Türkei: Regime geht über Leichen

Oliver Giel

Am 6. Februar brach bei der südostanatolischen Millionenstadt Gaziantep nahe der türkisch-syrischen Grenze ein Erdbeben der Stärke 7.8 aus. Dass dieses Gebiet erdbebengefährdet ist, ist lange bekannt, liegt es doch am Treffpunkt dreier tektonischer Platten. Hier findet etwa einmal im Jahrzehnt ein Erdbeben statt. Bereits 1999 ereignete sich östlich von Istanbul ein Erdbeben ähnlicher Stärke. Keine geologischen Ursachen dagegen haben die menschlichen Opfer: Zehntausende Menschen starben, davon die meisten in der Türkei. Hunderttausende wurden verwundet oder verstümmelt, Millionen Menschen obdachlos.

Ein großer Teil der Opfer geht auf das Konto der türkischen Bauwirtschaft, denn obwohl die Erdbebengefahr bekannt ist, wurden die Häuser instabil gebaut. Als Baustoff wurde überwiegend Beton verwendet, der mit Sand gestreckt wurde, was billig und einfach herzustellen ist. Stütze der Macht des Erdoğan-Regimes waren neben nationalistisch-religiösem Populismus lange auch die Jobs durch den staatlich geförderten Bauboom. Hauptprofiteur war allerdings stets die Bauwirtschaft, eine von Erdoğans Hauptbündnispartnern. Dass die nach dem Erdbeben 1999 erlassenen Vorschriften für Erdbebengebiete durch die Baufirmen massiv unterlaufen wurden, ist wohl kein Zufall, aber profitabel. Selbst massive Verstöße gegen die Bauvorschriften wurden nachträglich gebilligt. Die Menschen wurden nicht nur Opfer des Erdbebens, sondern auch einer Clique aus Kapital und Erdoğans Partei AKP.

Mit der Wirtschaftskrise in der Türkei in den letzten Jahren ließ die Unterstützung für Erdoğan rapide nach. Die hohe Inflation hat dramatische Folgen, die Arbeiter*innen wehren sich mit einer Serie von Streiks in der Auto-, Elektro- und Textilindustrie, unter Amazon-Beschäftigten, Bauarbeiter*innen und im Gesundheitswesen und Anfang des Jahres erkämpften Metallarbeiter*innen eine Lohnsteigerung von 84%.

Nun beugt Erdoğan das Gesetz, um in den Wahlen im (voraussichtlich) Mai erneut antreten zu können. Das türkische Regime reagiert auf die sinkende Unterstützung mit wachsender Repression gegen Frauen, Arbeiter*innen, Minderheiten und die Opposition, sowie gegen kurdische Gebiete in der Türkei und Nordsyrien – doch das kann auch zu einer neuen Welle des Widerstands von unten führen.

Erdbeben im Erdoğan-Staat

Dass Regierungen nicht, zu spät und zu wenig helfen, dass viel Hilfe in dunklen Kanälen verschwindet – das hat politische Sprengkraft. 1972 ereignete sich in Nicaragua ein Erdbeben, in dessen Folge Tausende ihr Leben und Hunderttausende ihr Obdach verloren. Als die Korruption des Regimes im Umgang mit Hilfsgeldern immer deutlicher wurde, wuchs die Opposition. 1979 wurde das Regime durch eine Revolution gestürzt, geführt von einer links-katholischen Guerilla-Bewegung. Nach anfänglich vielen Hoffnungen und einigen Verbesserungen arrangierte sich das neue Regime mit dem Kapital, verscherbelte das Sozialsystem und verbietet ungewollt Schwangeren den Zugang zu Abbrüchen.

Um die Korruption Erdoğans zu sehen, braucht es keine Veruntreuung von Aufbauhilfe – auch wenn diese zu erwarten ist. Die Organisierung der Hilfe und Verteilung der Lieferungen durch demokratisch gewählte Komitees ist nötig. Erdoğans Glaubwürdigkeit bricht schneller zusammen als Billigbeton im Erdbebengebiet. Die türkischen Bauarbeiter*innen und Ingenieur*innen wissen am besten, wie man sicheren Wohnraum in erdbebengefährdeten Gebieten schafft – sie müssen den Wiederaufbau leiten, finanziert aus den Superprofiten der Bauwirtschaft. Hier liegt auch der Schlüssel für den Sturz des Regimes. Denn die Türkei wird nicht durch eine militärische Übernahme des Staates durch eine Guerilla-Truppe befreit werden, deren es viele in der Türkei gibt , sondern nur durch den gemeinsamen bewussten Kampf am Arbeitsplatz, in der Schule und den Nachbarschaften.

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