Geschichte und politische Theorie

Trotzkis Marxismus: Eine Inspiration für heute

Trotzki verteidigte den Marxismus gegen Opportunismus und Dogmatismus.
Philipp Chmel

Ob Klimakrise oder Aufstieg des Rechtsextremismus - Trotzkis Theorien sind für heutige Kämpfe unverzichtbar.

 

Russland, 1905: Die russischen Arbeiter*innen kämpfen gegen die brutale Zarenherrschaft und für soziale Verbesserungen und demokratische Rechte wie Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und freies Wahlrecht - also Rechte, die zuvor in den großen bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und England erkämpft worden waren. Diese erste russische Revolution wird jedoch zurückgeschlagen. Trotzki, selbst zentraler Akteur der Ereignisse, zieht aus der Niederlage eine bis dahin unerhörte Schlussfolgerung: Er bricht mit der bis dahin gängigen Revolutionsvorstellung, die besagt, dass ein Land zunächst eine erfolgreiche bürgerliche Revolution - mit dem Bürgertum an der Spitze - nach dem Vorbild Frankreichs oder Englands durchführen muss, bevor der Kampf für Sozialismus geführt werden kann.

 

Trotzki erkennt, dass das russische Bürgertum im 20. Jahrhundert, anders als das englische oder französische in den Jahrhunderten davor, keine materielle Interessenbasis an einer bürgerlichen Revolution hat - denn die bürgerlichen Eigentums- und Produktionsverhältnisse waren im Weltmaßstab bereits vorherrschend und auch in Russland bereits weitgehend von oben umgesetzt. Das durch den “Kapitalismus von oben” entstehende russische Bürgertum war somit von Anfang an mit den bestehenden politischen Verhältnissen verschmolzen. Trotzkis These war die Schlussfolgerung, dass in so einer Situation die Arbeiter*innenklasse sowohl die Aufgaben der bürgerlichen als auch ihrer eigenen Emanzipation übernehmen müsste - da sie die einzige Klasse ist, in deren materiellem Interesse eine solche "permanente" Revolution ist.

Die Frage der Landreform ist ein konkretes Beispiel dafür. In den ländlichen Regionen Russlands herrschten damals tendenziell noch halb-feudale Verhältnisse, es gab eine große Masse an Landlosen. Großgrundbesitz und Kapital waren aber, unter anderem durch Investitionen, eng miteinander verzahnt. Die Kapitalist*innen hatten also kein Interesse an einer Landreform, da sie selbst vom Großgrundbesitz profitierten. Eine ähnliche Situation herrscht heutzutage in ökonomisch wenig entwickelten und neo-kolonialen Ländern, in denen Landraub durch internationale Konzerne ein massives Problem ist. Kleinbäuer*innen und Indigene werden von dem von ihnen bewirtschafteten Land vertrieben, um den Anbau von Cash-Crops oder den Abbau von Bodenschätzen zu ermöglichen. In einem Artikel zum Thema “Landgrabbing” schreibt die Plattform “Reset”: „In Brasilien besitzen 0,03% der Bevölkerung 45% der Anbauflächen, während fünf Millionen Familien völlig besitzlos sind. In den letzten 15 Jahren wurden aufgrund des kommerziellen Anbaus von Zuckerrohr ca. 35.000 Familien von ihrem Land vertrieben“. Besonders prickelnd: In dieser Zeit war der als links geltende Präsident Lula an der Macht, der entgegen seiner Wahlversprechen nicht die Rechte der Indigenen, sondern die Interessen von Industriellen wie dem „Sojakönig“ Matto Grosso, laut Greenpeace einer der Hauptverantwortlichen für die Zerstörung des Regenwaldes, schützte.

Trotzkis Theorie gilt also auch heute noch - und zwar in einem noch viel größerem Ausmaß als damals: Im Katastrophen-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts kann kein größerer Kampf um demokratische Rechte wirklich erfolgreich sein, wenn er nicht auch die wirtschaftliche Basis des politischen Systems angreift. So gelang es zwar den arabischen Revolutionen vor 10 Jahren, die Diktatoren zu stürzen - nicht aber die Armut und den Hunger, auf deren Basis sie herrschten. Dass es heute in vielen dieser Ländern noch schlimmer geworden ist, liegt nicht an den Revolutionen - sondern insbesondere daran, dass sie nicht weit genug gegangen sind.

Die Theorie der Permanenten Revolution lässt sich auch auf den Kampf gegen die Klimakrise anwenden. Nicht nur ist der Kapitalismus deren zentrale Ursache, sondern die Interessen fossiler Kapitalfraktionen (u.a. OMV, 3. Piste, Autoindustrie) bedeuten reale Zwänge für bürgerliche Parteien. Kaum an der Macht, haben sich die Grünen auch schnell von ihren Forderungen nach einem Stopp von fossilen Großprojekten verabschiedet.

Auch Trotzkis Kampf gegen den Faschismus war von dem gleichen Gedankengang geleitet: Die jeweilige materielle Interessenbasis der Klassen ist Dreh- und Angelpunkt der Analyse. Trotzki erkennt im Faschismus eine besondere Form der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion auf eine schwere Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems. Das Bürgertum entfesselte den Faschismus, um die Profite zu sichern. Über eine Massenbasis im Kleinbürgertum (z.B. kleine Gewerbetreibende) und Lumpenproletariat (z.B. Langzeitarbeitslose) versuchte der Faschismus,  jegliche Form der Arbeiter*innen-Organisation zu zerstören.
Trotzkis Schluss: Das Bürgertum kann kein Bündnispartner im Kampf gegen den Faschismus sein, da es und sein System die Basis für ihn bereitet. Dass das Bürgertum der radikalen Rechten gegenüber offen ist, wenn es darum geht, Profite und Investitionen zu sichern, können wir auch heutzutage beobachten. Das Handelsblatt titelte zum Beispiel nach der Wahl Bolsonaros: „Deutsche Wirtschaft feiert den ‚Trump der Tropen‘“.

Die Frage ist also nicht “Faschismus oder Demokratie?”, sondern “Faschismus oder Sozialismus?”- wie im spanischen Bürger*innenkrieg ab 1936, an dem Trotzki aus dem Exil leidenschaftlich Anteil nahm. Die vorherrschende stalinistische Doktrin zwang die Millionen revolutionären antifaschistischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen in ein Bündnis mit dem “republikanischen” Bürgertum gegen die faschistische Armee Francos. Doch genau diese scheinbare Breite erwies sich als Hindernis im antifaschistischen Kampf, denn die Arbeiter*innen und Bäuer*innen kämpften gegen Franco und für eine Freiheit, die ihnen das Bürgertum nicht geben wollte. Das Bürgertum schreckte vor der Revolution zurück und bremste den Kampf gegen Franco - der Faschismus siegte. Auch heute hat das Bürgertum Angst vor der mobilisierten Arbeiter*innenklasse. Denn, einmal in Bewegung, fordert diese häufig sehr schnell weitreichende soziale Verbesserungen und stellt zum Teil auch das politische und wirtschaftliche System selbst in Frage, wie die Rebellionen der letzten Jahre in Chile, Irak oder im Libanon gezeigt haben. Das Bürgertum hat also Angst, die Arbeiter*innen-Klasse für etwas zu mobilisieren, das ihren eigenen Machtverlust bedeuten kann.

 

Darum argumentierte Trotzki für eine Bündnispolitik auf dem Boden der organisierten Arbeiter*innenklasse und für ein Übergangsprogramm. Was bedeutet das? Wir müssen im hier und jetzt gegen Faschismus, Sexismus, Rassismus, andere Formen der Unterdrückung und die Klimakrise kämpfen. Da wir diese Kämpfe aber nicht im Rahmen des Kapitalismus gewinnen können, ist es notwendig, am Bewusstsein der Menschen anzusetzen und durch passende Forderungen die Brücke von den aktuellen Kämpfen zu einer sozialistischen Revolution zu spannen. Denn, wie schon Rosa Luxemburg sagte, erfordert der Kampf für den Sozialismus die Eroberung der Massen.

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Trotzki-Zeittafel

Lebensweg und wichtige Schriften

Jugend

1879: Lew Dawidowitsch Bronstein wird in Bereslawka in der heutigen Ukraine als fünftes Kind einer bäuerlichen jüdischen Familie geboren.
1896-99: Erste politische Aktivitäten, Verhaftung & Isolationshaft. In Haft Lektüre des Marx'schen „Kapital“ & Labriolas Schriften zu historischem Materialismus. Den Namen seines Gefängniswärters, 'Trotzki' nutzt er als Pseudonym.
1900: Verbannung nach Sibirien & Ehe mit Alexandra Sokolowskaja; Geburt der ersten Tochter.

Exil vor 1917

1902: Flucht aus Sibirien nach London, Mitarbeit an Lenins Zeitschrift Iskra. Bekanntschaft mit Natalia Sedowa – spätere Freundin, Ehefrau, lebenslange Genossin und engste Vertraute.
1903: Teilnahme am II. SDAPR-Kongress in Brüssel. Positionierung zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki.
1905-6: Massenstreiks und Revolution in Russland. Rückkehr aus dem Exil. Wahl zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjet. Ergebnisse und Perspektiven.
1907: Erneutes Exil in Sibirien und erneute Flucht. Übersiedlung nach Wien.
1915: Organisierung der Zimmerwalder Konferenz, bei der sich sozialistische Kriegsgegner*innen treffen.

Trotzki, der Staatsmann

1917: Rückkehr aus dem Exil nach der Februarrevolution. Beitritt zu den Bolschewiki und führende Rolle in der Oktoberrevolution.
1918-1921: Bürger*innenkrieg und Aufbau der Roten Armee.
1921: Beginn des Kampfes von Lenin & Trotzki gegen die Bürokratie.
1922: Wahl Stalins zum Generalsekretär der Bolschewiki
1924-1927: Tod Lenins. Aufbau der Linken Opposition gegen die Stalin-Clique. 1917 – Die Lehren des Oktobers

Exil nach 1928

1928: Verbannung ins Exil auf die türkische Insel Prinkipo.
1929: Eindringliche Beschäftigung mit der faschistischen Gefahr in Deutschland und Österreich, Kampf für die Einheitsfront gegen den Faschismus. Mein Leben
1930: Geschichte der russischen Revolution
1933: Porträt des Nationalsozialismus
1936: Verratene Revolution
1936-1939: Moskauer Schauprozesse & Spanischer Bürger*innenkrieg; Exil in Mexiko. Proklamation der IV. Internationale. Die spanische Lehre. Übergangsprogramm.
20. August 1940: Durch Stalins Geheimagenten Ramón Mercader in Mexiko mit einem Eispickel erschlagen. Trotzki stirbt am folgenden Tag.
 

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Der permanente Revolutionär

Leo Trotzki kämpfte sein Leben lang gegen Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus
Thomas Hauer

Vor 80 Jahren wurde der Revolutionär Leo Trotzki durch einen stalinistischen Agenten ermordet. Das Schicksal vieler revolutionärer Köpfe, die nach ihrem Tod ihres Inhalts beraubt als harmlose Götzen dargestellt wurden, blieb Trotzki jedoch erspart. Wo sein Name heute fällt, polarisiert er. Von seinen Gegner*innen – Verteidiger*innen des Kapitalismus, Faschist*innen, aber auch heutige Stalinist*innen – wird er gehasst, von seinen Anhänger*innen verteidigt. Diese Verteidigung beschränkt sich aber nicht nur auf seine Errungenschaften. Vor allem bezieht sie sich auf seine Arbeiten, Analysen und die Methode, mit der er diese erarbeitet hat. Trotzki war ein Virtuose der materialistischen Dialektik. Von Trotzki lernen heißt nicht, starre Formeln und Dogmen auswendig zu lernen, sondern eine Sache in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten, aufmerksam auf sich ändernde Rahmenbedingungen zu sein und Fehler zu akzeptieren, aber auch aus ihnen zu lernen.

 

Wo auch immer Trotzki politisch aktiv war, spielte er eine führende Rolle. In den Revolutionen 1905 und 1917 war er jeweils Vorsitzender des St. Petersburger Sowjets. Nach 1917 war er unter anderem Volkskommissar für äußere Angelegenheiten und Gründer der Roten Armee. In dieser Funktion führte er die revolutionären Arbeiter*innen und Bäuer*innen gegen imperialistische Armeen und zaristische Generäle an, die das revolutionäre Russland stürzen wollten, weil es gewagt hatte, seine Herren zu verjagen. Dieser Bürger*innenkrieg schwächte das Land enorm und vertilgte viele der besten Kommunist*innen, sodass es in den Folgejahren einer opportunistischen Clique um Stalin gelang, alle Machtpositionen zu übernehmen. Gegen diese führte Trotzki in seinen letzten 15 Lebensjahren einen entschlossenen Kampf. Gleichzeitig warnte er als erster vor dem katastrophalen Potential des Faschismus. Doch anstatt diese Warnungen ernst zu nehmen, brandmarkte der Stalinismus jede mögliche Bedrohung als Trotzkismus - so entledigte sich die stalinsche Bürokratie der besten und aufrichtigsten Köpfe der Oktoberrevolution. Der größte Gegner war hier natürlich Trotzki selbst. Neben gefälschten Bildern, vernichteten Werken und der Streichung Trotzkis aus den Geschichtsbüchern wurde auch sein Verhältnis zu Lenin verzerrt dargestellt.

 

Die beiden Führer der Oktoberrevolution waren nicht immer einer Meinung. Nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Bolschewiki und Menschewiki war ihr Verhältnis getrübt, da Trotzki damals noch nicht die Tragweite dieser Spaltung verstand. Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten vor 1917 waren sie politisch jedoch nie weit auseinander – Trotzki stand den Bolschewiki näher als den reformistischen Menschewiki – und beide hatten so viel Courage, dass sie eigene Fehler eingestehen konnten. Vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse fanden Trotzkis Theorie und Lenins Organisation zusammen: Trotzki trat erst 1917 den Bolschewiki bei, aber Lenins „Aprilthesen“ basierten auf Trotzkis Theorie der „permanenten Revolution“. Zu der Zeit hielten die führenden Bolschewiki, unter ihnen auch Stalin, Lenin für verrückt, da er in diesen Thesen von der Notwendigkeit der Machtergreifung durch das Proletariat schrieb. Der Oktober gab später Lenin und Trotzki recht. Auch 80 Jahre nach seinem Tod ist Leo Trotzki nicht nur ein Symbol für den unbeugsamen Kampf gegen Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus, sondern auch Ideengeber für Marxist*innen in Klassenkämpfen und sozialen Bewegungen weltweit.

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Keynesianismus und die Krise des Kapitalismus

George Martin Fell Brown und Tony Gong Socialist Alternative (ISA USA)

Der Keynesianismus ist eine bürgerliche ökonomische Denkschule, die die kapitalistische Wirtschaft als die Summe aller Ausgaben betrachtet, unterteilt in vier Sektoren: Konsum, Staatsausgaben, Unternehmensinvestitionen und Nettoexporte. Ein wirtschaftlicher Abschwung wird als Stocken der Ausgaben in einem dieser Sektoren angesehen - und die Lösung wird darin gesehen, dass ein anderer Sektor seine Ausgaben erhöht. Um Krisen zu verhindern, könne die Regierung verschiedene wirtschaftliche Hebel ansetzen, wie z.B. die Senkung der Zinssätze, um Anreize für Ausgaben zu schaffen, oder direkt in die Steuerausgaben eingreifen.

Das Ziel dieser Maßnahmen besteht nicht in erster Linie darin, den arbeitenden Menschen zu helfen, sondern allem voran die Unternehmen zu retten. Wie Keynes 1931 sagte: "Wenn unser Ziel darin besteht, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, ist es offensichtlich, dass wir in erster Linie die Unternehmen profitabler machen müssen". 

Der Keynesianismus betrachtet die Wirtschaft oberflächlich durch die Augen der Buchhaltung, indem er eine negative Bilanz in einem Sektor beheben will, indem er die Differenz einfach in einem anderen Sektor hinzufügt. Er kann keine Antwort darauf geben, warum die Wirtschaft sich periodisch auf einmal weigert, in die Produktion zu investieren. Marxist*innen verstehen, dass dies daran liegt, dass das gesamte kapitalistische System vom Wettlauf um Profit angetrieben wird, sodass die Konzerne Waren und Kapital überproduzieren, was zu überfüllten und übersättigten Märkten führt.

Doch neben Unternehmensförderungen gehören auch Sozialhilfeprogramme zum Instrumentarium keynesianischer Maßnahmen. Keynes' Ideen finden zunehmend Unterstützung bei der reformistischen Linken. Marxist*innen lehnen zwar den Reformismus ab, nicht aber den Kampf für Reformen. Wir kämpfen für Reformen als Teil dessen, was der russische Revolutionär Leo Trotzki die "Übergangsmethode" nannte. Das bedeutet, eine Brücke zu bauen zwischen dem Bewusstsein, wie es heute ist, und dem Verständnis für die Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Wir kämpfen für Reformen, die der Arbeiter*innenklasse unmittelbar nutzen - von der Erhöhung des Mindestlohns über Mietobergrenzen bis hin zu Steuererhöhungen für das Großkapital. Aber wir stellen auch Forderungen auf, die über den Kapitalismus hinausgehen, wie z.B. die Energieindustrie und die Großbanken in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten zu bringen. Wir kämpfen für diese Reformen durch die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse; sie werden nicht dadurch gewonnen, dass man versucht, die Kapitalist*innen von cleveren geldpolitischen Tricks oder politischen Kniffen zu überzeugen.

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Österreich nach 1945: Kein schöner Land...

Kapitalistischer Wiederaufbau und „Burgfrieden“ statt konsequentem Antifaschismus und Systemwechsel
Stefan Brandl

Die „Auferstehung“ Österreichs nach 1945 wurde von Anfang an verklärt – die Darstellungen reichen von der angeblichen Opferrolle Österreichs im Nationalsozialismus bis zur Legende vom gemeinsamen Aufbau. Insbesondere jetzt, wo etablierte Parteien den „nationalen Schulterschluss“ fordern, um ihr System in der Krise aufrechtzuerhalten, ist der Nationalmythos von 1945ff wieder aktuell. Die Realität sah jedoch anders aus.

Österreich wurde 1945 von außen und nicht aus eigener Kraft befreit. In der Moskauer Deklaration von 1943 wurde bereits von Österreich als „erstem Opfer“ des Nationalsozialismus gesprochen. Das war der denkbar beste Rahmen für die geschlagene Bourgeoisie in Österreich. 1946 hat das Außenministerium das „Rot-Weiß-Rot-Buch“ herausgegeben, um die Opferthese weiter zu untermauern.

Nach Ende des Krieges fürchtete das Kapital in den USA um die jetzt zerbombten Absatzmärkte in Europa und auch die politische Gefahr in Form der Sowjetunion – denn diese stellte eine, wenn auch extrem entstellte, Systemalternative dar. 1948-1952 zahlten die USA im Rahmen des Marshallplans Milliarden-Unterstützungen an Österreich, um ihren politischen Einfluss zu stärken und den der Sowjetunion einzudämmen. Die konsequente Entnazifizierung wurde dem kapitalistischen Wiederaufbau untergeordnet. Denn dieser funktionierte eben nur mit der Wiedereinbindung (ehemaliger) Nazis – die USA holten sich dabei auch selbst viele Nazi-Wissenschaftler*innen. Nicht nur im „Verband der Unabhängigen“ (VdU – Vorgängerpartei der FPÖ) fanden sich ehemalige Nazis wieder. Auch alle anderen Parteien buhlten um sie. Viele machten auch „unabhängig“ als Dozent*innen an Unis, Journalist*innen oder Unternehmer*innen Karriere.

Die KPÖ leistete gegen all das nicht nur keinen nennenswerten Widerstand mehr – die Einheit der österreichischen Nation war ihr politischer Dreh- und Angelpunkt. Schon im Kampf gegen den Faschismus berief sich die KPÖ vor allem auf die österreichische Nation. Damit ignorierte sie die Klassennatur des Faschismus. Die KPÖ stellte die österreichische Nation über den Sturz des Kapitalismus. Die von der KPÖ zuvor pseudowissenschaftlich argumentierte „österreichische Identität“ entwickelte sich aber erst nach 1945 mit dem Wirtschaftsaufschwung und mit der politischen Stabilität (ohne KPÖ in der Regierung) – nämlich als ideologische Waffe, als durch die politische Konkurrenz der Sowjetunion für das österreichische Kapital der Antikommunismus zum zentralen Bestandteil der neuen propagierten österreichischen Identität wurde.

Frauen leisteten einen großen Teil der Arbeit nach 1945, sowohl in den Fabriken wie auch in den Haushalten. Mit der Rückkehr der Männer wurden die Frauen jedoch zunehmend aus dem Erwerbsleben gedrängt und an Heim und Herd gekettet. Der Mythos der „Trümmerfrauen“ entstand erst später und kehrte diesen Rückschritt unter den Tisch.

Das Wirtschaftswachstum fand auf dem Rücken der Arbeiter*innenklasse statt – der ÖGB wurde nicht als kämpferische Gewerkschaft gegründet, sondern als staatstragender Verhandlungspartner der noch schwachen Kapitalist*innenklasse. Der ÖGB entstand 1945 überparteilich (SPÖ, ÖVP, KPÖ) und erst nach drei Jahren, wo die politische Ausrichtung und die Strukturen schon feststanden, wurde 1948 der erste Kongress abgehalten; die „normalen“ Mitglieder konnten keinen Einfluss auf die Gestaltung nehmen. Im selben Jahr streikten die Schuharbeiter*innen und gründeten unabhängige Streikkomitees. Ihre Forderungen nach Verbesserungen hinterging die ÖGB-Führung in einem Hinterzimmer-Kompromiss mit den Bossen, und ihre Forderung nach gewerkschaftlicher Demokratie wurde gleich ganz ignoriert. So festigte die ÖGB-Bürokratie ihre Machtbasis und den institutionellen Klassenkompromiss der Sozialpartnerschaft auf dem Rücken der Arbeiter*innen.

1950 wollte eine Regierungskoalition aus SPÖ und ÖVP, unterstützt von Unternehmen, Medien und  Gewerkschaftsführung durch das 4. Lohn-Preis-Abkommen massive Preissteigerungen (u.a. Mehl +64%, Zucker +34%, Brot +26%) durchsetzen. Sowohl die undemokratische Form – geheime Verhandlungen der Sozialpartner – als auch der unsoziale Inhalt dieser Maßnahmen führten zu Widerstand und der größten Streikwelle in der Geschichte der 2. Republik. Um die Streikwelle zu unterdrücken, wurde der Mythos eines Putsches der KPÖ erfunden – die KPÖ wurde somit zum Opfer der von ihr propagierten „österreichischen Identität“. Die letztlich verlorenen Oktoberstreiks waren der Höhe- und Endpunkt des Widerstands gegen die Vorboten des Kalten Krieges: Kapitalistische Restauration, Westintegration Österreichs, Rechtsruck der SPÖ und Reintegration der Faschist*innen.

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Krieg in Korea

Vor 70 Jahren begann der Korea-Krieg. Eine zentrale Rolle spielte dabei die UNO – fernab davon, eine Kraft für den Frieden zu sein, war sie das Organisationszentrum des Imperialismus, vor allem des US-amerikanischen. Dieser wollte sein Marionettenregime im Süden nutzen, um das ganze Land einzunehmen. Die UNO unterstützte ihn dabei. Das UNO-Oberkommando hatte übrigens der verrückte General McArthur, der 34 Atombomben abwerfen wollte. Auch ohne Abwurf kam es zu ca. 4,5 Millionen Toten - mehr als die Hälfte davon in Nordkorea. Auf den Trümmern, die der imperialistische Krieg zurückließ, konsolidierte sich in der Folge Kim Il Sungs stalinistische Diktatur.

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Keynesianismus und die Krise des Kapitalismus

Dieser Artikel erschien erstmals auf der Homepage unserer US-Amerikanischen Schwesterorganisation, Socialist Alternative, am 14.05.2020
George Martin Fell Brown und Tony Gong, Socialist Alternative (ISA USA)

Die aktuelle Wirtschaftskrise wurde zwar von der Coronavirus-Pandemie ausgelöst, aber ihre Wurzeln liegen in einer tieferen Krise des Kapitalismus, die auf den Finanzcrash von 2008-9 zurückgeht. Diese andauernde Krise offenbart das Versagen des Kapitalismus im Allgemeinen und der uneingeschränkten freien Märkte des neoliberalen Kapitalismus im Besonderen. Für die Arbeiter*innenklasse verdeutlicht dieser Abschwung die Notwendigkeit sozialistischer Veränderung. Die herrschende Klasse ist durch die Krise gezwungen, auf eine Weise in die Wirtschaft einzugreifen, die der Orthodoxie des "freien Marktes" völlig widerspricht. Dazu gehören Maßnahmen zur Stützung der Nachfrage, die gewöhnlich als "keynesianisch" bezeichnet werden, indem Geld direkt in die Taschen der arbeitenden Menschen gesteckt wird.

Der Schwenk zu keynesianischen Maßnahmen wurde am 3. April verdeutlicht, als die Redaktion der Financial Times, eine langjährige Verfechterin neoliberaler Politik, im Zuge der Coronavirus-Pandemie "radikale Reformen" forderte: "Die Regierungen werden eine aktivere Rolle in der Wirtschaft einnehmen müssen. Sie müssen öffentliche Dienstleistungen als Investitionen und nicht als Belastungen betrachten und nach Wegen suchen, die Arbeitsmärkte weniger unsicher zu machen. Umverteilung wird wieder auf der Tagesordnung stehen; die Privilegien der älteren und reichen Menschen werden in Frage gestellt. Politische Maßnahmen, die bis vor kurzem noch als verrückt betrachtet wurden, wie grundlegende Einkommens- und Vermögenssteuern, werden dabei eine Rolle spielen müssen".

Die jüngste Krisenphase brachte eine stärkere Ausrichtung auf staatliche Interventionen mit sich als 2008-9. Innerhalb weniger Wochen hat das vom US-Kongress verabschiedete staatliche Konjunkturprogramm 10% des BIP überschritten. Im Vergleich dazu dauerte die Rettungsaktion 2008 mehrere Monate und entsprach "nur" 5% des BIP. Natürlich handelt es sich bei der überwältigenden Mehrheit des "Rettungspakets" um eine Rettungsaktion für die Banken und die US-amerikanischen Unternehmen. Wie wir bereits an anderer Stelle dargelegt haben, offenbarte die Krise, wie stark sich die Unternehmen in Folge des Rettungspakets vor zehn Jahren verschuldet haben. Dies ist ein Beispiel für die zugrunde liegende wirtschaftliche Schwäche, die eine Finanzkrise biblischen Ausmaßes auszulösen drohte. Die Coronavirus-Quarantäne hat jedoch in erster Linie die Verbraucher*innenausgaben drastisch eingeschränkt. Die Kapitalist*innen, die Millionen von Arbeitnehmer*innen entlassen haben, erwarten nun von der Regierung, dass sie den Nachfrageausfall durch Konjunkturmaßnahmen und eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung ausgleicht.

Diese Art von Maßnahmen wird nicht nur in den USA durchgeführt. In Großbritannien hat die Tory-Regierung von Boris Johnson eine Maßnahme eingeführt, die arbeitslosen Arbeiter*innen 80 % ihres Einkommens bis zu 25.000 Pfund zusichert. Die Europäische Zentralbank hat die Ausgabenbegrenzungen für EU-Mitgliedsstaaten aufgehoben.

Warum geben kapitalistische Regierungen, einschließlich derer, die gestern noch drastische Kürzungsmaßnahmen durchsetzten, plötzlich den Arbeiter*innen Geld, und in welche Richtung gehen diese Maßnahmen? Werden Konjunkturprogramme die Krise aufhalten können? Um dieser Kehrtwendung einen Sinn zu geben, müssen Sozialist*innen verstehen, was Keynesianismus ist. Obwohl er oft mit dem New Deal der 1930er Jahre gleichgesetzt wird, bedeutet Keynesianismus nicht soziale Absicherung, sondern repräsentiert eine Weltanschauung mit einem spezifischen Verständnis davon, wie die kapitalistische Wirtschaft funktioniert.

Was ist Keynesianismus?

Der Keynesianismus ist eine bürgerliche ökonomische Denkschule, die die kapitalistische Wirtschaft als die Summe aller Ausgaben betrachtet, unterteilt in vier Sektoren: Konsum, Staatsausgaben, Unternehmensinvestitionen und Nettoexporte. Ein wirtschaftlicher Abschwung wird als Stocken der Ausgaben in einem dieser Sektoren angesehen - und die Lösung wird darin gesehen, dass ein anderer Sektor seine Ausgaben erhöht. Um Krisen zu verhindern, könne die Regierung verschiedene wirtschaftliche Hebel ansetzen, wie z.B. die Senkung der Zinssätze, um Anreize für Ausgaben zu schaffen, oder direkt in die Steuerausgaben eingreifen. Keynesianer*innen würden die gegenwärtige Krise als einen Produktionsrückgang in Verbindung mit einem "Rückgang der Unternehmensinvestitionen und des autonomen Konsums" charakterisieren, und da der Exportsektor nicht in der Lage ist, die Lücke zu füllen, wird das staatliche Konjunkturprogramm zum Heilmittel.

 

Das Ziel dieser Maßnahmen besteht nicht in erster Linie darin, den arbeitenden Menschen zu helfen, sondern allem voran die Unternehmen zu retten. Wie Keynes 1931 sagte: "Wenn unser Ziel darin besteht, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, ist es offensichtlich, dass wir in erster Linie die Unternehmen profitabler machen müssen". Die jüngsten Konjunkturprogramme sind zwar für viele Arbeiter*innen eine reale Unterstützung beim Kauf von Gütern des täglichen Bedarfs und bei der Zahlung von Mieten - auch wenn sie bei weitem nicht ausreichen. Aber das ist für die herrschende Klasse nicht deren Hauptzweck. Die Regierung hat sogenannte "Stimulus Checks" ausgestellt, damit die Arbeiter*innen dieses Geld durch ihre Konsumausgaben an die Unternehmen abgeben. Aber genau zur gleichen Zeit bereiten sich die Regierungen der US-Bundesstaaten mit massiven Defiziten darauf vor, die Sozialausgaben massiv zu kürzen. Die Konjunkturmaßnahmen werden befristet sein, und die herrschende Klasse wird nach allen Wegen suchen, die sie finden kann, um die Kosten dieser Krise auf den Rücken der Arbeiter*innenklasse abzuwälzen.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes entwickelte seine theoretischen Grundgedanken erstmals während der Großen Weltwirtschaftskrise. Da die damals vorherrschenden orthodoxen Wirtschaftstheorien nicht in der Lage waren, die Krise zu erklären oder politische Lösungen aufzuzeigen, wandte sich die herrschende Klasse pragmatisch an den Keynesianismus, um einen Ausweg zu finden. Roosevelt, der sich 1932 für Budgetkürzungen einsetzte, war gezwungen, zurückzurudern und 1933 den New Deal einzuleiten, um Millionen von Arbeiter*innen die dringend benötigte Arbeitsplätze, wenn auch zu Armutslöhnen, zu verschaffen. Ab 1934 sahen sich die Kapitalist*innen auch mit einer historischen Streikwelle konfrontiert, in deren Folge sich Millionen von Industriearbeiter*innen gewerkschaftlich organisierten. Um ihr System vor der Arbeiter*innenbewegung zu schützen, machte die herrschende Klasse Zugeständnisse.

Der New Deal führte jedoch nicht zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Erholung, und das Land rutschte 1937-1938 erneut in eine Rezession. Es bedurfte der staatlich geregelten Kriegsproduktion und der massiven Kapitalvernichtung im Zweiten Weltkrieg, um neue Felder für rentable Investitionen zu schaffen und die Erholung des Kapitalismus zu ermöglichen.

Struktureller Keynesianismus

Nach dem Krieg war die herrschende Klasse, vor allem in Westeuropa und in geringerem Maße auch in den Vereinigten Staaten, politisch gezwungen, einen "strukturellen Keynesianismus" zu verfolgen, was zur Etablierung des Sozialstaats führte. Die zurückkehrenden Millionen von Soldat*innen, welche die Weltwirtschaftskrise überlebt hatten und dann in der Hölle des Zweiten Weltkriegs kämpften, machten ihren Regierungen klar, dass die Verhältnisse nicht wieder so werden konnten, wie sie waren. In Europa musste das kapitalistische politische Establishment, das mit zusammengebrochenen Volkswirtschaften konfrontiert war und dem es aufgrund seiner Kollaboration mit dem Faschismus an Glaubwürdigkeit mangelte, eine Alternative zur politischen Bedrohung durch die Sowjetunion bieten.

Der Keynesianismus spielte auch eine Schlüsselrolle in der Weltwirtschaft in Form des Bretton-Woods-Systems, einer streng regulierten internationalen Währungsordnung, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft trat und bis 1971 bestand. Im Wesentlichen waren alle internationalen Währungen an den US-Dollar gebunden (eine Bestimmung, gegen die Keynes, ein Mitautor von Bretton Woods und britischer Nationalist, erbittert ankämpfte - er wollte den Welthandel an Großbritannien binden). Damit sollten die Inflation und die Zinssätze der Mitgliedsländer kontrolliert werden, um das internationale Wachstum zu fördern, und zwar auf Kosten des teilweisen Verlusts der geldpolitischen Autonomie der nationalen Zentralbanken.

Mit der breiten internationalen Akzeptanz staatlicher Interventionen im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, zusammengebrochene Volkswirtschaften wieder in Gang zu bringen, konnten die Keynesianer*innen in einer Reihe von entwickelten Ländern eine Industriepolitik umsetzen, welche die Entwicklung der nationalen Industrien mit Elementen staatlicher Planung förderte. Obwohl diese Maßnahmen nach heutigen Maßstäben radikal wirken, bestand das Ziel dieser Politik in erster Linie darin, die Profitmaschine wieder in Gang zu bringen. Mit Hilfe der Industriepolitik, massiver Sozialausgaben und internationaler Handelsgremien als wirtschaftliche Hebel walteten die Keynesianer*innen über den längsten Boom in der Geschichte des Kapitalismus, von den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre. Es schien, als ob der Keynesianismus den Kreislauf von Auf- und Abschwung überwunden hatte.

Die keynesianische Steuerung der Wirtschaftspolitik hatte zwar eine gewisse Wirkung auf die Form des Booms - die wesentlichen Faktoren für den langen Aufschwung waren aber die Kapitalvernichtung im Zweiten Weltkrieg, die Stärke des US-Imperialismus, welche die interimperialistischen Rivalitäten im Zaum hielt, das rasche Bevölkerungswachstum, die Entwicklung neuer produktiver Technologien und die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit. Die Kapitalist*innenklasse - die sich üblicherweise mit Händen und Füßen dagegen wehrt, Steuern für Sozialausgaben zu zahlen oder Beschränkungen für des Kapitalflusses zu akzeptieren - konnte beides in diesem Zeitalter beispielloser wirtschaftlicher Expansion vorübergehend tolerieren.

Doch der Boom war nicht nachhaltig. In den letzten Jahren dieses "Goldenen Zeitalters des Kapitalismus" begann sich das Produktivitätswachstum zu verlangsamen. Der Kapitalismus hat die inhärente Tendenz, industrielles Kapital zu "überakkumulieren" (übermäßig anzuhäufen), da er die Produktion immer stärker maschinisiert. Das treibt sowohl die Fixkosten als auch das Wachstum der Produktion in die Höhe. Letztere wächst schneller, als die Gesellschaft ihre Produkte absorbieren kann, was die Profitabilität beeinträchtigt. Der Nachkriegsaufschwung war ein Beispiel für diese Tendenz. Der sich verlangsamende Boom endete 1973, als die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder unter ein Ölembargo der OPEC gerieten, was zu einer plötzlichen Energieknappheit führte und eine scharfe Rezession auslöste.

Die keynesianische Politik konnte die Rohstoff-Klemme nicht durch eine Senkung der Zinssätze überwinden. Das Ergebnis war eine wachsende Inflation. Die massiven Ausgaben der US-imperialistischen Kriegsmaschinerie in Vietnam führten ebenfalls zu einer übermäßigen Inflation, ohne der Wirtschaft etwas hinzuzufügen. Diese Kombination aus stagnierendem Wachstum und Inflation - bekannt als "Stagflation" - brachte den Keynesianismus bei der herrschenden Klasse stark in Misskredit. Sie gab Bretton Woods auf, griff die Sozialausgaben an und wandte sich dem Neoliberalismus zu.

Trotz des Ausmaßes der heutigen Krise und der Diskreditierung des neoliberalen Modells, welches die letzten 40 Jahren dominiert hat, bedeutet dies nicht, dass die herrschende Klasse zum strukturellen Keynesianismus zurückkehren kann oder will. Die erforderlichen sozialen Bedingungen - eine boomende Weltwirtschaft und eine enge Koordinierung zwischen den nationalen Kapitalismen - sind nicht mehr gegeben. Der Keynesianismus, den wir heute erleben, wird eher wie die Hau-Ruck-Maßnahmen der 30er Jahre aussehen. Denn wir steuern auf einen tiefen Einbruch der Weltwirtschaft und eine Verschärfung der interimperialistischen Rivalität, insbesondere zwischen den USA und China, zu. Nichtsdestotrotz könnte die herrschende Klasse angesichts des Massendrucks oder gar der Bedrohung durch eine mögliche Revolution dennoch zu großen Zugeständnisse gezwungen sein.

Heißt das Problem Neoliberalismus oder Kapitalismus?

Seit der Krise der 1970er Jahre wandte sich die herrschende Klasse in ihrer wirtschaftlichen Herangehensweise vom Keynesianismus ab und dem Neoliberalismus zu - einer besonders parasitären Form des Kapitalismus. Der Neoliberalismus als Ideologie definiert sich durch die Beschränkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft auf den Schutz der freien Märkte und des Privateigentums. In der Praxis ist der Neoliberalismus gekennzeichnet durch die groß angelegte Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, die Öffnung der internationalen Märkte für den freien Handel, die Stabilisierung von Währungen und Schulden und den ungeschminkten Klassenkampf gegen die Arbeiter*innenklasse. Er zeichnet sich auch durch eine wachsende Rolle des Finanzkapitals und eine massive Ausweitung der Kreditvergabe aus. All dies stellte eine zeitweise Lösung für das Profitabilitätsproblem dar - aber nur, indem die Widersprüche aufgestaut wurden, die an einem bestimmten Punkt unvermeidlich explodieren mussten. Befürworter*innen des Keynesianismus, vor allem Linke, stellen den Aufstieg des Neoliberalismus als das Produkt von Gier oder Unwissenheit dar. Diese Auffassung hat sich seit 2008 verstärkt, als der neoliberale Kapitalismus in eine Krise geraten ist. Doch die herrschende Klasse übernahm den Neoliberalismus erst als Reaktion auf die hausgemachte Krise des Keynesianismus in den 1970er Jahren, der zu sinkender Rentabilität, Stagnation, Inflation und dem Bankrott von Unternehmen führte, die keine rentablen Investitionen finden konnten.

Der Neoliberalismus diente der Wiederherstellung der Profitabilität durch massive Ausweitung der Spekulation, indem er den Staatssektor durch Steuersenkungen und Privatisierungen angriff und gleichzeitig, indem er die Ausbeutungsrate durch Intensivierung der Arbeit, längere Arbeitszeiten und Lohnkürzungen massiv erhöhte. Nichts davon hielt die rückläufige Rate des Produktivitätswachstums auf, die in den USA nach dem Jahr 2000 erneut zum Vorschein kam und ein Schlüsselfaktor in der gegenwärtigen Krise ist.

Neo-keynesianische Ökonomen wie Paul Krugman sehen die Ursachen von Krisen in den Charakteristika des Neoliberalismus - den unregulierten Märkten und dem Laissez-faire-Ansatz - und nicht im kapitalistischen System als Ganzes. Sie weisen darauf hin, dass der Kürzungswahn des politischen Establishments, insbesondere des europäischen, nach 2008-09 die Wirtschaft nicht wieder in Schwung gebracht hat.

Ein System im Sinkflug

Hier müssen wir einen wesentlichen Unterschied zwischen Marxismus und Keynesianismus herausarbeiten. Marxist*innen sehen den Kapitalismus in einem Stadium des langfristigen Niedergangs. Im 18. und 19. Jahrhundert führte der Kapitalismus zu einer massiven und beispiellosen Ausweitung der menschlichen Produktivität. Der Erste Weltkrieg war ein Ausdruck des unauflösbaren Widerspruchs zwischen dem Nationalstaat und der Weiterentwicklung einer globalen Wirtschaft auf einer harmonischen Grundlage. In der Zwischenkriegszeit konnten die grundlegenden Krisen nicht gelöst werden - sie war geprägt von Stagnation und einem gesellschaftlichen Hin und Her zwischen Revolution und Konterrevolution. Der Nachkriegsboom war eine außergewöhnliche Phase. Mit der Verlangsamung der Produktivität und der Profitabilitätskrise der 70er Jahre kehrte der Kapitalismus wieder zu seiner langfristigen Niedergangstendenz zurück.

Keynesianer*innen glauben, dass sich das System nicht im Niedergang befindet und repariert werden kann. Sie sehen Krisen als Folge von"Unterkonsumption": die Senkung der Löhne und des Lebensstandards der Arbeitnehmer senke die Nachfrage und hindere die Unternehmen daran, ihre Produkte zu verkaufen. Dieser Vorgang, in marxistischer Terminologie eine "Realisierungskrise", ist sicherlich eine der Ursachen für Krisen. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte.

Während eines wirtschaftlichen Abschwungs, so der Keynesianismus, weigert sich einer der Wirtschaftssektoren, in die Produktion zu investieren, oder ist nicht in der Lage dazu. Dies führt zu einem Rückgang der Produktion und der wirtschaftlichen Aktivität im Allgemeinen, was zu Arbeitsplatzverlusten und einem Einbruch des Lebensstandards der Arbeiter*innenklasse führt. Unternehmen schrumpfen oder gehen bankrott, und die Arbeiter*innenklasse sieht sich zunehmender Armut und Arbeitslosigkeit gegenüber. Diese Realität bildet die Grundlage der keynesianischen Theorien der Unterkonsumtion, die besagen, dass die Arbeiter*innen nicht genug ausgeben, damit die Unternehmen rentabel arbeiten können. Wenn staatliche Interventionen die Nachfrage stimulieren können, so argumentieren die Keynesianer*innen, dann kehren die Investitionen zurück, und die Krisen des Kapitalismus können abgewendet werden.

Dies ist jedoch eine einseitige Sichtweise auf die kapitalistischen Krisen. Der Keynesianismus betrachtet die Wirtschaft oberflächlich durch die Augen der Buchhaltung, indem er eine negative Bilanz in einem Sektor beheben will, indem er die Differenz einfach in einem anderen Sektor hinzufügt. Er kann keine Antwort darauf geben, warum die Wirtschaft sich periodisch auf einmal weigert, in die Produktion zu investieren. Marxist*innen verstehen, dass dies daran liegt, dass das gesamte kapitalistische System vom Wettlauf um Profit angetrieben wird, sodass die Konzerne Waren und Kapital überproduzieren, was zu überfüllten und übersättigten Märkten führt.

Sogar während der letzten Konjunkturerholung erzielten die Unternehmen immer weniger Rendite aus der Ausweitung der Produktion. Darum steckten die Unternehmen ihre Gewinne vor allem in die Finanzmärkte und in Aktienrückkäufe. In der aktuellen Krise erkennen wir Überproduktion etwa an dem Beispiel, dass Apple im Jahr 2019 über 200 Milliarden Dollar in bar hortete und keine rentablen Investitionen fand. Dies weist erneut auf die längerfristige Krise des Produktivitätswachstums und die Unfähigkeit des Kapitalismus hin, die Produktivkräfte tatsächlich auszubauen, wie er es in der Vergangenheit, insbesondere während des Nachkriegsbooms, getan hat. Wenn Unternehmen in den letzten "Boom"-Jahren Investitionen ablehnten, warum sollte dann die keynesianische Politik, die ihnen in Krisenjahren zusätzliches Geld verschafft, sie zu Investitionen veranlassen?

Sowohl der Neoliberalismus als auch der Keynesianismus entwickelten sich als Reaktion auf verschiedene Krisen, mit denen der Kapitalismus konfrontiert war. Und beide scheiterten daran, den Kapitalismus auf lange Sicht zu stabilisieren. Dies wirft die Frage auf, was getan werden kann, um uns aus der gegenwärtigen Krise herauszuführen.

Kann der Keynesianismus die Krise lösen?

Staatsausgaben können in begrenztem Umfang die Nachfrage ankurbeln und bestimmte konjunkturelle Aspekte der Krise des Kapitalismus auffangen. Der New Deal hat Millionen von amerikanischen Arbeiter*innen dringend benötigte Arbeitsplätze und Unterstützung gebracht. Heute, unter den unmittelbaren Auswirkungen der Coronavirus-Lockdowns, können bestimmte Staatsausgaben die schlimmsten Aspekte der Krise mildern.

Aber das funktioniert nur in Grenzen. Noch einmal: Roosevelts New Deal war nur in einem fortgeschrittenen kapitalistischen Land mit einer starken Währung wie dem Dollar tragfähig und konnte die Wirtschaft nicht allein aus der Depression herausführen. Es brauchte die Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg und andere bereits erläuterte Bedingungen, um den Nachkriegsboom zu entfachen. Ein offensichtliches Problem bei der Lösung der gegenwärtigen Rezession besteht darin, dass sie im Gegensatz zu einem Krieg oder einer Naturkatastrophe das Kapital nicht in einer Weise vernichtet, die eine solche Dynamik ermöglichen würde.

Was wir jetzt wahrscheinlich in den USA erleben werden, ist eine pragmatische und zögerliche Einführung keynesianischer Maßnahmen parallel zu brutalen Sparmaßnahmen und möglicherweise Privatisierungen. Zur gleichen Zeit, in der die Regierung Konjunkturprogramme auf den Weg bringt, drohen die einzelnen Bundesstaaten mit massiven Kürzungen der Sozialleistungen, und die Republikaner träumen schon vom Zusammenbruch der öffentlichen Post.

Auf lange Sicht kann der Keynesianismus keine Lösung für die Krise bieten. Das Pumpen von Billionen in die Wirtschaft wird die überfüllten Märkte nicht beseitigen, welche die Investitionen verhindern. Das 2,2 Billionen Dollar schwere Konjunkturprogramm hat die Finanzmärkte vorübergehend beruhigt, aber auch bürgerliche Ökonom*innen haben mittlerweile das völlig unrealistische Gerede von einer raschen v-förmigen Erholung fallen lassen.

Japans Erfahrung der letzten drei Jahrzehnte keynesianischer Politik ist ein weiterer Beweis für die Unfähigkeit des Keynesianismus, schwere kapitalistische Krisen zu lösen. Anfang der 90er Jahre stürzte die japanische Wirtschaft ab. Die Regierung reagierte mit öffentlichen Bauprojekten, Zinssenkungen und anderen keynesianischen Maßnahmen, die bis heute andauern (mit Ausnahme einer Periode der Austerität in den frühen 2000er Jahren). Auf Kosten der Anhäufung des weltweit höchsten Schuldenstands im Verhältnis zum BIP haben die keynesianischen Maßnahmen Japans in den letzten drei Jahrzehnten, unterbrochen von kurzen Rezessionen, ein durchschnittliches jährliches reales BIP-Wachstum von gerade mal 1% erzielt. Der derzeitige Premierminister Abe nennt seine rechte Version des Keynesianismus "Abenomics" und kombiniert dabei Deregulierung und arbeiter*innenfeidliche Gesetze mit Geldspritzen an Unternehmen. All diese Maßnahmen sind völlig daran gescheitert, ein nachhaltiges Wachstum wiederherzustellen. Stattdessen haben sie unzählige Arbeiter*innen in prekäre Arbeitsverhältnisse, Teilzeit- oder Gigarbeit gedrängt. Keysnesianische Sozial- und Infrastrukturausgaben haben bisher dazu beigetragen, eine tiefe soziale Krise und ein erneutes Aufflammen des Klassenkampfes abzuwenden. Das könnte sich durch Abes rechte Reformen jedoch schnell ändern.

Keynesianismus und Sozialismus

Sozialist*innen erkennen in der zunehmenden Umsetzung keynesianischer Maßnahmen selbst durch rechte Regierungen die Heuchelei der herrschenden Klasse. Als Bernie Sanders "Medicare for All" forderte, wurde er von Biden und anderen Big-Business-Demokraten ständig mit gleichen der Frage abgewiesen: "Wer soll das bezahlen?" Aber wenn die US-Notenbank einen Teil ihres jüngsten Hilfspakets von 2,3 Billionen Dollar für Aktien und Schrottanleihen ausgeben will, um die Finanzmärkte zu stützen, fragt sie niemand, woher das Geld dafür kommen soll. Wenn man Geld auftreiben kann, um das Großkapital zu retten, warum nicht auch, um arbeitende Menschen zu retten?

Doch neben Unternehmensförderungen gehören auch Sozialhilfeprogramme zum Instrumentarium keynesianischer Maßnahmen. Keynes' Ideen finden zunehmend Unterstützung bei der reformistischen Linken und unter Aktivist*innen, die echte Verbesserungen im Interesse der Arbeiter*innenklasse erkämpfen wollen. Einige, wie Bernie Sanders, sehen in der keynesianischen Politik Beispiele für einen "demokratischen Sozialismus", und verweisen auf die skandinavischen Sozialstaaten, die jedoch ebenfalls vom Neoliberalismus ausgehöhlt worden sind. Andere räumen ein, dass die keynesianische Politik im kapitalistischen Rahmen bleibt, sehen in einer solchen Politik jedoch ein Mittel, um den Sozialismus schrittweise mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Wie dem auch sei: diese linken Keynesianer*innen sehen den Kapitalismus und seine Krisen durch die gleiche Linse wie Keynes selbst und geben die Schuld an der Krise ausschließlich dem neoliberalen Kapitalismus und nicht dem Kapitalismus im Allgemeinen. Revolutionäre Marxist*innen sehen die Dinge anders.

Die Logik des Kapitalismus wird immer zu einer Überakkumulation von Kapital und zu Überproduktion führen, was wiederum zu Krisen führt. Im Kapitalismus führt das Vorhandensein von zu viel Reichtum zu Arbeitslosigkeit und Armut. Das Problem ist, dass dieser Reichtum zwar von der Arbeiter*innenklasse geschaffen, jedoch von den Kapitalist*innen angeeignet wird. Arbeitslos gewordene Arbeiter*innen, die umgeben sind von all dem Reichtum, den sie geschaffen haben - diesen absurden Widerspruch wollen Sozialist*innen mittels einer geplanten Wirtschaft aufheben. Wenn die großen Unternehmen im Rahmen einer Planwirtschaft von den Arbeiter*innen in demokratisches öffentliches Eigentum überführt wird, können wir die Wirtschaft so umstrukturieren, dass sie für Bedürfnisse und nicht für Profite produziert. So können wir Überproduktion vermeiden. Wenn die Produktion zurückgefahren werden muss, kann eine sozialistische Wirtschaft, die vom Profitzwang befreit ist, die Arbeiter*innen einfach umschulen oder die Arbeitszeit verkürzen, um die Arbeitsplätze ohne Einkommensverlust beizubehalten. All das wird durch den enormen Reichtum möglich gemacht, den die modernen Produktivkräfte schaffen - und der heute in den Händen des reichsten 1% gehortet wird.

Keynesianismus hat im Grunde nichts mit Sozialismus zu tun, sondern ist ein Versuch, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten. Und selbst wenn es möglich wäre, linkskeynesianische Politik konsequent umzusetzen, würde das kapitalistische System intakt bleiben, wenn auch mit mehr Regulierungen, Sozialleistungen und mehr Staatseigentum. Das soll keine moralistische Kritik am Keynesianismus sein, weil er "nicht radikal genug" wäre: Reformen, die der Arbeiter*innenklasse nutzen, greifen auch in die Profite des Großkapitals ein. Das bedeutet, dass sie ständig Gefahr laufen, im kapitalistischen Hauen und Stechen auf der Jagd nach Profit zurückgeschraubt oder rückgängig gemacht zu werden.

Als Bernie Sanders in einer Debatte die Notwendigkeit von "Medicare for All" [einem öffentlichen Gesundheitswesen, Anm. d. Red.] ansprach, antwortete Joe Biden mit einem Hinweis auf Italien, das zwar über so ein System verfügt, welches aber nichtsdestotrotz in der Corona-Krise kollabiert ist. Bidens Nein zu "Medicare for All" ist selbstvesrtändlich abzulehnen. Aber die Realität ist, dass Italien seit 2001 das staatliche Gesundheitssystem ausgehöhlt hat - mit dem Ziel, es in ein profitables Anhängsel der privaten Unternehmen im Gesundheitssektor zu verwandeln. Wir sollten für Reformen wie "Medicare für All" kämpfen, aber wir müssen auch darüber hinausgehen und die gesamte Gesundheitsversorgung und letztlich alle großen Unternehmen und Banken, welche die Weltwirtschaft dominieren, in öffentliches Eigentum überführen.

Marxist*innen lehnen zwar den Reformismus ab, nicht aber den Kampf für Reformen. Marxist*innen kämpfen für Reformen als Teil dessen, was der russische Revolutionär Leo Trotzki die "Übergangsmethode" nannte. Das bedeutet, eine Brücke zu bauen zwischen dem Bewusstsein, wie es heute ist, und dem Verständnis für die Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Wir kämpfen für Reformen, die der Arbeiter*innenklasse unmittelbar nutzen - von der Erhöhung des Mindestlohns über Mietobergrenzen bis hin zu Steuererhöhungen für das Großkapital. Aber wir stellen auch Forderungen auf, die über den Kapitalismus hinausgehen, wie z.B. die Energieindustrie und die Großbanken in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten zu bringen. Aber wir kämpfen für diese Reformen durch die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse; sie werden nicht dadurch gewonnen, dass man versucht, die Kapitalist*innen von cleveren geldpolitischen Tricks oder politischen Kniffen zu überzeugen.

Darüber hinaus weisen wir auf die Grenzen jeder Reform und die Notwendigkeit hin, noch weiter zu gehen. In unserem Programm für die Coronavirus-Krise fordern wir:

- "Gefahrenzulage" für alle Schlüsselarbeitskräfte

- Volle Lohnfortzahlung für alle Arbeiter*innen, wenn sie durch die Pandemie oder die Rezession ihren Arbeitsplatz verlieren

- Einfrieren aller Miet- und Hypothekenzahlungen

- Einen Notfallplan zur Unterbringung der Obdachlosen

- Wiedereröffnung geschlossener Krankenhäuser

- Übernahme leerstehender Gebäude zur Einrichtung kostenloser medizinischer Kliniken

- Massiv beschleunigte Ausbildung und Einstellung von medizinischem Personal

- Verstaatlichung von Unternehmen, die sich weigern, die Sicherheitsstandards einzuhalten.

Forderungen wie diese verbinden Sofortmaßnahmen gegen die Krise mit der Notwendigkeit, die Wirtschaft in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigten zu überführen.

Die einzige dauerhafte Lösung für die Krise des Kapitalismus besteht darin, die 500 größten Unternehmen unter öffentliches Eigentum zu stellen und in einer demokratischen und rationalen Planung der Wirtschaft. Das Profitmotiv muss ausgeschaltet werden. Nur so können durch demokratische Strukturen von Arbeiter*innen und Konsument*innen die Ausgaben und Einnahmen so ausgeglichen werden, dass sichergestellt ist, dass die Produktion dorthin gelenkt wird, wo sie gebraucht wird. Durch eine solche sozialistische Planung können wir einen menschenwürdigen Lebensstandard für alle garantieren, den Klimawandel bekämpfen und die Krisen des Kapitalismus endgültig hinter uns lassen.

150 Jahre Lenin

Rob Jones, Sotsialisticheskaya Alternativa — ISA in Russia

Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem revolutionären Decknamen Wladimir Lenin, wurde vor 150 Jahren in der Stadt Simbirsk (heute Uljanowsk) an der russischen Wolga geboren. Im Alter von 30 Jahren gehörte er bereits zu den führenden Marxist*innen der Welt. Nur 17 Jahre später führte er zusammen mit Leo Trotzki die erste sozialistische Revolution der Welt an.

Wenn eine heutige Regierung alle internationalen Abkommen zerreißen würde, welche die Rechte der einfachen Bevölkerung einschränken, die Kontrolle über die wichtigsten Sektoren der Wirtschaft übernehmen würde, ein System der Arbeiter*innenkontrolle in der Industrie einführen und an die Arbeiter*innen und Bäuer*innen der ganzen Welt appellieren würde, zum Wohle aller zusammenzuarbeiten, würde sie begeisterte Unterstützung unter Arbeiter*innen und Unterdrückten finden. Und das alles ist nur ein Teil dessen, was die erste Sowjetregierung unter Führung der Bolschewiki im November 1917 umsetzte.

Die neue Sowjetregierung war nicht nur auf der großen Bühne revolutionär - sie veränderte fast jeden Aspekt des Lebens der einfachen russischen Werktätigen.

Das revolutionäre Russland schied sofort aus dem imperialistischen Ersten Weltkrieg aus. Es gewährte jenen nationalen Gruppen das Selbstbestimmungsrecht, welche das ehemalige russische Imperium hatten verlassen wollen. Es enteignete die Großgrundbesitzer*innen und gab allen Kleinbäuer*innen das Recht, das Land zu nutzen. Sie verweigerte der russisch-orthodoxen Kirche und anderen Religionen das Recht, sich am Staat zu beteiligen.

Während in bürgerlichen Demokratien wie Großbritannien das Wahlrecht auf grundbesitzende Männer über 21 Jahre beschränkt war, gewährte das neue Sowjetrussland allen Bürger*innen, Männern und Frauen über 18 Jahren, das Wahlrecht - sofern sie andere nicht ausbeuteten. Ein System von Sowjets ("Räten"), das aus gewählten Vertreter*innen der Arbeiter*innen, Soldat*innen und Bäuer*innen bestand, führte die Gesellschaft.

Die bolschewistische Regierung deklarierte, dass Frauen gleichberechtigt sein sollten. Sie führte ein breit angelegtes Programm zur Reduzierung des Analphabetismus unter Frauen ein. Sozialküchen, Wäschereien und Kindergärten wurden errichtet, um Druck von den Frauen zu nehmen. Die Ehe- und Scheidungsgesetze wurden dahingehend geändert, dass eine Frau eine Ehe jederzeit verlassen kann, wenn sie dies wünscht. Das Recht auf Abtreibung wurde eingeführt. Alexandra Kollontai wurde die erste weibliche Regierungsministerin der Welt. Homosexualität wurde entkriminalisiert. Eine ganze Reihe führender kultureller und politischer Befürworter*innen der Revolution waren homosexuell, darunter Georgi Tschitscherin, der Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten.

Bildung, einschließlich der Hochschulbildung, wurde für alle kostenlos gemacht. Eine Massenalphabetisierungskampagne wurde gestartet. Eine neunjährige Schulbildung wurde eingeführt, und alle, die mit 16 Jahren einen Schulabschluss erwarben, hatte das Recht, an einer Universität zu studieren. Bis 1921 wurden über 200 neue Universitäten gegründet, was die Gesamtzahl innerhalb von drei Jahren verdreifachte. Hunderte von speziellen Schulen wurden eingerichtet, um Minderheitensprachen zu unterrichten. Auch das Gesundheitswesen wurde für alle kostenlos gemacht, und alle medizinischen Einrichtungen wurden in das staatliche System integriert. Die medizinische Einstellung änderte sich radikal - anstatt vor allem darauf abzuzielen, die Wohlhabenden bei chronischen Krankheiten und Verletzungen zu behandeln, nahm der sowjetische Ansatz die Beseitigung von Infektionskrankheiten ins Visier, welche damals Hunderttausende und sogar Millionen von armen Menschen töteten. Die Lebenserwartung, die 1913 noch unter 30 Jahren lag, stieg 1926 auf 44 und bis zum Ende des Zweiten Krieges auf 60 Jahre.

Neben alledem und trotz des Bürgerkriegs, den die imperialistischen Mächte nach der Revolution anzettelten, gelang es der bolschewistischen Partei Lenins, das russische Alphabet zu modernisieren, in mehreren Regionen Schriftsprachen einzuführen und den reaktionären julianischen Kalender mit dem übrigen Europa in Einklang zu bringen. Einige ewiggestrige Konservative sind davon noch heute verwirrt und verwenden noch immer die julianischen Daten. Inlandspässe wurden abgeschafft.

Darüber hinaus war Lenin maßgeblich an der Gründung der Dritten Internationale, der Komintern, beteiligt. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, revolutionäre Bewegungen in der ganzen Welt aufzubauen.

Jugendjahre

Viele von Lenins Ideen entstanden in seiner Jugend in der Provinz Simbirsk. Sein Vater lebte in einem komfortablen, aber bescheidenen Holzhaus und war örtlicher Schulinspektor. Er nutzte die Position, um sich für Bildungsreformen einzusetzen. Die drei Uljanow-Söhne profitierten von der bildungsfreundlichen Atmosphäre, in welcher das Lesen gefördert wurde. Alexandr, der Älteste, war von revolutionärem Geist durchdrungen und schloss sich der Gruppe "Narodnaja Wolja" ("Volkswille") an. Diese vertrat die Ansicht, dass individueller Terror zur Revolution führen würde. 1887 wurde er wegen seiner Beteiligung an einem Komplott zur Ermordung des Zaren hingerichtet. Dies hinterließ in Wladimir die unumstößliche Überzeugung, dass solche Methoden schädlich seien, dass nur die organisierte und politisch bewusste Arbeiter*innenklasse die Revolution vollenden könne.

Wladimir wurde von der Universität in Kasan verwiesen, weil er bei der Organisation eines Studierendenprotestes geholfen hatte. Daraufhin zog er nach Sankt Petersburg. Dort trat er der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei, die 1898 gegründet worden war, um die Ansichten von Marx und Engels innerhalb der russischen revolutionären Zirkel und in der Arbeiter*innenbewegung zu verbreiten. Er wurde verhaftet, ins Exil geschickt und reiste nach seiner Freilassung nach Europa, wo er eine wichtige Rolle in den dortigen marxistischen Kreisen spielte. Er gründete eine Zeitung, Iskra ("Funke"), welche nach Russland eingeschmuggelt wurde.

Die sozialdemokratische Bewegung in Europa, die ursprünglich auf den Ideen von Marx und Engels beruhte, war dramatisch gewachsen. In Deutschland hatte sie mit Gewerkschaften und gewählten Vertreter*innen massenhafte Unterstützung. Lenin hatte zunächst großen Respekt vor den Giganten der europäischen Sozialdemokratie wie Karl Kautsky und Wilhelm Liebknecht sowie vor Georgi Plechanow, dem Begründer der russischen Sozialdemokratie. Aber die alte Sozialdemokratie war mittlerweile von jenen dominiert, die mehr an einer Karriere im Parlament als am revolutionären Marxismus interessiert waren.

Was tun?

Ein Wendepunkt in Lenins politischer Entwicklung kam mit der Veröffentlichung seiner Schrift "Was tun?" im Jahr 1902 und den Debatten auf dem Zweiten Kongress der russischen Sozialdemokratischen Partei 1903. Was zunächst wie ein Streit über organisatorische Fragen aussah, war in Wirklichkeit die Spaltung der sozialistischen Bewegung Russlands in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel.

Lenin plädierte dafür, die Sozialdemokratie soll eine Partei professioneller Revolutionär*innen sein, die diszipliniert, vereint und in Übereinstimmung mit dem Programm der Partei handelt. Seine Gegner*innen, angeführt von Julius Martow, meinten, die Partei solle breiter sein. Es genüge, sagte er, dass ein Mitglied dem allgemeinen Ansatz der Partei zustimme und sich nicht unbedingt an ihren Aktivitäten beteilige. Lenin gewann die Mehrheit der Stimmen - seine Fraktion wurde so zu den "Bolschewiki" ("Mehrheitler") gegen Martows "Menschewiki" ("Minderheitler").

1905

Zwei Jahre später, zu Beginn des Jahres 1905, brach die erste russische Revolution aus. Pater Gapon, ein orthodoxer Priester und wahrscheinlicher Polizeiagent, versuchte, den Zorn der Massen abzulenken und führte eine massive Arbeiter*innendemonstration zum Winterpalais des Zaren in St. Petersburg, um eine Petition mit einem Aufruf zu Reformen abzugeben. Die zaristische Polizei eröffnete das Feuer. Das löste eine massive Streikwelle im gesamten russischen Reich aus, die auch Polen und Finnland erfasste. Die Arbeiter*innen bildeten zum ersten Mal Sowjets ("Räte"). Bis Ende des Jahres war Trotzki zum Präsidenten des St. Petersburger Sowjets gewählt worden.

Viele von Lenins Bolschewiki scheiterten zwar an dieser Prüfung, Lenin selbst jedoch nicht. Einer der führenden Bolschewiki in St. Petersburg, Alexandr Bogdanow, vertrat diejenigen, die konspirativ am Aufbau einer Untergrundpartei gearbeitet hatten, aber er erwies sich als unfähig, den Wechsel zur Massenarbeit zu vollziehen. Er murmelte, dass der Sowjet, der Hunderttausende von Arbeiter*innen repräsentierte, ein Manöver Trotzkis sei, und schlug vor, dass die Bolschewiki ihm ein Ultimatum stellen sollten - der Sowjet solle das bolschewistische Programm annehmen, oder sie würden sich aus ihm zurückziehen. Lenin verstand jedoch die Bedeutung des Sowjets. Er plädierte dafür, die Partei jetzt einer Masse junger Arbeiter*innen zu öffnen, um den konservativen Einfluss der 'Komitee-Männer' zu überwinden.

Lenin zog die klare Schlussfolgerung, dass es kein Vertrauen in die liberale Bourgeoisie geben dürfe, welche sich um einen Kompromiss mit dem Zarismus bemühte, um eine verfassungsgebende Versammlung zuzulassen. Die Menschewiki halfen ihr dabei. Er argumentierte, dass die Arbeiter*innenklasse mit der armen Bäuer*innenschaft in einem revolutionären Block zusammenarbeiten sollte, um das Zarenreich zu stürzen und eine echte revolutionäre Demokratie zu errichten. Obwohl dies im bürgerlichen Rahmen bliebe, würde es der Arbeiter*innenklasse erlauben, das ganze Volk und insbesondere die Bäuer*innenschaft für "die volle Freiheit, für die konsequente demokratische Umwälzung, für die Republik! An der Spitze aller Werktätigen und Ausgebeuteten — für den Sozialismus!" (LW 9, S.104) zu kämpfen. Trotzki ging noch weiter. Er argumentierte, dass die liberale Bourgeoisie in Russland, wie in anderen rückständigen Ländern, zu schwach und unfähig sei, ihre eigene Revolution durchzuführen, so wie es die französische und englische Bourgeoisie getan hatte. Die Arbeiter*innenklasse müsse dies für sie erledigen und weiter gehen, um die sozialistische Revolution durchzuführen.

In den Jahren der Reaktion, die auf 1905 folgten, kämpfte Lenin für den Fortbestand der Partei und gegen die ultralinken Strömungen, darunter Bogdanow, der dafür eintrat, dass Revolutionär*innen nicht an der parlamentarischen Arbeit teilnehmen sollten. Doch große Herausforderungen lagen voraus.

Der Verrat der Sozialdemokratie

Die Zweite Internationale hatte immer die Ansicht vertreten, dass die Arbeiter*innenklasse aller verschiedenen Länder gemeinsame Interessen hat. Es war ein massiver Schock, als 1914 die deutsche Sozialdemokratie - mit den ehrenwerten Ausnahmen von Karl Liebknecht und Otto Rühle - im Reichstag für die Finanzierung der Kriegsmaschinerie des deutschen Imperialismus stimmten. Als Lenin die Nachricht zum ersten Mal hörte, tat er sie als Lüge ab. Doch der Menschewismus, so scheint es, war nicht nur reformistisch, sondern seine Politik führte auch zum Verrat des Internationalismus. Es blieb 38 Delegierten aus 11 Ländern überlassen, in vier Wagen zur Zimmerwald-Konferenz 1915 zu reisen, um das Banner des internationalen Sozialismus hochzuhalten.

In Russland selbst war revolutionäre Organisierung aufgrund des Krieges und der Aktivitäten der zaristischen Polizei sehr schwierig. In den ersten Monaten des Krieges wurde die bolschewistische Partei auf eine Handvoll Mitglieder reduziert. Die gesamte weibliche Mitgliedschaft war verhaftet worden. Nach und nach wurden neue Kräfte aufgebaut, aber sie waren kaum bereit für den Ausbruch einer neuen Revolution. Als eine Delegation von Arbeiterinnen zu den Bolschewiki kam, um Unterstützung bei der Vorbereitung eines Streiks zum Frauentag 1917 zu erhalten, wurde ihnen gesagt, sie sollten auf eine Entscheidung des Zentralkomitees warten. Die Bolschewiki hatten keine Druckerpresse, um ein Flugblatt für den Streik herzustellen. Es war die kleine Gruppe der Meschrajonzy ("Zwischengruppe"), eine Gruppe von revolutionären Antikriegs-Sozialdemokrat*innen, die sich später unter Trotzkis Einfluss mit den Bolschewiki zusammenschloss, die Flugblätter "gegen Krieg, hohe Preise und die Ungleichberechtigung der arbeitenden Frauen" herausgaben.

Viele der bolschewistischen Führer*innen in Russland hatten die ideologischen Kämpfe, die vor allem unter den Sozialdemokrat*innen im europäischen Exil stattgefunden hatten, abgelehnt und verstanden die Bedeutung der Unterschiede zwischen Bolschewiki und Menschewiki nicht. Selbst im April 1917 arbeiteten die Bolschewiki und Menschewiki in 54 der 68 russischen Regionen noch immer als eine Einheitspartei.

Die Wiederbewaffnung der Partei

Dennoch braute sich eine Revolution zusammen. Zu Beginn des Jahres 1917 wuchs die bolschewistische Partei - sie hatte in Petrograd inzwischen bis zu 2000 Mitglieder. Nach der Februarrevolution, kam die bürgerliche Provisorische Regierung an die Macht. Die lokale Führung der Bolschewiki, einschließlich Kamenev und Stalin, unterstützte die Provisorische Regierung. Als Lenin aus dem Exil zurückkehrte, stand er im April vor der Aufgabe, die Partei, wie Trotzki es nannte, "wiederzubewaffnen".

Nikolai Suchanow war Menschewiki, der sich am Finnischen Bahnhof in St. Petersburg befand, als Lenin nach Russland zurückkam. Als politischer Gegner, aber ehrlicher Zeuge beschrieb er, was geschah. "Wenn sie über das enthusiastische Zusammentreffen mit Lenin auf dem finnischen Bahnhof schreiben, ist das keine Übertreibung. Die soldatischen und proletarischen Massen, die von den Bolschewiki zum Bahnhof gerufen wurden, waren voller Freude [...] Die Ankunft des bolschewistischen Führers war gekennzeichnet durch seine haarsträubend anmutende Erklärung, dass 'die Flammen der sozialistischen Weltrevolution bereits brennen' [...] Die Besorgnis der Sozialisten, einschließlich der Bolschewiki, über die Rede des neu angekommenen Lenin war nicht schwer zu begreifen. Sie alle hatten Marx und Engels sowie die westlichen Sozialisten, studiert, und sie alle verstanden die Abfolge der zu unternehmenden Schritte auf die gleiche Weise [...] Zuerst die bürgerlich-demokratische Revolution und erst dann, unter Nutzung der demokratischen Freiheiten und mit der Entwicklung des Kapitalismus und dem Entstehen einer Arbeiterklasse, ein Kampf für den Sozialismus... die russischen Sozialisten bereiteten sich nicht für den bewaffneten Kampf um die Macht vor, sondern für die zukünftigen parlamentarischen Debatten in der Verfassungsgebenden Versammlung. Lenin kehrte wie ein Wirbelwind nach Russland zurück, brachte ihre Pläne durcheinander und beschloss, mit den Vorbereitungen für die sozialistische Revolution zu beginnen, in deren Verlauf die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Bauernschaft, an die Sowjets, übergehen sollte.“ [unsere Übersetzung, Anm.]

Daraufhin schrieb Lenin seine berühmten "April-Thesen". Die "Prawda" veröffentlichte sie erst, nachdem sie eine Reihe von Kommentaren darüber hinzugefügt hatte und klargestellt hatte, dass die Thesen die persönliche Meinung des Autors seien. Als er zwei Tage später vor dem bolschewistischen Zentralkomitee sprach, verlor er die Abstimmung. Sinowjew, Schljapnikow und Kamenjew waren alle gegen ihn. Letzterer erklärte: "Russland ist nicht bereit für eine sozialistische Revolution". Dserschinski fuhr Lenin an und verlangte, im Namen "der Genossen zu sprechen, die die Revolution in der Praxis durchgemacht haben". Lenin blieb jedoch standhaft - bis Ende April hatte er die Unterstützung der Partei gewonnen. Das war der Moment, sagt Suchanow, als "der politische Kalender Russlands sich beschleunigte und sich von Februar auf Oktober sprang".

Lenin war zuversichtlich, dass die Arbeiter*innenklasse und vor allem die Jugend ihn unterstützen würden. Die bolschewistische Partei wuchs im Laufe des Jahres 1917 dramatisch an, als die Voraussetzungen für den Sieg der Revolution im November reiften. Es wurde immer klarer, dass es den Liberalen und gemäßigten Sozialist*innen nicht gelingen würde, den Krieg zu beenden, die nationale Unterdrückung zu beenden, die verfassungsgebende Versammlung einzuberufen oder auch nur irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, um das Los der Massen zu verbessern. Mit Ende des Jahres zählten die Bolschewiki fast 350.000 Mitglieder. Jedes fünfte Mitglied der Partei war unter 26 Jahre alt, die Hälfte unter 35.

Das Bündnis mit Trotzki

Als Trotzki wenige Wochen nach Lenin nach Russland zurückkehrte, wurden die beiden unzertrennlich und führten gemeinsam die Revolution an. Ihre früheren Differenzen über die Notwendigkeit einer straff organisierten revolutionären Partei und über den permanenten Charakter der Revolution (welche von ihren Feind*innen dramatisch übertrieben worden waren), wurden in der Praxis beigelegt: Trotzki war überzeugt, dass Lenin mit dem ersten Punkt Recht hatte, Lenin glaubte Trotzki mit dem zweiten Punkt im Recht. Beide verstanden voll und ganz, dass eine Revolution in Russland nur dann erfolgreich sein konnte, wenn sie Teil einer umfassenden Weltrevolution war.

Lenin zitierte gerne Faust: "Grau, Teurer Freund, ist alle Theorie und Grün des Lebens goldener Baum." Er nutzte dieses Zitat, als er erklärte, warum er seine frühere Position, die Forderung nach der "revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft", geändert hatte. Er sagte: "Wer jetzt lediglich von „revolutionär-demokratischer Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, der ist gegen den proletarischen Klassenkampf, der gehört in ein Archiv für „bolschewistische" vorrevolutionäre Raritäten (Archiv „alter Bolschewiki" könnte man es nennen)" (LW 24, S.27).

Tatsächlich sind es Fragen wie diese, die den wahren Charakter Lenins zeigen. Nicht all das, was von seinen Gegner*innen dämonisiert oder von jenen vergöttert wird, die ihn gerne als allmächtig darstellen. Lenin hat Fehler gemacht oder in seinen Einschätzungen falsch gelegen. Aber wenn er das tat, konnte er seine Meinung ändern, meist nach heftigen Diskussionen mit seinen Genoss*innen.

Es war diese Herangehensweise, nun in Verbindung mit seinem engen Bündnis mit Trotzki, die es der bolschewistischen Partei ermöglichte, die Unterstützung der arbeitenden Massen und der Soldat*innen, wie sie von den Sowjets vertreten wurden, zu gewinnen und die Revolution im November zum Sieg zu führen. Die neue sowjetische Regierung machte sich daran, Russland nach sozialistischen Gesichtspunkten umzugestalten.

Aber der Imperialismus sah das sozialistische Russland zu Recht als ein Signal für die Arbeiter*innen im Rest der Welt. Sie begannen einen brutalen Bürger*innenkrieg - mindestens 14 imperialistische Armeen, darunter die britische, deutsche, US-amerikanische, japanische und französische, unterstützten die ehemaligen zaristischen und Weißgardist*innengruppen bei dem Versuch, die Revolution zu stürzen. Die heroischen Opfer, die die Arbeiter*innenklasse während des Krieges brachte, ließen sie erschöpft und ausgelaugt zurück. Das Stocken der Weltrevolution, insbesondere nach dem Verrat der deutschen Revolution durch die Sozialdemokratie, isolierte die rückständige Wirtschaft. Dies hatte Folgen: die Revolution degenerierte.

Lenins letztes Gefecht

Es gab zwei gescheiterte Mordanschläge auf Lenin. Der erfolgreichere war der zweite im Jahr 1918. Fanny Kaplan, eine linke Sozialrevolutionärin, traf ihn mit einer Kugel im Nacken. Dies war mitverantwortlich für die Schlaganfälle, die er später erlitt, bevor er 1924 starb. In dieser Zeit erkannte er, dass die reaktionären Kräfte innerhalb des neuen Sowjetstaates rund um das Triumvirat Sinowjew-Kamenjew-Stalin an Stärke zunahmen. Lenin beschrieb dies als "... in einen fauligen bürokratischen Sumpf gesogen zu werden" [unsere Übersetzung, vgl. Louis Fischer: The life of Lenin, S.564] Um dem entgegenzuwirken, schlug er einen Pakt mit Trotzki zur Bekämpfung der sich ausbreitenden Bürokratie vor. Doch leider war der objektive Trend gegen sie. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts entwickelte sich eine bürokratische politische Konterrevolution, die in der schrecklichen stalinistischen Diktatur gipfelte. Der Stalinismus machte unter Beibehaltung des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln viele der sozialen und demokratischen Errungenschaften der Revolution zunichte.

Lenins Vermächtnis

Abgesehen davon, dass Lenin mit Trotzki der Führer der russischen Revolution war, hat er uns ein großes theoretisches und praktisches Erbe hinterlassen. Er hat gezeigt, warum es notwendig ist, eine starke revolutionäre Organisation mit einem klaren Programm aufzubauen, die in der Lage ist, die Arbeiter*innenklasse im Kampf für den Sozialismus zu vereinen. Eine solche Partei, warnte er, würde nicht in allen Ländern auf die gleiche Weise aufgebaut werden. Revolutionär*innen, so argumentierte er, sollten "alle sonstigen Gebiete, Sphären und Seiten des öffentlichen Lebens ununterbrochen, unablässig, unentwegt ausnutzen und in allen diesen Bereichen auf neue, auf kommunistische Art" (LW 31, S.85)

Seine Analyse des Staates als Instrument der Unterdrückung in der Klassengesellschaft ist heute von ungeheurer Relevanz. Kapitalistische Regierungen versuchen heute, uns während der Coronakrise einzureden, dass wir alle im gleichen Boot säßen, um die Arbeiter*innenklasse die Kosten der Krise tragen zu lassen. Lenins Herangehensweise an die nationale Frage auf der Grundlage der Anerkennung des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung ist auch heute noch revolutionär. Zahlreiche kapitalistische Regierungen verweigern national Unterdrückten dieses Recht, sei es in Kurdistan, Katalonien, Tibet oder in Nordafrika. Darüber hinaus gibt es die Erfahrung mit der Einheitsfront-Taktik der Bolschewiki, die es ihnen ermöglichte, durch die Sowjets eine mächtige, vereinte Bewegung aufzubauen, die in der Lage war, den Kapitalismus zu stürzen.

Vielleicht ist aber vor allem Lenins Herangehensweise an den revolutionären Marxismus hervorzuheben. Er betrachtete ihn nie als Dogma, sondern entwickelte ihn anhand von lebendigen Erfahrungen. Wie er selbst bemerkte: "Wer eine „reine" soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution." (LW 22, S.364)

Der Kapitalismus und die Spanische Grippe von 1918-1919

Keishia Taylor (Socialist Party Irland 1.4.2020)

Public Library of Science (CC BY 2.5)

Die „Spanische Grippe“ von 1918-1919 tötete zwischen 50-100 Millionen Menschen, mehr als die Zahl der Todesopfer im Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammen. Laut der Expertin Laura Spinney hat die „Spanische Grippe“ „die menschliche Bevölkerung radikaler als alles andere seit dem Schwarzen Tod umgestaltet“.

Die Plage des Krieges

Die Grippeepidemie begann im Frühjahr 1918 und breitete sich aufgrund der Truppenbewegungen des Ersten Weltkriegs schnell in ganz Europa aus. Bis zur Hälfte der britischen und drei Viertel der französischen Soldaten infizierten sich, als die Epidemie unter den unterernährten Soldaten, die in verrotteten Schützengräben und Armeelagern zusammengepfercht waren, wütete.

Als das Virus mutierte, entwickelten sich schockierende neue Symptome, darunter bei Menschen, die durch Sauerstoffmangel und vermehrte Blutungen blau anliefen. Die Sterblichkeitsrate schnellte in die Höhe, insbesondere unter jungen Erwachsenen in der Blüte ihres Lebens, wie bei Soldaten. Man geht inzwischen davon aus, dass dies durch eine Überstimulation des Immunsystems, einen Zytokinsturm sowie durch Sekundärinfektionen wie Lungenentzündungen verursacht wurde. Doch die damaligen Ärzte waren davon überrascht. Während der Ursprung des Virus noch immer umstritten ist, gilt als sicher, dass die Pandemie ohne die Truppenbewegungen, die Umleitung von Ressourcen und die Gesundheitsschäden für Soldaten und Zivilisten infolge des Ersten Weltkriegs nicht aufgetreten wäre.

„Ruhe bewahren und weitermachen“

Während sich die verheerendste Pandemie der Geschichte entfaltete, waren die Propagandamaschinen der imperialistischen Länder vor allem damit beschäftigt, die Krise zu leugnen und herunterzuspielen, um die Moral und die patriotische Kriegsbegeisterung aufrechtzuerhalten und „dem Feind“ nicht zu helfen. Nur die Presse im neutralen Spanien berichtete über den Ausbruch der Epidemie und gab der Grippe ihren Namen.

Tatsächlich wurde die Unterdrückung der Wahrheit über das Ausmaß der gegenwärtigen Pandemie auch in den letzten Wochen versucht, insbesondere von Trump in den USA und von den Tories in Großbritannien, auch wenn dies aufgrund der Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten der modernen Zeit viel weniger erfolgreich war.

1918 genehmigten Gesundheitsbeamte in Philadelphia eine Freiheitsparade, an der 200.000 Menschen teilnahmen und die eine Woche später 759 Todesopfer forderte. Als Massengräber ausgehoben, Schulen geschlossen und öffentliche Versammlungen verboten wurden, verkündete eine Zeitung: „Dies ist keine Maßnahme des öffentlichen Gesundheitswesens. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung“. US-Präsident Woodrow Wilson hat nie eine öffentliche Erklärung über die Epidemie abgegeben.

Arthur Newsholme, Großbritanniens leitender medizinischer Offizier, entschied, dass „die unerbittlichen Bedürfnisse der Kriegsführung das Eingehen [des] Risikos der Verbreitung einer Infektion rechtfertigen“, und forderte die Menschen auf, in Ruhe „weiterzumachen“. Diese Slogan wurde später durch die Propaganda des Zweiten Weltkriegs populär. Für die kapitalistischen Regierungen auf beiden Seiten war der Sieg im imperialistischen Krieg das Wichtigste, ungeachtet der menschlichen Kosten. Ein Umsteuern der Ressourcen zur Versorgung der Gesundheit der Bevölkerung kam für sie nicht in Frage.

Die Auswirkungen der Pandemie

Erst als die Soldaten eher an der Grippe als bei der Kriegshandlungen starben, nahmen die Regierungen sie zur Kenntnis. Erste Kontaktbeschränkungen wurden notwendig. Es gab nicht mehr genug gesunde Lehrer und Arbeiter, um Schulen und Fabriken in Gang zu halten. Die Arbeiterklasse misstraute der staatlichen Propaganda. Mangels Informationen hielten die Menschen intuitiv Distanz zueinander, um sich nicht mit der Krankheit anzustecken.

Der Krieg stürzte die Arbeiterklasse an der Front und zuhause in schreckliche Not und Tragödien; aber die russische Revolution vom Oktober 1917 inspirierte die Arbeiter in der ganzen Welt zum Kampf für eine bessere Zukunft. Damals kam es weltweit zu Aufständen, am bekanntesten ist die deutsche Revolution von 1918 bis1919. Irland, wo 15.000 Menschen an der Grippe starben, erlebte 1918 den Generalstreik gegen die Wehrpflicht, 1919 den Streik der Belfaster Ingenieure und 1919 den Limerick-Sowjetstreik.

Sowohl der Krieg als auch die unzureichenden Reaktionen auf die Pandemie haben die Regierungen und das gesamte System als gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet entlarvt. Die Ausbeutung von Mensch und Land zum Beispiel in Indien und das Versagen der britischen Kolonisten, überhaupt ein Gesundheitssystem bereitzustellen, führten zu 17 Millionen Toten (5% der indischen Bevölkerung), was den antikolonialen Kampf weiter anheizte.

Öffentliche Gesundheit

Die weltweiten Verheerungen durch die Spanische Grippe hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf das Bewusstsein der arbeitenden Menschen überall in der Welt. Die Epidemie zeigte, dass die Gesundheit der Gesellschaft ein kollektives Problem ist, nicht ein individuelles. Sie stellte die vorherrschende Ideologie in Frage, dass „der ungewaschene Pöbel“ (wie die Arbeiterklasse und die Armen von der herrschenden Klasse abwertend bezeichnet wurden), nur sich selbst die Schuld für ihre Krankheit zu geben hätten, da das schiere Ausmaß der Krise auch die Wohlhabenden und die Offizierskaste betraf.

In den folgenden Jahren begann die Idee einer sozialisierten Medizin, die für alle zugänglich war, enorm an Boden zu gewinnen. Sowjetrussland war das erste Land, das eine zentralisierte öffentliche Gesundheitsversorgung entwickelte, gefolgt von anderen in Europa. Ein umfassendes Gesundheitssystem, das National Health System (NHS) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt. 1924 entwickelte die sowjetische Regierung – wiederum weit vor den kapitalistischen Ländern – die Vorstellung, dass die Lebens-, Arbeits- und Sozialbedingungen als die wichtigsten Triebkräfte der Gesundheit betrachten seien.

Die allgemeine Gesundheitsversorgung war ein gewaltiger Fortschritt für Arbeitnehmer und einfache Menschen, die keine selbständigen Ärzte bezahlen konnten, auf religiöse Orden angewiesen blieben oder auf die Versorgung ganz verzichten mussten. Doch wo diese Errungenschaften erreicht werden konnten, wurden sie in den letzten Jahrzehnten durch neoliberale Kürzungen und Privatisierungen weitgehend untergraben. Mit der Folge, dass wir auf die aktuelle Pandemie überhaupt nicht vorbereitet sind.

Alle medizinischen Fortschritte der letzten hundert Jahre konnten die chronische Unterfinanzierung und Unterbesetzung des öffentlichen Gesundheitssystems nicht beenden. Die kapitalistische Ideologie und die wichtigsten kapitalistischen Parteien in jedem Land sind grundsätzlich gegen die Idee einer kostenlosen Gesundheitsversorgung für alle, und sie werden diese auch niemals bereitstellen. Nur ein wirklich sozialisiertes Gesundheitssystem, das sich in öffentlicher Hand befindet und demokratisch von medizinischen Mitarbeitern und Patienten geplant und kontrolliert wird, kann künftig eine Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen, mit der solche Krise zu überstehen sind.


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Vor 70 Jahren: Beginn der McCarthy-Ära

Namensgeber für die staatliche Verfolgung (vermeintlicher) Kommunist*innen ist der US-Senator Joseph McCarthy. Nach 1945 standen die UdSSR und China im außenpolitischen Fokus. Dank Staatspropaganda stieß die Verfolgung von „Kommunist*innen“ in den USA auch in breiteren Teilen der Bevölkerung auf Zuspruch. Roosevelts New Deal wurde als „kommunistisch“ verunglimpft; Beschäftigte im Staatsdienst einer Gesinnungsüberprüfung unterzogen. Die Ausrottung sozialistischer Ideen gelang trotzdem nicht. Mit Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez und nicht zuletzt Kshama Sawant zeigt sich heute: Sozialistische Ideen sind in den USA populärer denn je.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

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