteidigung. 

70. Das kapitalistische Wachstum stößt an seine Grenzen. Der Zusammenbruch des Stalinismus führte zu einer Welle der kapitalistischen Globalisierung mit neuen profitablen Investitionen, neuen zu erobernden Märkten und neuen zu privatisierenden Produktivkräften. Dieser einmalige Aufschwung der kapitalistischen Restauration ist nun erschöpft. In der Zwischenzeit hat der unstillbare Durst des Kapitalismus nach Profit die Quellen seiner Profite noch weiter ruiniert: Arbeit und Natur. In dem Versuch, den relativen Mehrwert zu steigern, hat er den Druck auf die arbeitenden Menschen erhöht, mehr zu arbeiten, mit weniger Mitarbeiter*innen, in längeren Arbeitswochen, bis hin zum menschlichen Zusammenbruch. Erschöpfung und die Zunahme von Depressionen und chronischer Müdigkeit erhöhen die Gefahr von (tödlichen) Unfällen. Burn-out, stressbedingte Krankheiten und psychische Probleme werden endemisch. Die "große Resignation", das "Liegenbleiben" oder das "stille Aufhören" sind alles Anzeichen dafür, dass die menschliche Arbeitskraft nicht unbegrenzt ist. Verstärkt wurde dies durch Covid-19, der Arbeiter*innen in vorderster Front tötete. In der Folge erleben wir einen Anstieg der Arbeitskämpfe um das physische und psychische Überleben - für mehr Mitarbeiter*innen, weniger Arbeitsbelastung, weniger Überstunden.

71. Die andere Quelle des Reichtums, die Natur, steht buchstäblich in Flammen. Die Klimakatastrophe ist nur der dramatischste Indikator für das Ausufern der planetarischen Ausbeutung. Natürliche Ressourcen wie Sand, Kies, Holz, Lithium und seltene Erden werden immer knapper und sind ebenso wie die für das menschliche Überleben notwendigen Ressourcen (fruchtbarer Boden, Nahrung und Süßwasser) nicht unbegrenzt vorhanden. Die Kosten für den Abbau steigen, und die ungleiche Verteilung der Ressourcen (z. B. befinden sich 90 % der Vorkommen seltener Erden in China) ist ein Rezept für weitere globale Konflikte. Das Bedürfnis des Kapitalismus, unbegrenzt zu wachsen, stößt sowohl an natürliche Grenzen als auch an politische Grenzen, was die internationalen Beziehungen weiter destabilisiert. Der bereits von Marx beschriebene metabolische Riss, die Herrschaft der blinden Macht des Marktes über die Natur, untergräbt heute ganz konkret die Rentabilität des Kapitalismus.

72. Zentrale Merkmale dieser neuen Ära sind: der Kapitalismus ist im Verfall begriffen, da die Grenzen des Wachstums der Produktivkräfte und der Expansion des Kapitals erreicht sind, was zu einer zunehmend instabilen Wirtschaftslage mit wiederkehrenden Rezessionen und Einbrüchen führt - die Blockbildung um die USA und China und zunehmende militärische Spannungen, die zu Eskalationen bis hin zu Stellvertreterkriegen führen - eine stärkere Rolle der Staaten in wirtschaftlicher, aber auch in politischer Hinsicht - Protektionismus und zunehmende Elemente nationaler Industriepolitik, zumindest in den imperialistischen Hauptmächten - eine sich verschärfende politische Krise und Polarisierung, und Regime, die Repression einsetzen, um ihre Politik durchzusetzen - all dies wird beantwortet durch explosive Proteste von Jugendlichen, Frauen, LGBTQI+ Menschen, Migrant*innen und anderer unterdrückten Gruppen und zunehmend durch den Kampf der Arbeiter*innenklasse. 

Polarisierung - Gefahr der Reaktion - Kämpfe der Unterdrückten

73. Der gegenwärtige Aufstand im Iran nach dem Tod von Zhina Amini bringt in konzentrierter Form Elemente zum Vorschein, die im letzten Jahrzehnt sowohl im Hinblick auf das Bewusstsein als auch auf die Entwicklung der Kämpfe von zentraler Bedeutung waren. Erstens, die Hartnäckigkeit des Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen, der auch nach Niederlagen wieder auflebt, und sein Potenzial, Unterstützung in der Arbeiter*innenklasse und den armen Massen zu finden; zweitens, die Tendenz, das "ganze System" als schuldig zu sehen; und drittens, die internationale Solidarität und das instinktive Element des Internationalismus. Dieses instinktive Element des Internationalismus ist auch in anderen Bewegungen vorhanden, insbesondere in der Klimabewegung.

74. Während die Bewegungen gegen Unterdrückung ein Verständnis des systemischen Charakters der Unterdrückung und sogar antikapitalistische Schlussfolgerungen in breiten Schichten hervorgebracht haben, wird die Rolle, die die Arbeiter*innenklasse bei der Schaffung einer Perspektive grundlegender Veränderungen spielen könnte, in diesem Stadium nicht allgemein verstanden. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es sowohl in den bürokratischen Gewerkschaften als auch in den Führungen linker Formationen weltweit an Bezugspunkten fehlt, die diese Kämpfe nicht aufgreifen und sich in bestimmten Fällen sogar gegen zentrale Forderungen dieser Bewegungen stellen. Jüngstes Beispiel ist Lula, der sich in seinem Wahlkampf nicht für Abtreibungsrechte eingesetzt hat. Die Mehrheit der Stimmen von Frauen, schwarzen und indigenen Menschen wurde trotzdem für Lula abgegeben, aber hauptsächlich als Stimme gegen Bolsonaro. Dies geschah auch bei den jüngsten französischen Präsidentschaftswahlen, wo Immigrant*innen, die im ersten Wahlgang für Mélanchon gestimmt hatten, im zweiten Wahlgang für Macron stimmten, da sie Le Pen ablehnten.

75. Es gibt jedoch ein wachsendes Potenzial für die Entwicklung eines Arbeiter*innen- und Sozialist*innenfeminismus, der die größtmögliche Solidarität aller Ausgebeuteten und Unterdrückten anstrebt. In den letzten zehn Jahren haben feministische Kämpfe die Idee des Streiks wieder aufgegriffen; es kam zu immer mehr Auseinandersetzungen in Sektoren, die von Arbeiter*innen dominiert werden, die aufgrund neoliberaler Angriffe zunehmend unterbezahlt und unterbesetzt sind. Arbeiter*innen an verschiedenen Arbeitsplätzen in der ganzen Welt haben Forderungen nach einem Ende von Sexismus und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgegriffen. Darüber hinaus zeigen die instinktiven Verbindungen zwischen feministischen Kämpfen und Kämpfen gegen andere Arten von Unterdrückung und Ausbeutung, einschließlich Kämpfen gegen Rassismus, gegen den Klimawandel und gegen Krieg, das Potenzial für ein revolutionäres Programm auf, das sich mit spezifischen Arten von Unterdrückung befasst und sie mit dem Kampf für die gesamte Arbeiter*innenklasse und die Armen verbindet. Feministische Bewegungen können und werden zwar Erfolge erzielen, aber um sie gegen reaktionäre Angriffe zu zementieren, ihr volles Potenzial zu erreichen und eine echte feministische Befreiung zu garantieren, ist ein revolutionäres sozialistisches Programm notwendig. Ein solches Programm könnte breitere Schichten der Arbeiter*innenklasse davon überzeugen, dass die Kämpfe gegen verschiedene Arten der Unterdrückung tatsächlich mit dem Kampf für die Emanzipation aller verbunden sind.

Ein Jahrzehnt der Auflehnung gegen Unterdrückung und Ungleichheit 

76. Der Zeitraum seit der Rezession 2008-2009 bis zum letzten Weltkongress war durch wachsende Unruhen gekennzeichnet, in denen vor allem der Kampf von Jugendlichen und jungen Arbeiter*innen gegen Ungleichheit und Unterdrückung eine zentrale Rolle spielte. Von den chilenischen Jugend- und feministischen Massenbewegungen von 2011 bis 2019, den BLM-Revolten in den Jahren 2014-5 und 2020, der Massenexplosion der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung rund um das Referendum und erneut gegen die Inhaftierung führender Persönlichkeiten im Jahr 2019 bis hin zu den Revolten 2019-2020 im Libanon und im Irak gegen alle Parteien des machtteilenden Establishments - bei allen stand der Kampf gegen Ungleichheit und Unterdrückung im Mittelpunkt, und junge Frauen spielten dabei eine vorderste Rolle. Wir sahen auch eine wachsende Unterstützung in der breiteren Bevölkerung für Kämpfe gegen Unterdrückung, mit Mehrheiten, die für Frauen- oder LGBTQIA-Rechte votierten, aber auch, und das ist noch wichtiger, eine wachsende Beteiligung von Teilen der Basis der Gewerkschafter*innen und eine wachsende aktive Solidarität. 

77. In dieser Zeit war die neue Frauenbewegung - im weitesten Sinne gemeint als die Frauenbewegung, die Kämpfe von Arbeiter*innen und die Rolle, die Frauen in anderen Bewegungen spielten - ein bemerkenswertes Merkmal, mit wiederkehrenden massenhaften Ausbrüchen der Wut gegen sexuelle Gewalt in Indien, Bewegungen wie Ni Una Menos, Me Too und dem Wachstum der Frauen- und Feministenstreiks in Lateinamerika und im spanischen Staat für körperliche Autonomie und gegen alltäglichen Sexismus, geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide und für Abtreibungsrechte, aber auch die Streiks für gleichen Lohn in Island, Glasgow und der Schweiz. Auch wenn die Bewegung nicht überall die gleichen Höhepunkte erreichte, wurde und bleibt eine radikalisierte Stimmung unter jungen Frauen und LGBTQI-Personen ein universelles Merkmal der objektiven Situation. 

78. Hintergrund der neuen feministischen Welle, die in den 2010er Jahren aufkam, war der massenhafte Eintritt von Frauen in die Arbeitswelt in fast allen Ländern der Welt, der mit der Ausbreitung von schlecht bezahlten und prekären Arbeitsverhältnissen einherging, in denen vor allem Frauen, Jugendliche und unterdrückte Minderheiten beschäftigt waren - und die sie zum Kampf zwangen, weil ihre Löhne die Kosten für die Grundbedürfnisse nicht decken. Seit 2008/09 sehen wir in einer Reihe von Ländern eine zunehmende Tendenz zum Kampf der Arbeiter*innen in wesentlichen Diensten wie der Gesundheitsversorgung und dem Bildungswesen. Insbesondere das schwierige Feld der Arbeitskämpfe und Streiks in Krankenhäusern hat sich zu einem Hotspot des Klassenkampfes entwickelt, mit beeindruckenden Bewegungen in Deutschland, Großbritannien, Belgien, Spanien, Indien, Russland und der Ukraine, Israel/Palästina, Brasilien, Südkorea und den USA. Die Welle des feministischen Kampfes, die führende Rolle der Arbeiter*innen und eine breitere Radikalisierung haben tiefe objektive Wurzeln, die aus dem Widerspruch zwischen wachsendem Selbstbewusstsein und größerer Rolle in der Gesellschaft (z. B. zunehmende Beteiligung an der Arbeitswelt und Bildung), die mit zunehmender Ausbeutung und Unterdrückung kollidieren, herrühren. Dies stellt einen langfristigen Trend in der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus dar, der den Kampf junger Frauen und Frauen aus der Arbeiter*innenklasse zu einer strategischen Aufgabe für Sozialist*innen als Teil unserer Orientierung auf die fortgeschrittensten Schichten der Arbeiter*innenklasse macht. Ein Paradebeispiel für diesen Prozess ist der Iran, wo die Zahl der Frauen in der Arbeitswelt und vor allem im Bildungswesen bis zur Krise 2008 stetig gestiegen ist (wobei zeitweise mehr Frauen als Männer eine Hochschule besuchten). Dies wurde sowohl durch die Wirtschaftskrise als auch durch die herrschende Klasse, die sich auf die reaktionärsten Schichten des Regimes stützt, zunichte gemacht, was zu den Massenexplosionen führte, die wir im letzten Jahr erlebt haben.

79. Die Pandemie hat diese Welle von Revolten und Massenprotesten zunächst unterbrochen, aber nur kurz. Sie kehrten mit voller Wucht zurück, auch weil die Pandemie alle Formen von Unterdrückung und Ungleichheit verschärfte. Der Verlust von Arbeitsplätzen und Einkommen wirkte sich unverhältnismäßig stark auf die am stärksten Unterdrückten aus, wobei die informellen Wirtschaftssektoren von den Lockdowns hart getroffen wurden, vor allem in der neokolonialen Welt, in der staatliche Unterstützung wie zeitlich befristete Arbeitslosenprogramme und wirtschaftliche Unterstützung für kleine Unternehmen fehlten. Überall auf der Welt waren es die Arbeiter*innen mit prekären Arbeitsverträgen - Frauen, Jugendliche, Schwarzen und Immigrant*innen, LGBTQ+ -, die am meisten unter den Arbeitsplatzverlusten zu leiden hatten, allen voran die Frauen, da sie auch auf andere Weise betroffen waren: wesentliche Dienstleistungen, die den Druck auf Arbeiter*innen, die mit Betreuungsaufgaben belastet sind, etwas verringerten, wurden gekürzt. Die Auswirkungen waren bei Frauen of Color, Schwarzen und Immigrant*innen am stärksten ausgeprägt. Heute befinden sich diese Dienstleistungen immer noch in einer tiefen Krise, die selbst in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zu einem teilweisen Zusammenbruch dieser Systeme führt.

80.Nachdem zunächst vielerorts durch die Kämpfe der Arbeiter*innen mit großer öffentlicher Unterstützung zusätzliche "Not"-Finanzierungen im Gesundheitswesen erkämpft wurden - wenn auch meist nur vorübergehend und begrenzt -, sehen wir heute die ersten Versuche neuer Sparrunden. Dennoch werden sich die herrschenden Klassen in verschiedenen Phasen auch mit einem möglichen Einbruch und mit sozialen Explosionen beschäftigen, nicht zuletzt gegen Kürzungen im Gesundheits- und Sozialwesen. Je nach der konkreten Situation in einigen Ländern kann vorübergehend ein Gefühl der Resignation vorherrschen, und die Zahl der Menschen, die den Sektor verlassen, steigt. In vielen Ländern geht der Kampf jedoch weiter, da die Arbeitsbedingungen eine Belastungsgrenze erreicht haben (was sich an der hohen Rate arbeitsbedingter Langzeiterkrankungen wie Depressionen und Burnout, aber auch an körperlichen Anzeichen von Überlastung wie chronischen Rückenschmerzen zeigt). Die durch die Pandemie erzielten Lohnerhöhungen (die oft in Form von einmaligen Prämien gewährt wurden) sind durch die hohe Inflation bereits verloren gegangen, und die Arbeiter*innen fühlen sich durch die Bedingungen dazu gedrängt, Patient*innen, Schüler*innen, Kinder in der Kinderbetreuung und ältere Menschen in der Heimpflege zu vernachlässigen. Gleichzeitig hält der Pflegenotstand an und beschleunigt sich vielerorts, wodurch ein zentraler Aspekt der Emanzipation von Frauen, nämlich die finanzielle Unabhängigkeit durch bezahlte Arbeit, zurückgedrängt wird.

81. Die Rebellion im Gesundheitswesen geht eindeutig weiter, und die Streiks werden härter, wie der 11-wöchige Streik in den Universitätskliniken von Nordrhein-Westfalen im letzten Sommer oder der erste uk-weite Streik, der vom Royal College of Nursing (RCN) in der 106-jährigen Geschichte der Gewerkschaft im Vereinigten Königreich initiiert wurde, gezeigt haben. Da die Energiekrise in einer Reihe von Ländern zu (Teil-)Verstaatlichungen führt, wird der Kampf um die öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung weitergehen. Die hohen staatlichen Ausgaben für die Bekämpfung der Energiekrise, für die Rüstung usw. zeigen, dass die Mittel vorhanden sind. In Verbindung mit der Rückkehr der Sparmaßnahmen wird dies die Lehrer*innen und Arbeiter*innen weiterhin dazu zwingen, für jede noch so kleine Verbesserung zu kämpfen. 

82. Die prominente Rolle der Arbeiter*innen im Klassenkampf ist weder zufällig noch eine Folge der Pandemie; sie ist Ausdruck einer langfristigen Krise der Reproduktionsarbeit. Das krisengeschüttelte kapitalistische System erhöht gleichzeitig die Nachfrage nach Reproduktionsarbeit und allen Formen von Care-Arbeit (mehr Armut und psychische Krankheiten, krankmachende Arbeitsbedingungen, mehr Geflüchtete) und schränkt gleichzeitig die Möglichkeiten für diese Art von Arbeit ein (Kürzung öffentlicher Dienstleistungen zur Finanzierung von Profiten und Krieg, Erhöhung der Arbeitszeiten und Flexibilität). Arbeiter*innen und Frauen in der Pflege stehen an der vordersten Front dieses Widerspruchs, der den Kampf und die Entwicklung des Bewusstseins weiter vorantreiben wird. Obwohl der Sektor nur über eine begrenzte direkte wirtschaftliche Macht verfügt, kann er breitere Proteste auslösen, insbesondere weil die Sympathie und Unterstützung für diese "unverzichtbaren Arbeiter*innen" weit verbreitet ist. Der systematische Charakter der Krise in diesen Sektoren bietet auch die Grundlage dafür, dass die Arbeiter*innen zu den ersten gehören, die in Aktion treten, systematische Schlussfolgerungen ziehen, die zu einer Offenheit für sozialistische Ideen führen und eine führende Kraft beim Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung im Allgemeinen werden.

83. Heute ist der Krieg in der Ukraine ein Schlüsselfaktor für die objektive Situation. Auch im Krieg bestimmt das Geschlecht, wie unterschiedlich die Arbeiter*innen betroffen sind. Regelmäßig wird über die Vergewaltigung von ukrainischen Frauen durch russische Soldat*innen berichtet. Auch die Lage der weiblichen Geflüchteten ist sehr prekär, wie die Berichte schon in den ersten Tagen der Flüchtlingswelle zeigten, in denen von Forderungen nach sexuellen Dienstleistungen, Niedrigstlöhnen und der Ausbeutung durch die Sexindustrie berichtet wurde. Auf der anderen Seite wurden Menschen zwischen 18 und 60 Jahren, in deren Pass "männlich" steht, gezwungen, im Land zu bleiben und am Krieg teilzunehmen. Das Recht, den Militärdienst zu verweigern und stattdessen andere zivile Dienste anzunehmen, ist seit September 2022 abgeschafft. Männer, die vor dem Militärdienst fliehen, werden verhaftet und sind Repressionen ausgesetzt. Darüber hinaus wurden auch Transfrauen, die ihren Pass noch nicht entsprechend ändern konnten, zur Teilnahme am Militärdienst gezwungen.

84. Seit Beginn des Krieges sind aus Belarus 20.000 Männer geflohen, und in Russland haben sich rund 300.000 Männer dem Militärdienst entzogen. Gleichzeitig geht der Widerstand gegen die Mobilisierung von Wehrpflichtigen in Russland derzeit vor allem von Frauen und unterdrückten Minderheiten/Nationen aus. Dort sollten wir kurz- und mittelfristig nach einer stärkeren Opposition gegen das Regime Ausschau halten, beginnend mit einer Opposition gegen die Mobilisierung. Die Geschichte zeigt uns auch, dass arme Frauen und Frauen aus der Arbeiter*innenklasse längerfristig auch eine überragende Rolle im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges, gegen Hunger und Elend spielen können. Im Oktober und November 2022 kamen mehr als 20 weibliche Angehörige von Mobilisierten aus den Regionen Woronesch, Kursk und Belgorod zu einer Militäreinheit in der Stadt Waluiki und forderten die Vertreter*innen der Einheit auf, sie auf das Territorium der Russischen Föderation zurückzubringen. Die Frauen sind bereit, selbst an die Front zu gehen, um die Soldat*innen zu retten, wenn ihnen nicht geholfen wird. In kleinerem Rahmen organisieren Gruppen wie Feminists Against War in Russland Aufkleber- und Street-Art-Kampagnen, psychologische Beratung, helfen Aktivist*innen und Deserteur*innen bei der Ausreise, machen auf die Situation politischer Gefangener aufmerksam, schreiben Antikriegspropaganda und versuchen auch immer wieder, kleinere Straßenproteste zu organisieren. Dass diese Aktionen sofort zu Verhaftungen und hohen Geldstrafen führen, hat die Frauen nicht davon abgehalten, sie durchzuführen. Seit dem Krieg ist die Zahl der weiblichen politischen Gefangenen rapide angestiegen - 2,2 auf einen Mann.

85. Angesichts der sich verschärfenden Lebenshaltungskostenkrise und einer sich abzeichnenden Rezession werden Geflüchtete von staatlichen Kräften brutal behandelt und von wachsenden rechtsextremen Kräften als Sündenböcke benutzt werden, während wir gleichzeitig mit neuen Migrationswellen rechnen müssen, die aus der Wirtschafts- und Klimakrise und den wachsenden militärischen Konflikten resultieren. In der Vergangenheit hat sich dies als günstiger Nährboden für rechtsextreme Kräfte gezeigt, die in Ermangelung eines von linken und Arbeiter*innenklassen-Organisationen angebotenen Auswegs aus den Krisen ein vorgetäuschtes "soziales Gesicht" zeigen können, indem sie notwendige korrekte soziale Forderungen, aber nur für "unsere Leute", übernehmen  (und generell deformieren). Die Varianten des Rechtspopulismus dienen letztlich dazu, das grundsätzlich prokapitalistische Programm dieser reaktionären Kräfte zu verschleiern.

86. Rechtsextreme Kräfte konzentrieren sich nicht nur auf Immigrant*innen und Rassismus, sondern treten in vielen Fällen auch gegen Frauenrechte und LGBTQ+-Rechte auf, indem sie sich auf die niedrigsten Formen des Bewusstseins in Schichten der Arbeiter*innenklasse, der Armen und der unteren Mittelschicht konzentrieren. Diese Angriffe bergen jedoch für die Rechte ein ernsthaftes Risiko der Übervorteilung, insbesondere angesichts der massiven feministischen Bewegungen des letzten Jahrzehnts. Bei vielen Wahlen hat sich gezeigt, dass Frauen in weitaus geringerer Zahl für diese Parteien stimmen. Noch wichtiger ist jedoch, dass durch den Frontalangriff auf die Rechte der Frauen die Möglichkeit eröffnet wird, dass sich der Massenwiderstand zu einem Kampf entwickelt und damit eine Rolle beim Wiederaufleben des Klassenkampfes spielt. Es ist kein Zufall, dass Meloni in Italien in ihrer Wahlkampagne erklärte, sie wolle weder Abtreibung verbieten noch LGBTQ+-Rechte angreifen, auch wenn die Angriffe in Form von Unterstützung für "Pro-Life"-Organisationen und der Aushungerung von Abtreibungsdiensten weitergehen werden. Immerhin war die erste Demonstration seit ihrer Wahl zur Verteidigung der Abtreibungsrechte von der Frauenbewegung organisiert. Frauenorganisationen in Italien protestieren weiterhin gegen die anhaltenden Kürzungen der Mittel für den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch.

87. Im spanischen Staat ist die anfängliche Begeisterung und Unterstützung der Arbeiter*innenklasse für die Koalition trotz der begrenzten Sozialreformen und COVID-19-Maßnahmen der in Wirklichkeit marktfreundlichen PSOE/Podemos-Regierung allmählich zurückgegangen und hat der Rechten Raum zum Wachsen gegeben. Die Koalition wird dafür bestraft, dass sie bei den Maßnahmen zugunsten der Arbeiter*innenklasse nicht weit genug gegangen ist. Mit den für Dezember 2023 angesetzten Parlamentswahlen wird eine künftige rechtskonservative Regierung, die entweder die rechtsextreme und spanisch-nationalistische Vox-Partei einschließt oder von ihr parlamentarisch von außen unterstützt wird, immer wahrscheinlicher. Eine solche Regierung müsste sich jedoch mit einer starken und aktiven Frauenbewegung sowie mit der katalanischen und baskischen Opposition auseinandersetzen. Das Risiko, dass eine solche (rechtsextreme) Regierung sich selbst überschätzt und massiven Widerstand auf der Straße hervorruft, ist groß.

88. Die Krise der Lebenshaltungskosten wird erneut am schmerzlichsten von denjenigen zu spüren bekommen, die ohnehin schon weniger verdienen und keine Rücklagen haben. Dies geschieht in einer Zeit, in der die Gewinne gerade neue Rekordhöhen erreicht haben. Die Inflation berührt jedoch die gesamte Klasse, mit mehr Perspektiven für einen allgemeinen Kampf der Arbeiter*innenklasse gegen hohe Preise und für höhere Löhne, was die Möglichkeit bietet, dass dieser Kampf und die Kämpfe gegen Unterdrückung zusammenfließen, wenn eine Führung gegeben ist. 

89. Die offizielle Führung der Linken und der Arbeiter*innenklassen-Organisationen bietet in den meisten Fällen keine Führung angesichts der wachsenden Verzweiflung, aber auch der Wut über die hohen Preise. Die radikalisierten Schichten sind noch nicht stark genug, um eine alternative Führung zu präsentieren. Dies schafft Raum für das Wachstum der extremen Rechten, die den Anschein erweckt, einen "radikalen" Wandel zu bieten, um Sicherheitsbedenken und sozialer Not zu begegnen, wie dies in Brasilien oder Italien der Fall ist. Den Erfolgen der extremen Rechten sind Grenzen gesetzt, selbst wenn sie sich mit einem "sozialen Gesicht" präsentieren. Die meisten dieser rechtsextremen Varianten sind offen antifeministisch, gegen LGBTQ+-Rechte, gegen Immigrant*innen und voll von Klimawandelleugner*innen. Sie haben keine Mehrheit in der Gesellschaft, und in den meisten Fällen werden ihre Erfolge (z. B. der Einzug in die Regierung) Reaktionen hervorrufen und können als Peitsche der Konterrevolution dienen.

90. In den letzten zehn Jahren haben transsexuelle Menschen dank ihres beharrlichen Kampfes wichtige Fortschritte erzielt. Die extreme Rechte hat darauf mit einer Gegenreaktion reagiert, bei der Transphobie in einer Reihe von Ländern zu einem wichtigen Aushängeschild rechtsextremer Bewegungen wurde. Zunehmend wird Transphobie auch von etablierten Kapitalist*innen und den Mainstream-Medien propagiert. Transmenschen haben auf solche bösartigen Angriffe mit Protesten reagiert, um sich zu verteidigen, wie im Fall des vom schottischen Parlament verabschiedeten Gesetzes zur Selbstidentifizierung, gegen das das britische Parlament sein Veto eingelegt hat. Im spanischen Staat sind Proteste ausgebrochen, um die Verabschiedung eines ähnlichen Gesetzes vor den Wahlen im Jahr 2023 zu beschleunigen, damit die Rechte für den Fall, dass eine konservative Regierung an die Macht kommt, gestärkt werden.

91. In den letzten Jahren haben trans Menschen auch eine wichtige Rolle in sozialen Bewegungen gespielt: in feministischen Kämpfen, in antirassistischen Kämpfen wie Black Lives Matter und in Klimabewegungen. Da transsexuelle Menschen stark diskriminiert werden, haben viele ein instinktives Bewusstsein dafür, dass ihre Unterdrückung mit anderen Arten von Unterdrückung und Ausbeutung zusammenhängt. Da transsexuelle Menschen auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden und eher schlecht bezahlt werden, engagieren sie sich außerdem zunehmend in Gewerkschaften. So waren transsexuelle Arbeiter*innen beispielsweise eine wichtige Kraft bei den Organisierungsbemühungen von Starbucks in den USA. Transphobe Begriffe und Maßnahmen verstärken starre Geschlechterrollen und -normen und schaden daher Cis-Frauen und der LGBTQ+-Gemeinschaft im Allgemeinen. Die Beteiligung von Trans-Personen an diesen Kämpfen bringt solche Themen auf die Tagesordnung. Da es sich jedoch um ein Thema handelt, das große Teile der Arbeiter*innenklasse betrifft, sollte die Verteidigung und Förderung von Trans-Rechten und -Interessen von breiten sozialen Bewegungen und Gewerkschaften übernommen werden.

92. In der Situation einer wachsenden Wirtschaftskrise werden reaktionäre Kräfte alles tun, um zu spalten und die Aufmerksamkeit abzulenken. Wie auf dem Arbeitsmarkt gilt auch hier, dass derjenige, der zuletzt einen Arbeitsplatz findet, ihn in der Regel auch als erster verliert. Die wachsende Arbeitslosigkeit wird erneut die schwächsten Gruppen zuerst treffen, die in den Kämpfen des letzten Jahrzehnts im Mittelpunkt standen. Die Arbeitslosigkeit in den OECD-Volkswirtschaften ist im Allgemeinen immer noch relativ niedrig. Während strukturelle Langzeitarbeitslosigkeit die Kämpfe der Arbeiter*innen bremst, führt eine starke und schnelle Zunahme der Arbeitslosigkeit, wie sie im Zusammenhang mit einer Rezession auftreten kann, dazu, dass die Kämpfe der Arbeitslosen oft die ersten Kämpfe der arbeitenden Massen während eines wirtschaftlichen Einbruchs sind. Die Krise der Lebenshaltungskosten weist in Richtung der Forderung nach einer gleitenden Skala der Löhne und die Arbeitslosigkeit in Richtung der Forderung nach einer gleitenden Skala der Arbeitszeit.

Die Bedrohung durch die Reaktion und die extreme Rechte 

93. Die Implosion der politischen Mitte und der Zerfall der traditionellen Parteien, einschließlich der bürgerlichen Sozialdemokratie, führen nicht nur zu neuen und radikaleren Parteien, sondern zwingen auch die traditionellen Parteien, sich an sie anzulehnen, um an der Macht zu bleiben. Die Aufhebung von Roe v Wade ist der Preis, den Trump der kleinen Minderheit der organisierten christlich-fundamentalistischen Kräfte als Gegenleistung für ihre Unterstützung versprochen hat, womit er jedoch eine Gegenreform durchsetzt, die nicht von der Mehrheit unterstützt wird. Der Schritt kann von anderen konservativen oder reaktionären Regimen nachgeahmt werden, aber selbst die Brüder Italiens schrecken davor zurück und in Frankreich plant die Regierung Macron einen Vorschlag, Abtreibungsrechte in die Verfassung aufzunehmen. In der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt steht eine Wiederholung dieser Niederlage nicht unmittelbar auf der Tagesordnung - und wenn doch, würde sie auf Widerstand stoßen. 

94. Damit soll die Gefahr der extremen Rechten nicht unterschätzt werden, deren Wachstum ein wichtiges Merkmal der Weltlage ist, das von der ISA größere Aufmerksamkeit verlangt. Die sich vertiefende Krise des Kapitalismus, der aufgestaute Hass auf das politische Establishment, das am meisten mit den Verheerungen der neoliberalen Ära in Verbindung gebracht wird, und die anhaltende Schwäche der Arbeiter*innenbewegung und der Linken haben dazu geführt, dass der Rechtspopulismus unterschiedlicher Schattierungen seinen Einfluss auf eine bedeutende Minderheit der Mittelschicht und der Arbeiter*innenklasse konsolidieren und vertiefen konnte. Der Aufstieg der Rechten erklärt sich zum Teil dadurch, dass sie einfache und ansprechende Lösungen für komplexe Probleme anbieten. Sie können auch ein Gefühl der Gemeinschaft in einer von Entfremdung beherrschten Welt vermitteln; dies wird durch die Schwächung der "Gemeinschaft" von Gewerkschaften und ehemaligen linken und Arbeiter*innen-Parteien verstärkt. Dieser Prozess, der sich im Wachstum "neuer" oder radikalerer rechter Kräfte wie in den USA, dem spanischen Staat und Brasilien sowie in der populistischen, bonapartistischen Wende traditioneller rechter Parteien wie in Großbritannien, Kanada, Israel usw. widerspiegelt, wird sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich weiter entwickeln. Selbst dort, wo die Rechte bei Wahlen zurückgedrängt wurde, wie in den USA und Brasilien, hat dies ihr Erstarken in Bezug auf die soziale Basis überdeckt. In vielen Ländern war sie in der Lage, aktiver zu mobilisieren als in der jüngeren Vergangenheit, wie in Brasilien und Italien, aber vor allem, indem sie sich z. B. gegen Covid-Beschränkungen richtete. In Brasilien wurde rechter Terror gegen schwarze Menschen, Frauen, LGBTQI-Personen, indigene Gemeinschaften und Umweltschützer*innen eingesetzt - eine klare Warnung, dass sich dies auch gegen den Kampf der Arbeiter*innenklasse richten wird, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden und diese Kräfte dadurch Vertrauen gewinnen. Wo diese Kräfte auf dem Vormarsch sind, wird dies sofort zu einer Priorität für revolutionäre Sozialist*innen. Der Terror der extremen Rechten ist zwar sehr gefährlich, würde aber an den meisten Orten der Welt zu Widerstand führen. Angesichts des Potenzials dieser Kräfte, als Peitsche der Konterrevolution auf die Bewegung der Jugend, der Arbeiter*innen und der Frauen zu wirken, werden die herrschenden Klassen weiterhin vorsichtig sein, sie einzusetzen. Sie ziehen es vor, sich auf staatliche Kräfte und staatlich gelenkte Paramilitärs zu verlassen, um die Arbeiter*innenklasse zu unterdrücken und, wo möglich, die Gewerkschaftsführungen und die traditionellen reformistischen Mitte-Links-Kräfte zu nutzen, um die Arbeiter*innenklasse wirtschaftlich zu kontrollieren und zu demobilisieren. Dies ist jedoch nicht unbegrenzt möglich, und eine neue Austeritätspolitik der letztgenannten Kräfte an der Macht wird zu einer extremeren Polarisierung führen, die den Populist*innen und der extremen Rechten, aber auch den neuen linken Kräften neue Möglichkeiten eröffnet. Militärdiktaturen werden auf Widerstand stoßen und sich daher nur schwer stabilisieren können.

95. Es gibt eine zunehmende Tendenz, dass "traditionelle" Parteien die Rhetorik und Politik rassistischer Parteien kopieren, um "Punkte zu sammeln" und die Hetze gegen Geflüchtete im Besonderen, aber auch gegen alle, die nicht "ursprünglich" aus dem Land stammen, weiter zu schüren. "Sie" als Feind gegen "uns" darzustellen, ist ein sehr wertvolles Instrument für den kapitalistischen Staat, um die Einheit der Arbeiter*innenklasse zu spalten. Dies knüpft an die Leere an, die die linken Parteien und die Arbeiter*innenbewegung hinterlassen haben, da sie es versäumt haben, einen Weg nach vorne und Widerstand gegen die brutalen Angriffe des Kapitalismus auf die gesamte Gesellschaft zu bieten. In Europa hat die Festung Europa ihre Mauern höher gezogen, mit mehr Stacheldraht. Die EU finanziert Länder wie Libyen, die Geflüchtete beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, festhalten, und kriminalisiert zunehmend Menschen, die Geflüchteten helfen. 24 freiwilligen Helfer*innen drohen nun bis zu 25 Jahre Gefängnis, weil sie 2018 vor der Küste der griechischen Insel Lesbos Geflüchtete mit Wasser und Decken versorgt haben! Als Folge der imperialistischen Kriege, der Ausbeutung und zunehmend auch der Klimakrise gibt es mehr Geflüchtete als je zuvor. Nach den neuesten Zahlen des UNHCR werden im Jahr 2022 über 100 Millionen Menschen auf der Flucht sein - ein neuer düsterer Meilenstein und ein Anstieg gegenüber rund 40 Millionen im Jahr 2011. Allein durch den Krieg in der Ukraine sind fast 15 Millionen Menschen vertrieben worden.

96. Trumps Stärke - wie auch die Stärke gleichgesinnter autoritärer und populistischer Rechter wie Bolsonaro, Erdogan, Putin und Modi - beruht zu einem großen Teil auf der (organisatorischen und politischen) Schwäche der neuen linken Formationen und Anführer*innen und der Organisationen der Arbeiter*innenklasse, vor allem der Gewerkschaften, deren rechtsgerichtete Bürokratien und offizielle Führung eher die Rolle spielt, Kämpfe zurückzuhalten und sich zu weigern, Kämpfe gegen Unterdrückung entschieden aufzunehmen, statt alle Kräfte für Forderungen zu mobilisieren, die der großen Mehrheit zugute kommen. Dies hat sich durch die Kapitulationen und das Abrücken von Sanders noch verschärft. Wenn eine Führung, eine Perspektive gegeben worden wäre, um die Bedrohung von Roe v Wade durch einen Massenkampf abzuwehren, wäre das Potenzial für eine massive Reaktion vorhanden gewesen, auch wenn es sich nicht spontan entwickelt hat, wie die Reaktion auf unsere Initiativen, aber auch der Sieg der Abtreibungsbefürworter*innen in allen bisherigen staatlichen Volksabstimmungen gezeigt hat. Die etablierten Frauenorganisationen, die mit den Demokraten verbunden sind, vertraten jedoch eine defätistische Position, was sich auch angesichts des Ausbleibens substanzieller Siege früherer Massenaktionen (Women&apos;s March, BLM, Me Too mit dem Kavanaugh-Prozess) auswirkte. Die mangelnde Führung durch die linken Demokraten, einschließlich der DSA, trug dazu bei, dass dieses Potenzial nicht erreicht wurde. Die Gegenreaktion der Wähler*innen auf die Dobbs-Entscheidung hat die republikanischen Bestrebungen für ein nationales Verbot zumindest vorübergehend zurückgedrängt. Zum jetzigen Zeitpunkt werden die Kämpfe um Abtreibungsrechte in erster Linie auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten ausgetragen, wobei die Richter*innenwahlen in Wisconsin im April das nächste große Schlachtfeld sein werden. Die Biden-Regierung, die Pro-Choice Befürworter*innen und einer der Pillenhersteller verfolgen verschiedene rechtliche und gesetzgeberische Möglichkeiten, um die Verfügbarkeit von Abtreibungspillen zu erhöhen. Möglicherweise kann sich eine Bewegung auf der Straße um einen dieser juristischen Kämpfe herum entwickeln, aber wahrscheinlicher ist, dass ein Fall wie der Tod von Savita Halappanavar in Irland oder Kinder, die zu Entbindungen gezwungen werden oder bei unsicheren Abtreibungen sterben, die Bewegung auf der Straße aufflammen lassen könnte. 

97. Die Bewegung, die im Iran nach dem Tod von Zhina Amini ausbrach, zeigt die Hartnäckigkeit dieser Kämpfe, zeigt, wie eine Niederlage zu einem vorübergehenden Rückzug führen kann, nur um dann mit größerer Kraft und größerer Unterstützung in der Gesellschaft wieder aufzutauchen. Die Perspektive sollte nicht sein, dass diese Kämpfe verschwinden, sobald sich die Arbeiter*innenklasse in Bewegung setzt, sondern dass diese Frage ein fester Bestandteil der Arbeiter*innenklasse-Bewegung ist, in der Frauen viel stärker integriert sind als in früheren feministischen Wellen, und darüber hinaus eine wichtige Vorreiterrolle und Aktivierungskraft. Die Tatsache, dass die Proteste nicht auf die kurdische Region im Iran beschränkt blieben, zeigt auch, dass sie das Potenzial haben, eine einheitliche Bewegung zu werden, die jetzt (Mitte Oktober) durch Streiks im Öl- und Petrochemiesektor, einem Schlüsselsektor der iranischen Wirtschaft, verstärkt wird. Obwohl es im Moment nicht so aussieht, als würde es der revolutionären Bewegung im Iran gelingen, das Regime sofort zu stürzen, werden die durch die Bewegung ausgelösten Bewusstseinsveränderungen - insbesondere im Hinblick auf die nationale und geschlechtsspezifische Unterdrückung - künftige Explosionen befeuern, die durch katastrophale Lebensbedingungen ausgelöst werden und die Bedingungen für den endgültigen Sturz des Regimes und für die Entwicklung der erforderlichen Führung schaffen. Die wichtigste Aufgabe für Marxist*innen im Moment ist es, den Kern einer solchen zukünftigen revolutionären Führung zu versammeln, und zwar in erster Linie durch den Aufbau der Kräfte des revolutionären Marxismus in der Diaspora und vor Ort, aber auch durch die Beteiligung dieser Kräfte an breiteren Strukturen, die sich entwickeln, um ein Programm und die nächsten Schritte im revolutionären Prozess zu diskutieren und zu entwickeln.

98. IIn Lateinamerika hat die regionale Konterrevolution mit dem Putsch der Rechten gegen Castillo in Peru, den rechtsextremen Straßenmobilisierungen der Befürworter*innen von Bolsonaro in Brasilien und der Niederlage beim Referendum für eine neue Verfassung in Chile einige Erfolge zu verzeichnen. Trotz der großen Einschränkungen, die letztere mit sich bringt, ist dies ein wichtiger konjunktureller Sieg für die reaktionäre Rechte. Sie zeigt, wie ein Rückzug aus dem Kampf und ein Überlassen der Dinge den institutionellen Gesprächen, sofort durch die Rückeroberung der Kontrolle durch den rechten Flügel bestraft wird. Die Ablehnung der Verfassung hat nicht verhindert, dass kurz darauf Kämpfe der Jugend ausbrachen, und weitere Kämpfe stehen auf der Tagesordnung, auch wenn die chilenischen Massen momentan ihre Wunden lecken. Die Wut der Massen ist nicht verschwunden, ebenso wenig wie die zugrunde liegenden materiellen Gründe für den Kampf oder die politische Instabilität innerhalb der herrschenden Klasse. Während die Führung der Linken, gelinde gesagt, lauwarm ist, wenn es um die Rechte der Frauen geht, spiegelte die Verfassungsversammlung mit ihren radikalen Vorschlägen (auf dem Papier) zu den Rechten der Frauen den brennenden sozialen Druck wider, der nach wie vor vorhanden ist und in neue Massenerhebungen kanalisiert werden kann. Jeder Versuch der offiziellen Rechten - ob traditionell oder rechtsextrem -, zur Austerität zurückzukehren und weiterhin eine repressive und reaktionäre Politik durchzusetzen, wird mit Kampf beantwortet werden. Die rechtsextremen und rechtspopulistischen Anführer*innen können leicht über das Ziel hinausschießen und einen breiten Widerstand auslösen.

99. Auf der Grundlage des Reformismus wird jedoch jede Verbesserung, ob rechtlich oder materiell, begrenzt sein und ständig unterminiert werden, es sei denn, der Kampf nimmt Massenformen an und bedient sich radikaler Methoden der Arbeiter*innenklasse. Die reformistische Linke, die einen gradualistischen Ansatz verfolgt und nach "Lösungen" innerhalb des Systems sucht, wird zwangsläufig enttäuschen, da sie objektiv nicht in der Lage ist, die vielschichtige allgemeine kapitalistische Krise anzugehen. Obwohl der Reformismus, wie man in den letzten Jahren gesehen hat, eine doppelte Rolle spielen kann, einerseits bei der Popularisierung von Forderungen und Ideen in Richtung Arbeiter*innenklasse und sozialistischer Schlussfolgerungen, würde er andererseits auch dazu beitragen, gefährliche Massenillusionen zu zementieren, wie insbesondere die Rolle von Sanders und die Rechtsverschiebung des erweiterten "The Squad" gezeigt hat. In vielen Phasen hinken diese Kräfte auch dem Bewusstsein breiter Schichten hinterher, die als Grunderkenntnis erkennen, dass das, was einer allgemeinen Verbesserung des Lebensstandards der Mehrheit der Bevölkerung im Wege steht, der massive Reichtum ist, der an die Bosse und Reichen geht.

100. Das Scheitern des Reformismus kann zuweilen zu "Doomerismus" führen, zu der Vorstellung, dass nichts getan werden kann, aber diese Stimmung wird zu einem späteren Zeitpunkt neuen Bewegungen Platz machen, wobei die meisten Bewegungen von unten wachsen oder explodieren und die Gewerkschaftsführung hinter ihnen herläuft, wie wir während der gesamten Pandemie gesehen haben. Die Entwicklung von Ad-hoc-Basisstrukturen wie SEL/CIU (Belgien, Frankreich) und Verteidigungskomitees (Sudan) wird sich fortsetzen - in einigen Ländern, weil es keine oder fast keine Gewerkschaftsstrukturen gibt, in anderen, weil die Bürokratisierung den Druck von unten blockiert, der zu entschlossenem Handeln führt. Für demokratische Strukturen und ein Kampfprogramm zu kämpfen, aber auch dafür, dass Gewerkschaften und linke Formationen den Kampf gegen die Unterdrückung aufnehmen und die Unorganisierten organisieren, ist eine Schlüsselfrage für marxistische Arbeiterkader*innen - ebenso wichtig wie die Verteidigung der sozialistischen Grundideen in den Bewegungen gegen die Unterdrückung und ihre Orientierung auf die Arbeiter*innenklasse und ihre Organisationen. 

101. Das Erstarken der rechtsextremen Kräfte ist eine wichtige Entwicklung für Aktivist*innen und Marxist*innen. Wir müssen ihre Wurzeln verstehen, aber auch, dass es keinen Automatismus und keine gerade Entwicklungslinie gibt. Bei Abwesenheit oder Schwäche von Arbeiter*innenorganisationen und -aktivitäten kann die extreme Rechte das Vakuum füllen und das Bewusstsein von Schichten der Arbeiter*innenklasse beeinflussen - insbesondere mit rassistischen und sexistischen Ideen, die die Spaltung der Arbeiter*innenklasse schaffen und vertiefen und als Hindernis für den Kampf dienen. Wir müssen jedoch betonen, dass dies nicht der vorherrschende Trend ist. Unter jungen Menschen herrscht ein internationalistisches Bewusstsein vor, das mit der Klimakrise und der Ablehnung von Sexismus verbunden ist und Teil einer instinktiven antisystemischen und allgemein linken Einstellung ist. Wir müssen auch betonen, dass, wenn die Arbeiter*innenklasse in den Kampf zieht, dies die Grundlage für die Überwindung rassistischer und sexistischer Ideen schafft - durch Erfahrung und durch die aktive Herausforderung innerhalb dieser Kämpfe. Die Verteidigung eines Programms für die Arbeiter*innenklasse, den Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung und Barbarei aufzunehmen - und damit gegen ihre innere Spaltung und Konkurrenz zu kämpfen - ist ein wichtiger Teil des Kampfes für die Klasse, um eine Klasse für sich selbst zu werden, für eine Klasse, die sich als Anführer*in im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft erweisen kann, für eine Klasse, die in den Worten von Marx "herrschaftsfähig" wird. 

Massenkampf und Klassenkampf 

102. Ein entscheidender Faktor dieser neuen Ära ist das weltweite Wiedererstarken der Arbeiter*innenklasse als sichtbare soziale Kraft und als zentraler Akteur des Kampfes. 

103. In den vergangenen Jahrzehnten des Neoliberalismus hat die Arbeiter*innenklasse einen Prozess durchlaufen, der politisch von Entmündigung, der Verbürgerlichung ihrer einst traditionellen Parteien, allgemein erfolglosen Versuchen, dieses Problem zu überwinden, sowie einer Schwächung der Gewerkschaftsbewegung in vielen Ländern geprägt war. Objektiv betrachtet ist die Arbeiter*innenklasse jedoch im gleichen Zeitraum weltweit erheblich gewachsen, sowohl in ihrer relativen Größe in der Gesellschaft als auch in ihrem wirtschaftlichen Gesamtgewicht, und sie ist heute gebildeter und technologisch fortgeschrittener und international vernetzter als je zuvor. Die materielle Grundlage für den Klassenkampf hat sich erheblich verschärft, und zwar in Form eines großen proportionalen Transfers von Wert von der Arbeit zum Kapital und einer historischen Explosion der Ungleichheiten. 

104. Die gegenwärtige Epoche hat all diese Widersprüche zum Vorschein gebracht: Einerseits gibt es eine qualitative Zunahme und Ausweitung von Kämpfen, Massenaufständen und Streiks auf internationaler Ebene (wenn auch zwangsläufig ungleichmäßig in der Welt), und in vielen Ländern entdeckt die Arbeiter*innenklasse ihre soziale Stärke wieder und gewinnt das Vertrauen in den Kampf zurück; andererseits tragen ihre Erfahrung, ihr Bewusstsein, ihr Organisationsgrad und ihre Führung noch einige der Zeichen der vergangenen Periode und behindern den Weg zu entscheidenden Durchbrüchen und Siegen. 

105. Der letzte Weltkongreß der ISA fiel in ein Jahr massiver sozialer Umwälzungen gegen den Neoliberalismus, die Korruption der Eliten und die Massenungleichheit, bei denen Frauen und junge Menschen eine besonders wichtige Rolle spielten. Die weltweite Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben seitdem alle bestehenden Ungleichheiten dramatisch verschärft und den bereits erodierten Glauben an das System als Träger von Fortschritt und Stabilität erschüttert. Wichtig ist auch, dass die Pandemie die Rolle der Arbeiter*innenklasse für den Zusammenhalt der Gesellschaft in einem noch nie dagewesenen, globalen Licht erscheinen ließ. Generell haben diese aufeinander folgenden globalen Ereignisse die Räder des Klassenkampfes weitaus mehr geölt als das Gegenteil. Weniger als ein Jahr nach Beginn der Pandemie kam es beispielsweise in Indien einmal mehr zum zahlenmäßig größten Streik in der Geschichte der Menschheit, an dem sich über 250 Millionen Arbeiter*innen beteiligten. 

106. Die Massenrevolten traten nach einer kurzen Pause mit neuer Ausdehnung und Intensität wieder in den Vordergrund und brachen zuweilen in aufständischen Explosionen aus, wie es in Sri Lanka und Ecuador im Jahr 2022 am deutlichsten zu sehen war. 

107. Die strukturellen Schwächen dieser Volkswirtschaften und ihre Abhängigkeit und Unterwerfung unter den Imperialismus haben dazu geführt, dass die Auswirkungen der globalen Ereignisse der letzten Jahre die Arbeiter*innen und Armen mit besonders brutaler Gewalt getroffen haben. Dieselben Länder, die von vornherein kaum Spielraum für fiskalische Interventionen hatten, erleben einen enormen Anstieg ihrer Schuldenlast und ihrer Importkosten und beginnen nun erneut mit massiven Sparprogrammen, die das Gleichgewicht der Gesellschaft erschüttern und die Merkmale von Revolution und Konterrevolution verschärfen. Die weltweite Rezession wird diese Merkmale noch weiter verschärfen. Dies kommt nach einer Periode, in der es einige - sehr kleine, aber immerhin - Verbesserungen in Bezug auf die Armut gab. Es ist die Tatsache, die die Massen beflügelt, dass sich alle Versprechungen für eine bessere Zukunft erneut als falsch herausstellen. Sie waren bereit zu warten, kleine Verbesserungen Schritt für Schritt zu akzeptieren, aber jetzt ist auch das vorbei. 

108. Es ist bezeichnend, dass in vielen der jüngsten Unruhen die Kampfmethoden der Arbeiter*innenklasse ein ausgeprägteres Merkmal geworden sind; in einigen Fällen wurde nur der Begriff verwendet, wie beim Klimastreik, was auf ein Verständnis der Macht dieser Maßnahme hindeutet; in einigen Fällen waren solche Methoden ihre unmittelbarsten Zünder. Die Reaktion auf die Militärputsche in Myanmar und im Sudan im Jahr 2021, die beide prompt die Form von massenhaften, tagelangen Streikaktionen annahmen, waren unter diesem Gesichtspunkt von großer Bedeutung.

109. Es ist bemerkenswert, dass der jüngste Ausbruch der Arbeiter*innenklasse in Massenkämpfen auch Länder betroffen hat, in denen die Arbeiter*innenbewegung entweder historisch schwach war (wie in Myanmar - wo die Bildung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung sehr jung ist - und Belarus - wo Jahrzehnte des Stalinismus die Selbstorganisation der Arbeiter*innen im Keim erstickt hatte) oder in jüngster Zeit tiefgreifende Rückschläge erlitten hatte (wie in Sri Lanka - wo die Gewerkschaften durch jahrzehntelangen Bürgerkrieg und kommunale Politik einen schweren Schlag erlitten -, im Sudan - wo die Gewerkschaften unter der Diktatur von Al Bashir unterdrückt oder zerschlagen wurden - und in Kasachstan - wo die Arbeiter*innen nach dem Massaker von Zhanaozen 2011 ein Jahrzehnt des Rückschritts erlebten). 

110. Revolutionäre Umwälzungen und soziale Explosionen, bei denen die Arbeiter*innenklasse an vorderster Front steht, sind kein völlig neues Phänomen in diesem Jahrhundert. Solche Episoden gab es auch im vorangegangenen Jahrzehnt. Sie beschränkten sich jedoch auf einige Länder (wie in Griechenland zwischen 2011 und 2014 oder in den frühen Phasen der tunesischen und ägyptischen Revolutionen), und das breite Klassenbewusstsein in der Gesellschaft war auf einem vergleichsweise niedrigeren Niveau als heute. Seit 2019, aber noch mehr seit der Pandemie, hat dieses Phänomen eine neue Dimension angenommen, und während die politische Einstellung und der Organisationsgrad der Arbeiter*innenklasse weiterhin hinterherhinken, ist die Anerkennung ihrer Methoden als notwendig für den Kampf ungleichmäßig, aber zweifellos gewachsen, inspirierend und durch größere Schichten gesickert. Ob durch organisierte oder faktische Generalstreiks, totale Arbeitsniederlegungen, Generalstreiks, Streikwellen, die mehrere Sektoren auf einmal erfassen, "Hartals" - Millionen von Menschen wurden Zeugen von Massenaktionen der Arbeiter*innenklasse in einem Ausmaß, wie es sie seit Generationen nicht mehr gegeben hat. 

111. Parallel dazu haben Häufigkeit, Tiefe und Umfang von Streiks auf allen Kontinenten erheblich zugenommen, ebenso wie die öffentliche Sympathie und Unterstützung für solche Aktionen. Die einstigen Hochburgen des Neoliberalismus, die USA und Großbritannien, wurden von großen Streikwellen und gewerkschaftlichen Organisierungsaktionen erschüttert, zu denen auch bedeutende Siege für die Anerkennung neuer, zuvor nicht organisierter Teile der Arbeiter*innenklasse gehörten, insbesondere in den USA. Die Gewerkschaften haben in beiden Ländern eine Unterstützung erfahren, die seit den 1960er Jahren nicht mehr erreicht wurde.Viele andere Länder (Iran, Sri Lanka, Türkei, Sudan) haben in den letzten Jahren eine der höchsten Streikraten seit Jahrzehnten erlebt. All dies deutet auf das Potenzial für die Erneuerung und das Wachstum eines radikalen gewerkschaftlichen Aktivismus der Arbeiter*innenklasse und des Klassenbewusstseins nach jahrzehntelangem Rückgang hin, ein Prozess, der noch in den Kinderschuhen steckt und viele Widersprüche und Rückschläge, aber auch potenzielle Sprünge nach vorne beinhalten wird, die durch die Bedingungen des kapitalistischen Katastrophenzeitalters angeheizt werden. 

112. Diese Streiks betrafen zuweilen strategische Kraftzentren und Arterien der kapitalistischen Wirtschaft, wie die Streiks der Arbeiter*innen der Ölindustrie und der Petrochemie im Iran, die Streiks in den Ölraffinerien in Frankreich, die Streiks in den Häfen von Felixstowe und Liverpool in Großbritannien oder im Hafen von Durban in Südafrika (dem zweitgrößten Containerhafen des Kontinents) zeigen. 

113. Der Arbeitskräftemangel in einigen Sektoren, die zunehmende Diskreditierung des kapitalistischen Establishments, das gestärkte Selbstbewusstsein der so genannten essentiellen Arbeiter*innen aufgrund ihrer wichtigen Rolle während der Lockdowns (in Sektoren wie dem Gesundheitswesen, dem Bildungswesen, der Logistik) und vor allem der enorme Inflationsdruck auf die Einkommen der Arbeiter*innen in einer Zeit der gefräßigen Profite für die Superreichen nähren diesen neuen Zyklus von Kämpfen, steigender Gärung der Arbeiter*innenklasse und Arbeitskämpfen. Insbesondere die Krise der Lebenshaltungskosten wird von vielen bürgerlichen Analyst*innen als ein wichtiger Zündstoff für soziale Explosionen erkannt. Laut der Ratingagentur S&P Global wird der globale Nahrungsmittelschock "auf Jahre hinaus soziale Unruhen schüren". Dem kann man nur schwerlich widersprechen. 

114. Die Wirtschaftskrise ist der wichtigste Hintergrund für die Entwicklungen in der Arbeiter*innenklasse und ihren Organisationen. Die Krise als solche begrenzt den Spielraum für reformistische Politiken, die für die Gewerkschaftsbürokratien typisch sind. Die Entwicklungen in und um die Gewerkschaften sind und werden in den verschiedenen Ländern unterschiedlich sein, je nach Rolle und Struktur der Gewerkschaften und insbesondere je nachdem, wie stark sie mit dem Staat und den herrschenden Klassen verbunden sind. Je enger diese Verbindungen sind, desto mehr werden sie versuchen, Klassenkämpfe zu blockieren. Die andere Seite der Medaille ist eine Arbeiter*innenklasse, die zunehmend nach Möglichkeiten sucht, sich zu organisieren und zu wehren, wo es möglich ist, unter Nutzung bestehender Gewerkschaften und ihrer Strukturen, wo nicht, versucht, sie aufzubauen. Dies setzt auch die Bürokratien unter Druck, die größtenteils immer noch sozial von den Mitgliedern abhängig sind. Sie reagieren also auf den Druck von unten, und zumindest Teile der Bürokratie werden zu Maßnahmen gedrängt, die weiter gehen, als sie selbst wollen. Diese Einsicht in die Notwendigkeit, sich zu organisieren und kollektiv zu kämpfen, ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiter*innenklasse, die Form, die es annehmen wird, wird von Land zu Land unterschiedlich sein und erfordert einen flexiblen Ansatz der Kräfte der ISA vor Ort. Zwischen diesen beiden Polen - Gewerkschaftsführungen, die den Kampf aufgrund ihrer Verbindungen zu den herrschenden Klassen völlig blockieren, und der Bildung neuer Kampfstrukturen an der Basis - werden wir verschiedene Entwicklungen beobachten, darunter die Entwicklung der Gewerkschaften zu kämpferischeren Instrumenten der Arbeiter*innenklasse und Konflikte innerhalb der Gewerkschaften zwischen verschiedenen Teilen der Bürokratie und der Basis. In vielen Fällen wird die Fähigkeit der Gewerkschaftsfunktionär*innen, die Dinge zurückzuhalten und den Status quo aufrechtzuerhalten, zunehmend auf die Probe gestellt und in Frage gestellt. Die Tendenz zum Zusammenbruch und zur Entlarvung des stückweisen oder klassenfeindlichen Gewerkschaftswesens wird sich beschleunigen, auch wenn sie unterschiedliche Ausdrucksformen und Geschwindigkeiten annimmt. Die bedeutenden Umwälzungen und Veränderungen in der Führung einiger Gewerkschaften, die militantere Haltung oder die Forderungen einzelner Anführer*innen, die Umgehung der Gewerkschaftsbürokrat*innen durch ihre Basis, die Gründung neuer Gewerkschaften, die Einleitung breit angelegter Kampagnen durch Sektoren der Gewerkschaftsbewegung, um Menschen außerhalb der Gewerkschaftsstrukturen zu erreichen, usw. sind alles verschiedene Erscheinungsformen dieses gleichen allgemeinen Prozesses. Die Streikwelle in Großbritannien hat auch gezeigt, wie schwerwiegende Illusionen in Teilen der Gewerkschaftsbürokratie entstehen können, die in den meisten Teilen der Welt in der letzten Zeit alles andere als populär war. Die Lancierung von "Enough is Enough" und die radikalisierte Rhetorik des Generalsekretärs der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT), Mick Lynch und anderer, ist sowohl in der zunehmenden Schärfe der Klassenbeziehungen als auch in der daraus resultierenden Notwendigkeit für die Gewerkschaftsbürokraten zu handeln begründet. Während dieses Beispiel einen Linksruck unter dem Druck von unten zeigt, wird sich in anderen Fällen die Bürokratie nicht bewegen und die Notwendigkeit, sich gegen sie und/oder unabhängig von ihr zu organisieren, wird notwendig sein. Einige Beispiele dafür entwickeln sich vor allem im Gesundheits- und Pflegesektor, wo in vielen Ländern die Gewerkschaft schwächer ist und ein Hindernis für die notwendigen Kämpfe darstellt, wobei sich Basisinitiativen wie "Sozial aber nicht blöd" in Österreich, Saint etienne lutte in Belgien oder das inter-paramedics collective CIH in Frankreich entwickeln. Eine marxistische Methode in dieser Frage, die die uneingeschränkte Unterstützung für alles, was die Anführer*innen der Gewerkschaften positiv tun, mit einer konsequenten Förderung der unabhängigen Organisierung der Basis innerhalb der Gewerkschaftsstrukturen, über diese hinaus und auf flexible Weise verbindet, ist von entscheidender Bedeutung, um in Zukunft wieder Fuß zu fassen.

Komplikationen und Einschränkungen 

115. Die Entwicklung der Kämpfe der Arbeiter*innen ist in den einzelnen Ländern und Sektoren ungleichmäßig und weist erhebliche Ausnahmen auf (Schweden zum Beispiel hat für 2020 keine Streiks und für 2021 nur 11 durch Streiks verlorene Arbeitstage zu verzeichnen, ein historischer Tiefstand). Sie könnte sich auch im Falle eines größeren Einbruchs der Weltwirtschaft negativ verändern - obwohl angesichts des "Gepäcks", mit dem die arbeitenden Massen in diese neue Periode eintreten, und des ohnehin schon geringen Vertrauens in die kapitalistischen Bosse und das Establishment eine einfrierende Wirkung auf die Kämpfe höchstwahrscheinlich nur sehr begrenzt und vorübergehend sein würde. 

116. Die neue Welle der Militanz der Arbeiter*innenklasse ist ein globaler und unverkennbar positiver Trend der neuen Periode, in die wir eingetreten sind, und ein Trend, dessen dauerhafte Auswirkungen auf die Weltpolitik sowie auf das Bewusstsein und die Organisationsformen der Arbeiter*innenklasse selbst wahrscheinlich tiefgreifend sein werden. Aber das sollte uns natürlich nicht dazu verleiten, die Widersprüche, Grenzen und Komplikationen, die diesem Prozess innewohnen, herunterzuspielen. Er ist zwar historisch, steht aber noch am Anfang, und viele der jüngsten Streiks sind immer noch defensiver Natur, d.h. es geht um die Wiederherstellung des Lebensstandards vor dem Hintergrund der steigenden Lebenshaltungskosten. In vielen Ländern erwacht die Arbeiter*innenklasse aus einem langen Dornröschenschlaf, was bedeutet, dass die neuen Generationen von Arbeiter*innen, die in den Kampf eintreten, zwangsläufig eine Lücke an Unerfahrenheit aufweisen. Die Kurve der gewerkschaftlichen Bestrebungen in der Starbucks-Kaffeekette in den USA hat sich beispielsweise verlangsamt, da die taktischen Unzulänglichkeiten der neuen beteiligten Gewerkschaften deutlicher zutage getreten sind. 

117. Die Arbeiter*innenklasse auf der ganzen Welt hat in unterschiedlichem Ausmaß weiterhin mit einer ernsten Krise der politischen Organisation und Führung zu kämpfen, und im Massenbewusstsein ist die Wahrnehmung, dass es eine lebensfähige Alternative zum Kapitalismus gibt, nach wie vor schwach ausgeprägt, ganz zu schweigen davon, welche Alternative das sein könnte und wie sie zustande kommen könnte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es klar, dass, während die massenhafte Ablehnung der gegenwärtigen Ordnung und die Radikalisierung "systemischer" Art Schlüsselmerkmale der neuen Ära sind, die anhaltenden Auswirkungen des Rechtsgalopps und der vollständigen Integration der ehemaligen Arbeiter*innenparteien in die neoliberale Konterrevolution sowie der entscheidende Zusammenbruch des Stalinismus noch nicht vollständig überwunden sind. Die Kampfbereitschaft der Arbeiter*innenklasse hat in der Regel keine Anführer*innen, Gewerkschaften und Parteien, die in der Lage sind, das zum Ausdruck gebrachte Potenzial zu ergreifen, und die über das Programm und die Strategie verfügen die notwendig sind, um dauerhafte Siege zu erringen. Bei den revolutionären Ausbrüchen, die es gegeben hat, haben reformistische, liberale und bürgerliche Anführer*innen, die sich von ihrer Neigung leiten ließen, den Kampf zu verwässern und ihn in sichere institutionelle Bahnen zu lenken, oft das Vakuum besetzt - mit katastrophalen Ergebnissen. 

118. Die Kämpfe und Forderungen der Massen neigen dazu, sich sehr schnell gegen "das System" zu erheben, aber die Krise des subjektiven Faktors, d.h. das Fehlen einer politisch unabhängigen Arbeiter*innenklasse und ein schwaches Verständnis dafür, wie Bewegungen zu einem strukturellen Abschluss gebracht werden können, ist eine wichtige Verteidigungslinie für die herrschende Klasse geblieben. 

119. Die jüngste Periode hat sehr explosive Kämpfe erlebt, die zuweilen wichtige Zugeständnisse errungen haben; die herrschende Klasse hat Schläge eingesteckt und einige dieser elementaren Explosionen haben sogar einige Köpfe rollen lassen. Die Erstürmung des Präsidentenpalastes in Colombo und die Besetzung wichtiger staatlicher Gebäude durch die Massen im Rahmen des demütigenden Sturzes der Rajapaksa-Herrschaft brachten sogar kurzzeitig die Machtfrage auf den Tisch und erlaubten es den Massen, für eine kurze Zeit mit dem Gedanken zu liebäugeln, selbst das Sagen zu haben. Die Anführer*innen der Bewegung wussten jedoch nicht, was sie mit ihrer Eroberung anfangen sollten, außer sie wieder dem bürgerlichen Staat zu überlassen. Die Massen haben nun einen Präsidenten, der völlig von der parlamentarischen Unterstützung der Rajapaksa-Partei abhängig ist, und eine Regierung, die mit Befürworter*innen des Ex-Präsidenten vollgestopft ist. Das "Omnibus-Gesetz", gegen das 2020 in Indonesien dreitägige Massenarbeitsunruhen ausbrachen, ist immer noch in Kraft, ebenso wie Pinochets alte Verfassung in Chile. In Tunesien wird mehr als zehn Jahre nach dem Sturz von Ben Ali der demokratische Raum, der durch die Revolution von 2010-2011 erobert worden war, durch den Aufstieg eines neuen bonapartistischen Regimes mit Füßen getreten. 

120. Das Fehlen einer entwickelten Arbeiter*innenbewegung oder die wiederholte Frustration über die offiziellen Anführer*innen der Bewegung und der Gewerkschaften und das Ausbleiben greifbarer Ergebnisse nach wichtigen Kämpfen kann eine Reihe von Problemen mit sich bringen, insbesondere in einem Kontext, in dem Millionen Menschen in verzweifelte Situationen geraten.Dies kann zum Ausbruch von Unruhen, anarchistischen oder individuellen terroristischen Aktionen führen. Ein Beispiel dafür ist die Welle von Banküberfällen im Libanon, wo die Banken die Anzahl der Dollar, die Sparer*innen abheben können, stark einschränken und den Bürger*innen ihr eigenes Geld verweigern. Es handelt sich um verzweifelte Einzelaktionen als Folge der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und der dramatischen Armut, bei denen die Banken versuchen, sich vor dem Hintergrund eines tiefen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs und eines jahrelangen ergebnislosen Kampfes zu retten. In Myanmar haben sich viele junge Menschen dem Guerillakrieg zugewandt, nachdem der Massenkampf von der liberalen Opposition in eine Sackgasse getrieben worden ist.

121. Abgesehen von der Situation in Hongkong - wo die einstige Massenbewegung durch eine gründliche und anhaltende reaktionäre Gegenoffensive besiegt wurde - muss jedoch betont werden, dass der Arbeiter*innenklasse weltweit keine historische Niederlage auferlegt wurde. Die Weltlage bleibt ein sehr offenes Schlachtfeld zwischen den Kräften der Revolution und den Kräften der Konterrevolution, in dem sich zwangsläufig Gelegenheiten für qualitative Durchbrüche im Bewusstsein, in der Gestaltung neuer politischer Organisationen für die Arbeiter*innenklasse und im Wachstum marxistischer Kräfte ergeben werden. 

122. Der erneute Ausbruch der Massen im Iran, kaum drei Jahre nachdem der letzte Aufstand mit über 1500 Toten blutig niedergeschlagen wurde, weist auf eine einfache, aber grundlegende Realität hin: Die Arbeiter*innen und die Unterdrückten kämpfen, weil sie keine andere Alternative haben. Natürlich ist ihre Widerstandskraft nicht grenzenlos, und Phasen des Rückzugs, des Rückschlags, der Erschöpfung, der Demoralisierung sowie schärfere Formen der Reaktion werden ein fester Bestandteil der kommenden Dinge sein. Aber es wird auch Phasen plötzlicher Beschleunigung und explosiver Ausbrüche von Massenwut geben, die umso wahrscheinlicher werden, da die Kontrolle der bürokratischen und reformistischen Apparate über die Massen, insbesondere über die Jugendlichen, begrenzt ist. 

123. Die tiefgreifende Krise des kapitalistischen Überbaus und die Schwierigkeiten, im Rahmen der organischen und vielschichtigen Krise des Kapitalismus stabile soziale Reserven für die herrschende Klasse aufzufüllen, bedeuten, dass die Periode von Revolution und Konterrevolution, die vor einem Jahrzehnt begonnen hat  wahrscheinlich sehr langwierig sein wird. Es ist schwer zu erkennen, wo und wie die Grundlage für ein neues Gleichgewicht in den Beziehungen zwischen den Klassen geschaffen werden könnte. 

124. Wichtig ist, dass sich das Massenbewusstsein vom kleinsten Streik bis zum revolutionären Aufstand am stärksten inmitten von Aktionen entwickelt, und die kommende Ära wird voll davon sein. Bewegungen, die nach einem Rückschlag zurückkamen, haben dazu tendiert, dies auf einer höheren Ebene zu tun als zuvor. Das Beispiel der Tausenden von Widerstandskomitees an der Basis, die im ganzen Sudan entstanden sind, und die neuen Debatten, die innerhalb dieser Komitees ausgebrochen sind, um ihre Koordination zu verbessern und ihre genaue politische Rolle zu definieren; oder die Tatsache, dass im Iran verschiedene lokale revolutionäre Räte entstanden sind und entsprechende Forderungen erhoben wurden, zeigen, dass Arbeiter*innen und Jugendliche dazu neigen, sich mit der Notwendigkeit einer unabhängigen Selbstorganisation zu erneuern und reifere politische Schlussfolgerungen aus ihren Erfahrungen zu ziehen. 

125. Lenin bemerkte einmal: "In revolutionären Momenten zwingt uns der Feind immer auf besonders lehrreiche und schnelle Weise richtige Schlussfolgerungen auf." Dies ist mit Sicherheit der Fall, wenn es um die nackte repressive Rolle des kapitalistischen Staates geht, die Millionen von Menschen bitter erfahren, Lehren daraus ziehen und neue Methoden des Widerstands dagegen erproben. Wie sich bei vielen Gelegenheiten gezeigt hat, können die Reaktion des Staates selbst und die Angriffe auf demokratische Rechte im Allgemeinen ein Funke sein, der die Bewegungen entfacht oder sie auf die nächste Stufe hebt. Die Entscheidung der französischen Regierung, die streikenden Arbeiter*innen der Ölraffinerie im Oktober zur Rückkehr an ihren Arbeitsplatz zu zwingen, führte beispielsweise dazu, dass die CGT und andere Gewerkschaften als Reaktion darauf zu einem "interprofessionellen" Streik aufriefen. Dies wird auch in den kommenden Kämpfen ein sehr wichtiges Merkmal sein. 

126. Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft ist so breit gefächert und die Krise so vielschichtig und global, dass Kämpfe zu einer Vielzahl von Themen ausbrechen können. Aus denselben Gründen werden die an ihnen beteiligten Schichten wahrscheinlich offener für eine allgemeine Infragestellung des Systems und für eine umfassende, internationale Alternative sein als in der Zeit, die wir hinter uns lassen. Deshalb wird es für den Aufbau unserer Kräfte vielleicht noch mehr als in jeder anderen historischen Periode zuvor darauf ankommen, den Kampf gegen alle Formen der Unterdrückung, den imperialistischen Krieg, die Klimakrise, die rechtsextreme Gewalt usw. zu führen und unser Übergangsprogramm in all diesen Fragen zu schärfen, um sie in die strategische Aufgabe der Arbeiter*innenklasse einfließen zu lassen, die revolutionäre Transformation der Gesellschaft anzuführen. 

Tiefe politische Krisen

127. Die neue Periode fühlt sich extrem turbulent an. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die herrschenden Eliten angesichts des Charakters der Periode keine Lösungen haben. Jede Maßnahme schafft neue Probleme, anstatt sie zu lösen. Politisch drückt sich dies im Mangel an Unterstützung und Vertrauen in die verschiedenen Parteien und Regierungen aus. Es kommt immer häufiger vor, dass Regierungen ihre Amtszeit nicht zu Ende führen. Die Minister*innen wechseln ebenso wie die Regierungschef*innen. Das Hauptmotiv bei Wahlen ist die Wut auf die Amtsinhaber*innen.

128. Selbst alte traditionelle Parteien versuchen, sich neu zu erfinden, um diese Krise zu überwinden - und scheitern schnell, wie bei Boris Johnson. Neue Formationen tauchen auf und können große Wählerunterstützung erhalten, scheitern aber auch schnell und spalten sich in Flügel und Fraktionen auf - wie die 5-Sterne-Bewegung in Italien. Der Populismus füllt ein Vakuum, das durch die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie und die allgemeine Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien entstanden ist. 

129.    In diesem Szenario ist das Erstarken rechtsextremer Kräfte eine bemerkenswerte und gefährliche Entwicklung: der Wandel der Republikaner unter Trump und der Rechtsruck mehrerer traditioneller Mitte-Rechts-Parteien, die Bildung einer soliden Basis für den Bolsonarismus, die sich in seinem Abschneiden bei den brasilianischen Wahlen (und der rechtsextremen Mobilisierung im Anschluss daran) zeigt, die Wahlerfolge der italienischen Rechtsextremen unter der Führung von Meloni oder der zweite Platz der Schwedendemokraten bei den Wahlen 2022. Das anhaltende Versäumnis, eine echte, massenhafte Alternative zum bankrotten kapitalistischen politischen Establishment von links anzubieten, bietet eine gefährliche Gelegenheit für das Wachstum rechtsextremer Ideen. Die Mobilisierung für die Sache des "kleineren Übels" bei den Wahlen war in den letzten Jahren nicht sehr erfolgreich, und zwar auf Kosten einiger linker Kräfte, die sich politisch und organisatorisch zurückziehen, indem sie scheinbar "fortschrittliche" bürgerliche Parteien unterstützen. Die geringe Beteiligung an den französischen Wahlen trotz der eindeutigen Gefahr durch die extreme Rechte und der knappe Sieg Lulas zeigen dies. Die Gefahr von Wahlsiegen der extremen Rechten auf parlamentarischer Ebene kann durch eine solche Methode mittel- und langfristig nicht gemildert werden. Die Erfahrung dieser rechtsextremen Figuren an der Macht wird jedoch bedeuten, dass diese Strategie nicht ewig funktionieren wird. Auch wenn diese Kräfte ihre Stärke aus der Positionierung als "Anti-Establishment" bezogen haben und nicht die Mehrheit der herrschenden Klasse repräsentieren, so stellen sie doch die konkrete Gefahr einer zukünftigen bonapartistischen Herrschaft dar, wenn die liberale bürgerliche Herrschaft in einer zerfallenden kapitalistischen Demokratie an ihre Grenzen stößt.

130. Unter Covid gewannen die verschiedenen rechtsextremen Kräfte an Zulauf, die sich auf Verschwörungstheorien und die Wut über die Maßnahmen der Regierung stützen, die u. a. bei der Eindämmung des Virus und der Krise versagt haben. Dies zeigt, dass das Wachstum der rechtsextremen Kräfte nicht nur ein Wahlphänomen ist. Es gibt bereits eine kleine, aber wachsende Basis von Personen, die nun offener für die Umsetzung ihrer gesamten Agenda sind. Die Reaktionäre fordern auch zunehmend eine Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen als Teil einer Gegenreaktion auf die Welle von Frauen und feministischen Kämpfen, die für ein gestiegenes Selbstbewusstsein stehen, diese Ausrichtung trifft auf eine bereits bestehende Revolte und wird weitere provozieren. Die jüngsten Entwicklungen im Iran zeigen die hohe Brisanz solcher Themen, die von großen Teilen der Bevölkerung aufgegriffen werden und Regime in die Knie zwingen können. Abhängig von den Entwicklungen im Iran können die kommenden Monate in Afghanistan sowie die Parlamentswahlen in der Türkei weitere Beispiele dafür sein, wie scheinbar starke Regime gestürzt werden können.

131.    Das Erstarken der extremen Rechten ist zwar besorgniserregend, da es gewalttätige und terroristische Elemente einschließt, wie wir unter Bolsonaros Herrschaft und insbesondere im Wahlkampf gesehen haben, hat aber auch seine Grenzen. Bisher haben sie nicht in vollem Umfang von der Krise der Lebenshaltungskosten profitiert, obwohl dies Teil des Rechtspopulismus in der Kampagne von Le Pen wie auch im Wahlkampf von Bolsonaro war. Obwohl sie in einigen Ländern das Thema aufgriffen und sogar dagegen mobilisierten, wie in der Tschechischen Republik oder in Deutschland, konnten sie nicht in vollem Umfang davon profitieren, da ihre Hauptantwort in Europa eine Art "Pro-Putin"-Antwort ist und es nur begrenzten Spielraum für eine fiskalische Expansion zur Finanzierung populistischer Wirtschaftsmaßnahmen gibt. Die Versprechen des neuen italienischen Ministerpräsidenten Meloni, im Sinne der EU-Interessen zu handeln, spiegeln die Grenzen der rechtsextremen Parteien wider, sobald sie an der Regierung sind. Die österreichische rechtsextreme FPÖ scheiterte zweimal, als sie an der Regierung war. Beide Male setzte sie eine brutale neoliberale Tagesordnung um, ging aber auch für eine gewisse Zeit stark geschwächt aus der Regierung hervor. Die Debatten über nationale Souveränität vs. EU-Einfluss werden in der kommenden Zeit sicherlich zunehmen, angeheizt nicht nur von verschiedenen rechtsextremen Organisationen, sondern auch von traditionellen bürgerlichen Parteien. Obwohl bürgerliche Parteien von Natur aus nationalistisch sind und sich im Allgemeinen schon immer des Nationalismus bedienten, gehen sie heute, selbst in Ländern, in denen er in der Vergangenheit eher zurückhaltend zum Ausdruck kam, zunehmend zu einer aggressiveren nationalistischen Rhetorik über.

132.    Die wichtigsten EU-freundlichen Parteien sind die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien. Dort, wo sie an der Macht sind, wie in Deutschland, Norwegen oder Spanien, gibt es keine Begeisterung oder Massenunterstützung. Wenn es keine linke, kämpferische Alternative aus der Arbeiter*innenklasse gibt, können diese Parteien vor allem auf der Grundlage des "kleineren Übels", aber auch als Versuch vor allem bürgerlicher Wähler*innen, zu einer stabileren Situation zurückzukehren, Wähler*innen gewinnen.

133.    Die ISA/CWI entwickelte die Analysen und kämpfte für die Entwicklung neuer Arbeiter*innenparteien seit den 1990er Jahren. Die Bürokratisierung der traditionellen Arbeiter*innenorganisation ließ die Arbeiter*innenklasse ohne Massenorganisationen zurück, und wir erkannten die Notwendigkeit, neue aufzubauen, als eine wichtige Aufgabe der Revolutionär*innen. Auch weil das Bewusstsein zurückgedrängt wurde, nicht zuletzt durch den Zusammenbruch des Stalinismus, erwies sich dieser Prozess als viel komplizierter als wir erwartet hatten, und in den meisten Fällen entstanden neue linke Formationen, die oft nur von kurzer Dauer waren, sich an Wahlen orientierten und keine Wurzeln in der Arbeiter*innenklasse hatten.

134.    In der Regel, mit Ausnahmen, sind die neuen linken Formationen oder Figuren in Europa in der vergangenen historischen Periode in eine schwere Krise oder einen Niedergang geraten. Das liegt vor allem an der zaghaften reformistischen Politik ihrer Führungen sowie an ihrer mangelnden Verankerung in der Arbeiter*innenbewegung und der Arbeiter*innenklasse. Ihr Hauptaugenmerk lag auf dem Parlamentarismus, dem Beitritt zu Regierungen und der Unterstützung "notwendiger" Kürzungen. Daraus lassen sich wichtige Lehren für die kommende Zeit ziehen. Es gibt auch wichtige Ausnahmen wie France Insoumise und die PTB in Belgien, die nicht an der Macht getestet wurden. Neue Formationen werden entstehen, und es ist wichtig, die Lehren aus den vorangegangenen zu ziehen, über die Gefahren und Grenzen der Orientierung an Positionen und Sitzen, über die Notwendigkeit, sich auf die Arbeiter*innenklasse und ihre Kämpfe zu stützen, über die Notwendigkeit eines sozialistischen Programms und einer klassenkämpferischen Strategie zur Überwindung des Kapitalismus. Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise ist der Spielraum für den Reformismus kleiner: einer der Hauptgründe, warum alle reformistischen Projekte und Konzepte schnell an ihre Grenzen stoßen und sich der Logik des Kapitalismus unterwerfen.

135.    DIE LINKE, ehemaliges Flaggschiff der neuen linken Formationen in Europa, ist ein Paradebeispiel für die Fallen und Gefahren, die im Prozess der Bildung neuer Massenparteien der Arbeiter*innen umschifft werden müssen. Als Sammelsurium unterschiedlichster rechter und linksreformistischer Ideen fehlte es ihr von Anfang an an programmatischer Klarheit. Auch wenn antikapitalistische Ideen teilweise Mehrheiten in der Partei gewinnen konnten, gab es keine Strategie, ob und wie der Kapitalismus überwunden werden sollte. Stattdessen strebte eine Mehrheit die Beteiligung an Landes- und Bundesregierungen an, wo die Partei keine nennenswerten Veränderungen bewirkte, aber ihr Image als Anti-Establishment-Partei verlor. Die jahrelange Stagnation führte zu einer Krise, die die Partei in eine eher populistische, aber auch sozialchauvinistische Partei unter Sahra Wagenknecht und eine "fortschrittlichere", aber weniger rebellische Partei spalten wird, wobei letztere die Mehrheit stellt. Das Ergebnis wird weniger Einigkeit, aber nicht mehr Klarheit sein. In diesem Sinne wird die zerstörerische Spaltung eine große Niederlage für die gesamte Linke in Deutschland sein, auch wenn die weiteren Perspektiven der beiden Parteien noch offen sind, und so ist es die Aufgabe der Marxist*innen, unter den fortschrittlicheren Elementen zu intervenieren mit dem Ziel, zur Klärung der Lehren beizutragen und den notwendigen Weg nach vorne zu weisen, im Rahmen des allgemeinen Klassenkampfes und der linken Opposition gegen die kapitalistische SPD-Grünen-FDP-Regierung.

136.    Die Bilanz der Entwicklung neuer linker Formationen und insbesondere neuer Arbeiter*innenparteien ist wichtig, wenn auch nicht allzu günstig. Der Bedarf an Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse und der Jugend ist nach wie vor vorhanden, aber wir verstehen, dass der Prozess, wie sich dies entwickeln wird, nicht linear sein wird. Obwohl neue Parteien eine wichtige Rolle spielen können, gibt es starke Faktoren (kein Platz für Reformismus, Krise des Parlamentarismus), die es unwahrscheinlich machen, dass langfristig stabile Formationen auf der Tagesordnung stehen. Darüber hinaus wird der Prozess der Reorganisation der Arbeiter*innenklasse verschiedene Formen annehmen: kurzlebige neue linke Parteien, der Eintritt in die Gewerkschaften, die Schaffung neuer Kampfstrukturen, verschiedene feministische oder Klima-Initiativen oder die Nachbarschaftskomitees, die das Herzstück der revolutionären Kämpfe in Chile, Sudan und Katalonien gewesen sind. Für Sozialist*innen bedeutet dies, dass wir eine flexible Herangehensweise an die Organisierung dort haben müssen, wo sich Kämpfe entwickeln, Taktiken wie Banner verwenden, teilweise in anderen Formationen arbeiten, aber bei all dem immer die revolutionäre Partei als stabilen Faktor in diesen Prozessen behalten und aufbauen.

Sich ausweitende Klimakatastrophe 

137. Die Klimakatastrophe beweist die Unfähigkeit des Kapitalismus, der Menschheit eine Zukunft zu geben - geschweige denn eine gute Zukunft. Nach einem Sommer mit Bränden (Spanien, Frankreich) und Dürren (mit dem Austrocknen einiger der wichtigsten Flüsse und Seen in Europa und China) folgten Überschwemmungen (Pakistan, Nigeria) und andere Wetterextreme (wie Wirbelstürme in Amerika). Anders als in der Vergangenheit sind die Auswirkungen jetzt für jeden spürbar. Ein schockierender neuer Bericht oder eine Studie folgt auf die nächste. 

138.    Dreißig Jahre nach dem Gipfel von Rio, auf dem die Bekämpfung des Klimawandels beschlossen wurde, steigen die CO2-Emissionen immer noch an. Im UN-Emissionslückenbericht von 2022 heißt es, dass es "keinen glaubwürdigen Weg zur Erreichung von 1,5°C gibt". Die Emissionen werden bis 2030 voraussichtlich um 14 % steigen, und nach Angaben der Weltorganisation für Meteorologie besteht ein 50 %iges Risiko, dass wir innerhalb der nächsten fünf Jahre vorübergehend die kritische Grenze von 1,5 °C bei der globalen Erwärmung überschreiten. Es wächst die Besorgnis über Kipppunkte, die zu irreversiblen Veränderungen der Erdsysteme führen und die globale Erwärmung oft noch verstärken, wie z. B. das Schmelzen des arktischen Permafrosts, bei dem große Mengen des Treibhausgases Methan freigesetzt werden, oder das Abschmelzen der Eiskappen Grönlands und der Antarktis. "Die Überschreitung einer globalen Erwärmung von 1,5°C könnte mehrere Kipppunkte des Klimas auslösen", so eine in Science veröffentlichte Studie.

139.    Das anhaltende Versäumnis, den Klimawandel und andere drohende ökologische Katastrophen anzugehen, ist nicht einfach auf Unwissenheit oder gar Gier zurückzuführen. Das primäre Ziel des politisch-ökonomischen Systems des Kapitalismus ist es, Profite zu erzielen. Diese Gewinne werden durch die Enteignung der Natur und die Ausbeutung der Arbeitskraft erzielt. In einer Tretmühle von völlig unhaltbarem, ständig wachsendem Wachstum werden die Ökosysteme und natürlichen Ressourcen der Erde als kostenlose Ressourcen behandelt, wobei Rohstoffe, Nahrungsmittel und andere Ressourcen aus der Natur abgesaugt werden, während die Umweltverschmutzung wieder in den Boden, das Meer und die Luft gespuckt wird. Kapitalistische Konzerne konkurrieren um Profite und versuchen, an allen Ecken und Enden zu sparen und die Kosten zu senken - was zu Lohnkürzungen und Umweltschäden führt. Die Nationalstaaten verteidigen die Interessen "ihrer" nationalen Kapitalist*innen.

140.    Mit dem Kapitalismus ist die "ökologische Kluft" zwischen Mensch und Natur explodiert, was zu einem eskalierenden Zusammenbruch des derzeitigen dynamischen Gleichgewichts der Erdsysteme führt (das Erdsystem befindet sich nicht in einem statischen Gleichgewicht, sondern in einem ständigen Fluss innerhalb bestimmter Grenzen), was unter anderem eine Klimakrise und den Verlust der Artenvielfalt verursacht. Der Kapitalismus ist ein absolutes Hindernis für die internationale Planung und Zusammenarbeit, die für die Integration von Mensch und Natur erforderlich ist. Stattdessen werden alle "Lösungen", die innerhalb der Logik des Kapitalismus bleiben, im Allgemeinen die "ökologische Kluft" weiter vertiefen, da sie auf einer Produktionsweise beruhen, die die Natur als unendliche Ressource behandelt und die Superausbeutung der Arbeiter*innenklasse fortsetzt, was nicht nur für Milliarden von Arbeiter*innen, sondern für den gesamten Planeten äußerst schädliche Bedingungen schafft.

141.    Und es ist nicht nur die Klimakrise, die die Zukunft der Menschheit bedroht. Man schätzt, dass in den nächsten Jahrzehnten über eine Million Arten verschwinden werden - mehr als die Hälfte der bekannten Arten auf dem Planeten! Die Böden verschwinden durch Erosion und/oder Versalzung, und die Meere sind überfischt, was schwerwiegende Folgen für die Nahrungsmittelproduktion hat. Von Wasserknappheit sind bereits rund 40 % der Weltbevölkerung betroffen, und nach Angaben der Vereinten Nationen und der Weltbank könnten die Auswirkungen zunehmender Dürren bis 2030 bis zu 700 Millionen Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Wasser war und wird in zunehmendem Maße ein Grund für viele Konflikte sein, z. B. in China/Indien/Pakistan/Kaschmir, Äthiopien/Ägypten, der Türkei/Irak und im gesamten Nahen Osten, einschließlich Israel/Palästina, um nur einige zu nennen. Zwar setzen mehrere Staaten, darunter Saudi-Arabien, Israel und Malta, bereits auf Meerwasserentsalzungstechnologie, um die Hälfte bis die gesamte Trinkwasserversorgung zu gewährleisten, doch ist dies immer noch eine teure, energieintensive und potenziell stark umweltbelastende Lösung. Trotz gewisser Fortschritte bei der Bekämpfung des Ozonabbaus - ein kürzlich veröffentlichter UN-Bericht schätzt, dass die Werte von 1980 in der Arktis, Antarktis und anderswo innerhalb von zwei bis vier Jahrzehnten wieder erreicht werden könnten - ist dies noch lange nicht garantiert, und derselbe Bericht warnt vor möglichen Maßnahmen des solaren Geo-Engineerings gegen die globale Erwärmung, die jeden Fortschritt zunichte machen könnten. Plastik ist überall, zerstört die Ozeane und Mikroplastik findet sich in allen Teilen des menschlichen Körpers, einschließlich der Plazenta - mit noch nicht vollständig bekannten Auswirkungen. Und diese Liste der Zerstörung ist nicht einmal annähernd vollständig: Es handelt sich nicht nur um eine Anhäufung von Problemen, sondern darum, wie sie sich gegenseitig verstärken.

142.    Die Auswirkungen dieser Zerstörung sind in allen Bereichen des Lebens zu spüren. Und je ärmer man ist, desto härter trifft es einen. Der Mangel an Nahrungsmitteln, den wir heute erleben, wird gering sein im Vergleich zu dem, was noch kommen wird: Eine Studie schätzt, dass "jedes Grad Celsius Anstieg der globalen Mitteltemperatur die globalen Erträge von Weizen um 6,0 %, Reis um 3,2 %, Mais um 7,4 % und Sojabohnen um 3,1 % verringern wird". Die durch Spekulationen in die Höhe schießenden Lebensmittelpreise, aber auch der Verlust an Anbauflächen werden Millionen und sogar Milliarden in Hunger und Not treiben, unendlich viele werden aus ihren ehemaligen Heimatorten fliehen müssen, die sich in Gebiete verwandeln, in denen kein Mensch mehr leben kann. Zusätzlich zu den Agrarexportsubventionen der imperialistischen Länder und der Monopolisierung der Saatgutindustrie, insbesondere durch gentechnisch verändertes Hybridsaatgut, werden geringere Ernteerträge aufgrund höherer Temperaturen, Bodenerosion, Wasserknappheit und Versalzung es den Agrarkonzernen erleichtern, die einheimischen Bauern und Bäuerinnen von ihrem Land zu vertreiben, was die Monopolisierung des Sektors insgesamt weiter vorantreibt. Der verstärkte Einsatz von mechanisierter Landwirtschaft und Düngemitteln durch die Agrarindustrie wird jedoch die Bodenerosion, Versalzung und Überdüngung verschärfen und damit die metabolische Kluft weiter vertiefen und beschleunigen. Gleichzeitig werden diese Entwicklungen die Kämpfe der Bauern und Bäuerinnen gegen die multinationalen Lebensmittelkonzerne und die in ihrem Namen handelnden Regierungen weiter anheizen.

143.    Die Praktiken der industrialisierten Tierproduktion tragen in hohem Maße zur globalen Erwärmung bei, da die Tierhaltung "für mindestens 16,5 % der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich ist und erhebliche Umweltschäden verursacht, vom Verlust der biologischen Vielfalt bis zur Abholzung der Wälder" (Humane Society International). Mehr als ein Drittel der weltweiten landwirtschaftlichen Produktion und sogar 90 % der weltweiten Sojaproduktion werden zur Fütterung von Nutztieren in der Viehwirtschaft verwendet, was ein Beweis für die Verschwendung von Ressourcen ist. Etwa 75 % der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche wird für die Viehzucht oder als Viehfutter genutzt. Jedes Jahr werden große Flächen des Regenwaldes gerodet, um Platz für Weideflächen und großflächige Landwirtschaft zu schaffen, wie im Amazonas-Regenwald in Brasilien. Profitinteressen treiben die industrialisierte Tierproduktion voran, die völlig unhaltbar ist. Ein sozialistischer Plan für die Nahrungsmittelproduktion würde auf Nachhaltigkeit und den Bedürfnissen aller Teile der Natur beruhen, was auch die Arbeit an der Produktion und dem Konsum von mehr pflanzlichen Nahrungsmitteln einschließen würde.

144. All diese menschlichen Katastrophen rühren die herrschenden Eliten nicht. Aber auch sie fürchten sich vor den Unruhen und den politischen, aber auch den wirtschaftlichen Folgen. Während einige von den Spekulationen mit Nahrungsmitteln, Wasser und Waffen profitieren werden, wird dies im Allgemeinen die Weltwirtschaft schrumpfen lassen. Laut einer Studie von S&P Global aus diesem Jahr könnten die geschätzten Auswirkungen des Klimawandels (bei Einhaltung der derzeitigen Verpflichtungen) das jährliche globale BIP bis 2050 um 4 % verringern. Ärmere Regionen werden unverhältnismäßig stark betroffen sein, wobei einige asiatische Volkswirtschaften um 10-18 % schrumpfen werden - und das war noch vor dem Ukraine-Krieg. Aber auch die großen kapitalistischen Zentren sind bereits stark betroffen. Der Hurrikan Ian, der 2022 die Karibik und die USA heimsuchte, verursachte allein in den USA Schäden von bis zu 100 Milliarden Dollar (7 % des BIP von Florida), die wirtschaftlichen Verluste durch die Überschwemmungen in der chinesischen Provinz Henan im Jahr 2021 werden auf rund 20 Milliarden Dollar geschätzt, und die Überschwemmungen in Mitteleuropa im selben Jahr verursachten Schäden in Höhe von 42 Milliarden Dollar. Mit steigenden Temperaturen werden extreme Wetterereignisse immer häufiger und noch heftiger auftreten. Diese Befürchtungen bilden den Hintergrund für die verzweifelten, aber meist erfolglosen Versuche der herrschenden Klassen, die Krise irgendwie zu bewältigen. Dazu gehören Gipfeltreffen, Resolutionen und einige halbherzige Entscheidungen. Dazu gehören auch die Bemühungen, entgegen den wissenschaftlichen Erkenntnissen betrügerische kapitalistische Marktmechanismen und neue Techniken einzusetzen, um "Zeit zu kaufen", damit die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen fortgesetzt werden kann (durch CO2-Abscheidung, Geo-Engineering usw.)

145. Angetrieben durch die Energiekrise sehen wir eine Kombination aus der Rückkehr zu fossilen Brennstoffen wie Kohle (die Umfrage Global Coal Exit List zeigt, dass 46 % der Kohleunternehmen expandieren) und Kernenergie sowie einige Initiativen der herrschenden Klassen, um Investitionen in erneuerbare Energien zu fördern. Der Umstieg von russischem Gas auf Elektroheizungen, Kohle und Holz, mit dem viele Haushalte hoffen, den Preissteigerungen zu entgehen, hat negative Auswirkungen auf das Klima und die Gesundheit der Menschen. Laut einer aktuellen Harvard-Studie ist die Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe für jeden fünften Todesfall weltweit verantwortlich (Feinstaubbelastung, PM 2,5). Die Atomindustrie hat seit Beginn der Klimabewegung versucht, sich als "grüne" Alternative darzustellen. Mit der Rückendeckung der EU und dem Ukraine-Krieg bedeutet dies, dass nicht nur überfällige Atomkraftwerke länger in Betrieb bleiben, sondern noch mehr gebaut werden. All dies in einer destabilisierten Welt, die anfällig für weitere Wetterextreme und Kriege ist, die, wie die Demonstrationen rund um das Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine gezeigt haben, die Sicherheitsbedenken in Bezug auf Atomanlagen nur noch verstärken. Die Anlagen wurden für eine Betriebsdauer von 30 Jahren gebaut. Weltweit liegt ihr Durchschnittsalter bei 30,9 Jahren, in den USA sogar bei 40,6 Jahren. Die technischen Probleme in den französischen Kernkraftwerken verschärfen die Energiekrise im Jahr 2022. Viele alte Anlagen werden weiterbetrieben, was zu allen möglichen gefährlichen Situationen und schweren Unfällen führt. Neue Anlagen werden gebaut, darunter auch "Mini"-Anlagen (kleine modulare Reaktoren). Die Kosten für all dies werden der Arbeiter*innenklasse aufgebürdet. Aufgrund ihrer langen Bauzeit wird keine dieser Anlagen die derzeitige Energiekrise lösen - aber sie werden zu den langfristigen Problemen des Atommülls beitragen und können Widerstand in der Bevölkerung auslösen.

146. Die Diskrepanz zwischen der Propaganda über die Umstellung auf erneuerbare Energien und der Wahrheit ist enorm. Lediglich 30 % der weltweiten Stromerzeugung und weniger als 10 % des gesamten weltweiten Energieverbrauchs stammen aus erneuerbaren Energien. Um bis 2050 auch nur in die Nähe von Netto-Null-Emissionen zu kommen und die Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, müssten sich die Investitionen in erneuerbare Energien bis 2030 vervierfachen. Doch im Jahr 2022 stiegen die Investitionen stattdessen in fossile Brennstoffe! Für jede 0,9 $, die in erneuerbare Energien investiert werden, wird 1 $ in fossile Brennstoffe investiert. Es mangelt nicht an Ideen, an der Motivation der Arbeiter*innenklasse und an tatsächlich funktionierenden Systemen, um den Energieverbrauch zu senken, umweltfreundlich zu produzieren, Plastik und Abfall zu reduzieren usw. - aber die Umsetzung dieser Ideen in großem Maßstab wird durch die Logik des Kapitalismus unmöglich gemacht, die auf Privateigentum und dem engen Nationalstaat, auf Wettbewerb und auf der Notwendigkeit beruht, um jeden Preis zu expandieren und Profit zu machen.

147. Staatliche Investitionen in grüne Märkte nehmen zu. Die US-Energieministerin Jennifer Granholm geht davon aus, dass der Markt für saubere Energie bis 2030 ein Volumen von 23 Billionen Dollar erreichen wird. Ihr zufolge stellen der kürzlich verabschiedete "Inflation Reduction Act", das "Infrastructure Law" und der "CHIPS and Science Act" zusammen über eine halbe Billion Dollar für Investitionen in die Umwelt und saubere Energie bereit. Ein großer Teil dieser staatlichen Investitionen wird in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften getätigt - z. B. zur Dekarbonisierung fossiler Sektoren oder zur Finanzierung der Sanierung von Kernreaktoren -, aber auch als protektionistische Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität heimischer Unternehmen. Die Forcierung des Aufbaus der CO2-Abscheidungs- und -Speicherindustrie kann beispielsweise dazu dienen, die produktiven Investitionsmöglichkeiten zu erhöhen, aber auch ein ideologisches Instrument sein, um die Produktion fossiler Brennstoffe fortzusetzen und dadurch sogenannte "Stranded Assets" zu vermeiden.

148. Die Klimabewegung entwickelt sich weiter. Vor COVID war die vorherrschende Perspektive, immer größere Demonstrationen aufzubauen, die im September 2019 in einer riesigen Welle von internationalen Märschen und Kundgebungen gipfeln sollten. Dies wurde sowohl durch COVID als auch durch die wachsende Erkenntnis durchkreuzt, dass die Demos die Politik der Regierungen und Unternehmen nicht verändert hatten. So entstanden kleine Gruppen, die mit Einzelaktionen auf sich aufmerksam machten, wie die Extinction Rebellion. Jetzt findet ein zunehmender Prozess der Differenzierung statt. Es gibt einen wachsenden antikapitalistischen Flügel der Bewegung, der zwar noch nicht sozialistisch ist, aber einen großen Schritt vorwärts von den Illusionen in Einzelaktionen, grünem Kapitalismus, Markt "reformen" und der Hoffnung, dass die Regierungen handeln werden, macht. Die Änderung der Taktik der Extinction Rebellion ist bedeutsam. Die Massendemos in Deutschland könnten ein Zeichen für die Rückkehr zu Massenprotesten auf einem höheren Niveau sein. All dies bietet eine zunehmend günstige Gelegenheit für unseren klassenbasierten Ansatz.

149. Selbst dort, wo scheinbar umweltfreundliche Technologien eingesetzt werden, schafft dies neue Probleme. Wie die Produktion von Biodiesel, die zu Landraub, Abholzung und Monokulturen in Lateinamerika führt. Der Wettlauf um "neue" Mineralien wie Lithium (das für Batterien benötigt wird) und seltene Erden birgt neokoloniale Ausbeutung und geopolitische Risiken. Europa investiert zum Beispiel massiv in Erdgasprojekte in afrikanischen Ländern. Das Wachstum der erneuerbaren Energien im Kapitalismus wird auch die zwischenimperialistischen Spannungen und die Ausbeutung von Ureinwohner*innen, der lokalen Bevölkerung und der Natur verstärken. Das Potenzial für lokale und regionale Proteste gegen die Förderung wird immer größer. Und während die kommende Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit die Macht der Unternehmen stärkt, wächst auf der anderen Seite auch das Bewusstsein für die verheerenden Auswirkungen der Klimakrise. Das eröffnet einen Raum für die Verbindung von kommunalen und Arbeiter*innen-Kämpfen, um das Argument "Klima gegen Arbeitsplätze" zu widerlegen.

150. Der "Inflation Reduction Act" in den USA wird von den Regierungen anderer fortgeschrittener kapitalistischer Länder bereits als ein Paket von Subventionen für die sogenannte "CO2-freie" Industrie angesehen. Ähnliche Gesetze werden wahrscheinlich auch anderswo folgen. So hat die kanadische Regierung in ihrer Herbstbilanz 2022 ein Programm von Steuergutschriften und Subventionen vorgestellt, mit dem sie Kanadas "Investitions- und Produktivitätsproblemen" begegnen will. Ziel des Programms ist es, Investitionen in die so genannte "Netto-Null-Wirtschaft" anzuziehen, wobei der Schwerpunkt auf Investitionen in Elektrofahrzeuge, fortschrittliche Fertigung, "saubere Technologien", den Abbau "kritischer Mineralien", die weitere Deregulierung der Transportindustrie usw. gelegt wird.

151. Ähnliche Programme in mehreren Industrieländern können günstige Bedingungen für wichtige technische Fortschritte schaffen. Wie die Entwicklung der COVID-Impfstoffe wird jedoch auch diese Wirtschaftstätigkeit auf öffentliche Mittel angewiesen sein, sowohl direkt in Form von Subventionen als auch indirekt in Form von öffentlich finanzierter Forschung. Für einige erfolgreiche Unternehmen, aber nicht für das kapitalistische System insgesamt, könnte dies günstige Bedingungen für eine erneuerte und wiederbelebte Kapitalakkumulation und eine Quelle kapitalistischer Gewinne bieten.

152. Kapitalist*innen werden mit öffentlicher Unterstützung in grüne Technologien investieren, sowohl um den Anschein zu erwecken, etwas für das Klima zu tun, als auch auf der Suche nach Profiten. Dies wird jedoch nicht ausreichen, um die Klimakatastrophe zu bekämpfen, und kann nicht mit dem inhärenten Widerspruch umgehen, dass der Kapitalismus darauf angewiesen ist, die Natur für einen Teil seiner Profite auszurauben.

153. Ein "grüner Kapitalismus", der als staatlich geführte Lösung für die Klimakrise propagiert wird, könnte einige der Auswirkungen des Klimawandels verlangsamen und eine Zeit lang Teile der Klimabewegung untergraben. Es gibt einen Flügel der Umweltbewegung, der verzweifelt versucht, einen Kampf zu vermeiden und schon gar keine Kritik am Kapitalismus zu üben. Sie greifen nach jedem Strohhalm und ziehen die Menschen hinter sich her. Weite Teile der Bewegung hatten vor ein paar Jahren noch Hoffnung in COP-Konferenzen, aber die wird immer kleiner - Erfahrung kann eine harte und bittere Lektion sein. Doch so wie die vielen COP-Veranstaltungen viel versprachen, aber wenig hielten, werden die unvermeidlichen Misserfolge des "grünen Kapitalismus" die Bewegung zu einer tieferen Analyse des Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und ökologischen Krisen drängen.

Wie weiter für die Klimabewegung?

154. Die Klimakrise ist zu einer Dauererscheinung geworden, sie beschleunigt sich und kommt zu den verschiedenen anderen Krisen hinzu, die der Kapitalismus nicht lösen kann. Während die Klimabewegung also ihren bisherigen Höhepunkt 2019 mit Millionen Jugendlichen weltweit auf der Straße hatte, ist das Thema gekommen, um zu bleiben. Einige Aktivist*innen hoffen, Verbesserungen zu erreichen, indem sie innerhalb "der Strukturen" arbeiten. Doch zunehmend wird verstanden, dass dies nicht funktioniert, und viele suchen nach grundsätzlicheren, radikaleren Lösungen. Das Bewusstsein hat sich mit einem breiteren Verständnis dafür entwickelt, dass individuelle Lösungen rund um den Konsum nicht ausreichen, aber selbst dort, wo ein Verständnis dafür besteht, dass der Kapitalismus die Schuld trägt, herrscht Verwirrung darüber, wie er überwunden werden kann. Infolge des mangelnden Erfolgs der Massendemonstrationen bei der Durchsetzung wirksamer Klimaschutzmaßnahmen und der wachsenden Desillusionierung gegenüber dem kapitalistischen System, das völlig unfähig ist, diese Maßnahmen umzusetzen, erprobt die Klimabewegung verschiedene Methoden der direkten Aktion, von denen viele einen individualistischen Ansatz verfolgen.

155. Die Verzweiflung einer Schicht von Aktivist*innen spiegelt sich in Namen wie "letzte Generation" und in Methoden wider, bei denen sie unter anderem ihre eigene Gesundheit und ihr Leben riskieren. Neben anderen Formen der "gewaltfreien direkten Aktion", wie Blockaden von Straßen und Privatflugzeug-Terminals und öffentlichkeitswirksamen Aktionen, haben sich kleine Schichten von Aktivist*innen für Sabotageaktionen wie das Aufschlitzen der Reifen von SUVs oder das Besprühen von Gebäuden, die als symbolisch für das "fossile System" gelten, begeistert. Teile der herrschenden Klasse nutzen diese Gelegenheit gerne, um Aktivist*innen zu unterstellen, sie seien auf dem Weg zum Terrorismus und um harte staatliche Repression zu rechtfertigen. Während Sozialist*innen sich gegen staatliche Repression wehren sollten, sollten wir auch auf die Grenzen der individualistischen Formen direkter Aktionen hinweisen, die nicht darauf ausgerichtet sind, die breitere Arbeiter*innenklasse mit einzubeziehen. Unsere Hauptaufgabe ist es, den Weg nach vorne zu zeigen, indem wir erklären, dass eine Strategie zum Sieg mit der Arbeiter*innenklasse verbunden sein muss und direkte Aktionen einschließen kann, wenn sie mit den Kämpfen der Arbeiter*innen in umweltverschmutzenden Industrien verbunden und koordiniert ist.

156. Der Haupttrend ist der des Widerstands gegen die Zerstörung und derjenigen, die aktiv werden und versuchen, sich in Basisstrukturen zu entwickeln, um sich zu wehren. Menschen aus der Arbeiter*innenklasse sind Teil der Bewegung, da sie als Bürger*innen, Nachbar*innen usw. betroffen sind - aber der Kampf gegen die Klimakrise wird von der organisierten Arbeiter*innenbewegung nicht in einer echten Weise aufgenommen, die über symbolische Aktionen hinausgeht. Das liegt vor allem an den rechten Gewerkschaftsbürokratien und der offiziellen Gewerkschaftsführung, die mit dem kapitalistischen Establishment verflochten und in einer nationalistischen/chauvinistischen und oft kurzsichtigen Sichtweise gefangen sind. Die am weitesten fortgeschrittenen Aktivist*innen verstehen die Notwendigkeit, sich mit den Arbeiter*innen zu vernetzen, ein Merkmal, das mit dem Anwachsen der Streikwellen an Bedeutung gewinnen wird. Während einige Versuche von Aktivist*innen, sich mit Gewerkschaften und Arbeiter*innen zu vernetzen, als "von außen kommend" wahrgenommen werden, unterstützen immer mehr Gruppen streikende Arbeiter*innen und besuchen Streikpostenketten. Wir können dabei helfen, ein Programm und ein Verständnis für die gemeinsamen Interessen und Forderungen zu entwickeln und diese auch in die Praxis umzusetzen (siehe Aufbau-Dokument). Auch die Schüler*innen der "Fridays for Future"-Generation werden älter und werden anfangen zu arbeiten. Eine jüngere Generation von Arbeiter*innen mit einem höheren Bewusstsein für Gender- und Klimafragen tritt in die Betriebe und Gewerkschaften ein.  Dies kann den sozialen Druck, der mit den sich entwickelnden Krisen zunehmen wird, nicht auslöschen, erhöht aber die Möglichkeit von Arbeiter*innenkämpfen und Kampagnen, die von einer Schicht von Arbeiter*innen angeführt werden, die das Argument "Arbeitsplätze gegen Klima" ablehnen, und schafft eine größere Öffnung für Lösungen "außerhalb der kapitalistischen Box".

157. Die Energiekrise ist eine Chance, die Klimabewegung mit der Arbeiter*innenbewegung zu verbinden. Die kapitalistische Produktionsweise muss auf mehr Energieverbrauch und -produktion drängen. Während sich die Arbeiter*innenklasse das Heizen nicht leisten kann, machen die Energiekonzerne Rekordgewinne. Es ist offensichtlich, dass die private Energieproduktion ein Hindernis für bezahlbare und grüne Energie ist. Aber es wird auch klar, dass die Verstaatlichung nicht ausreicht, solange bürgerliche Regierungen und Institutionen regieren. Die demokratische Planung eines verstaatlichten Energiesektors, kombiniert mit der Planung von Transport und Produktion, klingt für viele Menschen zunehmend logisch. Die Umstellung der Energieerzeugung auf erneuerbare Energien, die Suche nach Möglichkeiten zur Reduzierung des unnötigen Energieverbrauchs, die Sicherung von Arbeitsplätzen bei gleichzeitiger Umstellung von Produktion und Konsum - die gemeinsamen Interessen von Arbeiter*innenbewegung und Klimabewegung werden deutlicher als bisher. Die Lösungen der Sozialist*innen sind eine notwendige Antwort, um sich in die bestehenden und sich entwickelnden Bewegungen einzubringen und werden ein viel größeres Echo finden als in der Vergangenheit.

Schlussfolgerungen 

158. Dieses Dokument ist die Fortsetzung eines beständigen politischen Kampfes, den die ISA insbesondere seit dem 12. Weltkongress im Jahr 2020 führt. In einem Zeitalter der Unordnung mit scharfen Wendungen und plötzlichen Veränderungen - "dem Zeitalter der Polykrise", wie es der Redakteur der Financial Times, Adam Tooze, ausdrückte - kann sich der Hammerschlag der Ereignisse als desorientierend erweisen, wenn er durch eine empirische Linse betrachtet wird. Die Aufgabe marxistischer Perspektiven besteht darin, die vielen Fäden der Ereignisse, die alle in der tiefen Systemkrise des kapitalistischen Systems wurzeln, in einem kohärenten Rahmen zusammenzubinden, der es uns ermöglicht, die Dinge klarer zu sehen und den Vorteil von " Vorausschauen statt Erstaunen" zu nutzen.

159. Auch wenn diese Arbeit nur durch sukzessive Annäherungen verbessert werden kann, so lässt sich doch allgemein sagen, dass der Rahmen, den wir zum Verständnis der neuen Ära und ihrer wichtigsten Merkmale geschaffen haben, unser Verständnis verbessert hat und uns gut auf die kommenden Ereignisse vorbereitet. Obwohl dieser Rahmen - einschließlich Begriffen wie das Ende des Neoliberalismus, der Neue Kalte Krieg, Deglobalisierung, dynamische Tendenzen sowohl der Revolution als auch der Konterrevolution, die anhaltende globale feministische Welle usw. usw. - sowohl durch die Ereignisse selbst als auch durch interne Diskussionen und Debatten erheblichen Herausforderungen ausgesetzt war, wurde seine Relevanz und Nützlichkeit letztendlich weiter unterstrichen.

160. Ein flüchtiger Blick auf die Ereignisse nach der Abfassung dieses Textes zeichnet ein ähnliches Bild. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Schlussfolgerung ist eine neue Eskalation zwischen den USA und China im Gange, nachdem das amerikanische und kanadische Militär mutmaßliche chinesische Überwachungsflugzeuge abgeschossen hat. Der Krieg in der Ukraine ist weiter eskaliert, da eine neue russische Offensive begonnen hat und die westlichen Mächte eine "rote Linie" nach der anderen überschritten haben, um ihre indirekte Beteiligung zu verstärken. Auf die Bereitstellung von Panzern folgte fast sofort der Ruf nach Kampfjets.

161. Im Iran ist die heldenhafte Bewegung der Massen, auch wenn sie sich derzeit auf einem niedrigeren Niveau befindet, noch nicht besiegt und könnte sich schnell wieder erholen, und der Aufstand der peruanischen Massen gegen den Putsch ist weiter auf dem Vormarsch. Die massiven Proteste und Streiks in Frankreich und Großbritannien zeigen die Bereitschaft und Fähigkeit der Arbeiter*innenklasse, sich zu wehren. In Israel/Palästina steuert die neue Regierung von Netanjahu und den Rechtsextremen auf eine weitere Eskalation der blutigen Angriffe auf die Palästinenser*innen und eine allgemeine Verschärfung des nationalen Konflikts zu, während ihre rabiate reaktionäre Tagesordnung und der Versuch, mehr Macht zu erlangen, Massenproteste ausgelöst haben. Politische Krisen kennen keine Grenzen, sie beherrschen die Szene vor den Wahlen in Nigeria und der Türkei, während die Regierungen in Moldawien, Schottland, Pakistan und anderswo kriseln und zusammenbrechen. Angesichts solcher Krisen werden wir weiterhin Versuche der herrschenden Klasse erleben, zu repressiveren Maßnahmen überzugehen - was wiederum weitere Revolten auslösen kann.

162. Auch wenn sich jede Wendung nie genau vorhersagen lässt, können wir sicher sein, dass Kapitalismus und Imperialismus in diesem Zeitalter der Unordnung vergeblich um ein neues Gleichgewicht ringen werden. Häufige, katastrophale und konvergierende Krisenepisoden an mehreren Fronten werden schnell zur "neuen Normalitä

Mehr zum Thema: 

Wie sich die vielschichtige globale Krise auf verschiedene Regionen auswirkt

Dieses Dokument wurde am Weltkongress der ISA Anfang Februar 2023 beschlossen und zuerst am 2. April 2023 in englischer Sprache veröffentlich.
International Socialist Alternative (ISA)

Den ersten Teil des Dokuments findest du hier: https://www.slp.at/artikel/epoche-der-multiplen-krisen-wir-haben-eine-we...

 

Europa 

1. Sowohl seine Lage an der vordersten Front des Krieges in der Ukraine als auch die Widersprüche, die sich im Laufe des langfristigen Niedergangs der verschiedenen kapitalistischen und imperialistischen Mächte Europas herausgebildet haben, sorgen dafür, dass der Kontinent durch die aktuelle Wirtschaftskrise besonders bedroht wird. Von allen fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist die EU die Region, die am stärksten von der sich entwickelnden Wirtschaftskrise betroffen ist. Die IWF-Prognosen vom Januar 2023 (vor Veröffentlichung aktualisieren) sahen für die USA im Jahr 2023 ein Wachstum von 1,4 %, für China von 5,2 % (obwohl diese Zahlen noch mehr in Frage gestellt werden müssen als andere) und für Europa von nur 0,7 % vor. Deutschland, das wirtschaftliche Kraftzentrum der EU, dessen Dominanz innerhalb des Blocks im Jahrzehnt nach der Finanzkrise 2008 gefestigt wurde, leidet unter einer besonders tiefen und strukturellen wirtschaftlichen Malaise, die weitreichende Folgen haben wird. Billige russische Energie war ein zentrales Element seiner "erfolgreichen" Industriestrategie, eine Stärke, die sich schnell in ihr Gegenteil verkehrt hat. Alle europäischen Volkswirtschaften sind stark von der Inflation und der sich beschleunigenden Energiekrise betroffen. Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto härter werden die Auswirkungen für die europäischen Volkswirtschaften sein. Obwohl die Anpassungsstrategien auf gutem Kurs sind, wird der Krieg in der Ukraine langfristig destabilisierende Folgen für die Volkswirtschaften der EU haben.

2. Nach Ausbruch des Krieges rief der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz die "Zeitenwende" aus, eine historische Zäsur. In atemberaubendem Tempo wurde ein riesiges Ausgabenpaket von 100 Milliarden Euro für das Militär beschlossen. Alle Spekulationen darüber, dass sich Deutschland aufgrund der Abhängigkeit von russischer Energie im Krieg einigermaßen neutral verhalten würde, dürften inzwischen ausgeräumt sein. Immer mehr schwere Waffen werden in die Ukraine geschickt, darunter auch Leopard-2-Kampfpanzer.

3. Schwere Sanktionen gegen Russland wurden verhängt, und die Energieimporte aus Russland werden in der gesamten EU schrittweise eingestellt und durch Öl und Flüssiggas aus den USA und Katar ersetzt. Eine Gasknappheit wurde nur durch einen außergewöhnlich warmen Winter verhindert. Zynischerweise nutzten die europäischen Energieunternehmen die Unsicherheit, um ihre Preise um ein Vielfaches zu erhöhen, was ihnen Rekordgewinne bescherte und die Verbraucher*innen in Verzweiflung stürzte.

4. Auch die deutsche Rüstungsindustrie macht in diesem Krieg Rekordgewinne. Doch abgesehen davon ist die exportorientierte deutsche Wirtschaft durch den Krieg in der Ukraine im Besonderen und den Neuen Kalten Krieg im Allgemeinen schwer getroffen worden. Die Zeiten, in denen man problemlos gleichzeitig in den USA, in China, in Russland und im Iran sowie überall in Europa Geschäfte machen konnte, sind vorbei. Die Entkopplung bedeutet, dass die Exportstärke Deutschlands in die Lücke der auseinanderdriftenden Blöcke stürzt, und alle zugrundeliegenden Widersprüche in der Weltmarktposition des Landes treten nun scharf an die Oberfläche. Der Neue Kalte Krieg findet im deutschen Kabinett selbst einen abgewandelten Ausdruck, wobei Scholz und die SPD noch immer ein Auge auf China werfen, während die Grünen und die FDP bereits stärker auf der Seite der USA verankert sind. Doch obwohl China ein wichtiger Handelspartner ist, steht Deutschland den USA historisch und organisch näher. Der deutsche Staat als "ideale Verkörperung des gesamten nationalen Kapitals" ist bereit, einige kurzfristige Gewinne für die strategische transatlantische Partnerschaft zwischen der EU und den USA zu opfern, auch wenn dieser Prozess nicht einfach ist und seine eigenen Spannungen mit sich bringt. Während sich die wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA verlagern, sind die verbleibenden profitablen Verbindungen zu China (und in gewissem Maße zu Russland) eine Quelle für Komplikationen, Manöver und künftige Konflikte innerhalb und zwischen den europäischen Ländern.

5. Die Zahl der sogenannten Zombie-Unternehmen nahm während Corona genauso zu wie die staatlichen Maßnahmen, die diese am Leben hielten. Es war klar, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. Eine Studie von Acredia und Allianz Trade geht davon aus, dass die Zahl der Insolvenzen 2022 um 10 % und 2023 um 19 % steigen wird. Für Frankreich liegen die Schätzungen bei +29 %, für Deutschland bei +17 % und für Italien bei +36 %, was etwa 100 000 Unternehmen allein in diesen drei Ländern betrifft. Auch wenn kleinere Unternehmen stärker betroffen sind, was einen Prozess der Zentralisierung und Monopolisierung beschleunigt, wird dies dennoch den Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen bedeuten. 

6. Neben der historischen Krise des deutschen Kapitalismus befindet sich auch die andere Großmacht der EU, Frankreich, in einer neuen Phase des beschleunigten Niedergangs. Für den französischen Kapitalismus kommen die Auswirkungen des Krieges und der Energiekrise in einem Kontext mit bereits düsteren wirtschaftlichen Aussichten, wobei die Produktivität seit über zwei Jahrzehnten stetig sinkt. Da er keine Strategie zur Umkehrung dieses organischen Niedergangs hat, sieht der französische Kapitalismus den einzigen Ausweg in einer verstärkten Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse, deren historische Errungenschaften ihm im Wege stehen, wodurch die Bühne für eine historische Klassenkonfrontation bereitet wird, die sich bereits zu erhitzen beginnt. Seit fast 50 Tagen führen die Arbeiter*innen von 7 Raffinerien im ganzen Land einen Streik an, der sowohl die Ölgiganten TotalEnergies und ExxonMobil als auch die Regierung Macron erschüttert und den Weg für einen groß angelegten Kampf gegen die gesamte Anti-Arbeiter*innenklasse-Politik Macrons geebnet hat.

7. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern zeichnet sich Frankreich auch dadurch aus, dass es mit France Insoumise eine starke linke Alternative gibt, die das Wachstum der extremen Rechten herausfordert und dazu beitragen kann, die Arbeiter*innenbewegung zum Handeln zu bewegen. Allerdings deuten die mangelnde interne Demokratie innerhalb von France Insoumise, die Tendenz der Führung, ihr Programm im Rahmen ihres Bündnisses mit den Grünen und der PS innerhalb der "NUPES" (Neue ökologische und soziale Volksunion) zu verwässern, sowie der kürzliche falsche Umgang mit einem Fall von häuslicher Gewalt, in den einer ihrer wichtigsten Führer verwickelt war, auch auf Gefahren für die weitere Entwicklung von FI hin. Sie unterstreichen die Notwendigkeit wirklich demokratischer lokaler Basisstrukturen, einer prinzipienfesten Politik in Bezug auf Fragen der Unterdrückung, und eines Ansatzes, der erklärt, dass die besten im Programm von FI enthaltenen Forderungen nur durch die Mobilisierung und Organisierung der Arbeiter*innenklasse für eine bewusste Konfrontation mit dem Kapitalismus erreicht werden können. Dies ist umso dringlicher, als die Regierung Macron, deren Schwäche die Tiefe der politischen Krise widerspiegelt, während sie versucht, treu den Interessen des Großkapitals zu dienen, darum kämpfen wird, die explosive Situation einzudämmen. 

8. Die Aussichten für den Kapitalismus in Italien und dem Spanischen Staat sind ebenso düster, wenn nicht sogar noch düsterer. Nach der schlimmsten Schuldenkrise in Europa nach 2008, die für die EU existenziell war, wurden kapitalistische Kommentator*innen und politische Entscheidungsträger*innen durch eine Ära relativer Ruhe auf den Schuldenmärkten in falscher Sicherheit gewiegt, gestützt durch eine lange Periode beispielloser geldpolitischer Anreize der EZB und negativer Zinssätze. Auf internationaler Ebene manifestierte sich diese Illusion in der kurzzeitigen Popularität der "modernen Geldtheorie", die im Wesentlichen behauptete, dass Staatsschulden und Defizite keine Rolle spielen. Das Jahr 2022 ist ein gewaltiger Weckruf für alle, die sich solchen Illusionen hingaben. Im europäischen Kontext wurde dies in den finanziellen Turbulenzen, die den Zusammenbruch von Liz Truss in Großbritannien auslösten, anschaulich dargestellt. Bei nüchterner Betrachtung wird die Realität der untragbaren Staatsverschuldung in der angeschlagenen europäischen Peripherie wieder auf die Tagesordnung kommen, da neue Rezessionen die zugrundeliegenden Schwächen aufdecken, die sich seit der letzten Krise noch verschärft haben. Die politischen Unruhen in Italien und die zunehmende Polarisierung im Spanischen Staat sind sowohl eine Vorwegnahme solcher neuen Krisen als auch ein verschärfender Faktor. 

9. Die kapitalistischen Politiker*innen befinden sich in einer Lose-Lose-Situation. Was auch immer sie tun, um eine Krise zu lösen, hat negative Auswirkungen in anderen Bereichen. Aber welche wirtschaftlichen Probleme es in der Weltwirtschaft auch immer gibt, in Europa sind sie noch schwieriger zu bewältigen, weil es viele Nationalstaaten mit unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Interessen gibt, die in einem gemeinsamen währungspolitischen Rahmen in der EU agieren. Wir haben immer betont, dass die EU auf lange Sicht die nationalen Grenzen des Kapitalismus nicht überwinden kann. Während die europäische Integration, angetrieben durch den Gegenwind der neoliberalen Ära, weiter voranschritt als von vielen erwartet, konnten und können die Grenzen des nationalen Kapitals nicht überwunden werden und tauchen bei jeder großen Wende wieder mit aller Macht auf, wie die Krise von 2008, Corona und die Energiekrise gezeigt haben und wie wir es wieder sehen werden, wenn wir in eine sich verschärfende Wirtschaftskrise eintreten. Kurz gesagt: Die Konflikte zwischen den verschiedenen Ländern in der EU werden zunehmen, was zu weniger Zusammenarbeit führen wird. Ein weiteres Merkmal wird die zunehmende imperialistische Haltung der stärkeren Volkswirtschaften gegenüber den schwächeren sein, die auf stärkeren Widerstand stoßen kann, insbesondere von östlichen Staaten, deren Gewicht im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg relativ zugenommen hat. Neben den wachsenden zentrifugalen Tendenzen kann es auch sein, dass der Krieg in der Ukraine und die globale Polarisierung des Kalten Krieges im weiteren Sinne sowie die gegenläufige Tendenz zur Stärkung des westlichen Blocks gegenüber China und Russland wie ein gewisser Klebstoff wirken, der die EU zusammenhält. Zusätzlich zu diesen Faktoren bedeutet der Prozess des "Nearshoring", dass europäische Unternehmen, die sich beispielsweise aus China zurückziehen, nach Orten mit billigen Arbeitskosten in Europa suchen. Dies wiederum könnte dem Wachstum in einigen Regionen Mittel- und Osteuropas einen gewissen Auftrieb geben, was die Unterstützung für die EU stärken könnte. Wenn andererseits die gleichen Arbeitsbedingungen auch auf die mittel- und osteuropäischen Länder übertragen werden, wird dies auch dem Klassenkampf Auftrieb geben. Wenn dies nicht von Kräften der Linken und der Arbeiter*innenklasse aufgegriffen wird, die diese Wut in eine antikapitalistische Richtung lenken können, besteht die Gefahr, dass die Rechtsextremen sie in nationalistische Bahnen lenken.

10. Bei Konflikten wie denen mit Polen geht es nicht um "europäische Werte" oder um das Gleichgewicht zwischen nationalen und EU-Gesetzen. Die polnischen und ungarischen Regierungen vertreten vor allem die Interessen des Teils ihrer herrschenden Klasse, der einen Teil der wirtschaftlichen und politischen Macht zurückgewinnen will, die während der kapitalistischen Restauration verloren gegangen ist. Die bürgerliche Demokratie und die "Rechtsstaatlichkeit" werden in diesen Ländern ausgehöhlt, um den Einfluss der herrschenden Partei, die diese Interessen vertritt, auf den Staatsapparat zu stärken. Auf dem Höhepunkt von Corona, während des Kampfes um Masken, Impfstoffe und Schutzausrüstung, war es sehr deutlich, dass jeder Mitgliedstaat seine eigenen Interessen über die Interessen der anderen oder der EU als Ganzes stellte. Das gleiche Phänomen erleben wir bereits bei der sich entwickelnden Energiekrise. Im Sommer 2022 überboten sich die verschiedenen Gaslieferanten der EU auf dem internationalen Markt gegenseitig beim Kauf von Flüssiggas, um die Gasreserven aufzufüllen, was im August zu Rekordpreisen führte. Da mit einem weiteren Rückgang der russischen Pipeline-Gaslieferungen zu rechnen ist, dürften die durchschnittlichen Gaspreise im Jahr 2023 noch weiter steigen.

11. Einige Länder befinden sich bereits offiziell in einer Rezession oder werden es bald sein; in den meisten fühlt es sich für die arbeitende Bevölkerung bereits wie eine Rezession an. Angesichts des andauernden Ukraine-Kriegs wird die Energiekrise umso härter ausfallen, je länger und kälter der Winter ist. Die EU-Regierungen kommen mit allen möglichen zynischen Vorschlägen zum "Energiesparen", wobei vielleicht die belgische Regierung gewinnt, die vorschlägt, dass junge Leute Freunde zum Kuscheln einladen sollten, um sich warm zu halten. Aber die Situation ist kein Witz. Die hohen Energiekosten wirken sich auf die europäische Industrie aus, deren Unternehmen bereits im Sommer 2022 ihre Produktion drosselten, und sie werden ernste soziale Auswirkungen haben. Der Anstieg der Energiekosten begann im Herbst 2021, beschleunigte sich aber aufgrund des Krieges in der Ukraine massiv. Die Energierechnungen entwickelten sich zu einer Schreckensnachricht. Bereits im Jahr 2019 hatten 50 Millionen Menschen in der EU Probleme, ausreichend Energie zu bezahlen, darunter viele Frauen und Alleinerziehende. Diese Zahl wird in den Wintermonaten explodieren, trotz aller teuren Maßnahmen, die die Regierungen ergreifen. Laut einer Studie des europäischen Wirtschafts-Thinktanks Breughel haben die EU-Regierungen seit September 2021 über 600 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Auswirkungen der steigenden Energiepreise abzumildern; das Vereinigte Königreich umgerechnet 97 Milliarden Euro. Die Maßnahmen reichen von (manchmal symbolischen) Hilfen für arme Haushalte und Senkungen der Energiesteuern – die von fast allen europäischen Regierungen angewandt werden – über die Subventionierung der Stromerzeugung (Spanischer Staat und Portugal) bis hin zu Rettungsaktionen für Energieversorger, die in Konkurs gegangen sind, und sogar zum Kauf strategischer Energieunternehmen durch Regierungen (wie EDF in Frankreich und Uniper in Deutschland). Während einige Regierungen bescheidene Gewinnsteuern auf die "überschüssigen" Gewinne des Energiesektors eingeführt oder vorgeschlagen haben, um zur Deckung der Kosten beizutragen, haben viele der oben genannten Maßnahmen die bereits monströsen Gewinne direkt mit Steuergeldern angeheizt.

12. In den letzten Monaten gab es in den Gremien und Strukturen der EU mehrere Vorschläge und Diskussionen darüber, wie die Energiekrise bewältigt werden kann. Es gab zwar Vorschläge von EU-Strukturen wie der EU-Kommission, diese scheiterten aber an den konkurrierenden Interessen der Mitgliedsstaaten. Diese und andere Fragen heizen den Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland an. 

13. Und es kommen noch mehr Konflikte hinzu. Wie soll mit China umgegangen werden, das in den letzten Jahren seinen Einfluss insbesondere auf dem Balkan und in Osteuropa ausgebaut hat, aber auch Griechenland und Italien in die BRI einbezieht? Wie sollte man mit Russland und den Sanktionen in der sich entwickelnden Energiekrise umgehen? Und was ist mit der sich entwickelnden neuen "Flüchtlingskrise" mit einer steigenden Zahl von Menschen, die vor Krieg, Klimakatastrophe und Hunger fliehen? Vor dem Hintergrund wachsender zwischenimperialistischer Spannungen arbeiten vierzehn NATO-Länder an der von Deutschland geleiteten "European Sky Shield Initiative", die sich auf US-israelische Raketentechnologie stützt (und Israels größtes Waffenexportgeschäft aller Zeiten beinhaltet), aber Frankreich ausschließt - ein Ausdruck der zentrifugalen Kräfte. Ein weiteres Beispiel ist die Frage der EU-Erweiterung um die Ukraine - das ärmste Land Europas, das sich auf dem Höhepunkt des Krieges mit dem russischen Imperialismus befindet. Mehrere Länder fordern aus politischen Gründen, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu geben, während andere wollen, dass mehrere Balkanländer zuerst aufgenommen werden. Diese warten schon lange und sind zunehmend frustriert und liebäugeln mit China und Russland - ein weiterer Grund für die EU, sie mit Von der Leyens Charme-Tour auf dem Balkan an Bord zu halten. Und dann ist da noch die Frage der Inflation, der Zinssätze und der Wirtschaft. Die EZB hat die Zinssätze später als die Federal Reserve erhöht, um die Inflation zu bekämpfen. Dies wiederum führt, auch wenn die Inflation derzeit noch bekämpft wird, zu einer steigenden (Staats-)Verschuldung, was sich besonders gravierend auf die Länder im europäischen Süden auswirkt, deren Staatsschuldenquote weit über dem EU-Durchschnitt liegt (Eurozone: 95,6%, Griechenland 189,3%, Italien 152,6%, Frankreich 114,4%).

14. Ein Forschungspapier von Forrester sagt voraus, dass die Unfähigkeit der Regierungen, die Energiekrise zu lösen, das Vertrauen in die Politik weiter schwächen wird. Laut Forrester wird bis Ende 2023 nur noch jede*r fünfte europäische Bürger*in der eigenen Regierung vertrauen. Dies zeigt sich bereits an der Zunahme von Streiks und Massenprotesten, wie wir sie in Frankreich, Belgien, Großbritannien und anderen Ländern beobachten – was wiederum dazu führt, dass populistische Maßnahmen auf nationaler Ebene zunehmen und die Regierungen in weiteren Konflikt mit der EU und/oder anderen Ländern geraten. 

15. Der britische Kapitalismus leidet unter der vielleicht größten Sonderkrise aller europäischen Großmächte. Weit davon entfernt, die britische Stärke als "globaler" Akteur wiederherzustellen, hat die Realität nach dem Brexit einen noch schnelleren Niedergang der einst dominierenden imperialistischen Weltmacht zur Folge. Das ist der Grund für das Debakel der gescheiterten Premierministerin Liz Truss, der kürzesten in der Geschichte Großbritanniens. Ihr Sturz und das Chaos, das er auslöste – die Bank of England musste notfallmäßig intervenieren, um eine verheerende Finanzkrise abzuwenden – spiegelt auch die Wechselbeziehung zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus wider. Boris Johnsons populistische "Trumpifizierung" der Tory-Partei, die Teil eines internationalen Trends ist, brachte zwar vorübergehende Wahlerfolge, machte die einst große Partei des britischen Imperialismus aber letztlich zu einer massiven Belastung für die Bourgeoisie. Truss, der von der trumpisierten Tory-Basis mit einem Programm gewählt wurde, das einen weiteren Rechtsruck darstellte, kombinierte Johnsons reaktionären Nationalismus mit "traditionellen" Thatcher'schen Instrumenten, die nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von den Kapitalmärkten abgelehnt wurden. Diese sahen sich in einer Zeit, in der die Politik ihr Primat über die Märkte wieder behauptet, dennoch gezwungen, ihre Stimme in der britischen Politik zu erheben. 

16. Die neue Regierung von Rishi Sunak beginnt in einer schwachen Position, da sie gezwungen ist, ein neues Zeitalter der Sparsamkeit einzuleiten, während sie mit einem sich entfaltenden Klassenkampf konfrontiert ist, der das Wiedererwachen der britischen Arbeiter*innenklasse und der Arbeiter*innenbewegung darstellt, die endlich begonnen hat, den Trend des Niedergangs seit der Niederlage des Bergarbeiterstreiks von 1984/85 umzukehren. Dabei baut sie auf Elementen der Wiederbelebung und eines Linksrucks innerhalb der Bewegung aufbaut, die wir in den letzten Jahren hervorgehoben haben. Die derzeitige Streikwelle sowie der explosionsartige Anstieg der "Enough is Enough"-Kampagne sind wichtige Lehren für andere Länder, da in Europa eine neue Phase des Klassenkampfes beginnt. Bei den Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich, wann auch immer sie stattfinden, wird wahrscheinlich eine Labour-Regierung unter dem Neo-Blairiten "Sir" Keir Starmer in irgendeiner Form gewählt werden. Inmitten einer aufstrebenden Arbeiter*innenbewegung und nach den Erfahrungen des Corbynismus könnte ein solches Szenario eine historische Gelegenheit für eine unabhängige Politik der Arbeiter*innenklasse in Großbritannien bedeuten.  

17. Der Niedergang des britischen Kapitalismus ist allseitig und tiefgreifend, sogar bis zu dem Grad, dass er die Integrität des britischen Staates selbst berührt. Wie wir bereits in Bezug auf Schottland kommentiert haben, haben die Schlüsselereignisse der letzten Zeit dazu beigetragen, die zentrifugalen Tendenzen im Vereinigten Königreich zu verstärken, und dies ist auch heute noch der Fall. Nicola Sturgeons Reaktion auf das politische und wirtschaftliche Chaos der Regierung von Liz Truss, die zur Tory-Chefin gewählt wurde, während sie versprach, Schottland zu "ignorieren", bestand vorhersehbar darin, darauf zu bestehen, dass Schottland das sinkende Schiff verlassen müsse. Sie vergaß natürlich, das wirtschaftliche Chaos zu erwähnen, das Tausenden von Arbeiter*innen in ganz Schottland aufgezwungen wird, die gegen Reallohnkürzungen durch ihre Regierung und durch von der SNP geführte Stadträte kämpfen, was einen Vorgeschmack darauf gibt, was ein SNP-geführtes kapitalistisches Schottland bieten würde. Während die Dynamik in Bezug auf ein Unabhängigkeitsreferendum in Schottland weiterhin stock, da Sturgeon sich mit der britischen Regierung in einen gescheiterten Rechtsstreit vor dem Obersten Gerichtshof verwickelt hat, bleibt das Thema eine tickende Zeitbombe. Für unsere EWS-Sektion, die ermutigende erste Fortschritte beim Aufbau unserer Kräfte in Schottland gemacht hat, ist die Betonung einer klassenkämpferischen Strategie, um ein Referendum zu gewinnen, verwurzelt in einem gemeinsamen Kampf mit den wachsenden Klassenkämpfen in England, Wales und (wenn auch derzeit in geringerem Maße) Irland verwurzelt ist, und ein scharfer Fokus auf politische Unabhängigkeit von der SNP ebenso wichtig wie unsere Unterstützung für ein sozialistisches unabhängiges Schottland in freier und freiwilliger Föderation mit einem sozialistischen Wales, England und Irland.

18. In Nordirland ist die Situation noch angespannter, da sich die aus dem Karfreitagsabkommen von 1998 hervorgegangenen Institutionen zur Aufteilung der Macht zwischen den Sekten in einer Sackgasse befinden. Die wichtigste unionistische Partei, die DUP, hat sich geweigert, wieder in eine Regierung einzutreten, solange das Nordirland-Protokoll (eine Vereinbarung zur Regelung des Handels und der Kontrollen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nach dem Brexit) nicht abgeschafft ist. Dabei geht es nicht um wirtschaftliche Aspekte, sondern vor allem darum, dass die meisten protestantischen Wähler*innen den Boykott der politischen Institutionen durch die DUP unterstützen, weil die Protestant*innen davon ausgehen, dass sich Nordirland dadurch weiter von Großbritannien entfernt. Es geht also wieder einmal mehr um das Identitätsgefühl der Menschen. Wie brisant die Lage ist, zeigt sich daran, wie häufig und offen über eine mögliche Rückkehr zur Gewalt in einer Gesellschaft diskutiert wird, die nach wie vor durch das Erbe des Konflikts gezeichnet und gespalten ist. Paramilitärs sind in Nordirland nach wie vor aktiv, und Berichten zufolge gibt es immer mehr loyalistische Paramilitärs, und vor allem unter jüngeren Menschen wächst der Wunsch, Stellung zu beziehen und gegen das zu kämpfen, was als ständiger Vorstoß in Richtung eines vereinigten Irlands angesehen wird. Die eigentliche Ursache ist der demografische Wandel: Die 2022 veröffentlichten Ergebnisse der Volkszählung zeigten zum ersten Mal in der Geschichte des nordirischen Staates mehr katholische als protestantische Einwohner, ein Gebilde, das vor 100 Jahren vom britischen Imperialismus buchstäblich geschaffen wurde, um eine protestantische Mehrheit zu gewährleisten. Die Bedeutung dieser Entwicklungen, die die Integrität des Vereinigten Königreichs untergraben, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

19. Wachsende Illusionen unter den Katholik*innen, dass diese Prozesse den Weg für einen unvermeidlichen langsamen Marsch zur Einheit Irlands auf kapitalistischer Grundlage ebnen, werden durch die harte Realität wachsender sektiererischer Konflikte erschüttert werden, wobei die protestantische Bevölkerung entschlossen ist, nicht in ein vereinigtes Irland gedrängt zu werden. Während das Sektierertum und die Spannungen zunehmen, gibt es auch eine Zunahme des Kampfes für höhere Löhne, gegen die Krise der Lebenshaltungskosten und Mobilisierungen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, die alle dazu beitragen, die Arbeiter*innenklasse zusammenzubringen. Die gewerkschaftlichen und betrieblichen Auseinandersetzungen, die durch Covid, die jahrelangen Kürzungen im öffentlichen Sektor und die Krise der Lebenshaltungskosten ausgelöst wurden, haben deutlich zugenommen. Die anhaltende Wirtschafts- und Lebenshaltungskostenkrise wird diese Kämpfe weiter vorantreiben und auch den Arbeiter*innen in Nordirland die Möglichkeit geben, sich mit ihren Kolleg*innen in Großbritannien zu vernetzen.

20. Die Glut der Massenrevolte 2017 in Katalonien ist auch durch die politische Verfolgung des spanischen Staates und die Politik der Mitte-Links-Koalitionsregierung nicht erloschen. Die Organisator*innen gaben an, dass über 700.000 Teilnehmer*innen am diesjährigen jährlichen "Diada"-Marsch für die Unabhängigkeit teilgenommen haben, und der Druck auf die Regionalregierung, zu handeln, spiegelte sich im Austritt der nationalistischen Partei Junts aus der katalanischen Regierung wider, aus Protest gegen die versöhnliche Wende der Mehrheitspartei in der Koalition, ERC, die zuvor eine härtere Pro-Unabhängigkeits-Position verteidigt hatte. Das Erstarken der extremen Rechten, die im spanischen Staat einen reaktionären antikatalanischen und antibaskischen spanischen Nationalismus vertritt, ist die Kehrseite einer Perspektive, die zweifellos auf größere Spannungen mit neuen Explosionen auf der Tagesordnung hinweist.

21. Dies sind nur einige Beispiele für die Wiederkehr oder Vertiefung der "nationalen Fragen", der Konflikte um die Rechte der nationalen Minderheiten. In Europa heizen sich die Spannungen in Osteuropa wieder auf – zum Beispiel mit Orban, der in mehreren Ländern auf die ungarischen Minderheiten zugeht, um ein "Großungarn" zu propagieren. Auch auf dem Balkan sind die Spannungen zwischen mehreren Staaten und Nationalitäten noch lange nicht überwunden: In Bosnien-Herzegowina neigen Politiker*innen der serbischen Entität Republika Srpska zu Serbien (und Russland) und schüren den Nationalismus. Die Spannungen zwischen Nordmazedonien und Bulgarien wurden nur auf Druck der EU "gelöst" und können wieder aufflammen, ebenso wie die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo. In dem Versuch, den russischen und chinesischen Einfluss zu verringern, hat die EU in der zweiten Jahreshälfte 2022 den Schwerpunkt auf die Region gelegt - doch keines der zugrunde liegenden Probleme wurde gelöst, wie die massiven regierungsfeindlichen Proteste im Zusammenhang mit der Korruption und den steigenden Lebenshaltungskosten in Albanien zeigen.

22. Auch weltweit wird die nationale Frage in den Sturm der erneuten globalen Turbulenzen hineingezogen - wobei sie in einigen Fällen selbst ein Schlüsselfaktor für diese Turbulenzen ist. Beispiele dafür sind das erneute Aufflammen des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan, das erneute Aufflammen der Gewalt in Kaschmir und in Kurdistan und vieles mehr, das von verschiedenen nationalen bürgerlichen Kontrahentinnen zunehmend genutzt werden wird, um ihren Einfluss zu stärken und die sich verschärfenden sozialen Probleme zu vertuschen.Sozialist*innen haben die Verantwortung, diese Gefühle und Forderungen der unterdrückten Minderheiten ernst zu nehmen und den Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem Kampf gegen soziale Ausbeutung zu verbinden.

23. Mit dem Ukraine-Krieg kam es in Schweden zu einer historischen Schockdoktrin, mit einer beispiellosen Kampagne für einen NATO-Beitritt (zusammen mit Finnland) und einer drastischen Erhöhung der Militärausgaben. Alle Parlamentsparteien, einschließlich der Linkspartei, befürworteten die Entscheidung, den Anteil des BIP an den Militärausgaben auf 2 % zu erhöhen. Linke Parteien in allen nordischen Ländern haben eine massive Aufrüstung unterstützt, und das finnische Linksbündnis gab im Juni 2022 bekannt, dass es "nicht gegen eine Mitgliedschaft in der NATO ist". Die ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sagte Anfang März, dass "die NATO-Mitgliedschaft keine Option ist" - nur um einige Wochen später zu sagen, dass "das Ziel ist, der NATO im Juni beizutreten". Dies ist ein historischer Wandel, der einige der letzten Überbleibsel der Arbeiter*innenpolitik über Bord wirft - den Antimilitarismus und die antiimperialistische Tradition der schwedischen Arbeiter*innenbewegung. Die Entscheidung, der NATO beizutreten, war im Geheimen und in enger Zusammenarbeit mit den "blau-braunen" Parteien und dem so genannten Wirtschaftssektor vorbereitet worden. Die Wahl vom 22. September war der rassistischste und militaristischste Wahlkampf, den es je in Schweden gab, und führte zur rechtslastigsten Regierung der modernen Geschichte, die von den rassistischen Schwedendemokraten dominiert wird, obwohl diese formal nicht an der Regierung beteiligt sind. Die Unterwürfigkeit der Regierung gegenüber Erdoğans Terrorregime hat ein neues Niveau erreicht, da er sich weigert, Schweden als NATO-Mitglied zu ratifizieren, wenn es nicht mehreren Zugeständnissen zustimmt, einschließlich der Abschiebung von Kurden in die Türkei, die bereits begonnen hat.

24. Die Verunglimpfung von und die Angriffe auf Asylbewerber*innen und "Nicht-Nordländer*innen", Geringverdiener*innen, Arbeiter*innenklasse in den Vorstädten usw. haben ein neues Niveau erreicht. Alle etablierten Parteien sind ebenfalls nach rechts gerückt und rassistischer geworden, ein Trend, der in allen nordischen Ländern zu beobachten ist. In Dänemark hat die Sozialdemokratie im Wesentlichen die Politik der rassistischen Dansk Folkeparti übernommen und nach den Wahlen im Herbst die Socialistisk Folkeparti verlassen, um eine Regierung mit den rechtsgerichteten Parteien Moderaterna und Venstre zu bilden. Sowohl in Finnland als auch in Norwegen waren die beiden rassistischen Parteien (Sannfinnländarna bzw. Fremskrittspartiet) an der Regierung beteiligt, und die anderen Parteien haben ihre Politik kopiert, um "Punkte zu gewinnen". Alle nordischen Länder haben in der Vergangenheit große Waffenpakete im Wert von mehreren Milliarden Euro an die Ukraine geliefert. Da Schweden und Finnland sehr wahrscheinlich auch bald formell Vollmitglieder der NATO werden, wird der westliche Imperialismus gestärkt. Auch wenn die Spannungen innerhalb der NATO, insbesondere in Bezug auf die Rolle der Türkei, nicht verschwinden werden.

China 

25. Seit unserem letzten Weltkongress vor drei Jahren hat sich China gewandelt. Die Wirtschaftskrise, die über mehr als zwei Jahrzehnte gekeimt ist, ist mit verheerender Wirkung ausgebrochen. Die von der Diktatur herausgegebenen Wirtschaftsdaten und die strenge Medienzensur verbergen das volle Ausmaß der Krise. Unter Xi Jinping ist das Verbreiten "negativer Wirtschaftsnachrichten" ein Straftatbestand. 

26. Chinas BIP-Daten wurden systematisch aufgebläht. Unabhängige Studien kommen zu dem Schluss, dass die Wirtschaft um 20 Prozent kleiner ist als behauptet. Chinas Wirtschaft wird heute von einer beispiellosen Verschuldung, kollabierenden Finanzblasen, einer schweren demografischen Krise mit einer schnell schrumpfenden Erwerbsbevölkerung, schwachen Konsumausgaben, sinkenden Löhnen und einer sich beschleunigenden wirtschaftlichen Abkopplung von den westlichen kapitalistischen Staaten belastet, die einst die kapitalistische Expansion des Landes gefördert haben. 

27. Die beispiellose Säuberung der Führungsspitze der KPCh durch Xi Jinping auf dem 20. Parteitag im Oktober, bei der die Anti-Xi-Fraktionen ausgemerzt wurden, bedeutet, dass die neue Regierung "maximal Xi" ist. Dieser Sieg bedeutet jedoch nicht, dass Xi wirklich in der Lage ist, seine zahlreichen nationalen und internationalen Krisen zu bewältigen. Vielmehr machte er auf diesem Kongress eine eher zurückhaltende Figur, insbesondere in Bezug auf den Kalten Krieg. 

28. Auf dem Kongress wurde die reaktionäre Null-Covid-Politik erneut als unantastbar, als große "historische Errungenschaft" und als langfristige Strategie gepriesen. Nun stellt sich heraus, dass Xis Gefolgsleute schon bald nach dem 20. Kongress Pläne für einen schrittweisen Ausstieg aus der Null-Covid-Politik geschmiedet haben, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass im Frühjahr 2023 ein chinesischer mRNA-Impfstoff verfügbar sein würde. Die Gründe dafür waren die enorme Belastung der staatlichen Mittel für die Aufrechterhaltung der Politik und die desolate Lage der chinesischen Wirtschaft, die unter dem starken Druck der wirtschaftlichen und geopolitischen Eindämmungsstrategie des US-Imperialismus leidet.

29. Dieser Plan wurde jedoch durch den stürmischen Volksaufstand im November durchkreuzt, bei dem die Gräueltaten unter Zero Covid als Auslöser für eine breitere Gegenreaktion gegen diktatorische Herrschaft, Zensur und Unterdrückung wirkten. Diese Bewegung, die bedeutendste in China seit 1989, zwang das Regime zu einem panischen, verwirrten und unorganisierten Rückzug, in dessen Verlauf die Null-Covid-Politik im Chaos zusammenbrach. Was folgte, war die schnellste und dramatischste Ausbreitung des Virus in der Geschichte der Pandemie weltweit. Zum Zeitpunkt unseres Weltkongresses Ende Januar waren nach offiziellen Angaben 1,2 Milliarden Chines*innen in nur zwei Monaten infiziert, und aller Wahrscheinlichkeit nach sind 600.000 bis 1 Million Chines*innen an Covid gestorben. Dieses schreckliche Ergebnis verschärft die politische Krise von Xi Jinping, da die Wut der Massen zunimmt und seine Position in der Gesellschaft, weltweit und innerhalb des Regimes entscheidend geschwächt wird.

30. Xi war gezwungen, einen Rückzieher in Sachen Wolfskrieg (ultranationalistische Rhetorik) zu machen und seinem Außenministerium ein neues Gesicht zu geben, indem er den "weicheren" Qin Gang an die Spitze stellte. Wang Yi, den man nicht als "weich" bezeichnen kann, wird ins Politbüro befördert und ist damit der oberste KPCh-Beamte für Außenpolitik. Diese Umbesetzung ist kosmetischer Natur und stellt keinen grundlegenden Richtungswechsel dar. Aber sie zeigt, wie ernst Xi die Krise nimmt und dass er versuchen muss, den Konflikt zwischen den USA und China zu deeskalieren, Zeit zu gewinnen und vor allem zu versuchen, die Koalition zwischen dem europäischen Imperialismus und dem US-Imperialismus zu schwächen. In dieser Phase könnte die KPCh auch im Taiwan-Konflikt einen versöhnlicheren, weniger auf Vergeltung ausgerichteten Stil an den Tag legen, doch hofft sie, sich in der nächsten Phase mit einem kohärenteren, umfassenderen und systematischeren Ansatz auf eine höhere Ebene des geopolitischen Machtkampfs vorzubereiten. Grob gesagt, hat Xi von Trumps Ansatz zu Bidens Ansatz gewechselt. Xis Beförderung von Generälen aus Fujian auf dem Kongress war ein Zeichen dafür, dass er in der Taiwan-Frage nicht locker lassen wird (was jedoch nicht bedeutet, dass eine Invasion bevorsteht).

31. Von entscheidender Bedeutung für den globalen Kapitalismus ist, dass Xi trotz der rituellen Erwähnung, "offen für Geschäfte" zu bleiben, seine nationalistische Ausrichtung nach innen in der Wirtschaftspolitik verstärkt (der Kalte Krieg lässt ihm wenig realistische Alternativen), eine Politik, die die Financial Times als "Festung China" bezeichnet. 

32. Die demografische Krise bedeutet, dass Indiens Bevölkerung 2023 die chinesische überholen wird. Zwischen 2012, dem Jahr, in dem Xi an die Macht kam, und 2019 ist die Geburtenrate um 45 Prozent eingebrochen. Und das, obwohl die beklemmende  Ein-Kind-Politik 2016 auf zwei und ab 2021 auf drei Kinder ausgeweitet wurde. Die Heiratsrate hat sich seit 2013 fast halbiert. Die Unerschwinglichkeit von Kindern und Ehen ist ein wichtiger Faktor für die Nachfragekrise auf dem Wohnungsmarkt. Es wird prognostiziert, dass Chinas Erwerbsbevölkerungsrate von 66 Prozent im Jahr 2016 auf 57 Prozent im Jahr 2030 sinken wird. 

33. Eine wichtige Neuerung ist die Abneigung des Regimes gegen "flutartige Stimuli" zur Wiederbelebung des Wachstums – die riesigen Kreditspritzen, die für die vergangenen Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs (2008, 2015, 2020) charakteristisch waren. Der Handlungsspielraum der KPCh ist infolge der unkontrollierbaren Verschuldung, des geringeren Spielraums für weitere Infrastrukturprogramme und vor allem des Konflikts zwischen den USA und China dramatisch eingeengt worden. 

34. In früheren Diskussionen betonte unser ehemaliges Internationales Sekretariat zu sehr die "einzigartigen" staatlichen Merkmale einer ihrer Meinung nach "hybriden" Klassenformation, die der KPCh ihrer Meinung nach unbegrenzte Reserven zur Überwindung von Wirtschaftskrisen verschaffte. 

35. Das Platzen der größten Finanzblase in der Geschichte des Kapitalismus – Chinas Immobilienblase – ist der entscheidende Wendepunkt. Unsere Perspektive einer Entwicklung nach japanischem Vorbild (eine "Zombie"-Wirtschaft mit geringem Wachstum) hat sich nun verwirklicht. Dies ist auch ein Wendepunkt für die Weltwirtschaft. Auf China entfielen von 2013 bis 2021 über 30 Prozent des weltweiten BIP-Wachstums. Auf den Immobiliensektor entfielen rund 30 Prozent des gesamten chinesischen BIP und mehr als ein Drittel der weltweiten Bautätigkeit. Die Implosion, die Mitte 2021 begann und seither alle Kennzahlen einbrechen ließ – Immobilienverkäufe, Baubeginne, Immobilienpreise (wenn auch langsamer, was die Krise nur verlängern wird), staatliche Landverkäufe, Investitionen –, signalisiert den Zusammenbruch des schuldengetriebenen staatskapitalistischen Entwicklungsmodells der KPCh. Aber genau wie ihre westlichen Gegenspieler*innen haben Chinas Herrscher kein Ersatzmodell. 

36. Die internationalen Kapitalist*innen haben das Ausmaß des kommenden Sturms nich nicht erkannt. Capital Economics warnte: "Die Konzentration der Finanzwelt auf einen bedeutenden Anstieg der Inflation in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften lenkt die Aufmerksamkeit von einer bedeutenden Verlangsamung in China ab, die für die langfristigen globalen Aussichten von weitaus größerer Bedeutung sein dürfte." 

37. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Anne Stevenson-Yang fasste das Ausmaß der Krise zusammen: 

"Nach vier Jahrzehnten eines der Schwerkraft trotzenden Wachstums, verpackt in einer Erzählung von aufstrebender Dominanz, hat Chinas Wirtschaft eine Bruchlandung hingelegt. In diesem Jahr wird Chinas Wirtschaft zum ersten Mal, seit Deng Xiaoping das Land vom Maoismus abbrachte, in US-Dollar schrumpfen. Das hat viel mit dem starken Dollar zu tun, aber noch mehr mit dem Ende des investitionsgetriebenen Wachstums. Selbst wenn sich der Immobilienmarkt wieder erholen könnte – und das kann er nicht –, wird China nie wieder die Wachstumszahlen erreichen, die in der Welt so gefeiert wurden. Die Auswirkungen des Niedergangs werden innerhalb Chinas verheerend sein. Schon jetzt haben die Lokalregierungen, denen die Einnahmen aus dem Grundstücksverkauf fehlen, auf die sie sich verlassen haben, und die mit dem Einbruch der Steuereinnahmen konfrontiert sind, damit begonnen, soziale Leistungen zu kürzen. Man erinnert sich mit Schaudern daran, wie schnell die sozialen Dienste nach dem Zusammenbruch der UdSSR verschwunden sind." (Der Markt, 24. Oktober 2022) 

38. Für Marxist*innen besteht der Zweck von Perspektiven darin, die wichtigsten Veränderungen und neuen Merkmale einer gegebenen Situation zu identifizieren und zu bewerten, wie sich diese wahrscheinlich in Wechselwirkung mit den eher strukturellen langfristigen Trends entwickeln werden, um zu vermeiden, von den Ereignissen abgehängt zu werden. 

39. Natürlich hat die Wirtschaftskrise Chinas Auswirkungen auf den imperialistischen Kalten Krieg. Chinas Wirtschaft ist der neue "kranke Mann" Asiens, während fast alle seine Nachbarländer schneller wachsen. Xi Jinpings "Belt and Road"-Initiative, in die weltweit zwischen 1 und 4 Billionen US-Dollar investiert wurden (es gibt keine genaueren Daten), ist nun auf dem Rückzug, insbesondere mit dem Beginn einer neuen globalen Schuldenkrise und antichinesischen Gegenreaktionen von Sri Lanka bis Osteuropa. China hat sich, imperialistisch betrachtet, klassisch übernommen. 

40. US-Strateg*innen, die bis vor kurzem vom Aufstieg Chinas besessen waren, sprechen jetzt von "Peak China" und neuen Bedrohungen, die mit einem schwächer werdenden China verbunden sind – ein Angriff auf Taiwan beispielsweise, der eher aus Verzweiflung als aus Zuversicht erfolgt. Larry Summers, der ehemalige US-Finanzminister, ist einer derjenigen, die ihre Haltung geändert haben: "Vor sechs Monaten oder einem Jahr galt es als unumstößlich, dass die Chines*innen irgendwann die amerikanische Wirtschaft in Bezug auf das Gesamt-BIP zu Marktkursen übertreffen würden... Das ist jetzt viel weniger klar." Ruchir Sharma argumentierte in der Financial Times: "Chinas Wirtschaft wird die USA nicht vor 2060 überholen, wenn überhaupt". 

41. Die ISA hat immer wieder davor gewarnt, dass viele Einschätzungen der wirtschaftlichen Stärke Chinas auf Übertreibungen beruhen und offensichtliche Schwächen und Widersprüche übersehen. Xis Regime betreibt Übertreibung und Selbstaufblähung als Strategie, die Teil seiner autoritären nationalistischen Doktrin ist, um das eigene Land zu beherrschen und im Ausland Ehrfurcht zu erwecken. Heute haben die USA und die westlichen Strategen das durchaus berechtigte Gefühl, dass sie die Oberhand über die KPCh haben. Doch wie Xi laufen sie Gefahr, in Hybris zu verfallen und sich zu übernehmen. Der Konflikt zwischen China und den USA wird viele Phasen durchlaufen, in denen sich das wirtschaftliche und geopolitische Kräfteverhältnis immer wieder verschieben kann. 

42. Ebenso auffällig wie die wirtschaftliche und soziale Krise ist die rasche Radikalisierung der jungen Generation. In diesem Material ist kein Platz, um die wahrscheinliche Entwicklung des Kampfes von Arbeiter*innen und unterdrückten Gruppen zu erörtern, da eine solche Diskussion sehr komplizierte Themen behandeln muss. Es genügt zu sagen, dass die Verschärfung der Unterdrückung und die Betonung von "Sicherheit" durch das Xi-Regime zeigen, dass die herrschende Klasse selbst sich auf großen Widerstand vorbereitet. 

Die Vereinigten Staaten 

43. Die USA sind zwar immer noch die mächtigste kapitalistische Nation, aber sie sind kaum immun gegen die vielfältigen und sich verstärkenden Krisen, die sich weltweit abspielen. Jeder Monat scheint eine neue Klimakatastrophe zu bringen, von verheerenden Waldbränden bis hin zu Wirbelstürmen. Der katastrophale Umgang mit der Pandemie unter Trump und Biden hat zu über einer Million unnötiger Todesfälle geführt. Weit davon entfernt, dass die herrschende Klasse die Gelegenheit ergriffen hat, das Gesundheitssystem zu stärken, ist es heute in einem noch schlechteren Zustand. Die Pandemie verstärkte auch die Ungleichheit, da die Milliardär*innen immer mehr Reichtum anhäuften, während Millionen Menschen gezwungen waren, sich an Lebenstafeln zu wenden. Einige politische Maßnahmen, die im Rahmen der kurzzeitigen Hinwendung zu keynesianischen Maßnahmen, erzwungen durch das Ausmaß der Wirtschaftskrise von 2020, eingeführt wurden, verringerten die Armut, allerdings nur vorübergehend. 

44. Da die Inflation immer noch bei über 8 % liegt und die US-Notenbank die Zinssätze ständig erhöht, um die Nachfrage zu drosseln, und zwar absichtlich auch durch steigende Arbeitslosigkeit, deuten alle Anzeichen auf eine ernsthafte Konjunkturabschwächung hin. Als wichtigste Reservewährung der Welt sind die USA jedoch in einzigartiger Weise in der Lage, einen Teil ihrer wirtschaftlichen Probleme in den Rest der Welt zu exportieren. Dies kann in einem bestimmten Stadium mit einer "Flucht in die Qualität" kombiniert werden, bei der Kapital in den sicheren Hafen der US-Staatsanleihen zurückkehrt, um dem globalen Sturm zu entgehen. Wenn sich der globale Abschwung jedoch auch zu einer ernsthaften Krise der Finanzmärkte entwickelt, werden die USA einer tiefen Rezession nicht entgehen. Und es gibt sicherlich zahlreiche Blasen, die darauf warten zu platzen, und es gibt bereits Anzeichen dafür, dass sich der Immobiliensektor rasch abkühlt. 

45. Die USA haben eine tiefgreifende politische Polarisierung erlebt, die erstmals im Gefolge der Krise von 2008-9 zutage trat. Sowohl die Unterstützung für Donald Trump als auch für Bernie Sanders war, wie wir bereits erläutert haben, bis zu einem gewissen Grad Ausdruck einer Revolte gegen den Neoliberalismus. Im Fall von Trump wurde dies mit einem giftigen Appell an Nativismus und Frauenfeindlichkeit kombiniert. Der Trumpismus hat rechtsextremes Gedankengut für Millionen von Menschen normalisiert, auch wenn die Rechtsextremen als organisierte Kraft noch klein sind. Rechte Verschwörungsmythen, darunter die Leugnung des Wahlergebnisses 2020, sind an der Basis der Republikanischen Partei weiterhin stark vertreten. Ein wachsender Teil ihrer gewählten Vertreter*innen ist entschlossen, in Zukunft noch extremere Maßnahmen zu ergreifen, um Wahlergebnisse zu kippen, die ihnen nicht passen. 

46. Seit Januar 2021 kontrollieren die Demokraten das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses. Biden versprach bei seinem Amtsantritt, im Geiste von Roosevelt und dem New Deal zu regieren und unter anderem eine Ausweitung der Sozialprogramme zu finanzieren, auf eine ökologische Wende hinzuarbeiten und sogar die Gewerkschaftsrechte zu erweitern. Doch in der Praxis ist das, was für die arbeitende Bevölkerung geleistet wurde, äußerst dürftig. Die Dobbs-Entscheidung des reaktionären Obersten Gerichtshofs, mit der Roe v. Wade gekippt wurde, hat für Millionen wütende Menschen das gesamte politische System entzaubert, als sie sahen, wie die Demokratische Partei völlig versagt und nicht einmal die grundlegendsten Rechte verteidigt hat, die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden und denen sie angeblich verpflichtet ist. 

47. Trotz ihres Versagens bei der Verteidigung des Abtreibungsrechts, des Bruchs einer Reihe anderer Wahlversprechen und der grassierenden Inflation, die unter ihrer Aufsicht die Löhne auffrisst, haben die Demokraten bei den Zwischenwahlen besser abgeschnitten als erwartet. Sie konnten ihre Kontrolle über den Senat halten und sogar leicht ausbauen, während sie die Kontrolle über das Repräsentantenhaus knapp verloren. Ein Schlüsselfaktor war die Wut über das Dobbs-Urteil, für das die Republikaner verantwortlich gemacht werden, sowie die Ablehnung unabhängiger Wähler*innen, dass die Partei weiterhin eng mit Trump zusammenarbeitet. Das Ergebnis wurde als Rückschlag für Trump gewertet, was auch stimmt, aber es wäre falsch, daraus zu schließen, dass er oder sein Parteiflügel eine entscheidende Niederlage erlitten haben. Im Moment bleibt er der Spitzenkandidat der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen 2024. Und die harte Rechte im neuen Repräsentantenhaus ist eindeutig bereit, ihre Stimmen zu nutzen, um Zugeständnisse zu erzwingen, während "The Squad" sich ihrer Loyalität gegenüber der demokratischen Führung rühmt. Dies wird auch die politische Dysfunktion in Washington verschlimmern und dem Trump'schen Flügel der Partei Raum für Zugewinne verschaffen.

48. In den letzten Jahren gab es in den USA eine Reihe wichtiger Arbeitskämpfe, angefangen bei der Lehrer*innenrevolte 2018/9 bis hin zu den Organisierungskampagnen bei Starbucks und Amazon. Während die Organisierungskampagne im Kaffeesektor weitgehend zum Stillstand gekommen ist, könnte der Kampf bei Amazon an Fahrt gewinnen. Wie beim Sieg in der JFK8-Anlage in Staten Island im April 2022 könnten weitere Organisierungserfolge eine massive Dynamisierungswirkung haben. Andere Kämpfe zeichnen sich am Horizont ab, insbesondere der Kampf um einen Tarifvertrag bei UPS im Jahr 2023. In der Teamsters-Gewerkschaft sind 360.000 UPS-Beschäftigte organisiert. Diese wichtige Gewerkschaft hat eine neue Führung, die mit dem Versprechen angetreten ist, eine kämpferischere Haltung einzunehmen. Die Kämpfe bei UPS und Amazon unterstreichen die zentrale Rolle des Logistiksektors bei der Neuentwicklung einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung in den USA. Sie unterstreichen auch die entscheidende Rolle einer Führung, die sich auf eine Klassenkampfstrategie stützt. Es gab viele reformorientierte oder linke Führungen, die sich in der letzten Zeit als dieser Aufgabe nicht gewachsen erwiesen haben. 

49. Eine wichtige Frage ist das Ausmaß, in dem die kommende Rezession den Klassenkampf abwürgt. Dies hängt zum Teil davon ab, wie ernst die Rezession ist. Aber wie wir bereits dargelegt haben, wird aufgrund der Erfahrungen von 2008-9 und 2020 der "Betäubungseffekt" selbst im Falle einer tiefen Rezession wahrscheinlich geringer sein als zuvor. Dies wird die dritte Rezession in weniger als 15 Jahren sein. 

50. Im Jahr 2020, nach mehreren Monaten Lockdown, explodierte infolge des Mordes an George Floyd die zweite Welle der multiethnischen Black-Lives-Matter-Bewegung auf den Straßen und spiegelte die massive Unzufriedenheit unter der Jugend im Allgemeinen wider. Diese Bewegung, die sich gegen die rassistische staatliche Repression und die Polizei wandte, hatte einen radikalen Ansatz, der weiter hätte entwickelt werden können, aber sie hatte auch keine effektive Führung und kein entwickeltes Programm und es gelang ihr nicht, dauerhafte demokratische Strukturen aufzubauen. Die begrenzten konkreten Errungenschaften der Bewegung wurden seither weitgehend wieder zunichte gemacht. Das daraus resultierende Gefühl der Enttäuschung hatte auch eine dämpfende Wirkung auf den breiteren sozialen Kampf. Die fortgesetzte brutale rassistische Unterdrückung legt den Grundstein für künftige Explosionen. Die harten Lehren aus den früheren BLM-Wellen können zu einem fortschrittlicheren Bewusstsein in einer Schicht führen, auch in der schwarzen Arbeiterj*innenugend, die in der revolutionären sozialistischen Bewegung eine Schlüsselrolle spielen muss.

51. Allerdings gab es eine relativ große Welle von Demonstrationen gegen die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade durch den Obersten Gerichtshof, auch wenn sie im Vergleich zum Women's March 2017 begrenzt war, aber angesichts des Ausmaßes der Wut ein weitaus größeres Ausmaß hätte haben können. Dies wurde teilweise durch die miserable Rolle der liberalen feministischen Mainstream-Organisationen verhindert, spiegelte aber auch eine Infragestellung der Fähigkeit von Massenbewegungen wider, Dinge zu verändern, die durch die gravierenden Schwächen der bestehenden Linken noch verstärkt werden. 

52. Vor allem die Kapitulation von Bernie Sanders in den Vorwahlen 2020 vor Biden hat nachhaltige Auswirkungen gehabt. Jetzt ist die Autorität von Sanders und noch mehr von AOC ernsthaft angekratzt. Dies zeigt die katastrophalen Auswirkungen des populären frontistischen Ansatzes, den die gewählte weich-reformistische Linke angenommen hat, um angeblich der Gefahr des Trumpismus zu begegnen. Der Preis für die Aufnahme in Bidens und Pelosis "Team" im neuen Kongress bestand darin, ihr eigenes Programm fallen zu lassen, das trotz aller Einschränkungen enorm populär war und Millionen von Menschen begeisterte. Sie beschränkten sich darauf, Bidens Programm zu unterstützen, für das Biden dann nicht kämpfte, und sie gaben jeden Anspruch auf, die arbeitenden Menschen unabhängig für irgendwelche Forderungen zu mobilisieren. Das Ergebnis war, um es mit Trotzkis Worten über die Volksfront der Massenparteien der Arbeiter*innen mit der liberalen Bourgeoisie in Spanien zu sagen, demobilisierend und demoralisierend.

53. Die Democratic Socialists of America (DSA), die Bernie und der Squad Rückendeckung gaben und ebenfalls auf eine unabhängige Mobilisierung der Menschen verzichteten, haben vorhersehbar sowohl an Mitgliedern als auch an Einfluss eingebüßt. Radikalisierte junge Menschen, die jetzt aktiv werden, sehen darin nicht mehr die natürliche Anlaufstelle. Dies ist eine drastische Kehrtwende von 2016 bis 2020, als die DSA aufgrund ihrer Unterstützung für Bernies Kampagnen und des Wunsches einer großen Anzahl junger Menschen, eine Organisation aufzubauen, die diesen Kampf fortsetzen kann, auf fast 100.000 Mitglieder anwuchs. Wir verfolgten keinen sektiererischen Ansatz und engagierten uns zu Recht sowohl in Bernies Kampagnen als auch in der DSA. Aber wir haben auch davor gewarnt, dass die Konzentration auf den Versuch, die Demokratische Partei in ein Vehikel für die Interessen der arbeitenden Menschen zu verwandeln, zum Scheitern verurteilt ist. 

54. All dies sind reale Probleme und können nicht überspielt werden. Aber die Entwicklungen in den Betrieben und die Proteste um Dobbs zeigen, dass es ein massives Kampfpotenzial gibt, wenn eine klare Führung gegeben wird. Die sehr reale Peitsche der Konterrevolution und die völlige Unzulänglichkeit der Demokraten bedeuten, dass die nächste Welle des Kampfes auf einer höheren Ebene beginnen wird. Ein positives Element ist, dass es unter jungen Menschen keine nennenswerten Illusionen mehr gibt, die Demokraten zu "reformieren", wie es zwischen 2016 und 2020 der Fall war. Dies weist auch auf die entscheidende Rolle der Revolutionär*innen hin, wenn es darum geht, die wichtigsten Lehren aus den Siegen und Niederlagen der letzten Zeit zu ziehen und zu verbreiten. 

Südasien 

55. Südasien befindet sich in einem Wirbelsturm der Krise von schwerem Ausmaß. Die Regierung von Narendra Modi in Indien brüstet sich damit, eine der leistungsstärksten Volkswirtschaften der Welt zu führen, aber wie ein Sprichwort sagt: "Im Land der Blinden ist der Einäugige König". Die Tatsache, dass ein Land, das im Welthunger-Index das dritte Jahr in Folge abgerutscht ist, das mit den schlechtesten Arbeitslosenzahlen seit einem halben Jahrhundert und den größten Kapitalabflüssen seit der globalen Finanzkrise von 2008 konfrontiert ist, seine Nachbarn wirtschaftlich übertrifft, verdeutlicht die Schwere der wirtschaftlichen Katastrophe, mit der die gesamte Region konfrontiert ist. 

56. Alle Länder Südasiens haben in unterschiedlichem Ausmaß mit verlangsamtem Wachstum, steigender Inflation, zunehmenden Leistungsbilanzdefiziten, Abwertung ihrer Währungen und sinkenden Devisenreserven zu kämpfen, und das noch bevor die Auswirkungen der weltweiten Rezession voll zum Tragen kommen. Die Strom- und Energiekrise in Bangladesch, die im vergangenen Oktober 140 Millionen Menschen (fast das ganze Land) sieben Stunden lang im Dunkeln sitzen ließ, weil das Stromnetz ausgefallen war, spiegelt exemplarisch die Anfälligkeit der Region für globale Schocks wider, aber auch die in weiten Teilen der Region vorherrschende Baufälligkeit der Infrastruktur. 

57. Vor allem Pakistan und Sri Lanka befinden sich in einem wirtschaftlichen Sumpf. Fünf von sechs Familien in Sri Lanka lassen inzwischen regelmäßig Mahlzeiten ausfallen, während in Pakistan 45 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch die jüngsten Überschwemmungen, eines der schrecklichsten Klimaereignisse der jüngeren Geschichte, zerstört wurden. Allein die Überschwemmungen könnten nach Angaben der Weltbank zwischen 5,8 und 9 Millionen Menschen zusätzlich in die Armut treiben und eine massive Ausbreitung tödlicher Krankheiten hervorrufen. Dies ist ein Vorbote dessen, was auf eine Region zukommt, der Wissenschaftler*innen seit Jahren vorausgesagt haben, dass sie zu einem Brennpunkt für klimabedingte Katastrophen werden wird, von tödlichen Hitzewellen und extremen Dürren bis hin zum Abschmelzen der Gletscher und immer unberechenbareren und gefährlicheren Monsunen. 

58. Die Überschwemmungen in Pakistan haben die ohnehin schon akute politische und wirtschaftliche Krise des Landes weiter verschärft; die Wut der Massen, die bereits mit beispiellosen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie und den vom IWF auferlegten Sparmaßnahmen zu kämpfen haben, hat sich gegen ein hoffnungslos korruptes und ausplünderndes politisches Establishment noch verstärkt. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Sindh und Belutschistan, wo das Gefühl der nationalen Unterdrückung tief sitzt und die Unabhängigkeitsbefürworter*innen schon vor dieser Katastrophe auf dem Vormarsch waren. 

59. In Teilen des Landes ist auch ein Wiederaufleben der sektiererischen Gewalt zu beobachten. Die Gesamtzahl der Vorfälle im Zusammenhang mit Terrorismus hat den höchsten Stand seit 2017 erreicht, und tödliche Angriffe der pakistanischen Taliban (TTP) haben im nördlichen Swat-Tal einige der größten Proteste aller Zeiten ausgelöst. Vor dem Hintergrund der ohnehin schon großen politischen Unbeliebtheit der von Shehbaz Sharif geführten Koalition, die Imran Khans Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI)-Regierung im April 2022 ablöste, könnten all diese Elemente den Weg für eine Rückkehr Khans an die Macht ebnen, der immer noch über eine beträchtliche Unterstützerbasis verfügt, insbesondere in der städtischen Mittelschicht (vorausgesetzt, es kann eine neue Vereinbarung mit der Armeespitze getroffen werden) – oder sogar für eine völlige Machtübernahme durch das Militär. 

60. Sharifs Pakistan Muslim League-Nawaz (PML-N) führt eine instabile und zersplitterte Koalition aus 13 Parteien an, die keine der vier Provinzen des Landes kontrolliert. Einem globalen Trend folgend, erlebt die Region insgesamt eine starke Erosion der Unterstützung für die wichtigsten kapitalistischen Kräfte, die die politische Landschaft jahrzehntelang dominiert hatten. Ranil Wickremesinghe, der Präsident Sri Lankas, ist Mitglied der United National Party (UNP), die früher eine der beiden dominierenden Parteien der herrschenden Klasse des Landes war. Diese Partei hatte vor den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2020 106 Abgeordnete – jetzt hat sie nur noch einen! 

61. Die existenziellen Probleme der Kongresspartei in Indien, die von einer internen Krise in die nächste stürzt, weisen in die gleiche Richtung. In den letzten Jahren erlebte sie eine Reihe von Wahldebakeln, Überläufen von Führungspersönlichkeiten zu anderen Parteien und Massenaustritten von Mitgliedern. Vor zehn Jahren war sie in zwölf Bundesstaaten an der Macht, heute regiert sie nur noch in Chhattisgarh und Rajasthan.Indem er die Milliardär*innen aufs Korn nimmt und versucht, die Jugend, die Randgruppen, die Frauen und die Armen anzusprechen, stellt Rahul Gandhis monatelanger "Unite India March" einen Versuch dar, wieder eine lebensfähige Opposition zur BJP aufzubauen, und eine Einsicht der nüchterneren Kongressstrategen, dass ein Schlag gegen das Zentrum Indiens "Grand Old Party" nur in die völlige Bedeutungslosigkeit treiben wird. 

62. Von den landesweiten Anti-CAA-Protesten bis zur einjährigen Bäuer*innenbewegung, von den Adivasi, die gegen den Landraub der Konzerne kämpfen, bis zu den militanten sektoralen Streiks, die regelmäßig im ganzen Land ausbrechen, gibt es in Indien keinen Mangel an Kämpfen. Das Versagen der Gewerkschaftsbürokratie, dieses Potenzial zu nutzen, und das Fehlen einer geschlossenen und glaubwürdigen politischen Opposition der Arbeiter*innenklasse gegen die BJP unter den Bedingungen immer größerer sozialer Ungleichheit und Verzweiflung haben jedoch auch die Verschärfung des Staatsautoritarismus und chauvinistischer Provokationen durch die Regierungspartei und die radikaleren hinduistischen, rechtsextremen Gruppierungen, die in ihrem Schatten stehen, erleichtert, insbesondere in den Bundesstaaten des nördlichen "Hindi-Gürtels". Dies hat Indien zu einem sozialen und kommunalistischen Brandherd gemacht, in dem in der nächsten Zeit explosive Kämpfe und brutale kommunalistische Gewalt ausbrechen können. 

63. Die Versuche der Zentralregierung, ihre mehrheitsorientierte Agenda durchzusetzen, einschließlich der Verwendung von Hindi in nicht-hindisprachigen Bundesstaaten, haben auch dazu beigetragen, dass als Reaktion darauf Abwehrgefühle regionaler Identitäten wiederbelebt wurden, wie es in Tamil Nadu und Westbengalen der Fall ist. In diesem Zusammenhang könnte die nationale Frage vor allem im Süden in Zukunft noch deutlicher hervortreten, zumal die bevorstehende demografische Neuordnung der Sitzverteilung in der Lok Sabha (Parlament) den nördlichen und zentralen Bundesstaaten, in denen die BJP stärker ist, zugute kommen dürfte. 

64. Seit die Modi-Regierung 2014 an die Macht kam, hat sie eine Reihe von Krisen wie das Demonetisierungsfiasko und den katastrophalen Umgang mit der Pandemie gemeistert. Es hat eine Reihe massiver Generalstreiks gegeben. Doch das Fehlen einer politischen Alternative der Arbeiter*innenklasse zur BJP und das entsprechende Versagen der Gewerkschaftsführung haben dazu geführt, dass das BJP-Regime nicht nur acht Jahre an der Spitze der Zentralregierung überlebt hat, sondern auch seine Macht in den bundesstaatlichen Parlamenten in bedeutenden Teilen des Landes gefestigt hat. Diese Stärkung ihrer Wählerbasis ging Hand in Hand mit einer systematischen Verschärfung der fundamentalistischen Rhetorik im gesellschaftlichen Bereich, einer Zunahme von Lynchmorden und Gewalt gegen Muslime, Dalits und andere Minderheiten sowie unverhohlenen Vergeltungsmaßnahmen gegen prominente Aktivist*innen. Im Falle der Trump-Administration in den Vereinigten Staaten sah die herrschende Klasse zwar einen gewissen Wert in Trump, war aber stets besorgt über die Instabilität, die seine Regierung darstellte. Im Gegensatz dazu sind sich große Teile der herrschenden Klasse, der staatlichen Institutionen und der Medien im Moment größtenteils einig über die Tagesordnung der BJP-RSS, wie die Aufrechterhaltung des Hijab-Verbots durch ein staatliches Gericht zeigt. Diese Entwicklungen unterstreichen die Gefahr, dass sich ein rechtsextremes, autoritäres Regime weiter verfestigt, wenn die multiethnische indische Arbeiter*innenklasse nicht in der Lage ist, rechtzeitig eine kohärente Alternative zu entwickeln.

Region im Strudel des neuen Kalten Krieges gefangen 

65. Nach dem Aufflammen tödlicher Gewalt zwischen chinesischen und indischen Truppen entlang der umstrittenen Grenze im östlichen Ladakh im April 2020 beschleunigte Modis Indien, das jahrelang vom Weißen Haus als strategisches Bollwerk zur Eindämmung der regionalen Ambitionen Chinas angesehen worden war, seine Hinwendung zum US-Imperialismus und ergriff eine Reihe protektionistischer Maßnahmen, um den Einfluss chinesischer Unternehmen auf dem indischen Markt zu beschneiden. Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine, der den zwischenimperialistischen Konflikt auf die Spitze trieb, hat Indien (immer noch der größte Importeur russischer Waffen in der Welt) die Bremse gezogen, um nicht zu schnell in eines der beiden Lager zu springen, und versucht, auf einem schmalen Grat zwischen beiden Seiten zu wandeln. 

66. Indiens Balanceakt wird in Zukunft weiteren gegensätzlichen Belastungen und Herausforderungen ausgesetzt sein, die mit der größeren und eskalierenden Dynamik des Neuen Kalten Krieges zusammenhängen. Auch wenn es in den Beziehungen zwischen Indien und China Phasen der Entspannung geben mag, dürfte der langfristige und vorherrschende Trend eine Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den beiden Ländern sein, der eine Nebenhandlung des Kalten Krieges darstellt. Während in Ladakh ein teilweiser Rückzug stattgefunden hat, ist der Ausbau der militärischen Infrastruktur entlang der Demarkationslinie weiter vorangeschritten, und auf beiden Seiten sind weiterhin Zehntausende von Soldaten stationiert. Indien bemüht sich intensiv darum, sich als zuverlässiges alternatives Produktionszentrum für westliche Unternehmen zu verkaufen, die nach Möglichkeiten suchen, ihre Lieferketten von China weg zu diversifizieren. Indien war auch das einzige Land in Südasien, das sich weigerte, nach dem letzten Säbelrasseln in der Meerenge von Taiwan öffentlich sein Engagement für die "Ein-China-Politik" zu bekräftigen. 

67. Darüber hinaus tobt in Sri Lanka, Nepal, Bangladesch und auf den Malediven bereits ein Machtkampf zwischen China und Indien. Ganz allgemein ist in ganz Südasien ein ausgedehnter "Stellungskrieg" voll häufiger Wendungen im Gange, in dem die USA, China, Indien und in geringerem Maße auch Pakistan versuchen, ihre geopolitische Position zu stärken, während weniger einflussreiche Länder zwischen diese globalen und regionalen imperialistischen Mächte gedrängt werden. 

68. Die Absicht des chinesischen Regimes, den Einfluss der USA in Pakistan weiter anzufechten, indem es sein Bündnis mit "Chinas 'Hardcore'-Freund und verlässlichem Bruder" (so ein hoher chinesischer Beamter für auswärtige Angelegenheiten) festigt, ist angesichts der langjährigen Rivalität Pakistans mit Indien ein weiterer Faktor, der den Pfad der indisch-chinesischen Beziehungen steiniger machen könnte. Die umstrittene Region Kaschmir, in der die konkurrierenden Interessen der "großen Drei" der Region aufeinander treffen, könnte in der nächsten Zeit zu einem größeren Brennpunkt militärischer Spannungen werden. 

Sri Lanka von revolutionären Umwälzungen erschüttert

69. In Sri Lanka verstärken sowohl Indien als auch die USA nach einer ausgeprägten Pro-China-Politik unter den Rajapaskas nun ihre Bemühungen, den Einfluss Chinas während der Wirtschafts- und Schuldenkrise zurückzudrängen, indem sie sowohl Finanzhilfen als auch verstärkte Verweise auf die katastrophale Menschenrechtslage in Sri Lanka als geopolitische Erpressungsinstrumente einsetzen. 

70. Die Intensität und Geschwindigkeit der revolutionären Umwälzungen, die die Insel im Laufe des Jahres 2022 erschütterten – mit dem ersten Generalstreik seit 42 Jahren und dem ersten Hartal seit 69 Jahren –, sind ein Paradigma für die explosiven Phasen der sozialen und politischen Beschleunigung, auf die sich Sozialist*innen in dieser neuen Ära einstellen sollten. Die Szenen, in denen Menschen wichtige Staatsgebäude besetzten und ein einst mächtiger, völkermordender Präsident in aller Eile aus dem Land floh, werden in den Köpfen von Millionen Werktätigen in aller Welt unauslöschliche Spuren hinterlassen haben. 

71. Seither hat der Staat jedoch die politische Verwirrung und die Ausflüchte an der Spitze der "Aragalaya"-Bewegung genutzt, um einen entschlossenen konterrevolutionären Gegenschlag zu führen. Das Lager der Demonstrant*innen wurde brutal niedergeschlagen. Tausende von Demonstrant*innen, darunter Gewerkschafts- und Studentenführer*innen, wurden verhaftet und unter drakonischen Anschuldigungen festgehalten, und Teile von Colombo sind jetzt als "Hochsicherheitszonen" ausgewiesen, in denen Proteste verboten sind. Da Wickremsinghe über keine nennenswerte stabile soziale Basis verfügt, ist er zunehmend gezwungen, sich auf die Armee und den Staatsapparat zu stützen, um sich an der Macht zu halten, die vom IWF geforderten weitreichenden Sparmaßnahmen durchzusetzen und sich auf die Massenkämpfe vorzubereiten, die in den kommenden Monaten mit Sicherheit wieder aufflammen werden. 

72. Dies kann nur gestoppt werden, indem die unabhängige Macht der Arbeiter*innenklasse durch ein eskalierendes Programm wirtschaftlicher und politischer Forderungen mobilisiert wird, das auf sozialistische Schlussfolgerungen hinweist, während gleichzeitig die spezifische Unterdrückung der tamilischen Gemeinschaft angegangen wird und die Unterstützung der Arbeiter*innen und der Armen auf internationaler Ebene gesucht wird. 

Südostasien 

73. In Südostasien, das von den militärischen Stellvertreterkriegen des westlichen Imperialismus und des Stalinismus während des historischen Kalten Krieges am stärksten gezeichnet ist, nehmen die Spannungen als Schlüsselregion+ im zwischenimperialistischen Kampf zwischen den USA und China und im Kontext wachsender wirtschaftlicher und sozialer Instabilität zu. Die Ausweitung der Handelsbeziehungen und der Einfluss Pekings auf die Region sowie die zunehmende militärische Selbstbehauptung im Südchinesischen Meer haben die Biden-Regierung zu einem Gegenschlag veranlasst, der sich in offenen geostrategischen Erklärungen, in der Ausrichtung des ASEAN-Gipfels im Mai 2022 und in der Integration einiger ASEAN-Länder in das Indo-Pazifik-Wirtschaftsforum IPEF ausdrückt. Dennoch ist die chinesische Konjunkturabschwächung ein weiterer Faktor, der die Spaltung der herrschenden Klassen in der Region verstärken dürfte, wobei der pro-chinesische und der pro-US-Flügel unterschiedliche Strategien für die neokolonialen Regime verkörpern, die bisher versuchen, zwischen den imperialistischen Supermächten zu manövrieren.

74. Auf den Philippinen wurde der vom ehemaligen Präsidenten Duterte gepriesene "Pivot to China", der sich entwickelte, während Peking seine militärische Aggression im Südchinesischen Meer verstärkte, schnell zum Rückzug gezwungen, einschließlich der Wiedereinführung des US-Philippinen Visiting Force Agreement (VFA) und des Enhanced Defense Cooperation Agreement (EDCA) - Abkommen mit dem früheren kolonialen Besatzer des Archipels. Sein politischer Erbe "Bongbong" Marcos spielt stattdessen mit einer Rhetorik der "Neutralität", während er Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate für Investitionen umwirbt. Derzeit verzeichnet die Region ein gewisses Wirtschaftswachstum, das jedoch bereits von einem Inflationsdruck erschüttert wurde, der in Laos auf über 30 % im Jahr anstieg und in Myanmar nicht weit dahinter lag. Nachdem die Pandemie nach Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank bereits 5 Millionen Menschen in der Region in extreme Armut gestürzt und bis 2021 mehr als 9 Millionen Arbeitsplätze vernichtet hat, und angesichts weiterer verheerender Überschwemmungen und Taifune würde ein möglicher globaler Einbruch den Außenhandel, die Kapitalinvestitionen und die Überweisungen beeinträchtigen, während sich die verschuldeten Regierungen mit fiskalischen Impulsen zurückhalten würden.

75. Die symbolische Rückkehr der berüchtigten superreichen Marcos-Familie auf den Philippinen an die Macht, fast vier Jahrzehnte nach ihrer Absetzung durch die "People Power"-Revolution von 1986, hat unterstrichen, dass Duterte, wie seine Amtskollegen auf der ganzen Welt, nicht nur eine vorübergehende Episode war. Der Aufstieg von Rechtspopulismus und Autoritarismus ist ein nach rechts kanalisierter Ausdruck der massiven Ablehnung der leeren, zerbrochenen liberalen Versprechen der kapitalistischen "Demokratie". Aber wie auch anderswo werden Illusionen in dieser Richtung schnell in Frage gestellt. Die akuten Lebensbedingungen und die düsteren Aussichten für die Massen machen die Bemühungen der Regierungen, den demokratischen Spielraum einzuengen, zu einem explosiven Spiel für die herrschenden Klassen in dieser Zeit. Die Musik der Zukunft ist kühner, eskalierter Massenwiderstand und Herausforderungen gegen die kapitalistischen Regime in der Region, wie in den ersten Kapiteln in diesem Zeitalter der Unordnung angedeutet, von den demokratischen Protesten in Thailand, die eine beginnende, beispiellose Herausforderung für die Monarchie darstellen, bis hin zu den Erfahrungen des von Arbeiter*innen angeführten revolutionären Aufstandes in Myanmar.

Lateinamerika 

76. Lateinamerika ist eine Region, in der die vielfältigen Elemente der globalen Krise und die Hauptmerkmale der gegenwärtigen Periode deutlich zu Tage treten. Die Region war Schauplatz einiger der schlimmsten Folgen der Pandemie und der globalen Wirtschaftskrise mit zunehmender Ungleichheit, Armut und Hunger. Sie ist auch ein eindrucksvolles Beispiel für die Instabilität und die politische und soziale Polarisierung, die den gegenwärtigen Moment kennzeichnen, einschließlich des Aufstiegs neuer linker Kräfte, aber auch der bedrohlichen Präsenz der extremen Rechten. 

77. Einige der bedeutendsten Massenbewegungen und Volksaufstände, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, fanden in dieser Region statt. In vielen Fällen kam es zu einer Institutionalisierung dieser Prozesse, indem neue "progressive" Regierungen gewählt wurden, die die Grenzen von Lösungen aufzeigten, die nicht mit der kapitalistischen Ordnung brechen. 

Wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Krise 

78. Die Schwere der Pandemie und die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind Faktoren, die sich gegenseitig verstärkt haben. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch im Jahr 2020 und der anschließenden zaghaften Erholung ist das derzeitige Szenario ein wirtschaftlicher Abschwung, wobei die ECLACvor dem Hintergrund von Inflation und öffentlichen Defiziten für 2023  ein Wachstum von nur 1,4 % in der Region prognostiziert. Viele Länder der Region werden von der Verlangsamung der chinesischen und amerikanischen Wirtschaft und deren Auswirkungen auf ihre Exporte betroffen sein. 

79. Fiskalische Anpassungsmaßnahmen und eine Straffung der Geldpolitik werden eingesetzt, um die hohe Inflation und den Anstieg der öffentlichen Ausgaben während der schlimmsten Zeit der Pandemie auszugleichen. Die Schuldenkrise, die sich aufgrund steigender Zinssätze in den USA und Europa beschleunigt, ist ein zentraler Faktor der Krise in Ländern wie Argentinien, Ecuador, Honduras und anderen und wird als Druckfaktor für die Verabschiedung von Maßnahmen genutzt, die soziale Rechte angreifen, mit schrecklichen Auswirkungen auf die ärmsten Menschen. 

Politische Polarisierung und "progressive" Regierungen unter Druck 

80. Dieses Krisenszenario macht jeden Versuch einer politischen Stabilisierung in der Region undurchführbar, fördert eine zunehmende Polarisierung und setzt die Perspektive der Massenbewegungen wieder auf die Tagesordnung. 

81. Die Wahlsiege der als "fortschrittlich" geltenden politischen Kräfte in Ländern wie Bolivien, Peru, Kolumbien, Honduras und Chile sind nur zu verstehen, wenn man die Massenkämpfe, sozialen Explosionen und Volksaufstände berücksichtigt, die wir vor allem seit 2019 erlebt haben. 

82. Die politische Zermürbung der rechten Regierungen und ihrer neoliberalen Politik hat sich vor allem auf der Straße und von dort aus auch an den Wahlurnen gezeigt. Die Stärke der Massen konnte Putschversuchen, wie 2019 in Bolivien, und autoritären und repressiven Regierungen wie der von Piñera in Chile und Iván Duque in Kolumbien und – bisher mit geringerer Intensität – der von Bolsonaro in Brasilien widerstehen. 

83. In Ländern, die noch von der Rechten regiert werden, entstehen immer wieder neue Massenbewegungen, wie wir kürzlich in Ecuador und Haiti gesehen haben. Aber auch in Ländern, die von Mitte-Links regiert werden, gab es weiterhin Massenproteste und Kämpfe. 

84. Diese Regierungen sind bereits mit einer ganz anderen Situation konfrontiert als während des ersten Zyklus' "progressiver" Regierungen in den frühen 2000er Jahren. Die relativ günstigen Bedingungen für eine Umverteilungspolitik, die während des Rohstoffbooms damals herrschten, werden nicht mehr gegeben sein. 

85. Innerhalb der gegenwärtigen Ordnung gibt es keinen Raum für sinnvolle Reformen. Die Erfüllung der Forderungen des Volkes würde voraussetzen, dass die Privilegien und Interessen der herrschenden Klasse bis ins Mark getroffen werden. Dies kann nur mit der Kraft der Massenbewegung und entscheidend mit der Arbeiter*innenklasse an den Hebeln der Wirtschaft geschehen, indem die gesellschaftliche Produktion aus dem Privateigentum enteignet wird, mit einer sozialistischen Perspektive für den Bruch mit der gegenwärtigen Ordnung.

86. In Ermangelung revolutionärer politischer Führungen, die die Umsetzung eines revolutionären Programms anführen könnten, sind viele der neuen "fortschrittlichen" lateinamerikanischen Regierungen bereits mit politischen Krisen und ernsthaften Bedrohungen konfrontiert und öffnen sogar den Raum für die Reaktion rechtsextremer Kräfte, die zunehmend den Raum der traditionellen neoliberalen Rechten besetzen. 

Peru: politische Krise und Castillos Rechtsruck 

87. Peru ist eines der eindrucksvollsten Beispiele für diesen Prozess. Hier gewann der ehemalige Vorsitzende der Lehrer*innengewerkschaft Pedro Castillo die Wahlen im Juni 2021 mit einer linken Plattform. Er besiegte zunächst die von Keiko Fujimori vertretene Ultrarechte und konnte trotz Putschversuchen sein Amt antreten, nur um schließlich am 7. Dezember 2022 durch den rechten, obstruktionistischen Kongress abgesetzt zu werden. Nachdem die rechte Opposition in den ersten 14 Monaten zwei Anträge auf Amtsenthebung Castillos' gestellt hatte, führte der dritte Antrag zu einem Bruch der Situation. Ein parlamentarischer Staatsstreich stürzte Castillo aus dem Präsidentenamt, brachte ihn in Haft und übertrug die Macht an die Vizepräsidentin Dina Boluarte, die im Einvernehmen mit der Rechten im Kongress und mit den herrschenden Klassen handelt.

88. Der Vorwand für den parlamentarischen Staatsstreich gegen Castillo war sein verzweifelter Versuch, am Rande der Abstimmung über ein neues Amtsenthebungsverfahren den Kongress aufzulösen, eine Ausnahmeregierung auszurufen und Neuwahlen anzusetzen. Castillo hatte jedoch aufgrund des Rechtsrucks in seiner Politik deutlich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Castillo entschied sich von Anfang an dafür, seine Regierung so zu führen, dass die herrschende Klasse nicht verschreckt wurde.

89. Nach dem Sturz Castillos breiten sich Proteste und Massenmobilisierungen im ganzen Land aus, trotz der starken Repression, die bereits mehr als 50 Tote gefordert hat. Obwohl sie Castillo und seinem Rechtsruck misstrauen, akzeptieren Millionen von Arbeiter*innen, Bauern und Bäuerinnen und Indigene Dina Boluarte nicht als Präsidentin und noch weniger den Kongress mit einer rechten Mehrheit. Die wichtigsten Slogans der Mobilisierungen sind die Auflösung des Kongresses, die Ausrufung von Neuwahlen und die Einleitung eines verfassungsgebenden Prozesses zur Aufhebung der Verfassung von 1993, die unter der Diktatur von Alberto Fujimori verabschiedet wurde.

90. Anstatt an die Massenbewegung zu appellieren und seine Wahlversprechen zu bekräftigen, die auf die Verstaatlichung der Bergbauunternehmen und die Einsetzung einer verfassungsgebenden Versammlung abzielten, versucht Castillo weiterhin, sich mit der herrschenden Klasse und dem Imperialismus zu arrangieren. Doch all diese Versuche scheiterten kläglich. Als er schließlich die Absicht erklärte, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, war dies zu wenig, zu spät und zu schwach, ohne jegliche Vorbereitung der Massen auf einen entscheidenden Kampf - stattdessen verließ er sich auf ein absurdes und vergebliches Vertrauen in die Streitkräfte des kapitalistischen Staates, um die tatsächliche Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zu erreichen.

91. Im Mittelpunkt der Politik der revolutionären Sozialist*innen in Peru steht die Ermutigung und Unterstützung der Massen im Kampf gegen die derzeitige illegitime Regierung von Dina Boluarte und dem rechten Kongress. Der Sieg dieser Massenbewegung ist nur möglich, wenn sie eine sozialistische Strategie und ein sozialistisches Programm annimmt. Zusammen mit der Rettung der von Pedro Castillo aufgegebenen Forderungen, wie die Verstaatlichung der Bergbauunternehmen und die Änderung der Verfassung, müssen sie mit einem sozialistischen Projekt verbunden werden. Eine verfassungsgebende Volksversammlung mit revolutionärem Charakter, die an der Basis mit Komitees der Arbeiter*innen und des organisierten und mobilisierten Volkes organisiert ist (ganz anders als der begrenzte Verfassungskonvent, den wir in Chile erlebt haben), würde die Grundlage schaffen, um die Forderungen des Volkes zu erfüllen und das politische und wirtschaftliche System zu ändern - der einzige Weg, um Peru aus der Dauerkrise zu führen, in der es sich befindet.

Argentinien: Fernández lagert die Regierung aus, um den Märkten zu dienen 

92. In Argentinien, das seit Dezember 2019 von den Peronisten Alberto Fernández als Präsident und Cristina Kirchner als Vizepräsidentin regiert wird, gibt es eine tiefe politische, wirtschaftliche und soziale Krise. Mehr als 40 % der Bevölkerung leben in Armut, die Inflation wird im Jahr 2022 voraussichtlich fast 100 % erreichen, und das Land steht kurz davor, seine Auslandsschulden nicht mehr bezahlen zu können. 

93. Die Vereinbarung mit dem IWF, die die Rückzahlung von 45 Milliarden Dollar an Schulden aufschiebt, hat das Problem nicht gelöst. Der politische und soziale Preis für die vom IWF auferlegten Maßnahmen ist zu hoch. Der Wirtschaftsminister, der die Vereinbarung unterzeichnet hatte, musste zurücktreten, und sein Nachfolger war nur 24 Tage im Amt. Der neue, von Fernández ernannte Minister, der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer Sergio Massa, ist ein rechter Politiker, der inzwischen zum Superminister aufgestiegen ist. Mit Massa vollzieht die argentinische Regierung einen noch stärkeren Rechtsruck, um das Vertrauen der Märkte zu gewinnen. 

94. Angesichts der Krise der peronistischen Regierung und einer traditionellen Rechten, die seit der Tragödie der Vorgängerregierung von Mauricio Macri ebenfalls erschöpft ist, ist ein Aufschwung rechtsextremer Alternativen zu beobachten, wie im Fall des Abgeordneten Javier Milei, der sich bereits als Präsidentschaftskandidat für die Wahlen 2023 aufstellt. 

95. Die Stärke der argentinischen Arbeiter*innenklasse, einschließlich der Gewerkschafts- und "Piquetero"-Bewegung, der Frauenbewegung, der Jugend usw. sind entscheidende Faktoren in diesem Prozess, trotz bürokratischer Irreführung. Es gibt auch Raum für eine radikale, von der Regierung unabhängige Linke, wie die Stimmenergebnisse der Links- und Arbeiterfront (FIT - Unidad) gezeigt haben. Die FIT-U und andere Sektoren der Linken und kämpferische soziale Bewegungen müssen den Kampf gegen die "Anpassungspolitik", die sich aus dem Abkommen mit dem IWF ergibt, vorantreiben und das Banner der Nichtbezahlung der Schulden zusammen mit der Verstaatlichung des Finanzsystems und der Schlüsselsektoren der Wirtschaft hochhalten. Es ist notwendig, eine sozialistische Opposition der Arbeiter*innenklasse gegen die Regierung von Fernandez/Cristina/Massa aufzubauen und auch den Aufstieg der extremen Rechten zu bekämpfen. 

Chile: die Niederlage des verfassungsgebenden Prozesses und der Rechtsruck von Boric 

96. In Lateinamerika haben die Wahlen neuer Mitte-Links- oder "progressiver" Regierungen Niederlagen für die Rechte und die extreme Rechte bedeutet und sich positiv auf die Arbeiter*innenklasse ausgewirkt. Aber in praktisch allen Fällen sind sie auch zu Mechanismen der Eindämmung und Institutionalisierung der potenziell revolutionären Elemente geworden, die in den Volksaufständen seit 2019 vorhanden waren. 

97. Diese Situation ist in Ländern wie Kolumbien zu beobachten, das 2021 Schauplatz einer mächtigen Massenbewegung war und schließlich im Juni 2022 den Mitte-Links-Kandidaten Gustavo Petro wählte. Der Fall Chile ist jedoch emblematisch und bietet zahlreiche Lehren. 

98. Um das revolutionäre Potenzial des Volksaufstandes vom Oktober 2019 in Chile einzudämmen, unterzeichneten Piñeras rechte Regierung und fast alle politischen Parteien einen "Friedenspakt", der den Beginn eines verfassungsgebenden Prozesses, d.h. eine Neufassung der Verfassung, vorsah, Piñera jedoch im Amt hielt und diesem Prozess eine Reihe von Beschränkungen und institutionellen Kontrollmechanismen auferlegte. Dennoch wurde der Wille, den Prozess des Wandels zu Ende zu führen, von der großen Mehrheit der Bevölkerung mehrfach bekräftigt. 

99. Die Niederlage des Entwurfs der neuen Verfassung in der Volksabstimmung im September 2022 war wiederum in erster Linie das Ergebnis von Abnutzung, Unzufriedenheit und Frustration über die Grenzen des verfassungsgebenden Prozesses. Für viele war es auch ein Protest gegen die Grenzen der Regierung Boric. Es handelte sich nicht einfach um einen Rechtsruck im Land. Während das „Nein“ zum neuen Verfassungstext 62% der Stimmen erhielt, zeigen Umfragen, dass 68% der Chilen*innen weiterhin der Meinung sind, dass eine neue Verfassung notwendig ist, und 72% mit der Situation im Land unzufrieden sind. 

100. Drei Jahre nach dem Volksaufstand von 2019 und nur sieben Monate nach dem Amtsantritt der neuen Regierung musste Gabriel Boric feststellen, dass aufgrund seiner Status-quo-Politik seine Popularität auf 27 % gesunken ist. Trotz der Rhetorik zur Verteidigung der Menschenrechte wurden die politischen Gefangenen des Aufstands von 2019 nicht freigelassen, und diejenigen, die die Repression durchgeführt haben, bleiben ungestraft. Boric hat die Militarisierung der Mapuche-Region Walmapu fortgesetzt und die Unterdrückung sozialer Bewegungen fortgesetzt. 

101. Die jüngste Kapitulation der Regierung war ihre Zustimmung zum transpazifischen Abkommen (TPP11), das die Souveränität des chilenischen Volkes zugunsten großer transnationaler Konzerne angreift. Boric hat sich auch in wichtigen internationalen Fragen wie dem Krieg in der Ukraine auf die Seite des US-Imperialismus gestellt. 

102. Der neue Verfassungstext enthält sehr positive Punkte, wie die grundlegende Verteidigung sozialer Rechte wie Gesundheit, Bildung, Wohnen, Arbeitsrechte und das Recht auf Abtreibung. Er garantierte jedoch nicht deren Umsetzung und übertrug dem konservativen chilenischen Kongress die Verantwortung, diese Grundrechte zu regeln. Außerdem billigte der Verfassungskonvent keine strukturellen Maßnahmen, die zur Gewährleistung dieser Rechte notwendig sind, wie z.B. die Verstaatlichung von Kupfer und anderen natürlichen Ressourcen. Natürlich wäre es letztlich eine bedeutende, aber begrenzte Reform im Rahmen des krisengeschüttelten Kapitalismus gewesen, die kein Rechtstext metaphysisch für die Resolution der brennenden sozialen Krisen anpassen könnte.

103. Die Rechte und die extreme Rechte wussten die Frustration und die Schwäche der Linken auszunutzen. Sie nutzten alle Mechanismen der Medienmanipulation, machten sich Fragen der öffentlichen Sicherheit zunutze, setzten Fake News und ideologischen Terrorismus ein und gingen in die Offensive gegen den neuen Verfassungstext, gegen die Regierung und den gesamten Geist des Wandels vom Oktober 2019 – und errangen einen Sieg. 

104. Trotzdem wurde die Kraft des chilenischen Oktober 2019 nicht gänzlich von den Kräften der Reaktion gebrochen und ist immer noch präsent. Im Kampf gegen die extreme Rechte wird es notwendig sein, eine politische Alternative der Arbeiter*innenklasse, der Frauen und der Jugend im Bündnis mit dem Volk der Mapuche und allen Unterdrückten aufzubauen, eine Alternative, die ein sozialistisches Programm als einzig möglichen Ausweg aufzeigt.

Mexiko, die Rezession und die Erosion des Reformismus

105. In Mexiko genießt Obrador auch vier Jahre nach seinem historischen Wahlsieg noch immer große Autorität in der Bewegung. Es wird jedoch immer deutlicher, dass die Kritik an seiner Politik in verschiedenen Sektoren gewachsen ist. Vor allem aber kommt der temporäre Charakter der politischen Autorität des Reformismus in der tiefgreifenden Diskreditierung und Desavouierung von Morena zum Ausdruck, die sich in einer tiefen internen Krise befindet, mit einem wachsenden internen Streit um die Kandidatur für 2024. Diese Verdrängung und der Verlust der Autorität von Morena stellen die Eröffnung eines wachsenden Raums für die Linke dar, der auch für uns Chancen eröffnet.

106. In diesem Szenario werden die zahlreichen Krisen, die sich weltweit abspielen, von großer Bedeutung sein, wobei die Wirtschaftskrise und die wirtschaftliche Rezession, mit der die Vereinigten Staaten 2023 konfrontiert sein werden, besonders relevant sind. 30 % des mexikanischen BIP hängen von den Exporten ab, von denen 80 % für den nordamerikanischen Markt bestimmt sind. Trotz der optimistischen Äußerungen Obradors haben verschiedene Analyst*innen seit Mitte des Jahres auf die enormen Risiken hingewiesen, denen die mexikanische Wirtschaft ausgesetzt sein wird.

107. In diesem Szenario haben wir seit Mitte des letzten Jahres eine Reihe von Kämpfen der Arbeiter*innen für Lohnerhöhungen erlebt, um die Auswirkungen der Inflation auf ihre Löhne und Lebensbedingungen rückgängig zu machen. Vom mehrstündigen Streik der Telmex-Arbeiter*innen Ende Juli bis zum Streik bei Arcelor Mittal in Lázaro Cárdenas, Michoacán, oder dem angedrohten Streik der Arbeiter*innen im Volkswagenwerk in Puebla sind dies Beispiele für eine Reaktivierung der Arbeiter*innenbewegung außerhalb und in einigen Fällen sogar gegen die versöhnliche Politik der Regierung Morena und 4T. Dies ist eine Lektion für Tausende von Arbeiter*innen über den grundlegenden Inhalt des Reformismus.

108. Dies hatte und wird natürlich Auswirkungen auf die Wahlen in verschiedenen Bundesstaaten im Jahr 2023 und die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 haben. Zwar ist Morena immer noch der Favorit, aber die Wahl rechter Elemente als Kandidat*innen von Morena und das völlige Fehlen interner Demokratie sorgen für neue bittere Siege oder sogar völlige Niederlagen, die sich auf die Stimmung der Massen auswirken werden. Die Niederlage bei der Elektrizitätsreform ist eines der dramatischsten Beispiele dafür. Gleichzeitig wird dieses Jahr die Präsidentschaftskandidatur von Morena für 2024 entschieden, die mit ziemlicher Sicherheit von Claudia Sheinbaum errungen werden wird, die den linken Flügel des Reformismus in Morena vertritt. Es ist daher unerlässlich, ein Programm mit Übergangsforderungen zu entwickeln, das es uns ermöglicht, eine Brücke zu den Millionen von Menschen zu schlagen, die Sheinbaums Kandidatur begrüßen werden, während wir gleichzeitig darauf hinweisen, dass ihre Wahl nicht ausreichen wird, dass es notwendig ist, zu kämpfen und zu mobilisieren, um diese Reformen zu gewinnen, während wir unser eigenes unabhängiges Profil um ein sozialistisches Programm herum aufbauen. 

Lulas Brasilien und das Fortbestehen der rechtsextremen Bedrohung 

109. Der Ausgang der brasilianischen Präsidentschaftswahlen ist ein entscheidender Faktor für die Dynamik der lateinamerikanischen Prozesse. Lulas Sieg bedeutet eine Erleichterung für Millionen von Arbeiter*innen und einen herben Rückschlag für das bolsonaristische Projekt, aber es wird nicht gelingen, die Rechtsextremen vollständig aus der brasilianischen Politik zu verdrängen. 

110. Der Bolsonarismus hat Stärke bewiesen, indem er im zweiten Wahlgang 49,1 % der Stimmen erhielt und mit einem Unterschied von weniger als 2 % gegenüber Lula verlor. Dieser knappe Sieg eröffnet Sektoren des Bolsonarismus die Möglichkeit, den Wahlprozess anzuprangern und trotz der Wahlniederlage eine Bedrohung zu bleiben, auch in den Straßen. 

111. Die einzige Möglichkeit, die Stärke der extremen Rechten einzudämmen, ist die Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse um ein Programm, das die Banner der sozialen Transformation mit demokratischen Forderungen vereint und auf radikale Veränderungen hinweist. Das Problem ist, dass Lulas Arbeiterpartei (PT) und die verbündeten Parteien genau dies im Wahlkampf nicht getan haben. 

112. Die Strategie, eine breite Front um Lula herum aufzubauen, die alle von der PSOL bis zur traditionellen neoliberalen Rechten (wie im Fall von Lulas Vizepräsident Geraldo Alckmin) vereint, erwies sich als wahltaktisch ineffektiv und aus Sicht eines linken Programms als Desaster. Im Wahlkampf machte Lula alle möglichen Zugeständnisse an die Kapitalist*innen und an rechte Politiker*innen, um deren Unterstützung gegen Bolsonaro zu gewinnen. Damit hat er die Linke falsch charakterisiert, dem Bolsonarismus, der die traditionellen Politiker*innen anprangert, Munition geliefert und die Verwirrung im Bewusstsein breiter Schichten gefördert. 

113. Die Unterstützung, die Bolsonaro trotz des kriminellen und katastrophalen Umgangs mit der Pandemie erhielt, kam nicht ausschließlich aufgrund einer rechtsextremen, rassistischen, gewalttätigen und autoritären Politik zustande Diese Politik hat zwar eine Basis in bedeutenden Teilen der weißen Mittelschicht, vor allem bei Männern im Süden und Südosten des Landes. Der Hauptteil der Ausweitung der Unterstützung für Bolsonaro ist jedoch aus zwei tiefer liegenden Gründen erfolgt. 

114. Zum einen, weil er sich auf zynische und offensichtlich betrügerische Weise für eine ultraliberal ausgerichtete Regierung unvorstellbare soziale Maßnahmen angemaßt hat, wie die Aufstockung und Ausweitung von "Auxílio Brasil", dem Nothilfepaket, und andere ähnliche Maßnahmen. Und zum anderen, entscheidender, die enorme Abnutzung und Ablehnung, die die PT nach ihrer Regierungserfahrung angesammelt hat. 

115. Bolsonaros hohe Wahlbeteiligung bedeutet also nicht, dass es unmöglich ist, die linken und sozialen Kämpfe im Land voranzubringen. Im Gegenteil, die immer noch vorhandene Bedrohung durch Bolsonaro könnte immer mehr Teile der Arbeiter*innenklasse und andere unterdrückte Sektoren ermutigen, Lehren aus den Grenzen der PT zu ziehen und auf einen Weg des Kampfes und nicht der Beschwichtigung und Aufrechterhaltung der Ordnung zu setzen. 

116. Die Situation in Brasilien, wie sie sich im Laufe der Wahlen und darüber hinaus entwickelt hat, hat die einzigartige Position bestätigt, die von der ISA sowohl innerhalb der PSOL als auch in der breiteren Arbeiter- und sozialen Bewegung vertreten wurde. Wir betonten die Notwendigkeit, die politische Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse im Kampf gegen den Bolsonaroismus zu bewahren und dabei große taktische Flexibilität sowie Sensibilität gegenüber der breiten Schicht derjenigen an den Tag zu legen, die Lula und die PT als "einzige Option" sahen, um Bolsonaro zu besiegen. Diese Position war Gegenstand intensiver interner Debatten in unserer Sektion, eine Debatte mit wichtigen Lehren für die gesamte Internationale. Unsere prinzipielle Position ist auch in einer Perspektive verwurzelt, die versteht, dass das Wachstum der extremen Rechten ein tief verwurzelter Prozess ist, der nicht durch eine Wahl gelöst werden kann, sondern eine langfristige Perspektive und Strategie des Klassenkampfes für eine politische Alternative erfordert. 

117. Wir müssen davor warnen, dass die Unmöglichkeit "fortschrittlicher" Regierungen, die Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen, ohne tiefgreifende und radikale Veränderungen zu fördern, Raum für das Wiedererstarken rechter oder rechtsextremer Kräfte in der Region eröffnen könnte. Gleichzeitig könnte die Stärke, die sich in den Massenmobilisierungen gezeigt hat, auch die Bedingungen für eine Neuzusammensetzung der Linken auf einer radikaleren Grundlage schaffen, die aus den Erfahrungen mit den Grenzen dieser "progressiven" Regierungen lernt und sich auf neue Kämpfe der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Sektoren stützt.

118. Die Invasion des Kongresses, des Obersten Gerichtshofs und des Präsidentenpalastes durch eine bolsonaristische Horde am 8. Januar sollte eine Putschbewegung auslösen, die sich über die Bundesstaaten ausbreiten und ein Eingreifen der Streitkräfte anregen sollte. Das Scheitern dieser Bewegung zeigt, dass die Bedingungen für einen Staatsstreich zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben waren, aber es zeigt, dass der Bolsonarismus seine störende Rolle während der gesamten Regierung Lula fortsetzen wird.

119. Die Niederlage der Putschist*innen am 8. Januar bedeutet kurzfristig einen Rückschlag für den Bolsonarismus, einschließlich der Ablehnung durch die öffentliche Meinung und der strafrechtlichen Verfolgung vieler seiner Befürworter*innen. Außerdem hilft es der Regierung Lula, die Idee einer nationalen Union (d.h. eine Wiedervereinigung mit der Rechten und der Bourgeoisie) gegen die Bedrohungen der "Demokratie" zu stärken. Die Ereignisse des 8. Januar werden jedoch mittel- und langfristig ein Symbol und eine Referenz für die extreme Rechte bleiben, wenn sie erneut mobilisiert, insbesondere in einer Zeit, in der die Lula-Regierung in einer größeren Krise steckt und auf Verschleiß gefahren wird. Ohne die Bestrafung von Bolsonaro selbst, der Kapitalist*innen und der hohen Militäroffiziere, die an der Putschaktion beteiligt waren oder sie geduldet haben, wird die politische und militärische Krise fortbestehen und sich in Zukunft erneut manifestieren.

120. Die einzige Möglichkeit, die Rückkehr der extremen Rechten zu verhindern, besteht darin, die Organisationen der Arbeiter*innenklasse unabhängig von der Regierung und um ein Programm herum zu mobilisieren, das die wesentlichen und unmittelbaren Forderungen nach demokratischen Rechten, Löhnen, Arbeitsplätzen, Wohnraum, Bildung und Gesundheit, die Rücknahme aller von Bolsonaro und früheren Regierungen auferlegten Angriffe und Gegenreformen mit Maßnahmen antikapitalistischer und sozialistischer Natur verbindet.

Mittlerer Osten

121. Der Massenaufstand, der den Iran erschüttert hat, war das jüngste Kettenglied im regionalen System, das eine revolutionäre Krise hervorgebracht hat, nach mehr als einem Jahrzehnt von Prozessen der Revolution und Konterrevolution, die im Vergleich zu anderen Regionen verdichtet und verallgemeinert waren, seit dem Vorläufer der "Grünen Bewegung" im Iran im Jahr 2009 und der gewaltigen Explosion der revolutionären Welle von 2011. Wie wir auch nach den folgenden Phasen blutiger Konterrevolutionen erklärt haben, sind die herrschenden Klassen tiefgreifend unterminiert worden, und die globalen und regionalen allgemeinen Bedingungen im Kontext der globalen Krisen des Kapitalismus und Imperialismus hindern sie daran, das Massenbewusstsein mit einer entscheidenden Abschreckung zu versengen, die ein langfristiges Gleichgewicht für ihre Gesellschaftsordnung ermöglichen würde. Revolutionäre Prozesse sind in dieser historischen Epoche dazu bestimmt, sich im Allgemeinen in die Länge zu ziehen und sich erneut durchzusetzen, im Allgemeinen auf einer höheren Ebene, als Ausdruck der verdauten kollektiven Erfahrung, der jüngsten Kämpfe, über die nationalen Grenzen hinaus, und möglicherweise sogar, um den geschichtlichen Knoten mit der erlernten historischen Erfahrung neu zu knüpfen. Aus Angst vor neuen Massenrevolten verstärken die herrschenden Eliten in der ganzen Region die staatliche Repression und den Autoritarismus.

122. Auch wenn der Ausgang des iranischen Aufstands noch ungewiss ist, kann kein Zweifel an seiner historischen Bedeutung bestehen. Nach den wichtigen früheren Runden der Volksbewegungen, die das Regime im Entwicklungsprozess einer neuen iranischen Revolution herausgefordert haben, ist die jüngste Runde - die als Reaktion auf die Unterdrückung der Geschlechter und vor dem Hintergrund nationaler Unterdrückung und einer schweren Wirtschaftskrise ausbrach - nachhaltiger, mutiger und entschlossener und geografisch weiter ausgedehnt. Es ist auch ein Aufstand, der sich so eindeutig gegen das Regime richtet wie keiner seit der Gründung der Islamischen Republik.

123. Die Mobilisierung war zwar umfangreich, hielt sich aber in ihrem Umfang relativ in Grenzen.  Im Januar 2023 entwickelte sich unter dem konterrevolutionären Staatsterrorismus des Regimes eine gewisse Phase des Rückzugs der Bewegung. Dennoch kam es in der Erdölindustrie weiterhin zu umfangreichen Streiks, die sich über Unternehmen und Städte erstreckten, nicht nur als Teil eines wirtschaftlichen Kampfes um Löhne, Renten, Dienstleistungen und Steuersenkungen, sondern auch aus Protest und Trotz gegen die blutige Repressionswelle gegen Demonstrant*innen.

124. Dieser jüngste Aufstand im Iran hat wichtige Elemente einer organisierten Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse sowie einige im Entstehen begriffene revolutionäre Räte hervorgebracht. Wenn es jedoch nicht zu einem entscheidenden Ausbruch allgemeiner Aktionen der Arbeiter*innenklasse kommt, könnte der Dampf der Bewegung irgendwann abebben, was dem Regime die Chance für eine blutigere Gegenoffensive bieten könnte. Natürlich kann keine Massenbewegung unbegrenzt weitergehen, und da es an einer weitsichtigen revolutionären Führung fehlt, die der Aufgabe gewachsen ist, bringen komplexe Herausforderungen schließlich auch Phasen der Flaute und des Rückzugs mit sich. Doch selbst in diesem Fall bedeutet die Wirkung, die diese Proteste auf die Lebenseinstellung von Millionen von Iraner*innen, insbesondere von Frauen und jungen Menschen, hatten, dass ihr Vermächtnis wie eine Glut unter der Asche bleiben und wieder aufflammen wird - genau wie nach den blutig niedergeschlagenen früheren Runden und nicht zuletzt, weil sich die Bedingungen weiter verschlechtern, während bisher keine einzige größere Reform als Zugeständnis erreicht wurde. Das Regime der Ayatollahs mag in dieser Phase über Zugeständnisse taktisch gespalten sein, ist sich aber durchaus bewusst, dass größere Zugeständnisse das Vertrauen der fortgeschrittenen Teile der Massen, die mit dem politischen Regime als solchem unversöhnlich geworden sind, nicht befrieden, sondern stärken würden. Das Regime verlässt sich immer noch darauf, seine begrenzte konterrevolutionäre soziale Basis durch falsche "antiimperialistische" Rhetorik und religiöse Demagogie aktiv zu mobilisieren, aber selbst in dieser Basis hat die jüngste Krise wahrscheinlich Zweifel und Spaltungen verstärkt.

125. Die allgemeine Tendenz geht in Richtung einer langwierigen Periode von Revolution und Konterrevolution, in der beide Seiten darum ringen, sich entscheidend durchzusetzen, wobei der Kampf mit Höhen und Tiefen und unterschiedlicher Intensität über einen längeren Zeitraum andauern wird, während dessen der Sturz des Regimes eine inhärente Möglichkeit bleibt.

126. Der Krieg in der Ukraine hat das Szenario einer Wiederbelebung des Iran-Atomabkommens und die Aufhebung des Ölembargos und anderer imperialistischer Wirtschaftssanktionen, die das Elend der Massen verschlimmert haben, stark behindert. Während der westliche Imperialismus aufgrund der Energieentkopplung einen gesteigerten Durst nach fossilen Brennstoffen hat, würde ein erneutes Abkommen die Zustimmung des russischen Imperialismus erfordern. Letzterer ist stattdessen dazu übergegangen, den Iran im Gegenzug für überschüssige Militärprodukte mit mehr Geld zu versorgen. Dies folgt dem strategischen Wirtschafts- und Militärabkommen zwischen China und dem Iran aus dem Jahr 2021 mit einer Laufzeit von 25 Jahren. Dies konnte jedoch die Auswirkungen der von den USA verhängten Wirtschaftssanktionen nicht überwältigend ausgleichen.

127. Die wiederauflebende militärische Drohung Israels gegen iranische Nuklearanlagen, wobei die vorherige israelische Regierung stark in die militärische Vorbereitung investiert hat, war nicht nur rhetorisch. Das israelische Regime hat den US-Imperialismus unter Druck gesetzt, den Druck auf Teheran wirtschaftlich, "diplomatisch" und durch eine "glaubwürdige" militärische Drohung zu verstärken, hat aber auch angedeutet, dass es seine eigene militärische Offensivoption vorbereitet. Die neue israelische Regierung von Netanjahu und den Rechtsextremen hat lauter gebellt als zuvor. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sich auch ohne die Zustimmung Washingtons zu einem solchen Schritt entschließt, auch wenn dieser militärische Schritt weitaus komplexer ist als die früheren israelischen Angriffe auf Nuklearanlagen im Irak und in Syrien und das Atomprogramm des iranischen Regimes, das noch nicht in den militärischen Bereich vorgedrungen ist, nur stören, aber nicht torpedieren könnte. Das wäre ein kompliziertes Szenario für die regionalen Perspektiven, das leicht einen regionalen Krieg auslösen könnte, der unter anderem die konterrevolutionären Bemühungen des Mullah-Regimes unterstützen könnte, seine Basis gegen einen imperialistischen Angriff zu mobilisieren.

Wirtschaftliche Verheerungen

128. Abgesehen von den Golfmonarchien – für die die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste globale Energiekrise eine Gelegenheit darstellte, ihre reichhaltigen Öl- und Gasreserven zu nutzen, um ihre Position auf der Weltbühne zu stärken – wurde die Region von den Auswirkungen dieses Krieges besonders hart getroffen, vor allem weil die meisten Länder sehr stark von Weizenimporten aus Russland und der Ukraine abhängig sind (im Falle Ägyptens zu 80 %). 

129. Der Krieg hat jedoch eine ohnehin schon kritische Situation nur noch verschlimmert. Laut der Umfrage des Arabischen Barometers gaben schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine mehr als 50 % der Befragten in mehr als der Hälfte der MENA-Länder an, dass ihnen die Lebensmittel ausgingen, bevor sie Geld hatten, um weitere Lebensmittel zu kaufen. Der IWF geht davon aus, dass die Inflation in der Region im Jahr 2022 bei 14,1 % liegen wird - weit über dem weltweiten Durchschnitt. 

130. Der massive Anstieg der Brotpreise war ein wichtiger Grund für die Streikwelle in Ägypten in den Jahren 2007-8 – die größte in der Geschichte des Nahen Ostens –, die den Weg für den Massenaufstand von 2011 ebnete, der das Regime von Hosni Mubarak stürzte. Ganz allgemein waren die steigenden Preise für Lebensmittel und Grunderzeugnisse vor dem Hintergrund der geringen Beschäftigungsmöglichkeiten für die stark unterdrückte Jugend ein zentraler Auslöser für die revolutionäre Welle, die damals die Region erfasste.

131. Da mehrere regionale Regierungen mit einer Schuldenspirale zu kämpfen haben, drängt der IWF sie dazu, im Gegenzug für neue Kredite brutale Sparmaßnahmen zu ergreifen, darunter auch die äußerst heikle Frage der Kürzung von Subventionen für Grundgüter. Vor dem Hintergrund einer enormen Lebenshaltungskostenkrise könnte dies Millionen von Menschen an den Rand des Abgrunds bringen und die Lebensfähigkeit einer Reihe der derzeitigen Regime und Regierungen in Frage stellen. 

132. Das extremste Beispiel ist der dreijährige wirtschaftliche Zusammenbruch im Libanon, der 2020 zahlungsunfähig wurde und im April 2022 eine vorläufige Einigung mit dem IWF über magere 3 Mrd. USD an bedingter "Hilfe" erzielte. Das hochgradig korrupte politische Regime, das auf einer konfessionellen Teilung der Macht basiert und sich in einer chronischen Sackgasse befindet, setzt solche Maßnahmen um, würde aber den Reichtum der herrschenden Elite nicht beschlagnahmen oder auch nur ankratzen, obwohl sich die Steuereinnahmen seit 2019 mehr als halbiert haben. Der geschäftsführende Ministerpräsident Najib Mikati ist ein Telekommunikationsmagnat, der reichste Mann im Libanon und der viertreichste in der arabischen Welt. Die Situation ist so grotesk, dass selbst der IWF erkannte, dass jenseits der fiskalischen Berechnungen jegliches Vertrauen in das Steuersystem verloren gegangen ist, und rief aus: "Die Unterbesteuerung der Wohlhabenden, hauptsächlich der Nicht-Lohnempfänger*innen, schwächt die Einnahmen, die Rolle der Steuerpolitik bei der Einkommensumverteilung und die Steuermoral. Auch die Defizite bei der Unternehmensbesteuerung sollten angegangen werden". Natürlich ruft der IWF dazu auf, die regressive Besteuerung über die Mehrwertsteuer und die Verbrauchssteuer auf Diesel zu erhöhen. 80 % der Bevölkerung leben offiziell in Armut, und mehr als 2 Millionen Menschen, d. h. mehr als ein Drittel der Bevölkerung, sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Etwaige magere Einkünfte werden durch die Hyperinflation, die auf fast 200 % in die Höhe geschnellt ist, zunichte gemacht. Die Basisinfrastruktur, einschließlich Wasser- und Stromversorgung, ist äußerst mangelhaft. Kinderarbeit und Kinderheirat sind auf dem Vormarsch. Die Menschen sind mit strengen Beschränkungen bei der Abhebung von Bankguthaben konfrontiert, und viele haben sich in dieser schwierigen Lage ihr Geld mit Gewalt geholt. Der öffentliche Sektor wurde durch Streiks wegen der Hungerlöhne erschüttert. Insbesondere Lehrer*innen mobilisierten zu Protesten und Streiks, darunter auch organisierte Proteste, bei denen die UNICEF, die predigte, Kinder wieder in die Schule zu bringen, aufgefordert wurde, die Löhne und Gehälter für Lehrer*innen syrischer Geflüchteter zu erhöhen und in US Dollar zu bezahlen. So mischt sich Verzweiflung mit militanten und aufrührerischen Elementen.

133. Seit dem Krieg in der Ukraine hat eine neue Welle von Protesten bereits Teile der Region erschüttert. Neben Jordanien und Ägypten auch Libyen, ein Land, das in den letzten zehn Jahren durch wiederholte Bürgerkriege zerrissen wurde. Im Juni 2022 stürmten Tausende das Parlament im Osten des Landes und setzten es in Brand, während in der Hauptstadt Tripolis große Proteste gegen die ständigen Stromausfälle, den Mangel an Arbeitsplätzen und die steigenden Preise für grundlegende Güter stattfanden, bei denen alle herrschenden Eliten aufgefordert wurden, die Macht abzugeben. Es war das erste Mal seit dem Sturz von Muhamar Gadafi vor 12 Jahren, dass sich die libyschen Massen in dieser Weise auf der politischen Bühne zurückmeldeten. 

134. Während diese explosive Bewegung das Potenzial für einen kollektiven Kampf über territoriale und stammesbedingte Grenzen hinweg erkennen ließ, führte das Fehlen einer Führung dazu, dass sie relativ schnell wieder verpuffte. Gegenwärtig entbrennt zwischen den Führern der beiden konkurrierenden Regierungen des Landes erneut ein Machtkampf, der in ein komplexes Geflecht regionaler Machtinteressen eingebettet ist und zu größeren militärischen Zusammenstößen und sogar zu einem neuen Bürgerkrieg führen könnte. 

135. Die sich verschlimmernde Sackgasse, in der sich die Region durch die Fortführung der kapitalistischen Verhältnisse befindet, und das Fehlen einer klaren Alternative haben dazu geführt, dass eine Schicht der Massen, die durch den ausbleibenden Wandel nach dem so genannten "Arabischen Frühling" desillusioniert ist, den Blick in die Vergangenheit richtet. In Libyen schwenkten einige Demonstrant*innen die grünen Fahnen des ehemaligen Gaddafi-Regimes, während im Irak Berichten zufolge eine bedeutende Minderheit sich nach der Ära Saddam Hussein sehnt. In Tunesien liegt die Freie-Destur-Partei (PDL), eine unverhohlene Pro-Ben-Ali-Partei, die nostalgisch die Tugenden der vorrevolutionären Epoche preist, in den Umfragen vorn, wobei sie von der Verzweiflung der meist älteren Menschen profitiert. 

136. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der gesamten Region unter der Masse der Arbeiter*innen und jungen Menschen eine tiefe soziale Wut und Ablehnung des gesamten verrotteten Establishments vorherrscht. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung (30 %) bei den Wahlen für eine neue Verfassung, die die Ein-Mann-Herrschaft des tunesischen Präsidenten Saied stützen soll, hat gezeigt, dass die starke Unterstützung, die dieser zum Zeitpunkt seines Putsches vor einem Jahr auf der Straße hatte, bereits stark geschwunden ist. Die tunesische Presse ist voll von Hinweisen auf eine bevorstehende soziale Explosion. 

137. Vor allem in Zeiten, in denen sich die Kämpfe auf einem Tiefpunkt befinden und prominente linke Reaktionen ausbleiben, können sich die Spannungen auch auf reaktionäre Art und Weise entladen. Sowohl in der Türkei als auch im Libanon, wo die arbeitende Bevölkerung und die Armen mit einer Masseninflation zu kämpfen haben, nimmt die demagogische, rassistische „Sündenbock“-Bezeichnung für syrische Flüchtlinge zu. Dies wird von den herrschenden Eliten angeheizt, welche versuchen, die Wut über die tiefe Wirtschaftskrise von sich wegzulenken. In beiden Ländern wurden vor diesem Hintergrund groß angelegte Abschiebungen von syrischen Flüchtlingen zurück nach Syrien eingeleitet. 

138. Im Irak und im Libanon haben die politischen und institutionellen Krisen, die Lähmung und die internen Machtkämpfe an der Spitze eine neue Qualität erreicht. Die Massenaufstände des Jahres 2019 waren zwar erfolglos, haben aber das enorme Ausmaß der Wut auf die korrupten herrschenden Eliten und die schwindende soziale Basis der dominierenden sektiererischen Gruppierungen offenbart. Die sinkende Wahlbeteiligung bei jeder Wahl in diesen Ländern und der Durchbruch unabhängiger Kandidat*innen, die mit der Bewegung 2019 in Verbindung gebracht werden, bei den letzten Wahlen (Mai '22) im Libanon (trotz einer Minderheitsbeteiligung) zeigen, dass eine wachsende Schicht nach Antworten außerhalb der traditionellen Kanäle der sektiererischen Parteien und Koalitionen sucht, die die politische Szene in den letzten Jahrzehnten dominiert haben. 

139. In einem zutiefst destabilisierten regionalen Umfeld ist auch der israelische Kapitalismus in eine tiefere politische Krise geraten, die in der Instabilität der barbarischen Besatzung, der Belagerung, der nationalen Unterdrückung und der kolonialen Enteignung von Millionen Palästinenser*innen, den regionalen Spannungen und dem relativen Niedergang des US-Imperialismus sowie einer unterminierten sozialen Basis für die bürgerliche "Mitte" vor dem Hintergrund einer Reihe sozialer Krisen wurzelt. Das Comeback von Netanjahu im Bündnis mit einer ermutigten extremen Rechten auf der Grundlage von weniger als der Hälfte der Stimmen bei den Wahlen im November '22 - den fünften in weniger als vier Jahren - und die schlechtesten Ergebnisse, die die so genannte "zionistische Linke" je erzielt hat, stellen eine neue Etappe in einer historischen politischen Krise dar, in der die herrschende Klasse weiter die Kontrolle über den politischen Prozess verliert.

140. Die autoritäre Gegenreform der Justiz, die die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs beschneiden und mehr Macht in der Regierung konzentrieren soll, ist ein versuchter Schritt in eine bonapartistische Richtung, aber eher eine Karikatur seiner Parallelen in der Türkei oder Osteuropa. Dies wird nicht nur vom Großteil der herrschenden Klasse abgelehnt, die dies derzeit als Verlust von Sicherheitsventilen betrachtet, sondern hat sich auch bei der Basis von Netanjahus Block als unpopulär erwiesen. Es hat einen noch nie dagewesenen offenen Machtkampf zwischen der Regierung und dem Obersten Gerichtshof ausgelöst und den bürgerlichen Anti-Netanjahu-Block dazu veranlasst, sich außerhalb des Parlaments zu versammeln, um die Stimmung des massenhaften Widerstands gegen die Regierung zu nutzen, mit Mobilisierungen von über 100.000 Menschen, den größten seit vielen Jahren.

141. Die Bürokratie der Histadrut hat sich geweigert, hier einzugreifen, und überließ das Feld der bürgerlichen Führung, der es definitiv gelungen ist, mit ihrer engstirnigen, etablierungsfreundlichen und national-chauvinistischen Tagesordnung die unterdrückteren Schichten der Arbeiter*innenklasse und der arabisch-palästinensischen Gemeinschaft fernzuhalten.

142. Die Idee eines Generalstreiks wurde nicht von der rechten, pro-kapitalistischen, streikfeindlichen Führung der Histadrut auf die Tagesordnung gesetzt, sondern von der verzweifelten Anti-Netanjahu-Bourgeoisie, die sich plötzlich gezwungen sah, implizit die Macht der organisierten Arbeiter*innen anzuerkennen, die sie auf zynische Weise für den Kampf um ihre eigene Tagesordnung nutzbar machen wollte.

143. Die Lebenshaltungskostenkrise ist eine noch größere Achillesferse für diese Regierung, die selbst die Hisatdrut-Bürokratie seit letztem Jahr zu einer schleppenden, aber eskalierten Konfrontation mit der Regierung und dem Großkapital getrieben hat, mit begrenzten Protesten, die jedoch zum ersten Mal seit Jahren Delegationen aus den Betrieben für einen landesweiten Kampf mobilisiert haben.

144. Die frühere Bennett-Lapid-Koalition der "Regierung des Wandels" brach vor allem aufgrund des von der anhaltenden Krise des Besatzungsregimes ausgehenden Zersetzungsdrucks zusammen. Um die Besatzung aufrechtzuerhalten, tötete das "Change Government" im Jahr 2022 mehr Palästinenser*innen im Westjordanland als in jedem anderen Jahr der vorangegangenen zehn Jahre der Netanjahu-Regierungen. Vor dem Hintergrund zunehmender nationaler Spannungen kam es vermehrt zu wahllosen Angriffen auf Israelis. Für die wieder erstarkende israelische extreme Rechte öffnete sich ein Raum, in dem sie die chauvinistische Sicherheitsdemagogie, die Logik der "militärischen Lösung" und die staatliche Repression für "Sicherheit" weiter ausbauen konnte.

145. Jetzt, da die israelische extreme Rechte die Macht in der Regierung stärker denn je in den Händen hält, sind weitere Gräueltaten im Gazastreifen, im Westjordanland, in Ostjerusalem, innerhalb der Grenze von vor 1967 und in der Region im Gange. Dies hat jedoch auch Auswirkungen auf den israelischen Kapitalismus, nicht nur im Hinblick auf destabilisierende Effekte vor Ort, sondern auch, weil diese Entwicklung den geostrategischen israelisch-arabischen "Normalisierungs"-Prozess untergräbt, der militärische und wirtschaftliche Beziehungen und eine gewisse Zusammenarbeit in der Rivalität mit dem iranischen Regime beinhaltet. Der saudi-arabischen Monarchie würde es unter den gegenwärtigen Umständen schwer fallen, trotz jahrelanger "inoffizieller Normalisierung" von ihrer offiziellen Haltung abzurücken, die Normalisierung von der Anerkennung eines palästinensischen Staates abhängig zu machen. Angesichts neuer Angriffe auf die Palästinenser*innen und rund um die Al-Aqsa-Moschee sind Spannungen zwischen der neuen israelischen Regierung und anderen Regimen in der Region - mit oder ohne offizielle Beziehungen - unvermeidlich und werden sich auch in Zukunft fortsetzen.

146. Die unpopuläre Palästinensische Autonomiebehörde (PA) unter dem fast 90-jährigen autokratischen Präsidenten Abbas befindet sich in einer immer tieferen Legitimationskrise. Der Biss der Wirtschaftskrise hat Anfang letzten Jahres die "Wir wollen leben"-Proteste (Bidna N`ish) ausgelöst, und die Wut über die israelische Offensive hat die Stimmung gegen Abbas und die PA, die letztlich als Subunternehmer der israelischen Besatzung und des Kapitalismus gilt, mit der verhassten "Sicherheitskollaboration" und dem wirtschaftlichen Pariser Protokoll weiter angeheizt. Im September kollidierte eine Verhaftungsaktion der PA-Kräfte in Nablus mit einem heftigen bewaffneten Protest der Jugend. In den wichtigsten palästinensischen Städten im Westjordanland gären Elemente des Volkskampfes, zusammen mit kleinen fraktionsübergreifenden unabhängigen bewaffneten Jugendgruppierungen wie der "Höhle der Löwen" in Nablus, dem "Hornissennest" im Flüchtlingslager von Jenin und Berichten zufolge ähnlichen beginnenden Formationen anderswo. Diese neuen Formationen stehen für den entschlossenen Kampf einer neuen, sich radikalisierenden Generation, die die falschen Versprechungen "diplomatischer Lösungen" satt hat und mutige Initiativen ergreift, um die Notwendigkeit des organisierten Kampfes und der Selbstverteidigung anzusprechen und letztlich eine Revolution der nationalen und sozialen Befreiung anzustreben. Neben dem Partisanenkrieg und der Einbindung in die Mobilisierung des Volkskampfes gibt es offenbar auch Elemente, die sich dem Staatsterrorismus und den Angriffen der Siedler mit wahllosen Angriffen entgegenstellen und mit Repressalien zu kämpfen haben. Dies verdeutlicht die Gefahren und die Bedeutung einer verstärkten Vorbereitung, indem Lehren aus vergangenen Kämpfen gezogen werden, insbesondere wenn Phasen des Massenkampfes, selbstorganisiert über Volkskomitees, am bemerkenswertesten in der mächtigen ersten Intifada, die Besatzung wirksam herausgefordert haben, während isolierte Geheimmilizen unterdrückt wurden und Methoden des individuellen Terrorismus als Vorwand für noch brutalere Gräueltaten gegen die Palästinenser*innen dienten.

147. In jüngster Zeit ist als Reaktion auf die Aggressionen des israelischen Staates die Tradition der Proteststreiks des Volkes stärker in den Vordergrund getreten, neben einem verstärkten Element von Arbeitsstreiks in israelischen Unternehmen - mit dem erstaunlichen Beispiel des gesamtpalästinensischen "Streiks der Würde" auf beiden Seiten der Grenze von 1967 im Mai '21 und einer Reihe von Proteststreiks in jüngerer Zeit. Die Verknüpfung von Volksmobilisierungen mit demokratischer Selbstorganisation würde die Bewegung in die Lage versetzen, Strategie und Taktik besser zu entwickeln und ihre eigene koordinierte bewaffnete Verteidigung zu kontrollieren, und könnte die Methoden des kollektiven, klassenbasierten Widerstands durchsetzen.

148. Das völlige Scheitern des "Jeder-gegen-jeden"-Ansatzes im Kampf gegen Netanjahu in Israel enthält wichtige politische Lehren für andere Länder. Dies gilt insbesondere für die Linke in der Türkei, da ein Teil der Führung der pro-kurdischen und linksreformistischen Demokratischen Volkspartei (HDP) um den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş bei den kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 faktisch für einen "Jeder-außer-Erdoğan"-Ansatz plädiert. Dies würde bedeuten, dass die HDP den wichtigsten bürgerlichen Oppositionskandidaten unterstützt, anstatt eine*n eigene*n Kandidat*in aufzustellen und eine unabhängige linke Alternative zu fördern.

149. Natürlich wird das Bedürfnis, mit Erdoğans Regime Schluss zu machen, ein treibendes Element in der Stimmung vieler Arbeiter*innen und junger Menschen sein. Einige der sechs Parteien, aus denen sich der derzeitige pro-kapitalistische Oppositionsblock (die "Allianz der Nationen") zusammensetzt, stehen jedoch objektiv rechts von der regierenden AKP, sind für Angriffe auf demokratische Rechte bekannt (einschließlich - ironischerweise - der Unterstützung des Regimes bei der Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der HDP) und treten für türkischen Chauvinismus und die Militäroperationen des Staates gegen die Kurd*innen ein.

150. Die HDP könnte immer noch daran gehindert werden, zu kandidieren - da eine vom Regime geleitete Gerichtsanklage ihr völliges politisches Verbot anstrebt -, was die Versuchung der Führung verstärken könnte, Kandidat*innen auf den Listen der großen bürgerlichen Parteien aufzustellen, anstatt als unabhängige zu kandidieren. Sollte dieses Szenario eintreten, würde es die politische Identität der HDP ernsthaft verwässern und gefährden. In Verbindung mit einer wahrscheinlichen Verschärfung der staatlichen Repression würde dies den Prozess des Wiederaufbaus einer eindeutig linken Kraft mit einem Massenpublikum in der Türkei ernsthaft zurückwerfen (obwohl die Nachricht vom Verbot auch eine Explosion der Wut auslösen könnte, insbesondere in den kurdischen Gebieten). Unter diesen Bedingungen ist es umso wichtiger und dringlicher, dass sich die HDP zusammen mit den anderen linken Parteien (wie der Arbeiterpartei der Türkei, TIP), linken Gewerkschaften und pro-kurdischen Organisationen zusammenschließt, um sich aktiv gegen die Auflösung der HDP zu wehren und zu mobilisieren, ein von allen pro-kapitalistischen Oppositionsparteien unabhängiges Profil anzunehmen und ein kämpferisches Programm und Kandidat*innen zu präsentieren, die während und nach den Wahlen einen Weg für die Arbeiter*innenklasse, die Jugend und die Unterdrückten aufzeigen können.

Brisante Spannungen

151. Die zunehmenden militärischen Angriffe und Luftangriffe der israelischen Armee auf vom Iran unterstützte Ziele in Syrien, die groß angelegten Bombardierungen des iranischen Regimes in Irakisch-Kurdistan, die zunehmenden Angriffe und Bombardierungen des türkischen Staates gegen die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens, die erneute Gefahr eines bewaffneten Konflikts zwischen Algerien und Marokko wegen der Westsahara-Frage, die eskalierenden militärischen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei im Mittelmeer – all dies deutet darauf hin, dass sich die Risiken und potenziellen Krisenherde für neue regionale Kriege häufen. Dies und die zunehmende Schwere der Klimakrise in der Region erhöhen die Dringlichkeit einer revolutionären sozialistischen Antwort, die unter den Arbeiter*innen, Unterdrückten und Armen in der Region Fuß fassen muss. 

152. Nach einem sechsmonatigen Waffenstillstand wütet der gnadenlose Krieg im Jemen wieder. Der Presidential Leadership Council (PLC), der im April 2022 von Riad und Abu Dhabi gebildet wurde, um zu versuchen, das Anti-Houthis-Lager zu vereinen, ist bereits von Krisen und Machtkämpfen zerrüttet und hat einmal mehr unterstrichen, dass das saudische und das emiratische Regime nicht demselben Drehbuch folgen. Dies, die Zunahme von Terroranschlägen durch Al-Qaida-Gruppen im Südjemen, und die Tatsache, dass die Huthis in der Lage sind, Drohnen- und Raketenangriffe auf Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate durchzuführen, zeigen, dass der von Saudi-Arabien geführte Krieg trotz der Flut von Zerstörungen und Gräueln, die er im Jemen ausgelöst hat, keines seiner Ziele erreicht hat. 

153. Die Beziehungen zwischen Bidens Regierung und der saudischen Führung, die von der Bezeichnung Mohamed Bin Salmans als Paria über die Umwerbung und die Androhung einer Überprüfung der Zusammenarbeit zwischen den USA und Saudi-Arabien bis hin zur Gewährung rechtlicher Immunität im Zusammenhang mit der Ermordung Khashoggis reichten, waren eine steinige Angelegenheit, die beispielhaft für die extreme Fluidität der gegenwärtigen regionalen Beziehungen im Kontext wichtiger globaler geopolitischer Neuausrichtungen ist. Wie bei den Gesprächen zwischen Peking und Riad über die Festsetzung der Preise für einige Ölverkäufe an China in Yuan bedeutet die Absprache der saudischen und emiratischen Herrscher mit Russland im Rahmen der Opec+ zur Drosselung der Ölproduktion nicht, dass erstere sich entschlossen in die Umlaufbahn Russlands und Chinas begeben; es ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass sie ihre strategischen Energiereserven nutzen, um sich eine unabhängigere Rolle zu sichern. 

Afrika südlich der Sahara 

154. Die afrikanischen Länder südlich der Sahara befinden sich im Zentrum der globalen Krisen des Kapitalismus und Imperialismus. Die ohnehin schon extremen Ungleichheiten, die Verschuldung und die Ernährungsunsicherheit haben sich durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine noch verschärft (Afrika insgesamt bezog vor Ausbruch des Konflikts fast die Hälfte seines Weizens aus Russland und der Ukraine). 

155. Aufgrund seiner besonderen Anfälligkeit für imperialistische Handelsbeziehungen und den Klimawandel sind die Auswirkungen der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara weltweit am stärksten. Nach Angaben der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation sind 33 afrikanische Länder auf Nahrungsmittelhilfe von außen angewiesen. Allein am Horn von Afrika stehen Dutzende Millionen Menschen am Rande des Hungertodes, da die Auswirkungen einer verheerenden Dürre durch den tödlichen Krisencocktail des Kapitalismus' und jahrzehntelange bewaffnete Konflikte noch verstärkt werden. 

156. Trotz des jüngsten prekären Friedensabkommens (wohl eine "dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten"), das zwischen der Zentralregierung von Abiy Ahmed und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) geschlossen wurde, ist der äußerst brutale Krieg in Äthiopien, der zum Teil durch die militärische Unterstützung des Regimes durch regionale Akteure und imperialistische Mächte wie China, die Türkei, den Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und Eritrea genährt wird, noch nicht vorbei und droht weiterhin, das Land zu zerreißen, was weitreichende Folgen hat. Darüber hinaus ist Tigray nicht mehr die einzige militärische Front für das Regime, da es auch gegen das Wiederaufleben eines bewaffneten Aufstandes in Teilen der Region Oromia kämpft.

157. Die meisten afrikanischen Länder sind in hohem Maße vom Rohstoffexport abhängig, so dass die weltweite Rezession ihnen weitere schwere Schläge versetzen wird. In Verbindung mit der Verschärfung der Kreditaufnahmebedingungen auf den Finanzmärkten signalisiert dies eine Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher Turbulenzen und verschärfter Klassengegensätze in Afrika. Eine wachsende Zahl von Staaten sieht sich mit dem Schreckgespenst der Zahlungsunfähigkeit konfrontiert. Um die Verluste auszugleichen, zwingen die Regierungen auf dem gesamten Kontinent die Massen zu weiterer Verarmung, was Oxfam treffend als "Austerität auf Steroiden" bezeichnet hat. 

158. Vor diesem Hintergrund wird eine Reihe afrikanischer Länder, die von bürgerlichen Analysten einst als relativ "stabil" gepriesen wurden, von Umwälzungen erschüttert. Dies gilt sowohl im sozialen Bereich (die Proteste in Sierra Leone im vergangenen Jahr sind ein Beispiel dafür) als auch im politischen Bereich. Sowohl Burkina Faso als auch Mali, die vor nicht allzu langer Zeit noch als die politisch stabilsten Länder Westafrikas galten, wurden seit 2020 von gleich zwei Militärputschen erschüttert. Zusammen mit den Putschen im Tschad, in Guinea und im Sudan verdeutlicht diese Häufung von Putschen die Sackgasse, in der sich die herrschenden Eliten befinden, und die zunehmende Zersetzung der (ohnehin schon schwachen) bürgerlich-demokratischen Herrschaftsformen in der gesamten Region, sofern es solche Formen gibt. Das Gleiche gilt für die immer wiederkehrenden Versuche amtierender Präsident*innen, die Verfassungen zu manipulieren, um ihre Amtszeit zu verlängern, wie es in Côte d'Ivoire im Jahr 2020 geschah und worauf die Entwicklungen nun auch im Senegal und in der Zentralafrikanischen Republik hindeuten. 

159. In einer Reihe afrikanischer Länder zeigt sich dieser Verfall auch darin, dass die regierenden Parteien und Politiker*innen zunehmend auf Straßenschläger zurückgreifen, die sie aus dem großen Pool entfremdeter und arbeitsloser Jugendlicher und des Lumpenproletariats rekrutieren, um politische Gegner einzuschüchtern und die repressive Rolle der staatlichen Kräfte zu ergänzen, von den sogenannten "Zogos" in Liberia bis zu den "Mikroben" in Côte d'Ivoire.

160. Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Krise, die ihre Herrschaft beeinträchtigt, schüren die herrschenden Klassen auch tribalistische und fremdenfeindliche Gefühle, wie sie vielleicht am dramatischsten in Südafrika in der wachsenden Flut staatlich geförderter Sündenbock-Zuweisungen für arme schwarze Migrant*innen und Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern zum Ausdruck kommen. 

161. Diese Elemente deuten auf verschiedene Wege hin, mit denen die herrschenden Klassen versuchen, dasselbe allgemeine Merkmal einzudämmen: eine massenhafte Desillusionierung und überschäumende Wut gegenüber den korrupten herrschenden Parteien und Führer*innen auf dem ganzen Kontinent. Diese Stimmung spiegelt sich in allen jüngsten Wahlen wider, wie im Senegal, wo zum ersten Mal überhaupt eine Regierungskoalition keine absolute Mehrheit im Parlament hat, oder in Kenia, wo die Präsidentschaftswahlen eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen in der Geschichte verzeichneten. 

162. In Nigeria spiegelt der rasante Anstieg der Unterstützung für den Präsidentschaftskandidaten der Labour Party, Peter Obi, und die "Obidient"-Bewegung, auch wenn sie voller Widersprüche ist (Obi ist selbst ein reicher Geschäftsmann mit einem Hintergrund im Establishment), eine verwirrte Ablehnung der beiden großen bürgerlichen Parteien wider, die bereits in dem populären Slogan "weder PDP noch APC" zum Ausdruck kam, der während der #EndSars-Bewegung geäußert wurde, die Obi angeblich unterstützt.

163. In Südafrika steht das Dreierbündnis zwischen der SACP, dem Gewerkschaftsverband COSATU und dem ANC, das die Herrschaft des ANC seit dem Ende der Apartheid gesichert hat, kurz vor dem Zusammenbruch, da sich die Widersprüche in der Regierungspartei rapide verschärfen. Die Delegierten des COSATU-Kongresses im August 2022 verweigerten dem ehemaligen ANC-Generalsekretär Gwede Mantashe das Wort und erzwangen eine Resolution zur Abstimmung über den Verbleib im Dreierbündnis. Die Weigerung, die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst um mehr als 3 % zu erhöhen, zeigt, dass der ANC nicht in der Lage ist, seine Rolle als Vertreter der Unternehmer*innenklasse mit seiner Abhängigkeit von der Arbeiter*innenklasse zu vereinbaren. Obwohl bestimmte Teile der COSATU-Führung versuchen, weiterhin die Rolle zu spielen, auf die sich der ANC verlässt - die Unzufriedenheit der Arbeiter*innen im Keim zu ersticken und sie kontrolliert freizusetzen -, wird es schwieriger denn je.  

164. Im Dezember 2022 verteidigte der Milliardär Cyril Ramaphosa seine Präsidentschaft auf dem turbulenten 55. Kongress des ANC. Ramaphosa besiegte den ehemaligen Gesundheitsminister und ANC-Generalschatzmeister Zweli Mkhize, obwohl er wegen eines Raubskandals auf seiner Phala-phala-Wildfarm angeklagt wurde und beinahe zurückgetreten wäre. Der COSATU, der zumindest symbolisch die Stimme der Arbeiter*innen im Dreierbündnis vertritt, wurde zum ersten Mal vollständig aus dem Nationalen Exekutivausschuss des ANC ausgeschlossen. Die neue ANC-Führung hat den Schleier der Mehrklassenpartei, als die sie sich ausgibt, effektiv abgelegt und wird die neue Ära möglicher Koalitionsregierungen anführen, mit denen der ANC konfrontiert sein wird, um an der Macht zu bleiben.

165. Das Ergebnis dieses Kongresses wird nicht nur die Krise des ANC vertiefen, sondern auch die der wichtigsten politischen Parteien des Kapitalismus, insbesondere der DA und der EFF. Das Wachstum und die Wahlgewinne dieser Parteien in den letzten zehn Jahren basierten auf den inkompetenten, unverschämten und unverfrorenen Elementen der Korruption in Zumas Regierung. Für die Kapitalist*innenklasse und weite Teile der Mittelschicht ist Ramaphosa jedoch die einzige brauchbare Alternative dazu. Dies hat das Wachstum der DA gebremst und sie teilweise in ihre derzeitige Implosion gestürzt.

166. Die so genannte Radical Economic Transformation-Fraktion um Zuma im ANC und andere Populist*innen und Parteien wie Operation Dudula und ActionSA nutzen das Fehlen einer echten Alternative für die Arbeiter*innenklasse, um sie zu spalten. Solche reaktionären Elemente nutzen fremdenfeindliche Gefühle im Kontext von Massenarbeitslosigkeit und Verzweiflung aus und schüren sie.

167. Die zunehmenden Stromausfälle aufgrund von Plünderungen und Korruption in der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft ESKOM und das Versäumnis, eine höhere Stromerzeugung und notwendige Wartungsarbeiten zu planen, werden zu weiteren Arbeitsplatzverlusten bei einer verheerenden Arbeitslosenquote von 43,1 % und einer weiteren Stagnation des Wirtschaftswachstums führen. Darüber hinaus haben die im Januar angekündigten Erhöhungen der Stromtarife um 18,65 % eine massive Wut ausgelöst. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hat die organisierte Arbeitnehmerschaft diesen Moment nicht genutzt, um positive Forderungen nach einem raschen Ausbau der erneuerbaren Energien zur Deckung des Kapazitätsbedarfs vorzubringen. Es wird immer wahrscheinlicher, dass rechtsliberale Parteien wie die Demokratische Allianz die Massenunzufriedenheit in eine beschleunigte Privatisierungskampagne lenken werden.

168. Die Misserfolge des ANC nehmen rapide zu und spiegeln die unüberbrückbaren Differenzen innerhalb der Regierungspartei wider. Dies bedeutet, dass eine Spaltung der Regierungspartei und ihres Bündnisses zu erwarten ist. Die gegenwärtige wirtschaftliche Situation, zusammen mit den Klassenkonflikten um die Löhne im öffentlichen Dienst und den von den Gewerkschaften geführten Kampagnen gegen die Krise der Lebenshaltungskosten, bedeutet, dass diese neue Periode wahrscheinlich von verschärften Konflikten zwischen der Arbeiter*innenklasse und der Kapitalist*innenklasse geprägt sein wird, wobei letztere vom ANC angeführt wird. Es ist klar, dass die einzige Kraft, die einen Ausweg aus der politischen Krise des Establishments bieten kann, die organisierte Arbeiter*innenbewegung ist.

Der französische Imperialismus in der Krise 

169. Die dramatische Ausbreitung der Gewalt in der Sahelzone im letzten Jahrzehnt, die durch die NATO-geführte Intervention in Libyen im Jahr 2011 und die "Operation Barkhane" (die militärische Intervention französischer Streitkräfte in der Sahelzone) ab 2014 noch verstärkt wurde, war ein wichtiger Faktor, um die Wut der Massen in West- und Zentralafrika auf die zivilen Regime zu schüren, die nachweislich versagt haben, die besagte Gewalt einzudämmen – und um die Illusion zu nähren, dass die "Männer in Uniform" die Dinge anders handhaben würden. 

170. Dies weist auf ein kontinentweites Problem hin: Neben den imperialistischen Interventionen nähren der fehlende Zugang zu Land, Wasser und anderen Ressourcen sowie die sehr hohe Arbeitslosigkeit verschiedene Formen der Gewalt: Zusammenstöße zwischen Hirten und Ackerbäuer*innen, das Aufkommen von bewaffnetem Banditentum, dschihadistischer Terror, usw. Zusammen mit Kriegen und dem Klimawandel haben all diese Faktoren dazu beigetragen, dass die Zahl der Binnenvertriebenen in den letzten Jahren in ganz Subsahara-Afrika explosionsartig angestiegen ist. 

171. In Burkina Faso, Mali und Niger (wo es im vergangenen März auch einen gescheiterten Staatsstreich gab) haben sich die Terroranschläge seit 2016 verfünffacht. Diese Situation hat auch die Unzufriedenheit in den Reihen der Streitkräfte dieser Länder geschürt, die gezwungen sind, gegen islamistische Aufständische und andere bewaffnete Gruppen zu kämpfen, ohne eine angemessene militärische Ausrüstung oder eine angemessene Bezahlung zu erhalten. Die Putsche sind auch ein Versuch, diese Stimmung zu kanalisieren und größeren Meutereien vorzubeugen. 

172. Der französische Imperialismus befindet sich in einer tiefen Krise seines Einflusses auf dem Kontinent, vor allem in seinen ehemaligen Kolonien. Diese Krise wurde durch das katastrophale Ergebnis der Operation Barkhane, die Macron Anfang letzten Jahres beenden musste, noch beschleunigt. Sie hat zu weiterer Gewalt, Vertreibung und Elend geführt und dazu beigetragen, dass sich in der gesamten Region eine Stimmung gegen den französischen Imperialismus herausgebildet hat. Lokale Militäroffiziere haben diese Stimmung ausgenutzt, um die Macht an sich zu reißen, wobei sie sich einer "patriotischen" und "antiimperialistischen" Rhetorik bedienten, um von den wachsenden sozialen Widersprüchen abzulenken, mit denen sie konfrontiert waren. 

173. Anders als im Sudan und im Tschad, wo die Militärputsche von Personen angeführt wurden, die in direktem Zusammenhang mit der heruntergekommenen herrschenden Elite standen, genoss die Armee in Guinea, Mali und Burkina anfangs eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung, die des Versagens der politischen Eliten, der Korruption, der wirtschaftlichen Not und der Unsicherheit überdrüssig war. Im Grunde genommen waren diese Putsche jedoch eine Reaktion der Militärs, die darauf abzielten, die sich in der Gesellschaft aufbauende Massenunzufriedenheit zu unterbrechen, zu kontrollieren und in Bahnen zu lenken, die für das System nicht bedrohlich sind. In Mali und Burkina Faso hat die Unfähigkeit der Militärs, die Versprechen einzulösen, die sie an die Macht gebracht hatten, bereits zu einem "Putsch im Putsch" geführt. Da die neuen Militärjuntas nichts grundlegend anderes zu bieten haben, steht ihnen ein langwieriger Prozess der politischen Instabilität bevor. 

Neuer Kalter Krieg 

174. Diese Instabilität ist sowohl ein Nebenprodukt als auch ein Verstärker der imperialistischen Rivalitäten auf dem Kontinent, die sich seit dem Krieg in der Ukraine verschärft haben. Die neuen Juntas haben versucht, ihre Loyalitäten auszugleichen, indem sie Frankreich gegen Russland ausspielten, wobei letzteres in der Destabilisierung des französischen Imperialismus in dessen ehemaligem kolonialen Hinterhof eine Chance für sich gesehen hat. 

175. Die ungewöhnlich zahlreichen Besuche, die Macron, Blinken, Lawrow usw. in letzter Zeit in Afrika abgestattet haben, zeigen, dass alle großen Imperialist*innen versuchen, die afrikanischen Regierungen in einer Zeit wachsender globaler Spannungen zu umwerben. Der große Vormarsch Chinas auf dem Kontinent in den letzten Jahrzehnten ist ein weiterer wichtiger und wachsender Grund zur Sorge für die westlichen Mächte. Die bedeutenden Gas-, Kohle- und Ölvorkommen des Kontinents rücken ihn in den Mittelpunkt der verstärkten Bemühungen der europäischen Regierungen, neue Energiequellen außerhalb Russlands zu erschließen, und sind ein wesentlicher Bestandteil dieser erneuerten zwischenimperialistischen Rivalität. Auch die neokolonialen Staaten versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen imperialistischen Blöcken herzustellen, um möglichst viele Zugeständnisse von beiden Lagern zu erhalten.

176. So sind beispielsweise die Kohleexporte aus Südafrika nach Europa im ersten Halbjahr 2022 um 720 % gestiegen - von einer halben Million Tonnen im ersten Halbjahr 2021 auf 4,1 Millionen Tonnen im ersten Halbjahr 2022. Gleichzeitig hat Südafrika sein Engagement für die Stärkung der Beziehungen in der BRICS-Koalition verstärkt, insbesondere durch die Ankündigung geplanter Marineübungen mit russischen Kriegsschiffen in Südafrika, um nach Angaben der südafrikanischen Streitkräfte "die bereits florierenden Beziehungen" zwischen Russland, China und Südafrika zu stärken. Kurz darauf besuchte der Hohe Vertreter der EU, Josep Borrel, Südafrika, und es wurde ein massiver Greenwashing-Deal abgeschlossen, der besagt, dass "die EU-Mitgliedstaaten 280 Millionen Euro an Zuschüssen in Südafrika investieren werden, darunter 87,75 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt, um politische Reformen für einen grünen Aufschwung zu unterstützen, grüne Investitionen freizusetzen und einen wissensbasierten Übergang im Rahmen der Just and Green Recovery Team Europe Initiative für Südafrika zu schaffen".

177. In diesem Zusammenhang steigt die Wahrscheinlichkeit, dass verschiedene Konflikte wieder aufflammen und sich neue Teile des Kontinents in Gebiete verwandeln, in denen die wichtigsten Supermächte stellvertretend miteinander konkurrieren, und dass in jedem Land die Kämpfe zwischen den verschiedenen Flügeln der herrschenden Klassen je nach ihrer Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Block zunehmen. Dies kann einen chaotischen und unberechenbaren Charakter annehmen, wie das Beispiel Kenias zeigt, wo William Ruto, der neu gewählte Präsident des Landes, seinen Wahlkampf auf einer chinafeindlichen Plattform führte, jedoch eine völlige Kehrtwende vollzog, sobald er sein Amt angetreten hatte, und für eine Ausweitung der Beziehungen zu China plädierte. 

178. Vom laufenden revolutionären Prozess im Sudan bis zum Massenkampf gegen die Monarchie in Swasiland im Jahr 2021, von der so genannten "Hungerrevolution" in Kenia bis zum zunehmenden Konflikt zwischen den Arbeitern*innen des öffentlichen Dienstes und dem ANC in Südafrika, vom achtmonatigen Streik der nigerianischen Universitätsdozent*innen bis zu den zahlreichen Streiks der Beschäftigten im Gesundheitswesen in Simbabwe - es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Region südlich der Sahara in den kommenden Jahren von immer mehr Kämpfen überschwemmt werden wird, die vor allem von der extrem jungen Bevölkerung ausgehen. Aber im Allgemeinen bleibt auf der linken Seite der Politik ein sehr großes politisches Vakuum, das von allen möglichen populistischen und reaktionären Kräften besetzt werden kann. 

179. Da diese Kämpfe auch in einem Kontext stattfinden, in dem es in unterschiedlichem Maße erhebliche Illusionen in der Bevölkerung gibt, dass Russland und China ein kleineres Übel oder ein Gegengewicht zu den "traditionellen" neokolonialen Mächten darstellen könnten, gewinnt der Aufbau von kämpfenden Parteien von Arbeiter*innen und Jugendlichen, bewaffnet mit einem sozialistischen Programm, die nicht nur von allen prokapitalistischen Politiker*innen, sondern auch von allen imperialistischen Blöcken völlig unabhängig sind, erneut an Bedeutung.

 

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