Von Paris bis Port-au-Prince: Die bürgerliche Revolution und ihre Widersprüche

Teil 1 der Artikelserie: Revolutionen und ihre Lehren
Peter Hauer und Sebastian Kugler

 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ – Die Parole der Französischen Revolution, die 1789 begann, ist heute noch präsent. Einen „herrlichen Sonnenaufgang“ nannte der Philosoph Hegel den Sturz der absoluten Monarchie, der den Weg zu einer Gesellschaft ebnen sollte, die nicht von Tradition oder Autorität geleitet würde, sondern von Vernunft. Gegen die Macht von Adel und Kirche rebellierte der „Dritte Stand“, also jene 99%, die Bäuer*innen, Handwerker*innen, Leibeigene, aber auch Bürgerliche, also Anwälte, Ärzte, Kaufleute etc. waren. Auf sie hatte der Staat die enormen Schulden abgewälzt, die aus der Niederlage im Kampf um die weltweite Kolonialvorherrschaft entstanden - und aus dem Vermögen, das der Absolutismus aufwandte, um den teils entmachteten Adel bei Laune zu halten. Und sie alle einte der Hass auf das absolutistische „Ancien Régime", das politische Freiheit und wirtschaftlichen Fortschritt zurückhielt. Doch im Laufe der Revolution wurde immer klarer: Während die unteren Klassen – die Arbeiter*innen, Handwerker*innen, Bäuer*innen – auf den Straßen die Revolution erkämpften, richteten die Bürgerlichen die neue Gesellschaft nach ihren eigenen Klasseninteressen ein.

Bürgerliche (Konter)Revolution

Die großbürgerlichen Girondist*innen, unter ihnen viele Sklavenhändler*innen, wollten eine konstitutionelle Monarchie unter Kontrolle des Großkapitals. Gegen sie revoltierten die kleinbürgerlichen Jakobiner*innen und die proletarischen Sansculotts. An der Macht verteidigten die Jakobiner*innen, mit Robespierre an der Spitze, die Revolution gegen Rechts – Girondist*innen und Royalist*innen – aber auch die Interessen des Bürgertums gegen die proletarischen „Enragés“, die echte soziale Gleichheit forderten. Der jakobinische Terror war Ausdruck dieses Spagats, der letztlich scheitern musste. Unter Napoleon wurden die sozialen und demokratischen Errungenschaften der Revolution auf ihre fürs Kapital wesentlichen Eigenschaften zurückgerollt: Freiheit – des Eigentums an Kapital; und Gleichheit – vor der Staatsmacht. Die juristische Gleichheit verfestigt in allen modernen kapitalistischen Gesellschaften die soziale Ungleichheit: Jede*r darf einen Konzern besitzen und andere ausbeuten – und jede*r darf sich ausbeuten lassen. Wo allerdings gleiche Rechte Kapitalinteressen zuwiderlaufen, nimmt man es damit nicht so ernst: So behielt man nicht nur die Entrechtung der Frauen bei, sondern führte 1802 auch die Sklaverei wieder ein. Damit reagierte Napoleon vor allem auf die Entwicklungen in der wichtigsten französischen Kolonie: Saint Domingue (heute: Haiti).

Haiti: Spiegel der Revolution

Die Nachricht von der Französischen Revolution hatte die Kolonien in Windeseile erreicht. Saint Domingue war die lukrativste; mit unzähligen Plantagen und durch grausamen Umgang mit 450.000 Sklav*innen kam fast die Hälfte der weltweiten Baumwoll-, Kaffee- und Zuckerproduktion von dort. Die Revolution weckte Hoffnung unter den Sklav*innen. Sie begannen ab 1791, sich zu organisieren und militärischen Widerstand zu leisten. Ziel des Anführers der Rebellion Toussaint Louverture war die Abschaffung der Sklaverei und freier Zugang zu Eigentum für alle, aber nicht die Unabhängigkeit von Frankreich, da zu dieser Zeit die Jakobiner*innen die gleichen Ziele verfolgten. Wie sie scheiterte er daran, die Ideale der Revolution auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise zu verwirklichen. Napoleons Invasionsheer tötete ihn. Die Sklav*innenbefreiung konnte das nicht stoppen: Mit dem ehemaligen Sklaven Dessalines an der Spitze vertrieb die schwarze Bevölkerung alle Kolonialist*innen und gründete 1804 den Staat Haiti. Die haitianische Revolution hielt der französischen den Spiegel vor: Sie zeigte, dass echte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter kapitalistischen Bedingungen unmöglich sind. Das erfuhren leider auch die haitianischen Massen nach der Revolution: Sie fielen schnell unter das Joch eigener und neokolonialer Kapitalist*innen und Tyrannen.

Die Lehre der französischen und haitianischen Revolutionen könnte aktueller nicht sein: “Bürgerliche Freiheiten” können nur gegen die Kapitalist*innen und durch Abschaffung ihres Systems erkämpft werden – vom neuen „Dritten Stand“, der globalen Arbeiter*innenklasse.

 

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