Internationales

Zero Covid und Immobilienkrisen

Noah Koinig

Wegen der strengen Zero Covid Politik von Xi Jinping befinden sich im Sommer rund 260 Millionen Menschen im Lockdown. Diese Maßnahme dient einerseits dazu, den Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu verhindern, welches nicht in der Lage ist, mit einem “Koexistenz”-Ansatz die Pandemie zu bewältigen, aber ganz zentral ist es eine Maßnahme zur sozialen Kontrolle der Bevölkerung. Menschen werden in ihren Wohnungen eingesperrt und durch eine Art „Gesundheits-Code“ auf dem Handy werden sie bei jedem Schritt innerhalb und außerhalb ihrer Wohnung überwacht. Dies dient ebenso zur Kontrolle und Einschüchterung der Bevölkerung, damit sie nicht protestiert, streikt oder sich generell gegen das Regime organisiert.

Neben der Pandemie befindet sich China auch in der stärksten Wirtschaftskrise seit 30 Jahren, was den Konflikt mit der USA verschärft. Die Folgen sind eine hohe Armutsquote, Jugendarbeitslosigkeit über 20% und auch die lokalen Regierungen sind stark betroffen (Geld für Löhne, Schulen, Gesundheitswesen etc. muss gekürzt werden). Rund 1/3 der größten Unternehmen am Immobilienmarkt sind bankrott und somit können 13 Millionen Wohnungen nicht fertig gebaut werden. In China, wo Häuser bezahlt werden, bevor sie gebaut werden, führte dieser Bankrott dazu, dass Personen hohe Schulden für Hypotheken aufnahmen, aber weder das Haus fertiggestellt wird, noch sie das Geld zurück bekommen. Dies zwang Bürger*innen zu “Hypotheken-Streiks”, wobei sich Zehn- bis teilweise Hunderttausende in 50 verschiedenen Städten als Protest weigerten, ihre Hypotheken zu bezahlen, wie chinaworker.info berichtete. Die fehlende Rückzahlung des Geldes von Hypotheken kann zur Zahlungsunfähigkeit von Banken führen.

Der Unmut ist groß. Vor allem unter Jugendlichen ist die Stimmung gegen die Regierung stark, was sich zunehmend mit “run” und “lie flat” im Internet ausdrückt. Mit “run” wollen sie China verlassen und “lie flat” zeigt die Verweigerung, zur Gesellschaft beizutragen (stressige Jobs, Konsum, Kinder bekommen etc.). Xi Jinping geht gegen die Hypotheken-Proteste mit starker Repression vor - aber diese Unterdrückung wird möglicherweise nicht gelingen.
 

Aufbau eines revolutionären Programms

Auch wenn Medien oft darstellen, dass das chinesische Regime stabil ist und die Bevölkerung passiv wäre, sieht die Realität anders aus. Die Wut steigt, aber die Angst vor der Diktatur bleibt. Alle Streiks und Proteste sind illegal und werden oft brutal niedergeschlagen. Die Proteste der Arbeiter*innen sind kurze wilde Streiks, weil es keine Gewerkschaften gibt, die die Aktionen planen und koordinieren. Der Hypotheken-Streik ist daher eine wichtige Entwicklung, ebenso wie mehrere kleinere Proteste gegen die Zero-Covid-Beschränkungen. Die Politisierung und das Bewusstsein zeigen, dass sich das autoritäre Regime jetzt in einer tiefen Krise befindet. Es ist unmöglich, mehr Demokratie zu erkämpfen, ohne gegen das kapitalistische System und die CCP zu kämpfen. Dafür ist notwendig, dass sich die Arbeiter*innenklasse organisiert, was aber illegal ist. Zum Aufbau sagt ein Aktivist von “Solidarity against repression in China and Hongkong”: „Die höchste Priorität ist es, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die die Fähigkeit hat, diese Proteste zu koordinieren und den Weg gegen die Diktatur zu zeigen.“ Das chinesische Proletariat besteht aus 900 Millionen Menschen. Widerstand gegen Diktatur und Ausbeutung kann nur unabhängig von CCP und Kapital gelingen und braucht ein sozialistisches Programm. Dieses muss gegen die Diktatur sein und deren Verantwortung für fehlende Gewerkschaftsrechte und repressive Maßnahmen aufzeigen. Und dieses Programm muss anti-kapitalistisch sein, denn die größten Kapitalist*innen in China sind in der CCP.

 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Jina Mahsa Amini muss das Symbol einer erfolgreichen Revolution der Arbeiter*innen werden!

Die Ermordung einer jungen Kurdin im Iran hat eine massive Welle des Aufruhrs, der Proteste und Streiks ausgelöst, die das gesamte Regime bedroht.
Nina Mo

Foto: picture-alliance/zumapress.com

Die Ermordung einer jungen Kurdin im Iran hat eine massive Welle des Aufruhrs, der Proteste und Streiks ausgelöst, die das gesamte Regime bedroht. Mit der wachsenden weltweiten Instabilität für die herrschenden Klassen könnte die gesamte Region erneut zum Epizentrum von Revolution und Konterrevolution werden.

"Alles oder nichts" drückt die Stimmung der Massen im Iran, in Kurdistan und darüber hinaus aus. Trotz brutaler Unterdrückung, Tötungen und Verhaftungen sind sie weiterhin auf den Straßen. Kürzlich versammelten sich Frauen in Afghanistan, um ihre Solidarität mit einer Kundgebung zu zeigen, die dann von den Taliban aufgelöst wurde. Die Taliban, wie auch andere islamistische Kräfte in der Region, fürchten ein Ausbreiten der Protestwelle. Die tödlichen Angriffe des irakischen Regimes gegen kurdische Gruppen zeigen, dass sie befürchten, die Bewegung könnte sich auf die gesamte kurdische Region ausweiten. Die Proteste haben bereits gezeigt, dass sie das Potenzial haben, ethnische, nationale und geschlechtsspezifische Spaltungen zu überwinden, was ein Schlüsselelement ist, um das islamistische Regime im Innersten zu treffen. Das Regime muss von der Arbeiter*innenklasse gestürzt werden, die eine sozialistische Alternative anstrebt, um die Befreiung der Frauen, körperliche Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit zu erreichen.

Das Regime reagiert verzweifelt auf die anhaltenden Proteste

Das islamische Regime hat fast alles, was es hat, ins Feld geführt. Es hat Streitkräfte in die protestierenden Städte geschickt und Kinder, die für die Basidsch, eine repressive militärische Einheit, rekrutiert wurden, mit Waffen, einschließlich Maschinengewehren, ausgestattet. Die Sicherheitskräfte wurden ausdrücklich angewiesen, "gnadenlos gegen die Protestierenden vorzugehen". Während das Regime die tatsächliche Zahl der Todesopfer verschweigt, gehen einige Schätzungen davon aus, dass sie bereits bei über 200 liegt. Die Verhaftung von Personengruppen nimmt kein Ende, und das Internet ist weiterhin blockiert.

Doch die "Unruhen", wie sie genannt werden, gehen nun in die zwölfte Nacht (Artikel auf English am 2.10. veröffentlicht und entsprechend vorher geschrieben, Anm.) und breiten sich weiter im ganzen Land und darüber hinaus aus. Frauen, Jugendliche und Arbeiter*innen haben ihre Angst vollständig verloren und nicht nur ihre Hijabs verbrannt, sondern auch die Büros der Basidsch in Brand gesteckt.

Weitreichende Streiks haben die Universitäten lahmgelegt, in einigen Städten sind in Klassen, die normalerweise etwa zweihundert Schüler*innen haben sollten, nicht mehr als fünf anwesend, wobei sich Professor*innen und Lehrer*innen den Studierenden anschließen. Die Lehrkräfte rufen zu weiteren Streiks auf, und vor kurzem haben die Vertragsarbeiter*innen in der Ölindustrie mit Streiks gedroht, falls die Regierung die Repression fortsetzt. Dies wäre ein gewaltiger Schlag.

Aus Ashnoye in der Provinz West-Aserbaidschan/nördlichesOst-Kurdistan wird berichtet, dass kleine Geschäfte und Märkte nun schon den zehnten Tag in Folge bestreikt werden. Die Sicherheitskräfte sind weiterhin in den Straßen und Stadtvierteln unterwegs, aber nachts gehen die Menschen in kleinen Gruppen auf die Straße, trennen sich, versammeln sich wieder an einem anderen Ort und skandieren von den Dächern und Fenstern aus Slogans wie "Frauen, Leben, Freiheit", "Tod dem Diktator" und "Dies ist die letzte Botschaft - unser Ziel ist das ganze System".

Die Drohnenangriffe des Irans gegen kurdische Gruppen im irakischen Südkurdistan stellen eine neue Eskalation dar und zeigen die Bereitschaft des Regimes, gezielt gegen die militante kurdische Bewegung vorzugehen. Zugleich ist das Regime eindeutig gespalten. Präsident Raisi pendelt zwischen "weichen Worten" und einer harten Linie. Die Stimmen der Kleriker, die zumindest mit einigen Zugeständnissen reagieren wollen, werden immer lauter. Ein einflussreicher Kleriker aus der "Heiligen Stadt" Qom erklärte jüngst, es sei "ein strategischer Fehler, religiöse und kulturelle Fragen mit Sicherheits- und Polizeimaßnahmen zu behandeln". Auch einige konservative Politiker*innen und prominente religiöse Anführer*innen haben sich kritisch über das Vorgehen der Sittenpolizei geäußert, weil diese ihrer Meinung nach Frauen von der Religion abschreckt.

Die Verhaftung von Faeseh Haschemi, der Tochter des ehemaligen Präsidenten Rafsandschani, trägt zur Entwicklung der wachsenden Spaltung bei. Es ist nicht das erste Mal, dass gemäßigte, "Reform"-Kräfte versuchen, in solchen Situationen Einfluss zu gewinnen. Aber wir befinden uns jetzt in einer anderen Zeit als 2009. Das gesamte Regime, das gesamte Establishment, befindet sich in einer tiefen Legitimationskrise, und es wird nahezu unmöglich sein, eine neue Stufe der Stabilität zu erreichen, indem man Raisi und seinen Flügel nur durch andere Vertreter*innen des islamischen Regimes ersetzt.

Außerdem scheinen die Sicherheitskräfte des Regimes in einer tiefen Krise zu stecken und erschöpft zu sein. Sie verlieren Leute, es gibt sogar Berichte über Soldat*innen, die auf die Seite der Bewegungen überlaufen. Das Regime muss sich außerhalb des Landes nach neuen Kräften umsehen, denn in einigen Städten fehlt es buchstäblich an Basidsch/Polizei/Militär vor Ort, um gegen die Proteste und Versammlungen vorgehen zu können.

Studierenden-Bewegung am Vormarsch

Eines der wichtigsten Merkmale der Bewegung in dieser Phase ist die führende Rolle der Jugend, die spontan auf den Straßen randaliert, aber auch koordiniert protestiert. Trotz zahlreicher Verhaftungen von Studierenden gehen die Proteste in Form von Streiks, Versammlungen und Demonstrationen an den Universitäten des Landes weiter. An Dutzenden von Universitäten im Land wird gestreikt, und die Studierenden haben angekündigt, dass sie nicht an virtuellen oder Präsenzveranstaltungen teilnehmen werden. Eine Reihe von Dozierenden an verschiedenen Universitäten haben sich geweigert, Vorlesungen abzuhalten, und sich mit den Studierenden solidarisch erklärt, um gegen die Unterdrückung und das Morden im Iran zu protestieren.

An der Medizinischen Hochschule in Shiraz protestierten die Student*innen mit den Slogans "Wir werden kämpfen, wir werden sterben, wir werden den Iran zurückerobern" und "Ich werde den töten, der meine Schwester getötet hat". Auch die Lernenden der Sepehr-Universität von Isfahan schlossen sich dem landesweiten Studenten*innenstreik an und hielten eine Kundgebung ab. Sie marschierten mit Slogans wie "Die inhaftierten Student*innen müssen freigelassen werden" über den Universitätscampus. Die aktuelle Liste der Universitäten, an denen Unterricht boykottiert wurde, wurde am Mittwoch veröffentlicht. Laut dieser Liste haben Student*innen an mehr als achtzig Universitäten im ganzen Land den Unterricht boykottiert. (Seither ist es zu massiver Repression und Gewalt des Regimes insbesondere gegen die Studierenden der Sharif Universität gekommen, Anm.)

Die radikale Stimmung unter den Jugendlichen ist eindeutig ein Element, das auch breitere Schichten der Arbeiter*innenklasse inspiriert. Es handelt sich um eine Generation, die unter der neuen Regierung Raisi noch stärker unter Repression, Gewalt und Ungleichheit zu leiden hat. Sie leidet unter der anhaltenden Wirtschaftskrise, Armut, Hunger und Verzweiflung. Es ist nicht das erste Mal, dass die Inflation explodiert, letztes Jahr lag sie bei 45 %. Die Jugend ist mit einer düsteren Gegenwart und Zukunft konfrontiert, die in dieser explosiven Stimmung und Wut zum Ausdruck kommt.

Neue Streikwellen in Sicht - Arbeiter*innen müssen die Führung übernehmen

Der Hashtag, der einen Generalstreik fordert, überschwemmt derzeit die sozialen Medien. Vor allem junge Menschen sehen die Notwendigkeit, die Bewegung zu verbreitern, und dass die nächsten Schritte breitere Streikaktionen sein sollten. Die Streikankündigung der Vertragsarbeiter*innen der Ölindustrie ist eine Warnung an das Regime. Sie ist ein wichtiger Schritt, der zu einem tatsächlichen Generalstreik führen könnte. Gleichzeitig scheinen einige Verbände von Beschäftigten recht zögerlich zu sein, sich der Bewegung anzuschließen. Viele von ihnen - Busfahrer*innen, Ölarbeiter*innen, die Arbeiter*innen der Zuckerfabrik Haft Tappeh usw. - haben erklärt, dass sie die Bewegung unterstützen und bereit sind, sich ihr auf der Straße anzuschließen, aber es ist klar, dass dies nicht ausreicht.

Es ist kein Zufall, dass die Lehrer*innen die ersten Beschäftigten außerhalb der kurdischen Regionen waren, die einen Streik organisiert haben. Die meisten Lehrer*innen im Iran sind Frauen, und sie standen in den letzten Jahren an der Spitze einer Reihe von militanten Streikaktionen. In ihren Kämpfen gegen Unterdrückung, unbezahlte Löhne, bessere Arbeitsbedingungen usw. standen in den letzten Jahren immer Forderungen im Mittelpunkt, die speziell die Unterdrückung der Frauen betrafen. Ihre Aktionen sollte auch für breitere Arbeiter*innen und unabhängige Vereinigungen als Beispiel dienen. Die Arbeiter*innenbewegung muss sich mit den Student*innen und Frauen verbinden, um die Führung im Aufstand zu übernehmen und sicherzustellen, dass die notwendigen nächsten Schritte unternommen werden, um die Herrschaft der Mullahs zu brechen. Dazu gehört die Bildung von Selbstverteidigungskomitees in den Nachbarschaften und an den Arbeitsplätzen, um der massiven Repression widerstehen zu können. Das wäre ein erster Schritt zur Bildung demokratisch organisierter Räte, die die Großindustrie, die Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft übernehmen.

Frauenunterdrückung als Schlüsselelement

Die Ermordung von Jina war ein Akt staatlicher Gewalt gegen Frauen und LGBTQI+ Menschen. Seitdem sind andere Frauen, die während des Aufstandes getötet wurden, zu neuen Symbolen der Bewegung geworden. Es ist offensichtlich, dass die Tatsache, dass die Bewegung mit einer Rebellion gegen die Hijab-Pflicht begann und sich von Anfang an zu einer Rebellion gegen das gesamte Regime und System entwickelte, das liegt daran, dass die Unterdrückung der Frauen eine der wichtigsten Säulen des Regimes ist.

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich diese massive Unterdrückung in allen Institutionen des Systems sowie in der gesamten Gesellschaft, der Kultur, den Familien und den Köpfen fest verankert. Die islamische Republik ist auf der Notwendigkeit aufgebaut, Frauen und Männer zu trennen, Frauen in die Haushalte zu drängen, um sie noch mehr auszubeuten. Jedes Jahr werden über 2.000 Frauen ermordet. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch viel höher. Dies geschieht nicht nur durch ihre Männer und andere Familienmitglieder, sondern auch durch Polizisten, Basidsch und andere Sicherheitskräfte. Todesurteile sind die extremste Form dieser staatlichen Gewalt, aber sie ist etwas, das Frauen täglich in verschiedenen Formen erleben.

In den letzten Jahren hat sich online und offline eine iranische #metoo-Bewegung entwickelt, die mit allen gefährlichen Tabus über die andauernden Vergewaltigungen, die Gewalt und den Missbrauch bricht. Dies war eine entscheidende Bewusstseinsentwicklung, die zu der Tatsache hinzukommt, dass Frauen in der gesamten Region in der letzten Zeit an vorderster Front der revolutionären Bewegungen standen - vom Sudan bis zum Libanon. Dieses wachsende feministische Bewusstsein steht in scharfem Kontrast zu den Versuchen des Regimes, seit Präsident Raisi 2021 an die Macht kam, die Rechte der Frauen weiter einzuschränken und eine drakonischere Vorgehensweise bei der Kleiderordnung für Frauen und den Hijab-Richtlinien durch die Sittenpolizei durchzusetzen.

Es gibt auch ein wachsendes Selbstbewusstsein unter Arbeiter*innen und jungen Frauen, das durch die fortschreitende Urbanisierung und die Tatsache, dass die Mehrheit der Studierenden im Iran inzwischen weiblich ist, verstärkt wird. Diese Veränderungen in den Strukturen der weiblichen Bevölkerung kollidieren ständig mit der Realität, in die Häuser zurückgedrängt zu werden und mit eingeschränkten Rechten, Gewalt und Frauenfeindlichkeit konfrontiert zu sein.

Wenn sich die Frauen erheben, ist das islamische Regime sofort bedroht, denn seine Ideologie beruht auf Frauenfeindlichkeit, Unterdrückung und der Ausbeutung von Frauen im Besonderen. Die Kontrolle über den Körper und die Kleidung der Frauen war vom ersten Moment nach der gestohlenen und verratenen Revolution von 1979 an eine der Stützen des Regimes. Dies geschah auch in dem Versuch, einen großen Teil der ehemaligen Aktivist*innen zu kriminalisieren und sie buchstäblich von der Straße zu holen, um die starren Geschlechterrollen aufrechtzuerhalten, und das revolutionäre Potenzial der Frauen zu brechen, die immer an der Spitze des Kampfes standen. Sie brauchten diese Ideologie, die auf der Aufrechterhaltung starrer Geschlechterrollen beruht, um das revolutionäre Potenzial der Frauen zu brechen, die immer an vorderster Front des Kampfes standen, und um ihre Basis jenseits der Revolutionsgarde, des Militärs, der Kleriker usw. aufzubauen, indem sie die Taktik des Teilens und Herrschens unter der Arbeiter*innenklasse nutzten. Die religiöse Diktatur hat zur Folge, dass diese tief sitzende Frauenfeindlichkeit in allen Lebensbereichen und insbesondere in den Köpfen der Männer reproduziert werden muss.

Es ist nicht zu unterschätzen, wie wichtig es ist, dass Männer und Frauen im ganzen Land, über die kurdischen Gebiete hinaus, zusammenkommen, um "Frauen, Leben, Freiheit" zu skandieren, um die Forderungen nach Frauenbefreiung bewusst in den Mittelpunkt der Bewegung zu stellen. Es wurde ein Video in Umlauf gebracht, das zeigt, wie ein Mann eine Frau auf der Straße schlägt und in den folgenden Sekunden von einer Gruppe von Menschen, hauptsächlich Männern, dafür angegriffen wird. Dies ist nicht nur eine außergewöhnliche Szene, sondern ein Spiegelbild dessen, was in vielen, vielen Nachbarschaften, an Arbeitsplätzen und im Bewusstsein vor sich geht.

Frauen akzeptieren nicht länger die brutale Frauenfeindlichkeit, Belästigung und Gewalt, die sie täglich erleben. Sie leisten Widerstand und inspirieren oft andere mit ihren individuellen Aktionen, sei es, dass sie ihren Hidschab ablegen oder sich körperlich wehren. 2017, 2019 und in anderen Zeiten des Aufbruchs spielten Frauen, die ihren Hidschab abnahmen, eine Rolle in der Bewegung, aber dies ist nun eine neue Qualität der weit verbreiteten Bereitschaft, damit das eigene Leben zu riskieren.

Wie auch immer die aktuelle Bewegung ausgehen mag, sie hat der Autorität und den ideologischen Grundlagen des Regimes einen historischen Schlag versetzt, und die Situation wird nie wieder dieselbe sein. Das ist der Grund, warum diese Bewegung so brisant ist: Die Forderung nach einem Ende der Hijab-Pflicht und aller religiösen und reaktionären Gesetze und Einschränkungen ist eine direkte Forderung nach dem Ende der gesamten islamischen Republik. Schon in den letzten Jahren haben wir gesehen, wie die Unterstützung für die religiösen Institutionen und den Islam selbst im Iran immer weiter abgenommen hat, vor allem unter jungen Menschen. Die Tatsache, dass diese religiösen Anführer*innen auch die Superreichen sind, die mit den Revolutionsgarden die größten und wichtigsten Teile der Wirtschaft kontrollieren und von der Ausbeutung der gesamten Arbeiter*innenklasse profitieren, ist eindeutig ein Grund, warum die Kombination von politischen und wirtschaftlichen Forderungen Hand in Hand geht.

Die kurdische Frage und die Lehren aus der revolutionären Geschichte

Diese Erhebung, die das eindeutige Potential hat, sich zu einer revolutionären Massenbewegung zu entwickeln, ist nicht vom Himmel gefallen. In den letzten Jahren wurde das Regime immer wieder erschüttert, von den größten Streikwellen seit 40 Jahren bis hin zu den heftigen Aufständen der Arbeiter*innen, der Jugend und der Armen gegen Wasserknappheit, explodierende Lebensmittel- und Energiepreise, und ähnlichem. Seit der Pandemie hat diese Generation eine Krise nach der anderen erlebt und wurde noch stärker radikalisiert. Schon 2019 hat sie die Angst vor der Konfrontation mit den Sicherheitskräften verloren, dies hat sich nun weiter entwickelt. Es gibt einen breiten Rückgang der Unterstützung für das Regime und alles, was es repräsentiert. In all diesen Bewegungen stehen Frauen und die am meisten unterdrückten Schichten der Arbeiter*innen an vorderster Front.

Kurd*innen, aber auch viele, viele andere Gruppen und ethnische, religiöse und andere Minderheiten im ganzen Land, erleben brutale Unterdrückung wie Jina, die ihren richtigen Namen nicht benutzen durfte. Das Regime bedient sich stets des Chauvinismus, des Rassismus und des Nationalismus, um all diese Gruppen als Bürger*innen "zweiter Klasse" darzustellen, ihnen alle möglichen Rechte zu verweigern und sie auf verschiedene Weise zu diskriminieren.

Der Mord an Jina war zweifellos ein Auslöser für einen Aufstand gegen diese Form der Unterdrückung. Indem der berühmte Slogan des revolutionären Kampfes in Rojava "Frauen, Leben, Freiheit" aufgegriffen und ins Farsi übersetzt wurde, hat die Bewegung bereits ihr Potenzial gezeigt, einen gemeinsamen Kampf gegen diese Spaltungen aufzubauen. So ist es beispielsweise von entscheidender Bedeutung, dass in Tabris, der Hauptstadt von Ost-Aserbaidschan, die Menschen diesen Slogan auf Kurdisch rufen! Dies ist ein klares Statement in einer Region, in der die kurdische Minderheit unter tiefsitzendem Hass leidet.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Bewegung eine klare Haltung und Herangehensweise an die Frage der nationalen und ethnischen Minderheiten entwickelt und die Forderung nach Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellt. Es ist sehr gefährlich, dass nationalistische, monarchistische und liberale Kräfte, vor allem innerhalb der internationalen Solidaritätsbewegung, versuchen diese Themen zu ignorieren oder sogar zu unterschlagen, ebenso wie Forderungen, die speziell die Rechte von Frauen und LGBTQI+ betreffen.

Monarchistische Kräfte haben zuletzt versucht, dem Slogan "Frauen, Leben, Freiheit" den Slogan "Männer, Heimat, Wohlstand" hinzuzufügen, der in einigen Studierenden-Versammlungen aufgegriffen wurde. Dies ist ein gefährlicher Versuch, nationalistische Ideen zu verbreiten und Schlüsselelemente der Bewegung zu untergraben. Um eine Einheit unter den arbeitenden Massen in der gesamten Region zu schaffen, muss der Kampf gegen nationale und ethnische Unterdrückung und jede Form von chauvinistischen, rassistischen Haltungen, Gesetzen und Politik mit einem breiten Programm für Arbeiter*innenrechte, demokratische Rechte, Frauenrechte und wirtschaftliche Forderungen nach menschenwürdigen Arbeitsplätzen, Löhnen, gegen Armut, Hunger und Sparmaßnahmen verbunden werden.

Diese Art des vereinten Kampfes, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach Beendigung der Unterdrückung stehen muss, ist notwendig, um der Spaltung zu widerstehen, die das Regime für seine Herrschaft benötigt. In gewisser Weise ist dies auch eine der wichtigsten Lehren aus der Revolutionsgeschichte im Iran. Die Fehler der Linken im Iran, die zur Konterrevolution in der Zeit nach 1979, der Revolution, die den Schah stürzte, führten, sind eng mit dieser Frage verbunden.

Innerhalb weniger Monate nach der Gründung der Islamischen Republik wurden Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten und Arbeiter*innen brutal angegriffen. Arbeiterinnen wurden gezwungen, sich an die islamische Kleiderordnung zu halten, um ihren Arbeitsplatz zu behalten. Frauen durften keine Richter*innen werden. Strände und Sportplätze waren nach Geschlechtern getrennt. Das gesetzliche Heiratsalter für Mädchen wurde auf 9 Jahre herabgesetzt, und verheiratete Frauen durften keine regulären Schulen besuchen.

Der Schah hatte diese Rechte, die nun in Frage gestellt wurden, nicht gewährt, sondern sie waren in den Jahren zuvor in einem erbitterten Kampf errungen worden. Die Rückgängigmachung dieser Errungenschaften gehörte nicht zu den Zielen der Revolution der Arbeiter*innen und der Armen. Frauen, vor allem arme Frauen und Frauen aus der Arbeiter*innenklasse, standen an der Spitze der Bewegung gegen den Schah, einschließlich des Verbots des Hidschabs schon in den Jahren vor 1979.

Der Schah repräsentierte eine enorme, unglaubliche Konzentration von Reichtum in den Händen der herrschenden Elite, während die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit explodierte, riesige Slums in Teheran entstanden, sich Krankheiten ausbreiteten usw. Dies war der soziale Hintergrund für die Opposition gegen den Schah und die revolutionären Aufstände, bei denen die Frauen ihre Forderungen nach Autonomie und Freiheit in den Mittelpunkt stellten.

Den Mullahs, Khomeini und seinen Anhänger*innen gelang es, das Rad der Zeit zurückzudrehen und die Führung der Bewegung zwischen 1979 und 1981 zu übernehmen, trotz der enormen Arbeiter*innenbewegung, Arbeiter*innenräte usw. Das lag vor allem an massiven Fehlern der (stalinistischen und maoistischen) Linken und der großen Arbeiter*innenorganisationen. Sie ordneten sich den islamistischen Kräften unter und akzeptierten die Angriffe auf Frauen und Minderheiten, um sich mit den Mullahs gegen den Schah zu verbünden. Sie akzeptierten den Hidschab als verpflichtend und andere Maßnahmen, die zu den ersten Schritten der Konterrevolution gehörten. Dies hängt mit einem blinden Fleck in Bezug auf Fragen der Unterdrückung und dem Verständnis dafür zusammen, dass diese untrennbar mit einer revolutionären Bewegung verbunden sind.

Die Vorstellung, dass sich "alle Kräfte vereinigen" müssen, um einen bestimmten Feind zu bekämpfen, und die so genannte "Etappentheorie", die sich diese Kräfte zu eigen gemacht hatten, sind auch heute noch eine Bedrohung für die Bewegung. Während 1979 die "Einheit" mit den Mullahs gegen den Schah zu einer brutalen Konterrevolution führte, mit Massenhinrichtungen, Verhaftungen und einem harten Vorgehen gegen die gesamte sozialistische und Arbeiter*innenbewegung. Diesmal droht die Idee der Einheit "aller politischer Kräfte" gegen die Mullahs. Es ist äußerst gefährlich, dass die Familie des ehemaligen Schahs, angeführt von seinem Sohn Reza Pahlavi, versucht, die Bewegung zu beeinflussen und Unterstützung zurückzugewinnen. Das sind Kräfte, die ihre Herrschaft wieder errichten wollen, was nicht zu einer wirklichen Befreiung der Frauen, des kurdischen Volkes, der Unterdrückten, der Arbeiter*innen und der Armen führen kann.

Imperialistische Interessen und internationale Auswirkungen

Auch wenn dieses Szenario nicht das wahrscheinlichste ist, zeigen die Verbindungen zwischen der Schah-Familie und dem westlichen Imperialismus, dass dieses Szenario eine Möglichkeit darstellt. Der westliche Imperialismus ist in seinen Reaktionen zurückhaltender als in der Vergangenheit, da er nach Alternativen zu russischem Öl und Gas sucht. Der Iran verfügt über die zweitgrößten Gasreserven und die fünftgrößten Ölreserven der Welt. Sie fürchten sich auch vor der wachsenden Bewegung, denn anders als zum Beispiel 2009 scheint sie in den Westen derzeit keine wirklichen Illusionen zu haben. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf die einfache Bevölkerung und die Armen haben sich in den letzten Jahren nur noch verschlimmert. Das ist auch der Grund, warum die Propaganda des Regimes, dass die Bewegung eine Verschwörung des Westens sei, immer weniger wirksam ist.

Während das iranische Regime versucht, sich im Kontext des neuen Kalten Krieges zu positionieren, bemüht sich der westliche Imperialismus, insbesondere die USA, um eine Normalisierung der Beziehungen zum Regime und arbeitet auf ein Atomabkommen hin. Auf der anderen Seite zeigen die Versuche, den Iran und Argentinien in das BRICS-Bündnis (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) einzubeziehen, wie die verschiedenen Blöcke im Kontext neuer imperialistischer Spannungen und der zunehmenden Kriegsgefahr ihre Bemühungen verstärken, ihre Bündnisse zu festigen und neue zu schließen.

Gleichzeitig ist klar, dass keine dieser Kräfte ein wirkliches Interesse an einer massiven Destabilisierung im Iran hat, schon gar nicht durch diese Art von potentieller revolutionärer Bewegung. Ein möglicher feministischer Wutausbruch der Frauen in Saudi-Arabien beispielsweise wäre auch ein Schlag gegen die Interessen des westlichen Imperialismus. Dies ist kein unwahrscheinliches Szenario, denn wir haben bereits bedeutende Auswirkungen in der gesamten Region gesehen. Die Frauen in Afghanistan, die mit brutaler Unterdrückung konfrontiert sind, haben sich kürzlich mit der Bewegung im Iran solidarisiert und wurden daraufhin von den Taliban angegriffen. Frauen in Kurdistan, Syrien, Irak, Sudan und anderen Ländern haben in einigen Städten mit Kundgebungen und Demonstrationen ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht.

Große Solidaritätsproteste von London bis Paris, von den USA bis Schweden sind beeindruckend und zeigen eine Radikalisierung nicht nur innerhalb der kurdischen und iranischen Gemeinschaft, sondern darüber hinaus. Die Welle der Solidarität in den sozialen Medien (der persische Hashtag zur Unterstützung von Jina Amini hat über 100 Millionen erreicht!) ist ein klares Zeichen dafür, dass die allgemeine Radikalisierung von Frauen und Jugendlichen, die sich gegen jede Form von Frauenfeindlichkeit, Sexismus und Gewalt gegen Unterdrückte wehren, durch die Entwicklungen im Iran verstärkt wird.

Für viele ist die Bewegung im Iran und der Slogan "Frauen, Leben, Freiheit" ein Beispiel dafür, dass wir radikale Maßnahmen gegen die Unterdrückung und Ausbeutung brauchen, der wir ausgesetzt sind - von Femizid bis zu Abtreibungsbeschränkungen, von unbezahlter Arbeit bis zu Belästigungen. Der heldenhafte Kampf kurdischer, iranischer, afghanischer und anderer Frauen in der Region gegen die Diktatur ist in den Augen vieler Menschen auf der ganzen Welt die Art von Widerstand, die sie sehen wollen vor dem Hintergrund eines allgemeinen Anstiegs rechtsextremer Kräfte und Angriffen auf Frauen und LGBTQI+-Rechte von den USA bis Italien.

Ein Programm und eine Führung, um voranzukommen

Während sich die Stimmung der Solidarität auf der ganzen Welt verbreitet, braucht die Bewegung vor Ort eine konkrete Perspektive und ein politisches Programm, um voranzukommen. Im Moment ist sie noch sehr spontan, explosiv, heterogen und verwirrt in Bezug auf konkrete Forderungen und Perspektiven. Die Drohnenangriffe des Regimes in Kurdistan zum Beispiel zeigen auch die Gefahr, dass das Regime mit dem Einsatz des Militärs reagieren könnte,und es eine Militarisierung der Bewegung geben könnte, wenn es keine klaren, koordinierten Aktionen gibt, um die Bewegung zu verbreitern und weiter voranzubringen. Trotz des heroischen Opfers des kurdischen Volkes ist klar, dass das Regime nicht durch militärischen Kampf, sondern durch Massenaktionen der Arbeiter*innen, die eine enorme wirtschaftliche Macht im Iran haben, bezwungen werden wird.

Frühere Protestwellen wie 2017 oder 2019 haben gezeigt, dass spontane Wutausbrüche schnell niedergeschlagen werden können, wenn es nicht zu einer weiteren Eskalation der Bewegung und einem Programm kommt, das die Arbeiter*in tatsächlich um zentrale Forderungen und Kampfmethoden vereinen kann. Instinktiv verknüpfen die Massen politische und wirtschaftliche Forderungen, die zu einem sozialistischen Programm als Alternative zum derzeitigen politischen und wirtschaftlichen System im Iran entwickelt werden müssen.

Während das Regime davon spricht, den Fall Jina zu untersuchen, ist es klar, dass man keiner seiner Institutionen vertrauen kann. Sie wurden geschaffen, um das System zu stabilisieren und um die Interessen der Kapitalist*innenklasse im Iran zu verteidigen, die tief in religiösem Fundamentalismus, Frauenfeindlichkeit und reaktionärer Ideologie verwurzelt ist. Eine wirkliche Untersuchung kann es nur geben, wenn sie von demokratischen Strukturen der Arbeiter*innen durchgeführt wird, die aus einer revolutionären Bewegung hervorgehen. Um diese Form der staatlichen Gewalt gegen Frauen und den Femizid zu beenden, muss das gesamte System der Frauenunterdrückung gestürzt werden. Frauen müssen die gleichen Rechte haben, die freie Entscheidung darüber, was sie anziehen, einschließlich des Rechts, einen Hidschab zu tragen, wenn sie es wünschen, und darüber, wo sie arbeiten und leben - aber nicht nur auf dem Papier. Während der Pandemie haben vor allem Frauen im Iran ihre Arbeit verloren. Vor dem Hintergrund der tiefen Wirtschaftskrise und der Armut haben viele Frauen keine Perspektive, ein unabhängiges Leben zu führen. Stattdessen werden sie in die Ehe und wirtschaftliche Abhängigkeit gezwungen, erleben täglich Gewalt und extrem niedrige Löhne.

Forderungen wie die Beendigung jeglicher Form von Diskriminierung ethnischer, nationaler oder religiöser Minderheiten, volle demokratische und Frauenrechte wie die Auflösung der Sittenpolizei, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Versammlungsfreiheit usw. sind mit Forderungen verbunden, die die Frage nach der wirtschaftlichen Macht stellen. Die wirtschaftliche Macht der Mullahs und z.B. der Revolutionsgarden (IRGC) und die Tatsache, dass große Teile der Wirtschaft in Staatsbesitz oder in den Händen einzelner religiöser Institutionen oder Personen sind, macht sehr deutlich, dass es dieselben Personen sind, die für Morde wie den von Jina verantwortlich sind. Sie sind auch direkt für die verzweifelte Lage der Arbeiter*innen und Armen verantwortlich. Sie sind die ersten, die enteignet werden müssen, und ihr Reichtum muss für menschenwürdige Wohnungen, Arbeitsplätze zur Beseitigung von Hunger und Armut, zur Finanzierung von Sozialleistungen, Bildung usw. verwendet werden.

Das kapitalistische System dient nur den Interessen einer kleinen Minderheit der Superreichen im Iran. Sie haben weder unter den Auswirkungen der Pandemie noch unter der Wirtschaftskrise gelitten. Sie sind auch nicht von den religiösen Gesetzen und Regeln betroffen - sie feiern ihre privaten Partys in ihren riesigen Villen, innerhalb und außerhalb des Landes, ohne Angst haben zu müssen, von der Sittenpolizei verhaftet zu werden. Ihr System muss vollständig durch ein sozialistisches System ersetzt werden, das sich an den Bedürfnissen der Massen, der Arbeiter*in, der Bauern und Bäuerinnen und der Armen orientiert.

Die Versuche sowohl der ehemaligen Schah-Familie als auch liberaler Feministinnen wie Masih Alinejad und anderer, sich als "Anführer*innen" der Bewegung darzustellen, waren offensichtlich nicht erfolgreich. Das Gegenteil ist der Fall, eine große Schicht der protestierenden Jugend ist äußerst skeptisch gegenüber jeder Art von "Führung" der Bewegung. Darin spiegelt sich eine positive Ablehnung jener Kräfte wider, denen man nicht trauen und auf die man nicht bauen kann. Gleichzeitig ist eine Diskussion über die Art der revolutionären Führung nötig, die für die Weiterentwicklung der Bewegung notwendig ist.

Der große Wunsch in der Bewegung nach Selbstbestimmung und Befreiung ist untrennbar mit dem Bedarf an demokratischen Strukturen und Koordination verbunden. Eine wirkliche, revolutionäre Führung muss aus genau den Schichten von Frauen, Arbeiter*innen, Jugendlichen und Unterdrückten entwickelt werden, die revolutionäre Schlussfolgerungen gezogen haben und die Notwendigkeit sehen, mit dem Staatsapparat sowie mit dem gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Islamischen Republik zu brechen.

Das Potenzial für eine solche Führung ist vorhanden, wenn wir uns zum Beispiel die kämpferische Gewerkschaft Haft Tappeh ansehen, wo die Arbeiter*innen nicht nur wichtige Streiks anführen konnten, sondern sogar einen großen Sieg errungen haben - die Renationalisierung einer großen Zuckerfabrik im letzten Jahr. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Arbeiter*innen von Haft Tappeh auch die Notwendigkeit, für eine echte Arbeiter*innenkontrolle über die Wirtschaft zu kämpfen. Ein notwendiger nächster Schritt dazu muss die Schaffung demokratisch organisierter, multiethnischer Selbstverteidigungskomitees sein, um die Bewegung und die Massen gegen staatliche Repression verteidigen zu können, aber auch um diese Komitees zu nutzen, um für diese Art der Kontrolle über die Wirtschaft zu kämpfen.

Wenn sich nicht rechtzeitig eine sozialistische, revolutionäre Führung bildet, droht die massive Gefahr einer Konterrevolution, in den kurdischen Gebieten vielleicht sogar die Gefahr eines Bürgerkrieges. Um eine Organisation, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die ein solches sozialistisches Programm in der Bewegung vor Ort verankern, national und international koordinieren und zum politischen und organisatorischen Zentrum dieser Bewegung werden kann, ist es entscheidend, dass das Potential der sich entwickelnden internationalen Solidaritätsbewegung genutzt wird. Angesichts der Internetblockade hat diese Solidaritätsbewegung eine große Verantwortung: Sich nicht auf allgemeine Solidarität zu beschränken, sondern tatsächlich politische Klarheit, eine Perspektive und ein Programm zu diskutieren, zu entwickeln und zu verbreiten. Die Exil-Communitiy sowie die breitere internationale Arbeiter*innenbewegung können eine Rolle spielen, die einen echten Einfluss auf die Bewegung im Iran hat, indem sie die Rede- und Organisationsfreiheit nutzen, um für eine sozialistische Perspektive im Iran und in der ganzen Welt zu kämpfen.

Flugblatt: Gerechtigkeit für Jina (Mahsa) Amini! Nieder mit der Islamischen Republik!

Unser Flyer für die Demonstration in Solidarität mit dem Aufstand im Iran am 27.9. um 17:00 Platz der Menschenrechte
ISA und ROSA - kämpferisch.sozialistisch.feministisch

Am 13. September wurde die 22-jährige Kurdin Jina (Mahsa) Amini von der “Sittenpolizei” festgenommen und ermordet. Ihr Fall ist nur ein Beispiel der Gewalt und Diskriminierung, die Kurd*innen, Frauen und LGBTQI+-Menschen täglich unter dem islamischen Regime erfahren.

Bewegung weitet sich aus

Seitdem gehen überall im Iran und Kurdistan Menschen auf die Straße. Frauen verbrennen ihre Kopftücher oder schneiden ihre Haare ab, die Massen skandieren „Tod dem Diktator“. Die Antwort der Diktatur: Zensur, Einschränkung des Internets. Menschen werden festgenommen oder auf offener Straße erschossen. Trotzdem gehen die Proteste weiter. Lehrer*innen haben Streiks angekündigt, das ist ein wichtiger Schritt, um die Bewegung auszuweiten und durch einen Generalstreik das Regime endgültig in die Knie zu zwingen. Der Mord an Zhina Amini war buchstäblich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es vermischen sich Freiheitskämpfe von Kurd*innen, Frauen und LGBTQI+-Rechtler*innen, und der Kampf der Arbeiter*innen, die alle seit Jahren unter den wirtschaftlichen Problemen des Landes und dem repressiven Regime leiden. Die Streikbewegungen der letzten Jahre haben das Potential koordinierter Aktionen der Arbeiter*innenklasse gezeigt. Jetzt ist es nötig, darauf zu setzen und die Streiks der Lehrer*innen als Vorbild zu nehmen. Es braucht multiethinische Selbstverteidigungskomitees in jeder Nachbarschaft, um den Protesten eine organisierte und demokratische Form zu geben - im Sudan waren genau solche Komitees zentral für die Revolution. Solche Komitees sind auch notwendig, um eine Alternative zum ausbeuterischen Kapitalismus aufzubauen: Durch die Übernahme der Wirtschaft und Produktion durch die arbeitende Bevölkerung unter ihre eigene Kontrolle und Verwaltung kann die Macht der superreichen Mullahs und Revolutionsgarden wirklich gebrochen werden. 

Kopftuchpflicht als Säule des Regimes

Kurd*innen, vor allem Frauen, sind die häufigsten Opfer von (polizeilicher) Gewalt. Sie sind es auch, die von der hohen Inflation und den Sanktionen des Westens am meisten betroffen sind. Sie besitzen kaum Selbstbestimmung über ihre Leben. Das Regime braucht diese massive Unterdrückung von Frauen und LGBTQI+, um sich an der Macht zu halten: Um Frauen, die für ihre Rechte kämpfen, in die Schranken zu weisen, in die Familien zu drängen und von ihrer unbezahlten/schlecht bezahlten Arbeit zu profitieren. Doch das wird nicht mehr länger akzeptiert: Auch Männer schließen sich überall im Land den Protesten an. Diese Solidarität von unten hat die Kraft, Sexismus, Frauenfeindlichkeit und jede Form von Diskriminierung von Kurd*innen, Sunnit*innen und anderen zu bekämpfen. 

Für sozialistische Lösungen - Gegen die Heuchelei des Westens!

Westliche Mächte – allen voran die USA, aber auch die österreichische Regierung - haben immer wieder in Worten Proteste gegen das Regime unterstützt. Aktuell sind sie still, wohl in der Hoffnung auf Öl und Gas als Alternative zu Russland. Sie haben kein Interesse an einer echten Befreiung der Unterdrückten. Sie haben die ganze Region in Krieg und Zerstörung gestürzt und islamistischen Kräften zum Aufstieg verholfen. Wir brauchen keine Sanktionen, unter denen statt der Mullahs nur die arbeitende Klasse leidet, sondern echte Unterstützung: Durch Protestbewegungen von unten, von Jugendlichen und Beschäftigten international, durch Initiativen von Gewerkschaften und anderen Arbeiter*innenorganisationen im Westen, die auch ihre eigenen Regierungen für ihre Heuchelei anprangern, Asylrecht für alle und ein Ende von Krieg und Imperialismus fordern. So hat z.B. die OMV Profite mit iranischem Öl gescheffelt. Kopftuchverbote die wie in Österreich von den etablierten Parteien eingeführt werden sind Teil einer rassistischen Agenda und nur die andere Seite der Medaille: Wir wollen volle Selbstbestimmung über unsere Körper, das Recht zu leben und arbeiten wo und wie wir wollen und die gleichen Rechte unabhängig von Herkunft, Religion und Hautfarbe.

Wenn sich die Bewegung ausweitet, hat sie das Potential zu einer revolutionären Situation zu führen. Die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung im Iran zeigt, was dann nötig sein wird: Den Sturz des Mullah-Regimes ausweiten zu einem Sturz des gesamten kapitalistischen Systems, das für die Massen Hunger, Ausbeutung und Armut bedeutet. Die Übernahme der großen Industrien - allen voran die Ölindustrie - in die eigenen Hände für den Aufbau einer sozialistischen Alternative im Iran und in der gesamten Region. Kräfte wie die Shah-Familie versuchen ihren Einfluss auf die Bewegung auszuweiten, ihre Rückkehr in der einen oder anderen Form istauch eine Option des westlichen Imperialismus. Das ist eine massive Gefahr für die Bewegung, die echte Selbstbestimmung fordert und schon jetzt ruft “Tod dem Unterdrücker - sei es der Schah oder der religiöse Führer”.

Wir haben als ISA (Internationale Sozialistische Alternative) und ROSA - Sozialistische Feminist*innen die Initiative für den heutigen Protest ergriffen, um zu zeigen, was es braucht: Internationale Solidarität von unten. Der Aufstand im Iran ist auch weltweit Inspiration: Wir müssen international mit der gleichen Entschlossenheit gegen jede Unterdrückung kämpfen, seien es die Angriffe auf das Abtreibungsrecht in den USA oder Italien oder Femizide und der Pflegenotstand in Österreich. Werde mit uns aktiv, um weitere Proteste zu organisieren und Teil einer internationalen Bewegung gegen den kapitalistischen Horror zu werden:

Wir kämpfen für:

  • Für das volle Recht von Frauen und LGBTQI+, sich zu kleiden und zu leben, wie sie wollen: Kampf um Freiheit, ein Ende der Gewalt und für demokratische und gewerkschaftliche Rechte. Weg mit Kopftuchpflicht, Repression und jeder Unterdrückung von Frauen, LGBTQI+, Kurd*innen und anderen!

  • Für das volle Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Bevölkerung 

  • Weg mit dem gesamten Regime, Sittenwächtern, Polizei und Revolutionsgarden!

  • Schluss mit Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit: Weg mit dem kapitalistischen System, von dem nur die superreichen Mullahs und ihre Handlanger profitieren. Wirtschaft und Gesellschaft gehören in die Hände der arbeitenden Bevölkerung, um Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu garantieren!

  • Protestbewegung ausweiten, in allen Städten, Nachbarschaften, Schulen und Betrieben: Für Streiks und Generalstreiks, um das Regime in die Knie zu zwingen! Aufbau von multiethnischen Selbstverteidigungskomitees!

  • Shah und andere etablierte Kräfte werden keine Befreiung bringen: Kein Vertrauen in westliche Mächte und jeglichen Imperialismus. Für eine unabhängige, revolutionäre Selbstorganisierung von Jugendlichen, Arbeiter*innen und Armen und Übernahme der Ressourcen und des Reichtums aus den Händen einiger weniger!

  • Internationale Solidarität von unten statt Einflussnahme durch imperialistische Mächte: Bewegung im Iran, Kurdistan, Irak, Syrien, Israel/Palästina und international ausweiten!

  • Für eine Föderation sozialistischer Länder in der gesamten Region!

Deutschland: Pflege im Streik

Kimi

Seit Anfang Mai 2022 (bei Redaktionsschluss noch andauernd) streiken 2.000 Beschäftigte der Unikliniken in Nordrhein-Westfalen (NRW) für einen Tarifvertrag - Entlastung (TVE). Dieser soll eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Qualität der Pflege ermöglichen. Die Streikstimmung ist kämpferisch, die Medien aber berichten kaum über das Geschehen und von oben kommen Einschüchterungsversuche. Der Grund für die Streiks im Pflegebereich ist nicht die Coronapandemie, sondern der Normalzustand vor Covid, der durch die Pandemie verstärkt wurde. Personalmangel, Überstunden, Mangel beim Equipment und vieles mehr steht für die Beschäftigen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen auf der Tagesordnung. Da kann es nicht verwunderlich sein, dass Kolleg*innen beginnen, sich zu organisieren und zu streiken, um für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu kämpfen.Solche Bewegungen sind nicht nur auf einzelne Bundesländer Deutschlands beschränkt, international sehen wir in den letzten Jahren immer mehr Proteste im Pflege- und Gesundheitsbereich. So etwa in Belgien mit „La santé en lutte“ (“Gesundheit im Kampf”), in Berlin an der Charité oder auch am anderen Ende der Welt in Antofagastas, Chile.Die wohl längsten Streiks im Gesundheitswesen seit Jahren zeigen viel Mut und Kampfgeist. Es treffen sich täglich hunderte Kolleg*innen beim Streikposten in Köln. Dort werden Workshops und nächste Schritte besprochen und diskutiert. Selbst die Gewerkschaft „ver.di“ ist vor Ort und hat die Kolleg*innen in diesem Streik sogar an der Erstellung der Forderungen beteiligt. Das spiegelt wider, wie stark der Druck von unten sein muss! Doch vor einer Ausweitung auf andere Bundesländer und Branchen schreckt die Gewerkschaft zurück. So sind die ökonomischen Folgen der Streiks begrenzt. Ein Teil der OP-Säle und Stationen sind zwar geschlossen, doch die Kliniken sparen sich einen Teil der Lohnzahlung und versuchen so die Verluste auszugleichen.Aktivist*innen schlagen daher auch einen Ausbau der demokratischen Strukturen vor, die Streikenden setzen das sehr konkret auch um. Gewählte Streikkomitees, breite Einbindung aller Beschäftigten aus den verschiedenen Bereichen sowie von Patient*innen, Angehörigen und Unterstützer*innen und v.a. laufend offene Diskussionen für alle am Streik beteiligten sind wichtig, um rasche Entscheidungen treffen zu können. Die SAV (Sozialistische Alternative, deutsche Schwesterorganisation der ISA) schlägt folgende weitere Forderungen und Schritte vor:

  • 500 Euro mehr im Monat für alle Beschäftigten im Gesundheitswesen, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich
  • Finanzierung des Gesundheitswesens nach Bedarf – Weg mit den Fallkostenpauschalen (DRG)
  • Mehr von uns ist besser für alle – Bedarfsgerechte gesetzliche Personalbemessung für alle Bereiche in Krankenhaus und Altenpflege
  • Gesundheitswesen in öffentliche Hand – Rekommunalisierung der Krankenhäuser, Pharmaindustrie unter demokratischer Kontrolle in öffentliches Eigentum überführen, keine Schließung von Krankenhäusern
  • Nein zur Zwei-Klassen-Medizin – Abschaffung der privaten Krankenversicherung und Zusammenführung aller Kassen zu einer einzigen öffentlichen Krankenkasse unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch Beschäftigte, Gewerkschaften, Patientenvertreter*innen und die öffentliche Hand           

Daten und Fakten:

In den letzten Jahren nehmen international die Proteste im Gesundheitsbereich stark zu. 2020 gab es in rund 80% aller Länder in diesem Sektor Proteste. 2021, dem internationalen Jahr der Gesundheits- und Pflegekräfte, gab es Milliarden für Konzerne, aber nicht für die Pflege. In Österreich protestierten im Herbst 2021 und im Frühjahr 2022 tausend Elementarpädagog*innen, mehrmals gingen Kolleg*innen aus der Pflege auf die Straße.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

UK: Verspätung mit gutem Grund: Streiks

Severin Berger

Am 21., 23. und  25.06. haben über 40.000 Eisenbahner*innen in Großbritannien an einer historischen Streikaktion teilgenommen. Diese massive Offensive ist die Reaktion auf Streichung von Arbeitsplätzen und Angriffe auf Löhne und Arbeitsbedingungen vor dem Hintergrund enormer Teuerungen.

Die Socialist Alternative (ISA in England, Wales und Schottland) unterstützte u.a. bei den Streikposten im ganzen Land. Dabei wurden erfolgreich Vernetzungen mit Beschäftigten geschaffen, Ideen und Informationen ausgetauscht und bereits an der Planung von künftigen Streikaktionen gearbeitet. Viele der Forderungen unserer Schwesterorganisation wurden von den Beschäftigten positiv auf- oder gleich übernommen:

  • Bereits jetzt beginnen, weitere Aktionstage zu planen und Streiks mit anderen Gewerkschaften koordinieren, um deren Wirksamkeit zu maximieren
  • Gemeinsame branchenübergreifende Aktionen, um das Ende aller gewerkschaftsfeindlichen Gesetze durchzusetzen
  • Re-Verstaatlichung des Verkehrs- und Transportsektors unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten, um eine nachhaltige Zukunft zu ermöglichen
  • Für eine neue kämpferische Arbeiter*innenpartei, die Streiks unterstützt und Streikenden eine politische Organisation gibt

Die Ergebnisse des Streiks sind Versprechen von Lohnerhöhungen mit bis zu 7,1%. Trotz dieses Erfolgs ist es wichtig, sich jetzt nicht auszuruhen: Denn Teile der Regierung sprechen schon von möglichen Gesetzen, um solche Streiks künftig zu erschweren.

https://www.socialistalternative.net/

USA: Kampf für Frauenrechte

Severin Berger

Die Nachricht ging um die Welt: Das Urteil Roe v. Wade, welches die Grundlage für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in den USA bildet, wurde am 24. Juni gekippt. Real wird dadurch die Entscheidung über den legalen Rahmen von Schwangerschaftsabbrüchen den jeweiligen Bundesstaaten überlassen. In vielen Fällen wurden automatisch drakonische Gesetze geltend, die den Abbruch einer Schwangerschaft teilweise härter bestrafen als z.B. eine Vergewaltigung, welche zu der Schwangerschaft geführt hat. Sofort nach Bekanntwerden wie auch bereits nachdem der erste Entwurf dieser Entscheidung Anfang Mai an die Öffentlichkeit gelangte, hat die ISA international, und besonders natürlich in den USA, mit klaren Forderungen zu Aktionen gegen diesen historischen Angriff aufgerufen. Darunter waren Proteste in New York mit über 20.000 und Houston mit über 5.000 Teilnehmer*innen. Über das ganze Land richtet sich die Wut auch gegen die Demokraten. Vielen ist klar, dass so eine Entscheidung nur durch die Fehler, oder eher beabsichtigten Schritte der “fortschrittlichen” Partei der USA möglich wurde. Und das zeigte sich klar auf der Straße: Die Socialist Alternative (ISA in den USA) organisiert Demonstrationen, Walkouts und andere Proteste und immer wieder werden vor allem auch die Demokraten für ihr Nichts-Tun kritisiert. Diese Aktionen wurden vor allem von jungen Menschen dominiert, junge Menschen, die sich bewusst sind, dass sie für ihre Rechte kämpfen und sich organisieren müssen.

Die Forderungen und Ideen der ISA sind simpel aber konsequent:

  • Eine klare gesetzliche Verankerung der fundamentalen reproduktiven Rechte auf Schwangerschaftsabbruch, um zukünftige Angriffe zu erschweren
  • Das Einführen einer Reichensteuer, um die Budgets für überlastete Kliniken zu erhöhen
  • Ausbau von Sozialdienstleistungen, um adäquate Lebensbedingungen für alle Menschen und Kinder zu ermöglichen
  • Das Nutzen von Protesten, Arbeitsniederlegungen und auch Streiks als Mittel zum Kampf

Nur durch eine Massenbewegung mit demokratischen Strukturen können wir diese Forderungen erkämpfen. Sozialistische Organisationen, Gewerkschaften und alle anderen Kämpfer*innen für soziale Gerechtigkeit müssen ihre Kräfte bündeln, um so eine Bewegung aufzubauen!

https://www.socialistalternative.org/

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

NATO, Neutral oder was?

Anna Hierman

Spätestens seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges werden die Stimmen für einen Beitritt zur NATO wieder lauter. So vertritt z.B. der Ex-Armeechef Günter Höfler die Meinung "Bester Schutz für Österreich ist ein Beitritt zur Nato." Auch in der ÖVP wird über die Beibehaltung der Neutralität diskutiert: Während sich der ehemalige Nationalratspräsident Andreas Khol für einen NATO- Beitritt ausspricht, sind andere ÖVP Politiker*innen wie Karl Nehammer (noch) für die Beibehaltung der Neutralität. Am Nato-Gipfel in Madrid nahm Nehammer dennoch teil.

Österreich: Ein neutraler Staat?

Bei großen Teilen der Bevölkerung hat die Neutralität einen hohen Stellenwert. Grundsätzlich ist die damit verbundene Ablehnung von Krieg, Aufrüstung und Nato positiv. Seit dem EU-Beitritt ist Österreich Mitglied der “Partnership of Peace”. Somit arbeitet Österreich enger mit der NATO zusammen, als die etablierte Politik zugibt. Die Neutralität ist also weniger Friedensinstrument als Mythos. Das zeigt die Stationierung von UNO “Friedenstruppen” im Tschad, wovon auch österreichische Soldaten Teil sind. Diese dienen weniger dem Wohl der dort lebenden Menschen, als der Sicherung der Interessen österreichischer Großkonzerne und Banken. Auch hat Österreich im Irakkrieg zusätzlich Truppen auf den Balkan geschickt, damit andere Nato-Staaten ihre Truppen für den Irakkrieg einsetzen konnten. Somit bleibt am Ende des Tages von der hochgeschätzten Neutralität nicht viel übrig.

Die NATO ist kein Friedensinstrument

Viele Menschen innerhalb und außerhalb der Ukraine fordern die NATO auf, in den Krieg einzugreifen, um ihn zu beenden. Von Menschen, die um Freund*innen und Verwandte in der Ukraine bangen, ist das verständlich. Jedoch würde das Einschreiten der NATO den Konflikt weiter eskalieren. Außerdem geht es diesem Bündnis nicht um Friedenssicherung oder Demokratie, sondern um die Sicherung von wirtschaftlichem und geopolitischem Einfluss im Konflikt USA-China/Russland. Daher wird die systematische Unterjochung Kurdistans durch das NATO-Mitglied Türkei ignoriert. Palästinenser*innen erfahren trotz jahrzehntelanger israelischer Aggression keinerlei Solidarität. Schließlich sind Türkei und Israel wichtige Bündnispartner. Mit einem Militärbündnis, das aus Kriegstreibern besteht, lässt sich kein Frieden schaffen. Und doch setzen alle etablierten Parteien auf Investitionen ins Militär. Doch jeder Euro, der in Tötungsmaschinen investiert wird, fehlt am Ende des Tages bei Gesundheit, Bildung, Umwelt etc. ... aber auch humanitärer Hilfe. 

Was ist nun die Alternative zu Aufrüstung, Nato oder auch Neutralität? Es braucht eine möglichst große Antikriegsbewegung, die sich gegen die Kriegshetze der herrschenden Klasse und auch gegen ihre Profitinteressen stellt. Eine der Hauptforderungen solcher Bewegungen muss das Ende der Aufrüstung sein. Arbeiter*innen überall leiden am meisten unter Aufrüstung und Krieg, daher sind es gerade Jugendliche und Arbeiter*innen auch in Russland, die trotz harter Repressionen aktiv sind und es Putin schwerer machen, den Einmarsch in die Ukraine zu rechtfertigen. Außerdem braucht es solche Bewegungen ebenfalls in anderen Ländern, um zu verhindern, dass sich andere Regierungen bzw. NATO Staaten an dem Krieg beteiligen. Um Kriege langfristig zu überwinden, führt kein Weg am Sturz des Systems vorbei. Ohne die Überwindung des Kapitalismus wird der unbarmherzige Kampf um Ressourcen und Einfluss nämlich weitergehen. Diese Bedrohung kann jedoch nicht durch die Unterstützung des “eigenen” oder eines anderen imperialistischen Staates beseitigt werden. Stattdessen braucht es eine demokratische Kontrolle der Gesellschaft, der Wirtschaft und natürlich auch des Militärs durch die Arbeiter*innen klasse.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Unikliniken NRW: 11 Wochen Streik für Entlastung

Claus Ludwig

Dieser Artikel wurde ursrünglich am 24.07. 2002 auf der Seite der Sozialistischen Alternative (ISA in Deutschland, sozialismus.info – Website der SAV) veröffentlicht. 

 

Nach 11 Wochen Streik haben die Beschäftigten der sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) durchgesetzt und die Blockade der Arbeitgeber durchbrochen. Diese hatten versucht, den Streik auszusitzen und waren mit Hilfe gewerkschaftsfeindlicher Anwaltskanzleien gerichtlich gegen den Arbeitskampf vorgegangen.

 

Bisher gab es Regelungen zur Entlastung in einzelnen Kliniken in Jena, Mainz, Homburg, Augsburg sowie beim Berliner Klinikkonzern Vivantes und der Uniklinik Charité. Mit dem nordrhein-westfälischen TVE wird zum ersten Mal ein Flächentarifvertrag durchgesetzt. Damit steigen die Chancen für die bundesweite Ausdehnung des Kampfes um Entlastung im Gesundheitswesen.

Krankenhaus ist Teamarbeit

Die Auseinandersetzung in NRW war vom Erfolg der Berliner Streiks im Herbst 2021 inspiriert. Mit ihren Forderungen gingen die Kolleg*innen aus Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster allerdings über Berlin hinaus. “Krankenhaus ist Teamarbeit” – die tarifliche Entlastung sollte nicht für die Pflege gelten, sondern für alle Bereiche.

Die Arbeitgeber verweigerten zunächst, über die nicht direkt pflegerischen Bereiche zu verhandeln, diese seien “nicht refinanzierbar”. Der Hintergrund: Die Abrechnung von Krankenhausleistungen mit den Krankenkassen basiert nicht auf den real entstehenden Kosten, sondern auf sogenannten „Fallpauschalen“ (DRG – Diagnosis Related Groups). Mit deren Einführung 2004 wurden die kapitalistische Logik im Gesundheitswesen und der Druck, mit weniger Personal mehr Fälle zu behandeln, intensiviert. Aufgrund steigender Unzufriedenheit in den Kliniken wurde 2018 ein Teil der Pflege „am Bett“ aus den Fallpauschalen herausgelöst und über ein zusätzliches “Pflegebudget” finanziert. Die Klinikvorstände bekommen zusätzliche Personalkosten in der Pflege von den Kassen ersetzt, während sie die reinen DRG-Bereiche aus dem Budget der Klinik bezahlen müssten. Nach rund 10 Wochen Streik und rund 2500 ausgefallenen Operationen gaben die Arbeitgeber ihre Abwehrhaltung gegen die Einbeziehung aller Beschäftigten auf und stimmten zu, alle im Streik befindlichen Bereiche in den TVE reinzunehmen.

Ein Hebel für die Pflege

Der Tarifvertrag gilt ab dem 1. Januar 2023. Für die Pflege inklusive der psychiatrischen Stationen und der Notaufnahmen gilt das “Modell 1”. Damit wird das Verhältnis von Beschäftigten zu Patient*innen festgelegt, auf jede Schicht bezogen. Wenn zu wenig Beschäftigte im Dienst sind – wegen Personalmangel, Ausfällen oder mehr Patient*innen – bekommen die betroffenen Kolleg*innen “Belastungspunkte”. Bei sieben Punkten bekommen sie einen Tag Freizeitausgleich. 2023 können daraus maximal 11 freie Tage entstehen, 2024 14 und ab 2025 18 Tage.

Für die Auszubildenden gab es deutliche Verbesserungen, was wichtig ist, um diese davon abzuhalten, noch während oder kurz nach der Ausbildung den Job zu wechseln.

“Für die Auszubildenden haben wir ein super Ergebnis erreicht. Für alle Ausbildungsgänge haben wir zwei Selbstlerntage pro Lehrjahr zur freien Verfügung rausgeholt. Zudem haben wir es für die Pflegeberufe geschafft, statt der gesetzlich vorgeschriebenen 10% Praxisanleitung bis zu 15%  festzuhalten. Die Azubis bekommen acht Wochen vorher den Dienstplan, zudem eine Orientierungszeit von drei Tagen bei jedem Praxiseinsatz. 60% der Praxisanleitung müssen in einem 1:1-Verhältnis durchgeführt werden, das Verhältnis von Lehrkräften zu Pflege-Azubis war durch eine Landesverordnung vorübergehend verschlechtert worden. Durch den Tarifvertrag wird es wieder auf 1:20 verbessert, früher als gesetzlich vorgesehen.”

Albert Nowak, stellvertretender Vorsitzender der Jugend- und Auszubildenden-Vertretung (JAV) am Uniklinikum Köln (UKK) und Pfleger auf der neurochirurgischen Intensivstation.

In der Radiologie, bei Therapeut*innen, im Betriebskindergarten und im Service gilt das bereichsbezogene “Modell 2”. Dort werden pauschal 10% bzw. 15% mehr Personal aufgebaut. Wird das unterschritten, entstehen bis zu fünf Entlastungstage pro Jahr. Im “Modell 3” enthalten die Beschäftigten im Case- und Patient*innenmanagement drei Tage Entlastung im Jahr (weitere Details im ver.di-Flyer). Dadurch werden die eigentlichen Probleme nicht gelöst. Unterfinanzierung und Profitorientierung bleiben bestehen, auch der Personalmangel wird nicht schnell beendet, denn Bezahlung und Arbeitsbedingungen bleiben eher unattraktiv. Doch die Beschäftigten haben zum ersten Mal einen bedienbaren Hebel, um auf Überlastung und Personalmangel zu reagieren, können sich freie Tage oder mehr Geld erkämpfen und damit Druck auf die Klinikleitungen erzeugen, mehr Personal einzustellen. Die verhandelte Regelung hat nicht wenige Haken. Sie gilt erst ab 2023. Die Klinikleitungen haben bis zu eineinhalb Jahre Zeit, die für die Erfassung notwendige Software für das “Modell 1” einzurichten. Bis diese läuft, gibt es für die betroffenen Bereiche pauschal fünf zusätzliche freie Tage. Die spürbare Entlastung wirkt dort möglicherweise erst in zwei Jahren. Die Umsetzung bei den Berliner Kliniken Charité und Vivantes ging schneller, die im Herbst 2021 verhandelten Regelungen werden ab diesem Sommer umgesetzt.  Zudem sind die Ausgleichstage für die Belastung gedeckelt, Belastung ohne Ende führt nicht zu unbegrenztem Ausgleich. Der größte Haken in NRW ist allerdings, dass die klaren Regelungen nicht für alle Bereiche gelten.

Krötenschlucken

Während für die Pflege ein schichtgenaues Modell der Entlastung gelten soll, werden die “nicht refinanzierbaren” Bereiche wie Ambulanz, Labore oder Patient*innentransport nur pauschal berücksichtigt, indem pro Klinik 30 zusätzliche Stellen geschaffen werden sollen. Die Verteilung dieser Stellen auf die einzelnen Bereiche wird nicht im Tarifvertrag festgeschrieben, sondern über die Personalräte mit den jeweiligen Klinikleitungen verhandelt.

Bitter ist, dass es keine klinikübergreifende Regelung gibt – dies haben die Vorstände verweigert –, sondern jede Klinik 30 Stellen erhält, obwohl die betroffenen Bereiche sehr unterschiedlich groß sind. Während in Köln Bereiche wie Küche, Kantine und Haustechnik outgesourced und damit überhaupt nicht vom Streik und der Tarifeinigung betroffen sind, gehören diese in Düsseldorf zur Klinik und hatten sich zudem stark am Streik beteiligt.

Für Teile der Belegschaft ist der Erfolg damit eher symbolisch. Ein Ambulanz-Kollege in Köln merkte auf der Bereichsbesprechung am 19. Juli an, dass man damit faktisch die nächsten fünf Jahre so weiterarbeiten müsse wie bisher. Dies führte dazu, dass bei der Düsseldorfer Streikversammlung am selben Tag, bei dem das Verhandlungsergebnis diskutiert wurde, 70% der Kolleg*innen gegen die Annahme stimmten und es Bereitschaft gab, den Kampf fortzuführen. In Essen, Köln, Bonn, Aachen und Münster stimmten hingegen zwischen 70 und 90% der Anwesenden für die Annahme.

Trotzdem ein Durchbruch

Für die Pflege sind reale Fortschritte enthalten, die über die Unikliniken und NRW hinaus wirken können. 77 Tage Streik zeigen, dass sich Kämpfen und Organisierung lohnen, dass die Verhältnisse geändert werden können. Der Abschluss ist ein Durchbruch, basierend auf einem Kampf, der stärker als andere Tarifbewegungen demokratisch von unten organisiert wurde.

ver.di hat die Schwächen des Abschlusses nicht verschwiegen, sondern offen kommuniziert, dass ein Teil der Ziele nicht erreicht wurde:

“Erstmalig ist es gelungen, einen Flächentarifvertrag an sechs Unikliniken in NRW zu erreichen, mit einer wirksamen Regelung, wenn der Schlüssel Personal-Patient*innen nicht erreicht wird … Alle Berufsgruppen sind im Würgegriff der sogenannten Fallpauschalen … es gilt überall das Prinzip, mit möglichst wenig Personal möglichst viele Operationen durchzuführen. Und da haben wir uns nicht an allen Punkten durchgesetzt …”

Katharina Wesenick, ver.di-Landesfachbereichsleiterin Gesundheit in NRW und Verhandlungsführerin, auf der abendlichen Pressekonferenz am 19.7.2022

 

“Ich möchte in aller Klarheit sagen, dass das nicht für alle Berufsgruppen zufriedenstellend ist. Und das nicht alle Berufsgruppen, die unter diesen Tarifvertrag fallen, gute Arbeitsbedingungen haben … Der von den Beschäftigten selber formulierte Bedarf wurde nicht berücksichtigt. Wir sind uns in der Tarif- und Verhandlungsgruppe einig, dass in Düsseldorf ein größerer Bedarf bei diesen Gruppen besteht … Wir sehen, dass das ein klarer Angriff der Arbeitgeber ist. Das ist bitter und tut weh, uns wurde da ganz klar ein kapitalistischer Riegel vorgeschoben … wir haben festgestellt, dass die Arbeitgeber ein wirklich großes Interesse daran haben, unsere gewerkschaftliche Arbeit … zu spalten.”

Lucy Hamel, UK Düsseldorf, zu den Bereichen des „Modell 4“.

Wäre mehr möglich gewesen?

Am Kölner Uniklinikum sind die Kolleg*innen stolz auf das Erreichte. Marieke Nill, Mitglied der Streikleitung und Labor-Beschäftigte, auf die Frage von sozialismus.info, ob sie mehr Licht oder mehr Schatten sehe:

“Noch strahlt das Licht heller, wir haben manche Bereiche in der Pflege, da haben wir super Ratios (Verhältnis Pflegekräfte zu Patient*innen, die Red.) bekommen. Doch ich bin im Zwiespalt bezüglich des Ergebnisses. Angesichts der Wochen vorher, wo sich nichts bewegt hat, haben wir superkrass viel geleistet und einen guten Tarifvertrag bekommen, aber wenn ich an Laborbereiche denke, ist es gedämpfter. Zu den 30 Stellen im Modell 4 können wir noch gar nicht viel sagen, wir müssen schauen, wie wir diese über die Ambulanzen und die Labore verteilen. Vielleicht ist es besser als gedacht, vielleicht kriegen aber auch nur so wenig Stellen, dass es nicht wirklich was gebracht hat, außer, dass die Bereiche mit drin stehen im TVE. Die Labore wurden ja immer vergessen und jetzt separat im TVE zu stehen, ist schon ein Erfolg. Das ist vielleicht nicht der beste TV Entlastung der Welt. Aber wir haben einen guten Start hingelegt, das ganze System DRG und Profit in den Krankenhäusern anzubohren.”

Marieke Nill, Mitglied der Streikleitung UKK Köln

 

“Wir haben so viel rausgeholt, wie das in der Situation möglich war. Wir haben um alles gekämpft, wir haben nichts leichtfertig fallen lassen, keine Berufsgruppen und Bereiche, auch wenn es Abstufungen gibt im Ergebnis. Es sind einige gute Ergebnisse dabei, aber auch welche, bei denen es nicht für die Bereiche reicht. Wir haben alle im Geltungsbereich mit drin, aber das haben wir an vielen Stellen teuer bezahlt. Mit etwas Abstand werden wir das als Erfolg sehen.”

Albert Nowak, stellvertretender Vorsitzender der JAV UKK

Der Streik war held*innenhaft, das Engagement schlicht beeindruckend, das argumentative Niveau und die politische Entwicklung der Kolleg*innen große Klasse. Die Betonung von ver.di-Funktionär*innen in der Endphase des Kampfes, eine Ablehnung des Ergebnisse würde zu einer Schlichtung führen und deren Ergebnis wäre automatisch schlechter, war allerdings nicht hilfreich. Durch dieses Suggerieren einer vermeintlichen Alternativlosigkeit wurde die Diskussion abgewürgt, bevor sie sich entwickeln konnte.

Die Probleme, den Streik fortzuführen, waren für alle offensichtlich. Nach Wochen der Verzögerung durch die Arbeitgeber waren die Streikenden müde, die Beteiligung sank zwar nur langsam, aber eine Umkehr dieser Entwicklung wäre schwierig gewesen. Doch eine offene Debatte über die Alternativen, auch darüber, welche Wirkung es hätte, wenn sich die Kolleg*innen gegen die offensichtliche Absicht der Arbeitgeber stellen, die Belegschaften durch unterschiedliche Regelungen zu spalten, wäre sinnvoll gewesen. Am Ende dieser Diskussion hätte sich möglicherweise die Mehrheit trotzdem für eine Annahme entschieden, aber das Düsseldorfer Abstimmungsergebnis verweist auf die Potenziale, sich gegen die Spaltung zu wehren. Die Klinik-Beschäftigten haben alles gegeben. Krankenhäuser sind ein schwieriges Terrain, mit vielen Beschäftigten, die nicht zum Streik aufgerufen werden können, mit Notdienstvereinbarungen, mit enormer moralischer Stimmungsmache, man lasse die Patient*innen im Stich, seitens der Klinikleitungen und teilweise der Medien. Dazu kommt der relativ geringe wirtschaftliche Druck im Vergleich mit Produktionsbetrieben. Die Kolleg*innen haben diesen Widerständen lange standgehalten. Doch für einen noch stärkeren Streik hätte es mehr Unterstützung von außen geben müssen.

Wo war der DGB?

Wegen der geringen ökonomischen Wirkung muss ein Streik im Gesundheitswesen als sozialer, politischer Streik geführt werden, um all die potenziellen Patient*innen zu erreichen. Gerade in den ersten Wochen hatte der Streik in den Medien kaum stattgefunden. Die wenigen Berichte thematisierten vor allem Probleme, die angeblich für Patient*innen entstehen würden. Das Argument der Streikenden, dass vor allem der Normalzustand die Versorgung und die Gesundheit der Patient*innen gefährde, wurde hingegen nicht transportiert. In dieser Situation hätte die Unterstützung seitens anderer ver.di-Bereiche und von Gewerkschaften wie der IG Metall ausgeweitet werden müssen. Es hätte bewusste Anstrengungen geben müssen, die Solidarität in die Betriebe, auf die Straße und die Öffentlichkeit zu bringen. Doch die historische Bedeutung des Streiks fand in den DGB-Gewerkschaften nur wenig Ausdruck. Wir reden an dieser Stelle gar nicht über Solidaritätsstreiks. Ein erster Schritt wäre gewesen, den Streik auf allen Betriebsversammlungen und – soweit vorhanden – Vertrauensleute-Sitzungen größerer Betriebe zu thematisieren. Per Flyer und Social Media hätte über den Streik informiert werden müssen. In einem zweiten Schritt hätte es lokale Demonstrationen geben können. Dort wären nicht Zehntausende gekommen, aber die Mobilisierung von Funktionär*innen und Aktiven der Gewerkschaften hätte je nach Ort Hunderte oder Tausende auf die Straße gebracht. Die Öffentlichkeitsarbeit hätte als gemeinsame Aufgabe der gesamten Gewerkschaftsbewegung verstanden werden müssen. Doch die Solidarität bestand überwiegend auf Resolutionen und Besuche beim Streikposten. Die Öffentlichkeitsarbeit blieb den Streikenden selbst und lokalen Gruppen von Unterstützer*innen – in Köln zum Beispiel die Gruppe “Profite schaden ihrer Gesundheit” – überlassen. Diese machten ihre Arbeit gut und die Streikenden haben eine ganze Reihe von beeindruckenden Demonstrationen organisiert und sich gegenseitig an den Standorten besucht. Die kollektive Anstrengung der Gewerkschaftsbewegung war jedoch gering und dies schränkte die Handlungsmöglichkeiten der Streikenden ein. Die Arbeitgeber konnten über Wochen laue Angebote und Provokationen kombinieren. Die Aachener Klinikleitung wollte den Auszubildenden die Streiktage als Fehltage angerechnen, die Leitung der Uniklinik Bonn (UKB) klagte gegen die Rechtmäßigkeit des Streiks, scheiterte allerdings vor Gericht. Die Schwächen des Abschlusses sind vor allem diesem Umstand zuzurechnen, dass es keine umfassende gewerkschaftliche Solidaritätskampagne gab. Alles, was erreicht wurde, geht hingegen auf das Konto der Streikenden, der ver.di-Aktiven in den Kliniken und der Unterstützer*innen-Gruppen. Es ist das Ergebnis der enormen Kampfbereitschaft der Beschäftigten und des erfolgreichen gewerkschaftlichen Organizings.

Belegschaft gestärkt

“Jede einzelne Kollegin auf jeder Station ist zumindest angesprochen worden. Alle Forderungen sind basisdemokratisch entstanden, jede Abteilung hat ihre eigenen Forderungen aufgestellt. Es war so demokratisch, dass es zu Anfang gar nicht verstanden wurde, viele waren überrascht, dass sie sich selber Gedanken machen sollten. Aber ich finde es super. So wird sich jede*r bei den Verhandlungen wiederfinden.”

Wibke, Kinderkrankenschwester an der UKK, in der ersten Streikwoche.

Bei der letzten Gehaltstarifrunde im Herbst 2021 gab es an den Kliniken viel Unmut über den Abschluss und darüber, dass ver.di die Ziele der Kolleg*innen nicht umgesetzt hat. Beim Streik für den TVE sah es anders aus. Die Gewerkschaft hatte die Beschäftigten an der Erstellung der Forderungen beteiligt, direkt am Streikposten saßen die einzelnen Bereiche immer wieder zusammen und konkretisierten ihre Vorschläge. Es gab eine Tarifkommission von 70 Mitgliedern und mit dem „Rat der 200“ ein breiteres Gremium, um die Verhandlungen in alle Bereiche rückzukoppeln. Die Aktivität und Kreativität war enorm. Jeden Tag war etwas los im Streikzelt. Es gab Workshops, Info-Veranstaltungen, Filmabende und Partys. Das klingt locker, aber es ist harte Arbeit, einen Streik über 11 Wochen durchzuhalten. Aktionen wie Demos sind intensiv und brauchen Vorbereitung, gleichzeitig kann nach vielen Wochen Streikposten auch Langeweile aufkommen.

An der Uniklinik Köln ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad unter den Beschäftigten-Gruppen, die sich am Streik beteiligt haben, auf über 50% gestiegen.

“Die Bereiche, die sich beteiligt haben, die Labore, die Blutspende, die Ambulanzen … waren stark, waren von Tag 1 dabei und haben sich auch mehrheitlich organisiert.”

Marieke Nill auf der ver.di-Pressekonferenz, 19.7.22. 

Trotz der kommenden Mühen der Ebene bei der Umsetzung des Kompromisses und der vom Arbeitgeber nutzbaren Ansätze zur Spaltung ist ein erster großer Erfolg dieses Streiks das enorm gewachsene Selbstbewusstsein der Beschäftigten. Sie werden sich nach dieser Erfahrung weniger von Vorgesetzten und Klinikleitungen gefallen lassen.

Wir im Pflegebereich haben zu lange zu viel mit uns machen lassen. Jetzt haben wir gesehen, wie viel Macht in den Beschäftigten des Gesundheitswesens steckt.”

Albert Nowak, JAV UKK, gegenüber sozialismus.info

Der TVE ist ein besonderer Tarifvertrag. Er greift – zumindest ansatzweise – in die Verfügungsgewalt der Arbeitgeber ein und definiert qualitative Arbeitsbedingungen nach den Kriterien der Beschäftigten. Damit leitet er über zur Idee, dass nicht die Besitzer*innen der Betriebe diese gestalten, sondern diejenigen, die dort arbeiten. Insofern war der Streik von Beginn an hochpolitisch, viele Kolleg*innen haben ihre Ideen weiterentwickelt. Bei Pressekonferenzen und in Interviews war immer wieder die Rede davon, die kapitalistische Logik im Gesundheitswesen müsse überwunden werden.

DRG abschaffen

Was bleibt … ist der Personalmangel. Der Tarifvertrag Entlastung alleine wird nicht dafür sorgen, dass Pflegekräfte in großer Zahl in ihren alten Beruf zurückkehren. Die Arbeitsbedingungen werden sich nicht schlagartig ändern, sondern langsam. Menschen, die in die Pflege gehen, werden sich jetzt möglicherweise eher für die Uniklinik entscheiden als für eine städtische Klinik, bei der der TVE nicht gilt. Das erhöht den Druck auch auf diese Kliniken. Doch das Problem der Bezahlung bleibt, außer Klatschen nichts gewesen, die nötigen mehreren Hundert Euro mehr für alle Beschäftigten sind in weiter Ferne. Vor allem bleiben die Fallpauschalen (DRG), flankiert von der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens und der Zweiklassen-Medizin der Kassen- und Privatpatient*innen. Mittels der DRG wird ein beständiger Kostendruck auf die Kliniken ausgeübt. Nicht die Versorgung der Patient*innen steht im Mittelpunkt, sondern die Profitlogik. Aufwändige Operationen und massiver Geräte-Einsatz spülen Geld in die Kassen, die menschliche Betreuung der Patient*innen, Gespräche, Zeit und Zuwendung bleiben aus Sicht der Klinikleitungen – darunter auch private, nur für den Profit existierende Konzerne – unnötige Kostenfaktoren. Entlastungstarifverträge sind erste Schritte, doch sie müssen ergänzt werden durch breite Kampagnen zur Vergesellschaftung der Pflege, zur Enteignung privater Konzerne und Rekommunalisierung von Krankenhäusern mit mehr demokratischer Kontrolle der dort Arbeitenden sowie zur Abschaffung der Fallpauschalen und Finanzierung des Gesundheitswesens nach den Bedürfnissen von Patient*innen und Beschäftigten. Der unter dem Strich erfolgreiche Streik von Nordrhein-Westfalen ist eine wichtige Wegmarke in diesem Kampf.

 

Russische Sozialist*innen im Interview

Wir haben Unterstützer*innen der Sozialistischen Alternative in Russland, die aktiv in der Antikriegsbewegung sind, zur aktuellen Lage befragt.

Wie ist die Stimmung?

Obwohl staatsnahe Umfragen auf eine knappe Mehrheit für die "Militäroperation" hindeuten, gibt es nur relativ wenige, die fest überzeugt sind, dass der Krieg richtig ist und gewonnen werden muss. V.a. unter jüngeren gibt es viel Widerstand. Aktuell zwar keine organisierten Proteste, aber laufend Einzelaktionen. Die Mehrheit derjenigen, die Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen, ist wohl gegen den Krieg. Die Arbeiter*innen einer Waffenfabrik im Ural sind in den Streik getreten, weil sie seit zwei Monaten keinen Lohn mehr erhalten haben.

Wie wirken sich die Sanktionen aus?

Das Regime rühmt sich, die Sanktionen überwunden zu haben. Der Rubel ist seit März die am stärksten wachsende Währung. Das liegt v.a. am gestiegenen Ölpreis. Obwohl die russischen Exporte gefallen sind, sind die Einnahmen deutlich gestiegen. Die Oligarch*innen haben vielleicht ein paar Milliarden verloren, aber sie haben immer noch Dutzende von Milliarden in Sicherheit gebracht, während die einfachen Leute keine Reserven haben. Westliche Unternehmen, die sich zurückgezogen haben, wurden teils durch russische Eigentümer*innen ersetzt, allerdings mit massivem Qualitätsverlust. So wird der neue Lada, der im ehemaligen Renault-Werk produziert wird, keine Airbags, ABS-Bremsen oder Navigationssysteme haben. Es werden nur wenige Statistiken veröffentlicht, aber die Löhne sind stark gesunken während die Preise dramatisch gestiegen sind.

Die soziale Lage verschlechtert sich, was sind die Reaktionen?

Es gibt neue reaktionäre Gesetze, einschließlich der möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe. Auch Frauenrechte sind in Gefahr. Aber es ist noch zu früh für Reaktionen. Viel Unzufriedenheit gibt es wegen der Zahl der Todesopfer in der Ukraine - die Soldaten kommen überwiegend aus ärmeren und ländlichen Regionen, und die Opfer sind häufig Angehörige ethnischer Minderheiten. Also nehmen die Spannungen zwischen den Regionen mit nicht-russischer Bevölkerung und Moskau zu. Es gibt viele Berichte über Soldaten, die sich weigern, in die Ukraine zu gehen und von Eltern, die Informationen über ihre toten Söhne verlangen.

Opposition ist nicht gleich Opposition?!

Nawalny, der einst eine russisch-chauvinistische Position vertreten hat, ist heute gegen den Krieg. Seine Anhänger*innen rufen zu Protesten auf, aber in unverantwortlicher Weise, ohne dass das organisiert wird und ohne klare politische Alternative. Die “Kommunistische Partei” ist fest im Lager der Kriegsbefürworter. Ein paar Dutzend haben die Partei verlassen bzw. sind ausgeschlossen worden, weil sie sich gegen den Krieg ausgesprochen haben - aber selbst von denen unterstützen einige noch die Donezker und Lugansker Republiken. Sozialist*innen rufen zur demokratisch organisierten Antikriegsbewegung auf, deren Basis die Opposition zum Regime und dem von ihm unterstützten kapitalistischen System darstellt. Natürlich fordern sie den Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine, unterstützen das Recht der Ukraine, ein unabhängiger Staat zu sein, und folglich auch das Recht, sich selbst zu verteidigen. Sie sind jedoch der Meinung, dass ein Sieg nur durch die unabhängige Organisation der Arbeiter*innenklasse und die Solidarität zwischen ukrainischen und russischen Arbeiter*innen sowie jenen im Rest der Welt möglich ist.

Was können wir im Westen tun, um die Antikriegsproteste zu unterstützen?

Zunächst einmal die aktuelle Situation diskutieren und verstehen, dass sie durch den Kapitalismus und die imperialistische Aufteilung/Neuaufteilung der Welt verursacht wird. Es gab eine sehr erfolgreiche Solidaritätskampagne, die beigetragen hat, dass die russischen Sozialist*innen sicherstellen konnten, dass Dzhavid Mamedov nicht weiter inhaftiert wurde und jetzt an einem sicheren Ort ist. Es ist wahrscheinlich, dass mit dem Fortschreiten des Krieges die internationale Solidarität von Arbeiter*innen immer wichtiger wird. Wenn ihr euch jetzt politisch vorbereitet könnt ihr wirksame Aktionen machen wenn es nötig ist.

Laufend Infos unter: www.instagram.com/socialist.news/ 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Krieg in der Ukraine bedeutet Hungersnot in Afrika

Alle 48 Sekunden stirbt in Ostafrika ein Mensch an Hunger, bedingt durch die tödliche Kombination von Kriegen, Kapitalismus und globaler Erwärmung
Per Olsson, Rattvisepartiet Socialisterna (ISA in Schweden)

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 28.06. auf der Homepage unserer Internationale, International Socialist Alternative (Food Crisis || War in Ukraine Means Famine in Africa • ISA (internationalsocialist.net), veröffentlicht.

Nach der Hungersnot in Somalia im Jahr 2011 sagte die Machtelite der Welt: "Nie wieder", aber jetzt wiederholt sich die Katastrophe, und noch mehr Menschen sind vom Hungertod bedroht. Der Hunger in der Welt nimmt aufgrund der toxischen Kombination aus Kriegen, globaler Erwärmung, Kapitalismus und Großgrundbesitzertum in alarmierendem Maße zu, zusammen mit den derzeitigen "apokalyptischen" Preissteigerungen bei Lebensmitteln und dem Schock für die Lebensmittelversorgung durch den Krieg in der Ukraine. Der Krieg verschärft die Spirale der weltweit steigenden Lebensmittel- und Kraftstoffpreise. Aber schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine war die Welt mit einer Krise der Ernährungssicherheit konfrontiert, und die globalen Lebensmittelpreise, die seit Mitte 2020 steigen, haben nun einen historischen Höchststand erreicht. Die Krise verschärft sich auch durch den weltweit zunehmenden Nahrungsmittelprotektionismus. Das Problem ist nicht, dass es zu viele Menschen gibt, die ernährt werden müssen. Es werden heute genug Lebensmittel produziert, um alle Menschen auf dem Planeten zu ernähren. Das Problem ist, wie selbst die Vereinten Nationen zugeben müssen, "der Zugang zu und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, die durch zahlreiche Herausforderungen wie die COVID-19-Pandemie, Konflikte, Klimawandel, Ungleichheit, steigende Preise und internationale Spannungen zunehmend erschwert werden. Die Menschen auf der ganzen Welt leiden unter den Dominoeffekten von Herausforderungen, die keine Grenzen kennen". Was der Ernährung der Hungernden und der notwendigen globalen Umverteilung im Wege steht, ist die kapitalistische Produktionsweise, die auf dem Privateigentum und der Kontrolle der Produktionsmittel, der Ressourcen, des Reichtums, der Verteilung und der durch den Nationalstaat repräsentierten Schranke beruht. Dies ist insbesondere jetzt der Fall, wo der Kapitalismus immer parasitärer wird und als "Katastrophenkapitalismus" bezeichnet werden könnte. "Die Bedingungen sind jetzt viel schlimmer als während des Arabischen Frühlings 2011 und der Lebensmittelpreiskrise 2007-2008, als 48 Länder von politischen Unruhen, Aufständen und Protesten erschüttert wurden", warnte David Beasley, Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms (WFP), kürzlich.

Ostafrika

Ostafrika ist ein Teil der Welt, der am stärksten betroffen ist und in dem die Hungerkrise extrem akut ist. In Äthiopien, Kenia und Somalia ist die Zahl der Kinder, die an schwerer akuter Unterernährung leiden, innerhalb von fünf Monaten um mehr als 15 % gestiegen. "Schätzungsweise 386.000 Kinder in Somalia benötigen jetzt dringend eine Behandlung wegen lebensbedrohlicher schwerer akuter Unterernährung - das sind mehr als die 340.000 Kinder, die zur Zeit der Hungersnot 2011 behandelt werden mussten." Am Horn von Afrika droht eine Explosion der Kindersterblichkeit, warnte UNICEF zu Beginn dieser Woche (7. Juni). "In den von der Dürre heimgesuchten Ländern Äthiopien, Kenia und Somalia stirbt wahrscheinlich alle 48 Sekunden ein Mensch an Hunger. Die Zahl der Menschen, die in den drei Ländern unter extremem Hunger leiden, hat sich seit dem letzten Jahr mehr als verdoppelt - von über 10 Millionen auf heute mehr als 23 Millionen. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer lähmenden Verschuldung, die sich in weniger als einem Jahrzehnt mehr als verdreifacht hat - von 20,7 Milliarden Dollar im Jahr 2012 auf 65,3 Milliarden Dollar im Jahr 2020 - und die Ressourcen dieser Länder aus dem öffentlichen Dienst und dem Sozialschutz abzieht", heißt es in einem neuen Bericht von Oxfam und Save the Children: "Dangerous Delay: The Cost of Inaction", veröffentlicht am 18. Mai 2022) Ostafrika wird von der schlimmsten und längsten Dürre seit 40 Jahren heimgesucht, nachdem zum vierten Mal in Folge unterdurchschnittliche Niederschläge gefallen sind. Der letzte saisonale Regen im März und Mai dieses Jahres war minimal. "Die Regenzeit von März bis Mai 2022 wird wahrscheinlich die trockenste seit Beginn der Aufzeichnungen sein, was die Lebensgrundlagen zerstört und zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittel-, Wasser- und Ernährungsunsicherheit führt. In Kenia (1,5 Millionen) und Äthiopien (2,1 Millionen) sind schätzungsweise 3,6 Millionen Stück Vieh verendet. In den am schlimmsten betroffenen Gebieten Somalias ist seit Mitte 2021 schätzungsweise jeder dritte Viehbestand verendet. Und es besteht ein großes Risiko, dass auch die kommende Regenzeit im Oktober-Dezember ausfällt". (Weltorganisation für Meteorologie, WMO, 31. Mai). Nach der Hungersnot in Somalia im Jahr 2011 sagte die Machtelite der Welt: "Nie wieder", aber jetzt geschieht die Katastrophe erneut, und noch mehr Menschen sind vom Hungertod bedroht. Um 30 Millionen Menschen in Äthiopien, Kenia und Somalia zu ernähren, wären laut einem Bericht von Oxfam und Save the Children Hilfen und Unterstützung im Wert von 4,4 Milliarden Dollar erforderlich. Diese Summe entspricht einem halben Prozentpunkt der jährlichen US-Militärausgaben oder nur der Hälfte dessen, was der Ölgigant Shell in den ersten sechs Monaten des Jahres an Dividenden (in Form von Rückkaufprogrammen) an seine Aktionäre ausgeschüttet hat.

Kapitalisten stehen dem Handeln im Weg

Kapitalismus und Regierungspolitik verhindern, dass die vorhandenen Ressourcen an die Bedürftigen verteilt werden. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, hat gerade einmal ein Fünftel der Mittel erhalten, die es nach eigenen Angaben benötigt, um die Hungernden zu ernähren und sauberes Wasser bereitzustellen. Die Regierungen der reicheren Länder kürzen die Hilfe oder nutzen sie als Mittel des "an Bedingungen geknüpften Humanitarismus" für ihre eigenen Zwecke und Interessen. Hilfsgelder werden geplündert, um eine Erhöhung der Militärausgaben zu finanzieren. Die deutsche Regierung hat beschlossen, die Militärausgaben auf Kosten der Hilfe zu erhöhen, während alle Regierungen in Skandinavien Hilfsgelder zur Finanzierung angeblicher Kosten für ukrainische Flüchtlinge verwendet haben - was wiederum die schwedische Regierung zum größten Empfänger ihrer eigenen Entwicklungshilfe macht. Im Vereinigten Königreich wurden trotz der akuten Krise "Zahlen im Jahresbericht des Foreign, Commonwealth and Development Office (FCDO) veröffentlicht, aus denen hervorging, dass die direkte britische Hilfe und die geplante Hilfe für Äthiopien von 241 Mio. Pfund im Jahr 2020/21 auf 108 Mio. Pfund im Jahr 2021/22 sank, was einer Kürzung um 55 % entspricht; die Hilfe für Kenia fiel von 67 Mio. Pfund auf 41 Mio. Pfund, was einer Kürzung um 39 % entspricht; und die Hilfe für Somalia fiel von 121 Mio. Pfund auf 71 Mio. Pfund, was einer Kürzung um 41 % entspricht. (The Guardian 22. Mai)

Klimakrise

Die Regierungen der reicheren kapitalistischen Länder haben mehrfach versprochen, das Klima zu bekämpfen und den armen Ländern bei der Anpassung an den Klimawandel zu "helfen", aber nie etwas davon gehalten. Das macht die Sache nur noch schlimmer, denn bis 2030 wird die Welt mit etwa 560 Katastrophen pro Jahr konfrontiert sein, im Vergleich zu 350-500 Katastrophen pro Jahr in den letzten 20 Jahren - wegen des Klimawandels und der Sackgasse des Kapitalismus. "Die wirtschaftlichen Kosten extremer Wetterereignisse wurden allein für das Jahr 2021 auf weltweit 329 Milliarden Dollar geschätzt, das dritthöchste Jahr in der Geschichte. Das ist fast das Doppelte der gesamten Hilfe, die die reichen Länder in diesem Jahr für die Entwicklungsländer bereitstellen." (Oxfam 7. Juni) Sofortige Hilfe und Unterstützung sind dringend notwendig, aber die Lösung der Krise erfordert den Kampf für einen revolutionären Wandel - für Klimagerechtigkeit, globale Umverteilung und eine demokratische, sozialistische Welt. Wie schon 2011 läuten die Alarmglocken in Ostafrika schon lange laut und deutlich, dass eine weitere Hungersnot bevorsteht. Bereits Mitte 2020 wurde vor einer Dürre in Ostafrika gewarnt, und die damaligen Langzeitprognosen deuteten auf eine sich stetig verschärfende Dürre aufgrund geringerer Regenfälle hin. Die Pandemie hat die sich abzeichnende Krise weiter verschärft. " Ostafrika ist ein Beispiel für die tiefgreifende Ungleichheit der Klimakrise. Ostafrika gehört zu den Regionen, die am wenigsten für die Klimakrise verantwortlich sind - es emittiert insgesamt weniger als 0,05 % des weltweiten CO2-Ausstoßes - und wurde dennoch in den letzten zehn Jahren wiederholt von klimabedingten Schocks heimgesucht. Es wird immer deutlicher, dass solche Schocks auch als Bedrohungsmultiplikator wirken und zu Konflikten und Fragilität führen. Bis 2030 könnten mehr als 100 Millionen Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen durch immer häufiger auftretende Extremereignisse und die Klimakrise unter die Armutsgrenze gedrängt werden. Die Klimakrise wird sowohl bestehende Konflikte verschärfen als auch die Fähigkeit der Menschen verringern, ihre Auswirkungen zu bewältigen. Die zunehmende Gefährdung durch Schocks vergrößert auch die Ungleichheiten innerhalb von Gemeinschaften, hemmt das Wirtschaftswachstum und beeinträchtigt die Wirkung langfristiger Bemühungen zur Armutsbekämpfung. Während das Ausmaß der Bedürfnisse im Jahr 2022 erschütternd ist, deutet die jüngste Analyse des UNDRR (United Nations Office for Disaster Risk) darauf hin, dass noch viel Schlimmeres bevorsteht", heißt es in dem Bericht "Dangerous Delay2: The Cost of Inaction". Während Ostafrika aufgrund der globalen Erwärmung von extremen Dürren heimgesucht wurde, fegten in diesem Jahr vier schreckliche Tropenstürme innerhalb weniger Wochen über Madagaskar und Südafrika wurde von Überschwemmungen heimgesucht. In ganz Afrika nimmt die Ernährungsunsicherheit zu. In Westafrika herrscht die schlimmste Ernährungskrise seit einem Jahrzehnt, und 27 Millionen Menschen leiden Hunger. Diese Zahl wird im Juni dieses Jahres auf 38 Millionen ansteigen - ein neuer historischer Rekord und bereits ein Anstieg um 25 % im Vergleich zum letzten Jahr. Wenn sich die derzeitigen gefährlichen Trends fortsetzen, werden bis zum Jahr 2030 weitere 100 Millionen Menschen durch extreme Wetter- und Klimakatastrophen in extreme Armut getrieben werden.

Krieg in der Ukraine bedeutet eine Hungersnot in Afrika.

Fast alle Weizen- und Sonnenblumenölimporte Ostafrikas stammen aus der Ukraine oder Russland. Der Krieg hat die Preise für diese Produkte in die Höhe schnellen lassen. Der Preis für Weizen ist um 20 % gestiegen, und in Äthiopien ist der Preis für Sonnenblumenöl um 215 % gestiegen. Allein Somalia importierte früher 92 % seines Weizens aus Russland und der Ukraine, doch jetzt sind die Versorgungswege blockiert.

Sudan und Somalia - Krise und Erbe des Imperialismus

Im Sudan droht der Krieg in der Ukraine in Verbindung mit Missernten, Militärherrschaft und wiederkehrenden bewaffneten Konflikten die Zahl der Hungernden zu verdoppeln. Der Sudan importiert mehr als die Hälfte seines Weizens aus der Ukraine und Russland, und der Preis für eine Tonne Weizen, die ein Fünftel der gesamten Kalorienzufuhr ausmacht, ist heute 180 % höher als vor einem Jahr. Gleichzeitig schlagen die hohen Kraftstoffpreise auf die Bäckereien durch. Trotz der Krise hat die Regierung Biden beschlossen, statt Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und Medikamenten 500 US-Soldaten nach Somalia zu schicken. Die US-Militäroperationen in Somalia, die in den 1990er Jahren begannen und offiziell der humanitären Bekämpfung des Hungers dienen sollten, endeten im Oktober 1993 in katastrophalen Straßenschlachten in Somalias Hauptstadt Mogadischu, bei denen Hunderte von Menschen, darunter auch Zivilpersonen, getötet wurden. 19 US-Soldaten wurden getötet und 73 verletzt, zwei Black-Hawk-Hubschrauber wurden abgeschossen. Die Schlacht in Mogadischu dauerte zwei Tage und wurde zu einem entscheidenden Moment für den US-Imperialismus, der das "Somalia-Syndrom" hervorbrachte, das besagt, dass man die "Mogadischu-Linie" nicht überschreiten und damit einen weiteren Prestigeverlust und das Leben von US-Soldaten riskieren sollte. Die militärische Intervention der USA und der UNO in Somalia ist gescheitert und hat die islamistische al-Shabab nicht daran gehindert, die Bevölkerung weiterhin zu terrorisieren. "Die USA versuchen seit 15 Jahren, al-Shabab mit militärischer Gewalt zu bekämpfen, und es hat nicht funktioniert - möglicherweise hat es den Konflikt sogar verlängert" (Sarah Harrison von der International Crisis Group gegenüber der New York Times am 16. Mai). In jüngster Zeit scheint es al-Shahab gelungen zu sein, neue Gebiete in Somalia zu erobern, das Gefahr läuft, zu einem neuen Afghanistan zu werden, in dem die Lebensmittelsicherheit in erschreckendem Maße abgenommen hat, so dass die Hälfte der Bevölkerung von akutem Hunger betroffen ist.

Nur der Kampf gegen den Kapitalismus kann den endlosen Krisen ein Ende setzen

Wie immer zahlen die afrikanischen Massen den höchsten Preis für die Krisen und Kriege des Weltimperialismus. Nur ein vereinter Kampf der Arbeiter und der Armen gegen die Politik des Teilens und Herrschens durch den Imperialismus und den einheimischen Kapitalismus für eine internationale sozialistische Transformation des Kontinents kann einen Weg aus der Unterdrückung, der Plünderung und den Katastrophen weisen, die das Leben auf dem afrikanischen Kontinent zu einem endlosen Alptraum machen.

 

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