Geschichte und politische Theorie

100 Jahre Wahlrecht: Lässt sich Kapitalismus abwählen?

Der Kampf ums Wahlrecht war einer der ersten, den sozialdemokratische Parteien aufnahmen: Eine Bilanz
Till Ruster

Eine Person - Eine Stimme. Das Konzept leuchtet ein und sollte doch dazu führen, dass Politik im Sinne der Mehrheit gestaltet wird. Seit 1848 geisterte die Forderung nach dem allgemeinen, freien und gleichen Wahlrecht durch radikal-idealistische, auch bürgerliche Kreise. Die junge Arbeiter*innenbewegung nahm sie gerne auf und übernahm auch die Debatte um das Frauen-Wahlrecht. Bis das endlich in die Forderungen aufgenommen wurde, brauchte es aber einen langen und heftigen Kampf von Marxist*innen und proletarischer Frauenbewegung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Bürgerlichen schon längst wieder die Bühne der Revolution verlassen und überall war es die Arbeiter*innenbewegung, die das allgemeine Wahlrecht erkämpfte.
Die Rechnung war einfach: Die Arbeiter*innen, spätestens zusammen mit der armen Landbevölkerung, stellen die Mehrheit im Staat. Wenn es gelänge, ihr das Wahlrecht zu erkämpfen, wären keine weiteren Kämpfe nötig, alles könne dann über das Parlament erreicht werden. Was würde dann die Mehrheit der Wähler*innen daran hindern, den Staat zu übernehmen, Löhne und Arbeitszeiten gesetzlich festzulegen, die Monarchie abzuschaffen und schließlich den Sozialismus einzuführen? Und das alles ganz ohne entbehrungsreiche Streiks, Demonstrationen und vor allem: Ohne Gewalt.
Diese Argumente brachte auch die Führung der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ)“ 1918/19, als sie sich mit der Rätebewegung konfrontiert sah. Die Arbeiter*innen eiferten der russischen Oktoberrevolution nach, in der diese Räte nur ein Jahr zuvor den Zarismus ersetzt hatten. In Betrieben, durch Soldaten, Dorfgemeinschaften und Nachbarschaften wurden Räte gewählt und von dort aus Delegierte in zentralere Räte geschickt, um sehr direkt über die eigenen Geschicke zu bestimmen. Hier wurde ein Gegenstück zur bürgerlichen, repräsentativen Demokratie geschaffen, wie wir sie heute noch haben. Diese Rätedemokratie endete nicht vor dem Betriebstor: Statt Kapitalist*innen die Macht über die Wirtschaft zu lassen, wurde auch diese von Räten verwaltet und geplant. Das nahmen die Kapitalist*innen nicht einfach hin und zogen Russland in einen langen und blutigen Bürgerkrieg.

War das allgemeine Wahlrecht eine Alternative dazu? Lässt sich Kapitalismus abwählen? Lassen sich die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, also zwischen Kapitalist*innen und Proletariat, in einem Parlament versöhnen?
Hinter diesem Gedanken steht eine Vorstellung vom Staat als „scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht“ (Engels). Aber Marxist*innen wissen: Jeder Staat ist ein Klassenstaat. Z.B. wird „Schutz des Eigentums“ in jeder bürgerlichen Verfassung groß geschrieben. Gemeint ist der Schutz des Eigentums der herrschenden Klasse gegen „Umverteilung“ nach unten! Es geht nie um das „Gemeinwohl“, sondern um das Wohl ganz Weniger. Der Bürgerliche Staat schützt zuerst die bürgerliche Klasse, über Gesetze, Polizei und Gefängnisse.

Zwar dämpft der Staat viele Klassenkonflikte, die eben nicht immer mit Gewalt ausgetragen werden, aber er schafft sie nicht ab. Daran ändert auch das Wahlrecht nichts. Dort, wo Arbeiter*innenparteien die Mehrheit hatten und sie genutzt haben, um an den Grundfesten des Kapitalismus, dem Privateigentum an Produktionsmitteln, zu rütteln, griffen die Kapitalist*innen zu den Waffen; so wie in Frankreich 1871, in Chile 1973 oder im Iran 1979. Selbst das „Rote Wien“, das so ohne die revolutionären Erreignisse von 1918/9 nicht möglich gewesen wäre, wurde 1934 durch Gewalt vernichtet. Demokratie im Kapitalismus ist eben nur in engen Grenzen und auf Zeit möglich. Erfordert es die politische und/oder wirtschaftliche Situation, setzen die Herrschenden auf Diktatur.
„Freie Wahlen“ schützen die Arbeiter*innenbewegung nicht vor der Gewalt der Herrschenden. Oft genug fühlten sich sozialdemokratische Parteien, die ja auf diesen Kurs setzten, so sicher im Staat, dass sie die Gewalt der Bürgerlichen dann umso mehr überraschte und diese umso blutiger wüten konnten, wie z.B. 1933 in Deutschland. Marx hatte schon 1875 der Sozialdemokratie in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ aufgezeigt, dass sie die Befreiung der Arbeiter*innenklasse nicht im bürgerlichen Staat erreichen kann: Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben [...] an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben [...]

Auch in Russland versuchten viele 1917 vergeblich, eine bürgerliche Demokratie einzuführen. Anders die Bolschewiki; sie wussten: Die Fragen der Demokratie und die des Sozialismus müssen, spätestens im 20. (und sowieso im 21. Jahrhundert), in dem sich der Kapitalismus längst international durchgesetzt hat, in einem Rutsch geklärt werden. Es nützt nichts, sich auf die Macht im Staat zu beschränken, es braucht auch die Macht über die Produktionsmittel. Sozialist*innen setzen auf die soziale Revolution als Anfang von echter Demokratie. So wird eine Gesellschaft möglich, die weit über das hinausgeht, was 1919 erreicht wurde und bis heute in Österreich und anderswo existiert.

„Ich kann nicht schweigen“ – das Leben Martin Luther Kings

Am 15. Januar 1929 wurde Martin Luther King, einer der bedeutendsten Führer der US-Bürgerrechtsbewegung geboren
Steve Hollasky

„Meine Träume kennen keine Grenzen, bis eine Kugel ihnen ein Ende setzt“, hatte der lateinamerikanische Revolutionär Ernesto Che Guevara zu seinen Lebzeiten einem Journalisten entgegnet, der von ihm wissen wolle, wie weit er noch gehen würde. Als Partisan hatte er in drei Revolutionen und Revolutionsversuchen mit der Waffe in der Hand gegen Unterdrückung gekämpft. Am 9. Oktober 1967 wurde er, nach seiner Gefangennahme durch Regierungstruppen, ermordet. Che Guevara glaubte nicht daran, dass man ein unterdrückerisches Regime vollkommen gewaltfrei würde bezwingen können.

Nicht einmal ein halbes Jahr nach jenem Mord ereignete sich ein weiterer: Martin Luther King jr., einer der entscheidenden Führer der Bewegung gegen die Unterdrückung der Afroamerikaner*innen, wurde in Memphis, in Tennessee am Vorabend einer geplanten Großdemonstration von Streikenden vor seinem Hotelzimmer mit einem Kopfschuss getötet. Und auch King hatte eine Traum gehabt, wie er im glutheißen August 1963 vor nicht weniger als einer Viertelmillion Demonstrant*innen in der US-amerikanischen Hauptstadt ausrief: „Ich habe einen Traum, dass man meine drei kleinen Kinder nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.“ So fern wie diese Sätze damals – im Angesicht rassistischer Gesetze und militanter rechter Gruppen – klangen, so fern scheinen sie mitunter heute, im Angesicht des weltweiten Erstarkens rechter und rassistischer Kräfte.

Rassistische Unterdrückung in den USA

Nach dem Ende des US-Bürger*innenkrieges, in dem der industrialisierte Norden über den Süden triumphierte, in dem schwarze Sklav*innen auf Plantagen den Reichtum erwirtschaftet hatten, glaubten viele Afroamerikaner*innen an ihre Gleichberechtigung. Und zunächst sah sogar Vieles danach aus: Ausgerechnet in dem ehemaligen Sklavenhatlerstaat South Carolina war die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten schwarz. Doch das weiße Establishment war nicht bereit diese Entwicklung hinzunehmen. Der Ku Klux Klan, eine schlagkräftige Truppe weißer Rassisten überfiel und ermordete zahlreiche Schwarze. Weiße Unternehmer, auf der Suche nach billigen Arbeitskräften, erwirkten die Einführung von Gesetzen in allen Südstaaten, die nur denen das Wahlrecht zubilligten, deren Großväter schon hatten wählen dürfen. Diese Großvätergesetze nahmen den Schwarzen das Wahlrecht.

Erschreckende Arbeits- und Lebensbedingungen, besonders in den Südstaaten fesselten die weit überwiegende Mehrzahl der afroamerikanischen Familien in bitterer Armut. Ständige Überfälle und Morde waren an der Tagesordnung. Bestraft wurden selten die Täter*innen, viel häufiger jedoch die Opfer, wenn sie sich zur Wehr gesetzt hatten. Polizei und Gerichte, der Staatsapparat, war von Rassist*innen durchdrungen.

In allen Südstaaten wurde die sogenannte „Rassentrennung“, die Trennung der Bevölkerung nach Hautfarbe, Realität. Der Grundsatz „seperate but equal“ war schon deshalb bloße Kosmetik, weil die Schulen für Schwarze erschreckend aussahen. Schulen, Bibliotheken, Busse, Kinos, selbst Toiletten durften Schwarze und Weiße nicht gemeinsam benutzen.

Für viele Schwarzen waren die Kirchen, besonders die Baptistengemeinden, die einzigen Orte, an denen sie einigermaßen sicher waren, sich austauschen, diskutieren und Trost finden konnten.

Initialzündung Montgomery

Es war das Mantra der Marxistin Rosa Luxemburg: „Aussprechen was ist, bleibt eine revolutionäre Tat“, wiederholte sie immer wieder. Den Vorhang der unhinterfragten Normalität zu lüften und der Öffentlichkeit die schonungslose Wahrheit über die kapitalistische Realität zu zeigen, ersetzt weder den Aufstand, noch ließ es ihn zum Automatismus werden. Aber es bildete schon immer die Voraussetzung zum Handeln.

Zu Beginn des Dezembers 1955 war es eine afroamerikanische Näherin, Rosa Parks, die diesen Vorhang lüftete. Im Grunde war Rosa Parks einfach sitzen geblieben. Nichts Großartiges – so könnte man meinen. Aber zu einer Zeit, in der es schwarzen Fahrgästen in den öffentlichen Bussen Montgomerys untersagt war vorn im Bus zu sitzen und ihnen selbst das Sitzen auf den hinteren Plätzen nur erlaubt war, solange weiße Fahrgäste diese nicht verlangten, war Parks Tat an Mut schwer zu überbieten.

Es kam wie es im Alabama der 50er Jahre kommen musste: Parks wurde verhaftet, weil sie als Näherin nach einem Arbeitstag in ihrer Fabrik nicht mehr stehen wollte! Man legte die Kaution auf 100 US-Dollar fest. Für eine Arbeiterin in diesen Jahren unbezahlbar.

Ein schwarzer Gewerkschafter – E.D. Nixon – nahm sich ihres Falles an: Er besorgte eine Anwalt, stellte Kaution und benachrichtigte eine schwarze Frauenorganisation über Rosa Parks Schicksal. Dann kontaktierte er Martin Luther King. Der junge Familienvater hatte Zweifel. Dennoch öffnete er seine Kirche für eine Beratung all derer, die in dem Fall aktiv werden wollten.

Für den Tag der Gerichtsverhandlung, den 5. Dezember, forderte man die afroamerikanische Bevölkerung Montgomerys auf das Mitfahren in den Bussen der Stadt zu verweigern. Martin predigte dies von der Kanzel seiner Kirche am Sonntagmorgen und am nächsten Tag wurde er Zeuge eines kaum zu erwartenden Erfolges. Er selbst hatte mit einer Verweigerung von bestenfalls 50 Prozent gerechnet. Doch es fuhr fast kein Schwarzer in Montgomery mit dem Bus.

Die Zeit war reif gewesen und Rosa Parks mutige Tat hatte das Fanal gesetzt. Trotz aller Anschläge und Angriffe durch Rassist*innen blieb der Boykott aufrecht. Und die Klage vor dem Obersten Gerichtshof in Alabama gegen die Segregation von Schwarz und Weiß war ein voller Erfolg. Allen Rufen von der Unabhängigkeit der Gerichte zum Trotz, wäre der Sieg vor Gericht ohne die Massenbewegung in Montgomery unvorstellbar gewesen. Und selbst dann setzte das Gericht auf Verzögerungen und stellte den Gerichtsbescheid nicht an die Stadt Montgomery zu. Der Boykott fand sein Ende erst mit der Annahme des Beschlusses durch die Stadt.

Kompromisslose Gewaltfreiheit

Anders als der eingangs zitierte Che Guevara – der in Lateinamerika und Afrika bewaffnet gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfte, weil er an eine tiefgreifende Reformierbarkeit des kapitalistischen Systems nicht glaubte – war Martin Luther King lange Zeit der festen Überzeugung, man könne, ja man müsse die Spielräume des Systems zur Verbesserung des Lebens für alle ausnutzen. „Einer der Glanzpunkte der Demokratie ist das Recht für das Recht kämpfen zu dürfen“, hatte er seinen Anhänger*innen zu Beginn des Busboykotts in Montgomery zugerufen. Die Schwarzen in den USA waren für ihn vor allem eines: Bürgerinnen und Bürger eben jenes Landes. Sie sollten nur nicht mehr Bürger*innen zweiter Klasse sein! Also musste es darum gehen das Land in eine Land für alle dort lebenden Menschen zu verwandeln.

Daraus leitete King auch einen absoluten Verzicht auf Gewalt ab. Wie sein großes Vorbild Gandhi, der die britische Kolonialherrschaft über Indien mit seinem gewaltlosen Widerstand ins Wanken brachte, wollte auch King die Unterdrückung in den Vereinigten Staaten durch Aktionen, die ganz bewusst auf Gewalt verzichteten beenden.

Selbst, als während des Busboykotts ein Anschlag auf sein Haus erfolgte, bei dem seine Ehefrau und seine gerade erst geborene Tochter nur mit viel Glück mit dem Leben davon gekommen waren, rief King weiter dazu auf keine Gewalt anzuwenden und die weißen Brüder und Schwestern und selbst die Rassisten den Ku Klux Klans zu lieben.

Genau hierin lag vielleicht einer der entscheidenden Fehler Kings, der ihm ab Mitte der 60er Jahre zunehmend Unterstützung kosten würde. Während des Busboykotts von Montgomery auf einen friedlichen Verlauf der Aktionen zu achten war schon deshalb geboten, weil ansonsten der Einsatz der von Rassisten durchsetzten Nationalgarde drohte.

Doch es ist eben etwas anderes, ob man aus taktischen oder prinzipiellen Erwägungen heraus agiert. Prinzipiell, auch in Notwehrsituationen, auf Gewalt zu verzichten, bedeutete Aktivist*innen dem Terror des Ku Klux Klans und anderer rassistischer Organisationen auszusetzen. Zudem malte es mitunter das Bild als könnten die Afroamerikaner*innen allein darüber entscheiden, ob es zur Anwendung von Gewalt kommen würde. Nur ging die Gewalt eben von der anderen Seite – von Polizei, Gerichten und Rassist*innen – aus.

Kennedy will Präsident werden

Auf die Strategie der Gewaltlosigkeit, die nach King zudem den Vorzug besaß die Gewalt weißer Rassist*innen und der staatlichen Behörden offenzulegen, setzte King auch in den Jahren 1959 und 1960. Ermutigt von dem Erfolg in Montgomery versuchten – vorrangig Studierende aller Hautfarben – die „Rassentrennung“ in Kaufhäusern und in Cafes und Restaurants zu bekämpfen. Sie setzten sich in Bars und Imbissstuben auf Plätze, die ausschließlich für Weiße vorgesehen waren. Ließ man sie nicht in die Läden hinein, organisierten sie Sitzstreiks an den Zugängen. Polizei prügelte auf sie ein. Weiße Frauen und Männer beschimpften sie, bewarfen sie mit Essensresten und schlugen nicht selten zu.

Die Studierenden hielten Schilder mit Zitaten von Martin Luther King in die Luft und verpflichteten sich zur Gewaltlosigkeit. King war sofort begeistert. Er reiste nach Atlanta und beteiligte sich an den Aktionen, was die mediale Aufmerksamkeit auf den Kampf der Studierenden lenkte. Während einer Aktion gegen die Kaufhauskette „Rich‘s“, die auch Restaurants unterhielt, wurden King und 80 weitere Aktivist*innen von der rassistisch aufgehetzten Polizei festgenommen.

Über Tage hinweg erfuhr Coretta nicht wo sich ihr Ehemann genau befand oder wie es ihm ginge. Zudem wurde Martin Luther King jeder Kontakt mit einem Anwalt verwehrt.

In diesen Tagen rief ein junger Senator bei den Kings an. Er stellte sich als John Fitzgerald Kennedy und Präsidentschaftskandidat der Demokraten vor und bot Coretta Hilfe an. Auf ihre Bitte, setzte er kraft seines Amtes durch, dass Martin Luther King mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen konnte.

Kennedys Einsatz für King war taktisch motiviert: Bei den Wahlen stand ein knappes Ergebnis bevor. Wollte sich Kennedy als jugendlicher Reformer gegen den republikanischen Mitbewerber Richard Nixon durchsetzen, musste er zur Frage der Befreiung der afroamerikanischen Bevölkerung Stellung beziehen, was er damit tat. Nicht vergessen darf man auch, dass Martin Luther King mit der von ihm ins Leben gerufenen Organisation Southern Christian Leadership Conference (SCLC) gegen die „Großvätergesetze in den Südstaaten kämpfte. Die Eintragung hunderttausender Schwarzer in die Wähler*innenverzeichnisse stand bevor. Sie würden womöglich die Wahlen entscheiden.

Die Freilassung Kings zu erwirken blieb jedoch Sache der Aktivist*innen und Anwälte um ihn herum. Dennoch sollte sich der Telefonanruf Kennedys für ihn auszahlen: Gerade 100.000 Stimmen lag Kennedy in 1961 vor Nixon. Nicht weniger als 85 Prozent der Afroamerikaner*innen, die inzwischen wählen durften, gaben ihre Stimme dem jungen, demokratischen Kandidaten.

Kein verlässlicher Bündnispartner

Während die Bewegung sich nun auch auf die Überlandbusse ausweitete und auch dort die Abschaffung der Trennung nach Hautfarbe forderte, tat die Kennedy-Administration so gut wie nichts, um den „Freedom Riders“, die durch die Vereinigten Staaten fuhren zu helfen. Ebenso nahm das Weiße Haus kaum Anteil an der Sit-in-Bewegung, die weiterhin gegen ausschließlich für weiße bestimmte Kinos und Restaurants zu Felde zog. Insgesamt beteiligten sich 70.000 Menschen – Schwarze und zunehmend auch Weiße – an diesen Auseinandersetzungen. Nicht weniger als dreieinhalbtausend wurden verhaftet. Beteiligte Studierende wurden nicht selten von ihren Unis verwiesen, 38 Professoren wurden aus Amt und Würden gehoben, weil sie Teil der Proteste waren.

Als Martin Luther King in Albany gegen die „Rassentrennung“ demonstrierte, und Justizminister Robert Kennedy, den Bruder des Präsidenten, telefonisch um Hilfe bat, forderte der von King einen Abbruch der Demonstrationen in der Stadt – und King willigte ein! Der Kampf der Schwarzen um ihre Rechte hatte längst begonnen die Grundfeste der US-Gesellschaft infrage zu stellen. An einer derartigen Zuspitzung hatte die Kennedy-Administration kein Interesse.

Martin Luther King verließ die Stadt. Für den Rest seines Lebens würde er sich darüber immer wieder schwere Vorwürfe machen. Es war der vielleicht schwerste Fehler Kings auf die Einflüsterer der Kennedy-Regierung zu hören. Nie wieder würde er diesen Fehler begehen!

Brimingham, Alabama

Einer der vielleicht schwersten Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung fand in Brimingham statt. Die Industriestadt war strikt segregiert und die Stadtherren erklärten in Reden immer wieder, dass sich daran nichts ändern würde. Der Polizeichef Eugene „Bull“ Connor war bekennender Rassist und stand mit dem Ku Klux Klan in Verbindung. Schon vor Beginn der Kampagne des SCLC in dieser Stadt erklärte er, dass er mit unmissverständlicher Härte vorgehen werde.

Doch auch King und der SCLC wollten es auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen. Hatte der den Busboykott noch als „Noncooperation“, als „Nicht-Zusammenarbeit“, bezeichnet; gab er der Kampagne in Birmingham den Namen: „Project C“ – „Project Confrontation“!

Wochenlang demonstrierten die Aktivist*innen um King durch die Stadt. „Bull“ Connor griff jede Demonstration an. Er hatte die Wasserwerfer derart hart einstellen lassen, dass sie die Rinde von den Bäumen kratzte. Tausende wurden festgenommen. „Bull“ Connor wies die Polizei der Stadt sogar an Schüler*innen festzunehmen. Selbst Kinder im Alter von 8 Jahren wurden verhaftet. Anfang Mai 1963 reichten die Hafträume in Birmingham nicht mehr aus, weil allein 2.500 Kinder und Jugendliche im Gefängnis saßen.

Nun traten die Unternehmer der Stadt an King heran, um mit ihm ein Abkommen zur Aufhebung der „Rassentrennung“ zu vereinbaren. Der wochenlange Kampf hatte ihre Einnahmen empfindlich geschmälert. King verstand mehr als genug vom kapitalistischen System als dass er wusste, dass deren Druck auf die Stadtspitze ausreichen würde, um die Segregation dort für immer zu beenden und so ging er auf das Angebot ein.

Und dennoch verweigerte King die Unterschrift. Er hatte den Angehörigen der Inhaftierten und den Eltern der Kinder zugesichert, er werde Birmingham erst verlassen, wenn deren Schicksal geklärt wäre. Seine Berater redeten auf King ein, sie beschworen ihn zu unterzeichnen. King wies das entschieden von sich. Und wieder schaltete sich die Kennedy-Administration ein. Robert Kennedy wollte endlich Ruhe im Süden. Die Regierung fürchtete die Unterstützung weißer, rassistischer Abgeordneter in Kongress und Senat zu verlieren, wenn sie King nicht stoppte. Doch der blieb stur und unbeirrbar. Er würde den Fehler von Albany nicht wiederholen.

King entschloss sich zu einem Schritt, der viele beinahe schockierte. Er bat den örtlichen AFL-CIO, den Dachverband der Gewerkschaften, um Hilfe. Der war zwar vorrangig weiß geprägt. Doch jedes fünfte Mitglied war afroamerikanischer Abstammung. Damit waren Schwarze in den Reihen des AFL-CIO im Vergleich zur US-Bevölkerung, deutlich überrepräsentiert. Der wochenlange Kampf war am örtlichen AFL-CIO nicht spurlos vorübergegangen, seine bürokratische Führung geriet unter Druck und drohte mit Arbeitskampfmaßnahmen, sollte Kings Forderung nicht nachgegeben werden. Allein das reichte aus, Unternehmer und Stadt willigten ein.

Der Sieg war teuer erkauft. Noch Monate später verübten Rassist*innen unter dem Jubel des Ku Klux Klan Angriffe auf Schwarze und Weiße, die die Bürgerrechtsbewegung unterstützt hatten. Als sich gerade der Mädchenchor der Sixteenth Avenue Baptist Church für den Gesang in der Kirche umzog, explodierte dort eine Bombe, die vier kleine Kinder in den Tod riss und 21 verletzte. Die Predigt trug den Namen „eine Liebe, die vergibt“. Die beiden ermittelten Täter wurde wegen Besitzes von Sprengstoff und nicht wegen Mordes verurteilt. So erhielten sie eine sechsmonatige Haftstrafe und hatten 100 Dollar Strafe zu zahlen. Es wäre eine stets unzureichende Aufzählung des Schreckens, wollte man versuchen alle derartigen Vorfälle aufzulisten. Und dennoch war der Sieg gegen den institutionalisierten Rassismus, gegen Staat und Ku Klux Klan nicht mehr auszulöschen!

„Ich habe einen Traum“

Wenige Monate nach dem Ende des Kampfes in Birmingham riefen Martin Luther King und der SCLC ihre Anhänger*innen zur Demonstration in Washington auf. Der „Marsch für Arbeit und Freiheit“ sollte die an dem Tag im Repräsentantenhaus stattfindende Abstimmung über ein Gesetzeswerk zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Stellung der Schwarzen in den USA begleiten. Nicht weniger als 250.000 Menschen folgten dem Ruf. In der Nacht hatten Rassist*innen einen Anschlag auf die Anlage, über die King sprechen sollte, verübt und die Kabel zerschnitten. Ohne Kings Wissen bat sein Beraterkreis um Hilfe bei der Kennedy-Administration. Diese kommandierte eine Nachrichteneinheit der US-Armee herbei, die die Kabel zusammenflickte. Und dennoch lehnte Martin Luther King es ab, dass ein Vertreter der Regierung auf der Kundgebung reden dürfte. Dort formulierte er jenen unvergesslichen Satz, nach dem er hoffe, dass seine Kinder einmal nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt würden. Und erklärte, dass man nicht eher ruhen werde, bis jede Form der Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung Geschichte wäre und dass man solange weiterkämpfe, wie auch nur ein Schwarzer Opfer von Polizeigewalt werden würde.

Der Tag war ein schwer zu überbietender Erfolg für das Ansehen der gesamten Bewegung, obwohl King und der SCLC den Kampf in Birmingham als wesentlich bedeutender einschätzten. Hiernach verdunkelten sich die Wolken über der Bewegung deutlich. Kennedy wurde im November Opfer eines Mordanschlages und sein Nachfolger Johnson war vollauf damit beschäftigt den imperialistischen Krieg in Vietnam zu führen.

 

Kriegsgegner

Spätestens ab 1964 verstand sich King als Gegner der US-Außenpolitik. Für ihn war der Krieg in Vietnam ein großes Verbrechen. Doch seine Berater*innen, ja selbst sein Vater warnten ihn immer wieder sich öffentlich als Kriegsgegner zu erkennen zu geben. Wollten Schwarze etwas erreichen, müssten sie US-amerikanische Patriot*innen sein. Zudem fürchteten viele, man würde die letzte Unterstützung der US-Regierung verlieren.

Doch King beugte sich dem Druck nicht. Immer wieder erklärte er offen seine Gegnerschaft zum Krieg in Fernost. Bis heute ist seine diesbezügliche Predigt aus dem Jahr 1967 an Deutlichkeit schwer zu überbieten: „Vielleicht wisst Ihr es nicht, meine Freunde, aber es wird geschätzt, dass wir 500.000 Dollar aufwenden, um einen feindlichen Soldaten zu töten, während wir gleichzeitig nur 53 Dollar für jeden Menschen ausgeben, der in unserem Land als arm eingestuft ist. […] Und deshalb bin ich immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass dieser Krieg ein Feind der Armen ist, und deshalb greife ich ihn an.“ Der rücksichtslose Terror gegen die vietnamesische Bevölkerung war für King, lange bevor das Massaker von My Lai die US-Bevölkerung aufrüttelte, ein unverzeichliches Verbrechen. Ein Verbrechen noch dazu, welches der US-Gesellschaft den Spiegel vorhalte. Man könne weiße und schwarze Soldaten auf den Fernsehbildschirmen sehen „wie sie zusammen töten und sterben für ein Land, das zu Hause nicht in der Lage ist, sie im gleichen Schulzimmer lernen zu lassen. Wir sehen ihnen zu, wie sie in brutaler Solidarität in einem armen Dorf die Hütten niederbrennen, aber wir wissen, dass sie in Chicago oder Atlanta wohl kaum im selben Quartier wohnen würden. Ich kann nicht schweigen angesichts einer solch brutalen Manipulation der Armen.“

Selbst jene Teile der bürgerlichen Presse, die ihn gerade wegen seines kompromisslosen Gewaltverzichts gelobt hatte, gossen nun kübelweise Unrat über Martin Luther King aus. Sie sprachen ihm schlichtweg die Befähigung ab, über solche Themen sprechen zu können. Dass sie damit in rassistische Deutungsmuster vom „naiven und unwissenden Schwarzen“ verfielen, schien ihnen schlichtweg egal zu sein.

Doch King war bei Weitem schlagfertig genug, um sich entschieden zur Wehr zu setzen: „Sie applaudierten uns bei unseren Freiheitsfahrten, als wir ohne Vergeltung die Schläge hinnahmen. Sie lobten uns in Alabama und in Birmingham und in Selma. Oh, die Presse war so nobel in ihrem Applaus für uns und so nobel in ihrem Lob, als ich sagte: ‚Wendet keine Gewalt an gegen Bull Connor‘ und als ich sagte; ‚Wendet keine Gewalt an gegen den rassistischen Sheriff Jim Clark.‘ […]. Das ist doch seltsam widersprüchlich an diesem Land und seiner Presse, dass sie dich loben, wenn du sagst: ‚Seid gewaltlos gegen Jim Clark‘, aber dich verdammen und verfluchen, wenn man sagt: ‚Tu kleinen braunen vietnamesischen Kindern keine Gewalt an.‘ Mit so einer Presse stimmt etwas nicht.“

Gegen Kapitalismus

Was auch die Berater*innen Kings mehr und mehr erschütterte, war seine immer stärkere Bereitschaft die soziale Frage mit den Kämpfen gegen Rassismus zu verknüpfen. Als King Ende der 50er Jahre mit Coretta durch Indien reiste, sah er erschrocken all die Armut. Gandhi hatte das Kastenwesen nie angegriffen. Dass es arm und reich gab, war für Gandhi nie wichtig gewesen. Für Martin Luther King sehr wohl. Schon während des Studiums hatte er Briefe an seine spätere Ehefrau geschrieben, in denen er erklärte, er sehe sich ökonomisch eher als Sozialist, denn als Kapitalist.

Nun, Mitte der 60er Jahre, waren genau diese Ansichten immer wieder Thema im Vorstand des SCLC. „Ein Haus, das Menschen zu Bettlern macht, muss umgebaut werden“, hatte King stets wiederholt. Nun gesellten sich Sätze hinzu wie: „Etwas stimmt nicht mit dem kapitalistischen System!“

In seinem 1966 erschienen Buch „wohin führt unser Weg“ plädierte er mit Nachdruck für ein Zusammengehen der US-Bürgerrechtsbewegung mit der klassischen Arbeiter*innenbewegung. Am Arbeitsplatz könne Rassismus besser als an vielen anderen Stellen bekämpft werden, weil dort das Interesse an möglichst großer Stärke gegenüber dem Unternehmer schwarze und weiße Arbeiter*innen quasi automatisch zusammenführen müsse. Und irgendwann in jenen Monaten fiel im Vorstand der SCLC auch der Satz: „Vielleicht müssen sich die USA in Richtung eines demokratischen Sozialismus entwickeln.“

Er formulierte es als Frage, aber es war mehr als das. Es war eine Kampfansage gegen ein System, in dem er immer mehr einen Kreisel aus Rassismus – Armut – Krieg zu erkennen glaubte. Demonstrationen für bessere Wohnbedingungen und die Forderung nach staatlichem Wohnungsbau waren die logische Folge dieser Ansichten.

Als King einen seiner (weißen) Berater um Rückkehr bat, der zurückgetreten war, weil das FBI seine Kontakte zu marxistischen Gruppen an die Öffentlichkeit gebracht hatte, war für Hoover, den Chef des FBI alles klar: King war Kommunist. Er musste Kommunist sein, also musste er weg. Mit gefälschten erpresserischen Briefen versuchte man ihn in den Selbstmord zu treiben, man platzierte Provokateure in seiner unmittelbaren Nähe, die seine gewaltlosen Proteste eskalieren lassen sollten.

Memphis

Es half nichts! Martin Luther King kämpfte weiter. Für den Sommer plante er die gewaltigste Massendemonstration in der Geschichte der USA. Seine „Poor Peoples Campaign“ stellte die Forderung auf, die Hilfe für Arme in den USA von jährlich 2 auf 30 Milliarden US-Dollar zu erhöhen. Dazu sollte nicht nur demonstriert werden. Ringsum das Weiße Haus plante King ein riesiges Protestcamp. Sollte Präsident Johnson dann nicht einknicken, würde man die Ministerien belagern und an ihrer Arbeit hindern. Und wenn das noch nicht reichen sollte, würde man ausgewählte Industriebetriebe mittels gewaltiger Proteste stilllegen. Und was das vielleicht Bedeutendste daran war, es sollte ein Kampf für alle US-Amerikaner*innen werden. Nur wenn man die Armut aller Menschen abschaffen werde, werde es auch keinen Rassismus geben. So Kings feste Überzeugung.

Beginnen sollte die Kampagne im Memphis. Dort streikten die fast ausschließlich schwarzen Müllarbeiter der Stadt schon seit Wochen. Das FBI schleuste Agenten in die Reihen der Protestierenden, die die Demonstrationen gewalttätig ausarten ließen. King ließ sich nicht beirren. Er werde nicht aufgeben. Notfalls müsse man eben den Streik auf alle afroamerikanischen Arbeiter*innen der Stadt ausweiten.

Am Vortag einer weiteren gewaltigen Demonstration durch Mephis, am 04.04.1968, wurde King erschossen. Den zwei Monate später verhafteten Täter, den entflohenen Sträfling James Earl Ray, hält die Familie Martin Luther Kings bis heute für ein Bauernopfer und glaubt an eine Tatbeteiligung des FBI.

Partei für Arbeiter*innen statt „kleineres Übel“

Christian Bunke

Kaum wo ist das Problem des „kleineren Übels“ so präsent wie in den USA. Die Tradition unabhängiger Arbeiter*innenparteien scheint verschüttet und viele sehen die Demokraten als einzig mögliche politische Plattform für linke Politik. Bei den jüngsten Wahlen konnten linke Kandidat*innen auf der Liste der Demokraten teils beeindruckende Erfolge erzielen. Socialist Alternative, die US-Schwesterorganisation der SLP, unterstützte viele dieser Kandidat*innen. Darunter Alexandria Ocasio-Cortez und Julia Salazar in New York.

Diese bezeichnen sich selber als Sozialist*innen, sind Mitglieder bei den „Democratic Socialists“, treten aber gleichzeitig auf Wahllisten der Demokratischen Partei an. Wie soll das zusammengehen? Socialist Alternative sagt „gar nicht“. Aber: Hunderttausende junge Menschen radikalisieren sich über diese Kandidaturen und beginnen so ihren Kampf gegen das Trump-Regime.

Diese allein zu lassen ist nicht revolutionär. Man muss mit ihnen gemeinsam aktiv sein. Gleichzeitig müssen aber die engen Grenzen der Demokratischen Partei aufgezeigt werden. Sie ist durch und durch bürgerlich, von ihr ist keine Verbesserung zu erwarten.

Socialist Alternative stellt klar: „Eine Massenorganisation des Kampfes bleibt auch weiterhin schmerzhaft abwesend. Sie könnte dem enormen Bedürfnis nach Wandel Ausdruck verleihen und gegen die Kapitulation der Demokrat*innen bei jedem Thema Druck erzeugen.“

Es braucht also eine unabhängige Arbeiter*innenpartei. In den 1930er Jahren schrieb der amerikanische Marxist James Cannon: „Es reicht nicht aus wenn die Partei ein proletarisches Programm hat. Die Partei braucht auch eine proletarische Zusammensetzung. Ansonsten kann das Programm über Nacht in einen Haufen Papiermüll verwandelt werden.“ Es reicht also nicht, innerhalb einer bürgerlichen Partei für einzelne progressive Forderungen zu kämpfen. Wir brauchen eine Organisation, deren Programm das gemeinsame Interesse ihrer Mitglieder und Aktivist*innen ausdrückt – und nicht die Interessen einiger Großspender*innen.

Für den Aufbau einer solchen Organisation tritt Socialist Alternative ein. Aber nicht abstrakt. In einem Solidaritätsschreiben an die neu gewählten „demokratisch sozialistischen“ Abgeordneten verweist Kshama Sawant, Stadträtin in Seattle und Mitglied von Socialist Alternative, auf eigene Kampferfahrungen. Durch den Aufbau einer Bewegung konnte in Seattle ein Mindestlohn von 15 Dollar erkämpft werden. Daraus zieht Sawant den Schluss, dass Wahlkampfforderungen in Aktivismus umgewandelt werden müssen: „Wir stimmen mit Eurer Entscheidung als Demokrat*innen zu kandidieren nicht überein. Trotz dieser Unterschiede wollen wir gemeinsam mit Euch eine dauerhafte Bewegung mit demokratischen Strukturen aufbauen, um die Forderungen für die ihr im Wahlkampf eingetreten seid, durchzusetzen.“


Buchtipp: James P. Cannon: Der Kampf für eine proletarische Partei (ISP-Verlag), über den Manifest-Verlag zu beziehen

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

100 Jahre Revolution in Österreich

Text und Audiodtei
Sonja Grusch

Die Ereignisse von 1918 haben eine enorme Bedeutung – wir können viel daraus lernen für die heutigen Bewegungen, z.B. in Frankreich. Es geht dabei v.a. um den Umgang mit Reformismus in Bewegungen. Was ist konkret geschehen, wie ist der internationale Kontext und was waren die Folgen der Revolution bzw. des Scheiterns der Revolution?

Was konkret ist damals in Österreich passiert?

Am Anfang von 1918 steht 1914: die österreichische Sozialdemokratie hat sich erspart, für die Kriegkredite zu stimmen. Sie wurde gar nicht gefragt weil das Parlament seit Frühjahr 1914 beurlaubt war. Trotzdem hat sich die Führung der SDAPÖ voll hinter Kaiser und Armee gestellt. Der Chefredakteur der sozialdemokratischen Arbeiter Zeitung, Austerlitz, feiert die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten als „stolzeste und gewaltigste Erhebung des deutschen Geistes“ und erklärt „Die Sozialdemokratie "weiht dem Staat Gut und Blut der arbeitenden Massen. Er selbst hat sein Blut hinter dem Schreibtisch in Sicherheit gebracht…

Wie in Deutschland ist die Begeisterung in der Arbeiter*innenklasse rasch der Realität gewichen. Das Kriegsdienstleistungsgesetz unterstellt die Wirtschaft in großen Teilen der militärischen Notwendigkeit: Streiks werden verboten, Rechte der Beschäftigten bei Arbeitszeiten, Pausen, Sonntagsruhe etc. ausgehebelt. Hinzu kommt die Inflation, der Verfall der Reallöhne auf weniger als die Hälfte ihres Wertes und dann der Hungerwinter 16/17. Es kommt zu Hungerrevolten und im Mai 1917 zu einer von Frauen getragenen Streikwelle – weil viele Männer im Krieg waren, haben Frauen diese Jobs in der Industrie übernommen, die Zusammensetzung der Belegschaften hat sich also verändert. 1917 nehmen die Streiks in Industriebetrieben in verschiedenen Teilen des Landes (Donawitz, Wien, St Pölten, Fohnsdorf, Knittelfeld, Graz) zu. Es sind nicht bloß Abwehr- sondern v.a. Angriffsstreiks, in der Regel nehmen über 90% der Beschäftigten eines Betriebes teil und über 87% enden zumindest mit einem Teilerfolg.

Russische Revolution als Katalysator

Die Revolution in Russland – zuerst im Februar, aber dann v.a. im Oktober – wirkt wie ein Katalysator auch in der Donaumonarchie. Entscheidend dabei sind auch die Bestrebungen der Bolschewiki für Frieden, Lenin fordert einen sofortigen Frieden ohne Annexion. Im Gegensatz zur nationalistischen Politik die der Stalinismus später durchführt und die das Überleben der Bürokratie über alles stellt haben die Bolschewiki 1917/18 den Fokus auf der internationalen Ausbreitung der Revolution und sehen in der Arbeiter*innenklasse sowohl der Entante-Mächte als auch der Achsen-Mächte ihre Bündnispartner. Ganz bewusst setzen die Bolschewiki auch auf die Heimkehr von Kriegsgefangenen – auch hier wieder ein Unterschied zum Stalinismus später: Im 2. Weltkrieg werden die einfachen deutschen Soldaten in der Gefangenschaft als Gegner gesehen während die führenden Militärs mit allen Würden behandelt werden. Im Gegensatz dazu setzen die Bolschewiki während des 1. Weltkrieges auf Agitation unter den einfachen Soldaten – viele waren schon vorher Sozialdemokraten und kommen als überzeugte Anhänger der Russischen Revolution zurück.

Doch auch von innen heraus kommt es zunehmend zu Protesten. Die zwei größten sind hier der Aufstand der Matrosen von Cattaro und der Jännerstreik. Beim Jännerstreik verbindet sich der Wunsch nach Frieden mit der Forderung nach Brot: Am 13. Jänner 1918 gibt es Proteste gegen die Forderungen der deutschen Militärs in den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk die den Frieden hinaus zu zögern versuchen bzw. diesen möglichst teuer erkaufen wollen. Am 14. Jänner beginnt eine Streikwelle ausgelöst durch die Kürzung der Mehlrationen um 50%. Rund eine Million Arbeiter*innen in verschiedene Teilen der Monarchie treten in den Ausstand: Es beginnt bei den Rüstungsbetrieben in Wr. Neustadt  und breitet sich rasch aus: in Wien, Nieder- und Oberösterreich und der Steiermark (heute Österreich), in Krakau (heute Polen), Brünn (heute Tschechien), Budapest (heute Ungarn), Galizien (heute Polen bzw. Ukraine).

Es ist ein politischer Streik und die zentrale Losung ist die sofortige Annahme des russischen Friedensangebotes. Es kommt zur Gründung von Räten die noch mehrere Jahre eine wichtige Rolle spielen werden. Revolutionäre Kräfte spielen eine zentrale Rolle, Sozialist*innen, spätere KPler*innen bzw. FRSIler*innen – Revolutionär*innen in der Tradition von Zimmerwald die sich teilweise noch in- teilweise schon außerhalb der Sozialdemokratie befinden.

Die sozialdemokratische Führung hat die Bewegung nicht mehr unter Kontrolle – versucht aber verzweifelt diese wieder zu erlangen. Und zwar wie der Marxist Rostolsky aufzeigt in Zusammenarbeit mit der monarschistischen und kriegstreiberischen Regierung. Die sozialdemokratische AZ veröffentlicht einen Aufruf an die Beschäftigten zentraler Zweige des Industrie- und Transportwesens sich nicht zu beteiligen da dies die Not der AK vergrößern würde. Außerdem interveniert die sozialdemokratische Führung u.a. indem sie ein Forderungsprogramm im Wiener Arbeiterrat durchbringt, dass die Regierung umsetzen kann,  um das Gefühl eines Erfolges zu vermitteln und gleichzeitig die Bewegung  auszubremsen: Die Forderungen sind so allgemein wie „Reorganisation des Verpflegungsdienstes“ etc. Auf Antrag des Parteivorstandes wird der Streik mit 20.1. beendet – doch viele Betriebe streiken noch bis 22.1. weiter. Der Regierung fehlen in Wirklichkeit die Mittel – auch die militärischen – um den Aufstand niederzuschlagen: aber die Führung der Sozialdemokratie rettet sie.

Fast zeitgleich zum Jännerstreik kommt es Anfang Februar im Hafen von Cattaro (heute Montenegro) zu einem Matrosenaufstand. Es ist der zweitwichtigste Militärhafen der Monarchie. Die Matrosen verhaften die Offiziere, wählen Matrosenräte und hissen die rote Fahne. Auch sie fordern u.a. Frieden. Der Aufstand bleibt isoliert und wird in Folge niedergeschlagen – auch weil Otto Bauer, der auch heute noch als „Linker“ in der Sozialdemokratie gilt, die Informationen über den Aufstand und die Forderungen der Arbeiter*innenklasse in Wien und anderen Teilen der Monarschie bewusst vorenthält!

Aber auch in Folge kommt die Arbeiter*innenklasse nicht zur Ruhe. Im Juni 1918 findet eine weitere Streikwelle mit bis zu 67.000 Streikenden va. in Wien und Niederösterreich statt. Im Gegensatz zum Jänner gibt es aber noch weniger eine revolutionäre Führung. Jene, die Anfang des Jahres die Kämpfe noch gegen den Willen der sozialdemokratischen Führung organisiert hatten sind teilweise bereits seit dem Jännerstreik in Haft bzw. zwangsweiße an die Front geschickt worden oder werden noch rasch verhaftet.

Die Republik wird ausgerufen

Am 12. November wird dann die Republik ausgerufen: Doch das Ende der Monarchie und die Ausrufung der Republik im November sind nicht das unmittelbare Ergebnis einer revolutionären Erhebung, einer Massenbewegung. Vielmehr bricht die Habsburgermonarchie als Resultat der militärischen Niederlage und des Zerfalls des Vielvölkerstaates in sich zusammen.

In Prag formiert sich der tschechoslowakische Staat, die erste polnische Regierung bildet sich, in Lubljana bildet sich ein Nationalausschuss mit dem Ziel einen einheitlichen jugoslawischen Staat zu gründen. Im Parlament in Wien sitzen nur mehr die verbliebenen „österreichischen“ Abgeordneten. Die Tatsache, dass die sozialdemokratische Führung Jahrzehntelang die Unterdrückung der verschiedenen Nationalitäten in der Habsburgermonarchie mitgetragen bzw. nicht bekämpft hat rächt sich nun.

Die Revolution hatte nicht im November 1918 begonnen, sondern schon im Jänner. Darum ist – auch wenn kein „Novemberumsturz“ stattfindet dennoch die Triebkraft für den Beginn einer gänzlich neuen Epoche die Arbeiter*innenklasse und ihre Kämpfe als Klasse und für ihre Klasseninteressen. Ähnlich wie in Russland braucht es die Arbeiter*innenklasse um die längst überfälligen Aufgaben der bürgerlichen Revolution, die 1848 gescheitert war, zu erfüllen. Dazu gehört die Abschaffung der Monarchie – die für die sozialdemokratische Führung lange gar nicht auf der Tagesordnung gestanden ist – sowie diverse bürgerliche Freiheiten.

Der Sprung vom Februar zum Oktober findet nicht statt

Doch der Sprung vom Februar zum Oktober findet in Österreich nicht statt. Die Vollendung auch der sozialen Revolution wird von der Führung der Sozialdemokratie verhindert. Am Parteitag der Sozialdemokratie am 31.10/1.11.1018 spricht sich der „Linke“ Otto Bauer explizit gegen die „soziale Revolution“ aus. Die sozialdemokratische Führung hat sich längst mit dem kapitalistischen Staat arrangiert. Es hat sich ein von der Klasse abgehobener Apparat gebildet der seine Privilegien genießt (und verteidigt) und kein Vertrauen in die Arbeiter*innenklasse und ihre Fähigkeiten hat. Dazu kommt ein mechanisches Verständnis von Geschichte: Anstatt zu sehen, dass in Österreich längst der Kapitalismus alles dominiert und die politische Entwicklung hier hinterherhinkt beharrt man auf den Etappen Feudalismus – Kapitalismus/bürgerliche Demokratie und dann erst später Sozialismus.

In der Arbeiter*innenklasse aber herrscht ein sozialistisches Massenbewusstsein. Das zeigt sich auch am 12. November bei der Ausrufung der Republik. Vor dem Parlament haben sich 100.000 Menschen eingefunden, darunter auch Vertreter der Roten Garde. Auf Transparenten und in Rufen wird klargestellt: „Hoch die sozialistische Republik“. Die rot-weiß-rote Fahne wird zerrissen, der weiße Streifen entfernt und die beiden roten Enden zusammengeknottet – und dann die rote Fahne gehisst. Ganz anders bei der Führung der Sozialdemokratie: sie tritt würdevoll gemeinsam mit Vertretern bürgerlicher Parteien aus dem Parlament, hält ein paar Reden, Proklamiert die Republik und geht dann wieder hinein ins Parlament um sich scheinbar wichtigerem zu widmen. Größer könnte der Gegensatz nicht sein!

Immer wieder ist die Argumentation der sozialdemokratischen Führung sinngemäß: „Wir würden eh gerne, aber wir sind noch zu schwach, die Zeit ist nicht reif, der Gegner zu mächtig“. Doch die Realität sieht anders aus: Der Experte für das Rätewesen in Österreich – Hans Hautmann – geht davon aus dass die Rätebewegung hierzulande in Aufbau, Wahlmodus, Wahlbeteiligung und Klarheit der innerorganisatorischen Spielregeln jene in Deutschland oder Ungarn überlegen ist. Räte organisieren die Verteilung von Lebensmitteln, sind gegen Schleichhandel und Schwarzmarkt aktiv, weißen Wohnungen zu und kontrollieren die Produktion. Sie übernehmen über Monate, wenn nicht sogar Jahre weitreichende Aufgaben und die Doppelmacht ist weit entwickelt. Sogar bewaffnet ist die österreichische Arbeiter*innenklasse bis in die 1930er Jahre – der Republikanische Schutzpunkt sucht vergleichbares in Europa.

Sozialdemokratische Führung umarmt „zu Tode“

Doch ein wesentlicher Unterschied zu Deutschland ist der Umgang der Sozialdemokratie mit revolutionären Kräften. Die österreichische Sozialdemokratie setzt auf Integration und „zu Tode umarmen“. In Deutschland trennen sich 1916 die revolutionären Kräfte von der SPD, es kommt zur Gründung der USPD. In Österreich sind seit dem Kriegsparteitag 1917 die Kriegsgegner in der Führung. Der Austromarxismus setzt auf radikale Rhetorik. Der größte Teil der Linken bleibt in der Sozialdemokratie.

Auf der radikalen Linken gibt es u.a. die am 3.11. gegründete KPÖ und die am 28.11. gegründete Föderation Revolutionärer Sozialisten – International FRSI. Aktivist*innen von beiden Organisationen haben wichtige Rollen im Jännerstreik gespielt. Doch beiden fehlt die ausreichende Verankerung in der Arbeiter*innenklasse. Es bleibt daher im Wesentlichen bei Debatten und Plänen für einen Aufstand.

Die Integrationsstrategie der Sozialdemokratie hat auch dazu geführt, dass in weiten Teilen der Linken bis heute das Dogma gilt „Es kann nur eine Arbeiter*innenpartei geben“. Diese Sichtweise – in Kombination mit der Verbürgerlichung der SPÖ die aber von vielen ignoriert wird – erschwert den Prozess der Bildung einer neuen Arbeiter*innenpartei und führt dazu, dass die Arbeiter*innenklasse in Österreich aktuell gar keine Partei hat.

Friedrich Adler vom linken Parteiflügel hätte der „österreichische Liebknecht“ werden können. Er genießt aufgrund seines Attentates auf den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh im Jahr 1916 hohes Ansehen in der Arbeiter*innenklasse. Nicht nur die KPÖ, auch die Komintern bemühen sich aktiv, ihn zu gewinnen. Er aber bleibt in der Sozialdemokratie und trägt den Kurs „es ist noch zu früh“ mit. Er wird Vorsitzender des Reichsarbeiterrates und bremst auch hier. Die Räte übernehmen immer mehr administrative Aufgaben, anstatt zum Kern einer radikal anderen Gesellschaft zu werden. Doch die Sozialdemokratie geht noch weiter in ihrem Bestreben, die Räte zu kontrollieren und zu entmachten. Wer im Arbeiterrat sitzt muss Mitglieder in den sozialdemokratischen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen sein und die AZ abonniert haben! Auch die Soldatenräte werden von der Sozialdemokratie auf Linie gebracht um Loyal zur Partei und zur Regierung zu stehen. Letztlich werden die Räte völlig entmachtet und in den Staat integriert – auch durch das Gesetz über die Bildung der Arbeiterkammer von 1920.

Das Bindeglied verbindet nicht

Die revolutionäre Periode von Anfang 1918 bis Anfang der 20er Jahre muss auch im internationalen Kontext gesehen werden. Es gibt nicht nur die Russische Revolution sondern in so gut wie jedem Land gibt es in dieser Zeit zumindest große Streikbewegungen bis hin zu revolutionären Erhebungen. Am 9.11. 1918 findet in Deutschland die Novemberrevolution statt, im April und Mai 1919 wird in Bayern die Räterepublik ausgerufen. Auch in Italien gibt es 1919/20 die „Biennio rosso“, die „Die zwei roten Jahre“. Am 21.3. 1919 wird die Ungarischen Räterepublik ausgerufen.

Auch in Österreich finden immer wieder Erhebungen statt. Am 17.4. 1919 kommt es zu den Gründonnerstagsunruhen: Eine Demonstration von Arbeiter*innen vor dem Parlament wird brutal angegriffen. Die Arbeiter*innen wehren sich, die Polizei wird teilweise entwaffnet. Es kommt zur gewalttätigen Niederschlagung durch die Polizei. Die Stimmung in der Arbeiter*innenklasse ist geladen. Auf Antrag der KP rufen die Räte im Juli zum Generalstreik in Solidarität mit der ungarischen Räterepublik auf. Er wird lückenlos befolgt! Dennoch beantwortet die Parteiführung den Hilferuf aus Ungarn abschlägig. Leider, man wäre ja solidarisch, aber…  

Immer wieder liegt die Frage der Ausrufung einer Räterepublik in der Luft. Insbesondere mit den Ereignissen in Bayern und Ungarn. Doch die Führung der Sozialdemokratie stellt klar, dass sie diese nicht unterstützen würde, die KPÖ und andere linke Organisationen sind zu schwach.  

Die Erfolge

Das Ergebnis der revolutionären Periode ist die Errichtung der bürgerlichen Republik und eine Reihe weit-reichender sozialer Reformen, die innerhalb der ersten zwei Jahre ihres Bestehens in Angriff genommen werden, darunter u.a.: Arbeitslosenunterstützung, Verbot der Nachtarbeit von Frauen und Jugendlichen, Betriebsrätegesetz, Arbeiterurlaubsgesetz, achtstündiger Normalarbeitstag, Kollektivverträge, Abschaffung des Adels etc.  

Das „Rote Wien“ ist bis heute legendär: Wien wird 1920 zum eigenen Bundesland und die Sozialdemokratie setzt auf „Sozialismus in einer Stadt“ ohne allerdings den Kapitalismus selbst zu beseitigen. Innerhalb weniger Jahre werden 63.000 Wohnungen von der Gemeinde Wien erbaut. Kinderbetreuung, Schulen, Gesundheitsversorgung etc. werden massiv verbessert, finanziert durch ein kommunales Steuersystem mit starken Umverteilungselementen.

Doch dieses Projekt kann nur funktionieren, weil Bürgertum und Kapital noch nicht wieder fest im Sattel sitzen, weil sie das revolutionäre Potential der Arbeiter*innenklasse gespürt haben. Sie machen Zugeständnisse, um aus ihrer Sicht Schlimmeres zu verhindern. Doch diese Erfolge waren auf Sand gebaut. Seit Anfang der 1920er Jahre organisieren Bürgertum und Kapital ihren Gegenschlag. Er wird spätestens durch die Weltwirtschaftskrise 29 auch immer notwendiger. Und politisch möglich wird er weil die Führung der Sozialdemokratie immer und immer und immer wieder zurückgewichen ist. Und weil sie den Kapitalist*innen die Macht über die Wirtschaft, den Staat und das Militär überlassen haben.

Wir kennen all diese Argumente auch heute:

Syriza hat auf darauf gesetzt, die EU-Spitzen, also die Vertreter des Kapitals, durch keynesianische Argumente zu überzeugen anstatt auf die Macht der griechischen Arbeiter*innenklasse zu vertrauen.

Chavez hat 2002 die Arbeiter*innenklasse zwar den Putsch abwehren lassen ist dann aber nicht weitergegangen zum Sturz des Kapitalismus sondern hat die Arbeiter*innenklasse wieder entwaffnet.

Der Rückschlag nach dem halben Weg

Es gibt unzählige Beispiele, wo reformistische Führungen auf einen scheinbar vernünftigen, scheinbar friedlichen Weg verwiesen. Immer mit dem Argument „die Zeit ist noch nicht reif“. Das Beispiel der österreichischen Revolution, wie jenes der deutschen, der chilenischen, der indonesischen und vieler, vieler anderer zeigt: wenn man stehen bleibt, bevor man die herrschende Klasse entmachtet hat, dann rächt sie sich blutig. In Österreich gibt es bereits 1927 wieder einen Schießbefehl auf eine Demonstration von Arbeiter*innen. 89 sterben, über 1.100 werden verletzt. Es folgte die Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates 1933 und die blutige Niederschlagung des Februaraufstandes 1934.

Der Aufstieg des Faschismus und der 2. Weltkrieges, aber auch die Entwicklung des Stalinismus in der Sowjetunion sind die Folgen der zögerlichen Haltung der sozialdemokratischen Führung. Sie haben den Kapitalismus gerettet und damit auch all seine Widersprüche, seine Ausbeutung und seine Brutalität. Zweifellos ist es schwer zu sehen, wann der richtige Zeitpunkt für eine Revolution ist, wenn man mittendrin steckt. Aber es reicht eben nicht ein Stück des Weges zu gehen und den Rest dann später. Das bedeutet nicht, sich leichtsinnig in revolutionäre Abenteuer zu stürzen. Aber die Aufgabe von Sozialist*innen ist es, heute die revolutionäre Partei aufzubauen um dann gut vorbereitet zu sein. Liebknecht hat es 1905 ganz richtig gesagt: "Ja, eine Revolutionsversicherung hats noch nie gegeben, sie müsste erst erfunden werden. … Die Verantwortung für die Tat steht gegenüber der Verantwortung für die Untätigkeit."

Die Sozialdemokratie hat die sozialistische Revolution mit dem Verweis auf das Risiko verhindert – das sehr reale Ergebnis der abgebrochenen Revolution aber waren Faschismus und 2. Weltkrieg. Diese Lehren dürfen wir nie vergessen und müssen sie auf die kommenden revolutionären Zeiten anwenden.

Dieser Vortrag wurde im Rahmen der Sozialismustage in Kassel/Deutschland am 15.12.2018 gehalten. Die schriftliche Version weicht nur geringfügig davon ab.

 

Zu viele Menschen? Zum Mythos der Überbevölkerung

Theorien der „Überbevölkerung“ schieben die Schuld vom Kapitalismus auf dessen Opfer.
Oliver Giel

In der bürgerlichen Presse ist oft von „Bevölkerungsexplosion“, wenn nicht gleich von einer „Bevölkerungsbombe“ die Rede. Der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn schreibt in „Söhne und Weltmacht“ von einem "Überschuss" an Söhnen, der durch Krieg und Terror korrigiert werde. Der AfD-Politiker Höcke spricht vom „afrikanischen Ausbreitungstyp“. Der Club of Rome, ein Verein von Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Industriellen aus aller Welt, publizierte 1972 mit „Die Grenzen des Wachstums“ eine Studie, dass das Wirtschaftswachstum mit dem Wachstum der Weltbevölkerung nicht mitkomme. Allen diesen Leuten ist ein Gedanke gemeinsam: Es gäbe zu wenig Reichtum, als dass alle Menschen ein einigermaßen gutes Leben führen könnten.

 

Diese Überlegungen sind nicht neu. Der erste Theoretiker, der das Problem des Verhältnisses des Bevölkerungswachstums zum Wachstum des Reichtums in mathematische Formen fasste, war der britische Ökonom Thomas Robert Malthus. Er ging davon aus, dass die Bevölkerung exponentiell wachse, die Nahrungsmittelversorgung aber nur linear, das heißt z.B. in bestimmten Zeiträumen die Bevölkerung sich verdoppelt, dann vervierfacht, dann versechzehnfacht usw., die Nahrungsmittelproduktion sich aber nur verdoppelt, dann wieder verdoppelt usw. Dadurch werde notwendigerweise die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln unmöglich, die Löhne werden unaufhaltsam unter das Existenzminimum gedrückt. Dadurch aber steige der Anreiz für den Einzelnen, Kinder zu bekommen, um das Einkommen aufzubessern (zu Malthus‘ Zeiten war Kinderarbeit noch üblich), was die Entwicklung beschleunigt. Was Malthus hier tut, ist also nichts weiter, als Armut und Hunger zu einem Naturgesetz zu machen, während die gesellschaftlichen Bedingungen, die Armut und Hunger erzeugen, bei ihm nicht mal erwähnt werden. Karl Marx kommentiert dies in „Das Kapital“ so: „Es war natürlich weit bequemer und den Interessen der herrschenden Klassen […] viel entsprechender, diese „Übervölkerung" aus den ewigen Gesetzen der Natur als aus den nur historischen Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion zu erklären.“

 

Nun haben jene, die heute über „Überbevölkerung“ reden, natürlich nicht nach den Ursachen von Hunger und Armut gesucht, und dann zufälligerweise in der Stadtbücherei Malthus‘ Werk „Das Bevölkerungsgesetz“ gefunden. Die herrschende Klasse hat vielmehr ein materielles Interesse daran, die kapitalistische Form der Reichtumsproduktion von ihren Vorrausetzungen und Folgen zu trennen. Der Kapitalismus ist eine Art der Produktion, die nicht nach den Interessen der Produzierenden, nicht nach den Bedürfnissen der Konsumierenden, sondern allein nach dem Profit der Eigentümer*innen an den Produktionsmitteln ausgerichtet ist, da der Wert einer Ware durch das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeit bestimmt wird. Um den Profit zu vermehren, muss der Anteil unbezahlter Arbeit (Mehrwert) vermehrt werden. Verlängerung der Arbeitszeit, wie 12-Stunden-Tag, Lohnkürzungen und Entlassungen sind die Folge. Wer nicht mehr an diesem System der Reichtumsproduktion teilnehmen kann, ist für das Kapital nicht verwertbar und bildet einen Teil der „industriellen Reservearmee“ - die praktischerweise als Konkurrenz zu den arbeitenden Menschen eingesetzt werden kann.

 

In der heutigen Phase des Kapitalismus werden immer größere Teile der Menschheit zu einer „überflüssigen“, für das Kapital nicht verwertbaren Masse. Deren Regulierung, etwa in Form des Grenzregimes, gerät immer mehr in den Fokus der Außen- und Sicherheitspolitik. Auch militärische Mittel gehören mittlerweile zur Tagesordnung: Donald Trump will Flüchtlinge von der Nationalgarde an der Grenze erschießen lassen. Und hierzulande will der FPÖ-Wehrsprecher Reinhard Bösch in Nordafrika „mit militärischen Kräften einen Raum in Besitz“ nehmen.

 

Tatsächlich hat die Geschichte Malthus und alle Theorien „natürlicher“ Überbevölkerung widerlegt: Der Reichtum, gemessen etwa an der Nahrungsproduktion, wächst pro Kopf an, so dass wir bereits jetzt 14 Milliarden Menschen ernähren könnten. Warum das nicht passiert, liegt, wie Marx erklärt, an der kapitalistischen Produktion. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, die Natur, Arbeit und Reichtumsproduktion zum Zweck der Verwertung um der Verwertung willen als ihre Grundlage hat. Wir wollen eine Gesellschaft, in welcher, jene, die produzieren und konsumieren, die Produktion in ihre eigenen Hände nehmen - um die konkreten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. In einer solchen Gesellschaft ist kein Mensch „zu viel“. Eine solche Gesellschaft nennen wir: Sozialismus.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

What the *?

Warum wir nun mit Sternchen schreiben – und warum das kein Ersatz für politische Aktivität ist.
Sebastian Kugler

Wer das „Vorwärts“ aufmerksam liest, bemerkt: Wir benützen nun den „Gender Star“ (*) bei Begriffen wie „Arbeiter*innen“. Dieses Sternchen ist so etwas wie die Weiterentwicklung des Binnen-I: Er soll zeigen, dass es nicht nur Manderln und Weiberln gibt, sondern eine Vielzahl geschlechtlicher Identitäten. Das ist keine neue Erkenntnis. Zahlreiche Gesellschaften vor uns kannten mehr als nur zwei geschlechtliche Identitäten. Im Zuge der Russischen Revolution setzte sich in der Wissenschaft die Erkenntnis durch, geschlechtliche Identität als durchgängiges, fließendes Spektrum zu betrachten – und nicht als starre Schubladen. Auch in Zukunft wird diese Tatsache bestehen, selbst gegen den Widerstand konservativer Ideolog*innen und „Sprachschützer*innen“.

Halten wir die Sache damit für erledigt? Keineswegs. Entgegen akademisch weit verbreiteter Vorurteile „schafft“ Sprache keine Realität. Wir werden Ausbeutung und Unterdrückung nicht durch möglichst korrektes Sprechen und Schreiben abschaffen können. Eine absolut „richtige“ Sprache, die den Kern der Dinge exakt trifft und beschreibt, wird es nie geben. Das „Gendern“ zeigt: Es kann keine sprachliche Form geben, die die komplexe Realität von Geschlecht und Identifizierung korrekt abbilden kann – weil sich diese ständig verändert.

Die russischen Revolutionär*innen der Bolschewiki verwendeten Begriffe, bei denen es uns heute die Haare aufstellen würde – und trotzdem sind sie verantwortlich für die fortschrittlichste Geschlechterpolitik, die die Welt je gesehen hat: Von der Abschaffung des ehelichen Privilegs über die komplette Legalisierung von Abtreibung bis zur Ermöglichung von Geschlechtsumwandlungen ohne Stigmatisierung. Genauso waren sie die konsequentesten Kämpfer*innen gegen Rassismus, auch wenn sie in diesem Kampf Begriffe benutzten, die wir heute rassistisch nennen würden – und das zurecht. Denn seither gab es verschiedene Bewegungen gegen Unterdrückung, die sich auch in unserer Sprache ausdrücken: Die Bürger*innenrechtsbewegung in den USA, antikoloniale Revolutionen, Wellen von Frauenbewegungen und nicht zuletzt die LGBTQI-Bewegung. Für Sozialist*innen sind diese Kämpfe, in denen sich immer auch Klassenkämpfe ausdrücken, zentral. Wir haben keinen Grund, die vom Duden abgesegnete Sprache gegen ihre Einflüsse zu verteidigen.

Gleichzeitig wissen wir, dass es zu „Ungleichzeitigkeiten“ kommt: Bei Menschen, die in diese Kämpfe nicht oder nur am Rande eingebunden sind, können solche Veränderungen zunächst auf Unverständnis stoßen. Wir wollen jedoch auch sie erreichen. Als Sozialist*innen wollen wir, dass unsere Inhalte im Vordergrund stehen. Wir pflegen bewusst keinen hochgestochenen, akademischen Stil, der nur Hürden aufbaut. „Vorwärts“-Artikel werden auch weiterhin verständlich für alle sein, die sie lesen und sich für unsere Inhalte interessieren. Zentral ist nämlich für uns, nicht nur über das Reden zu reden, sondern gemeinsam aktiv zu werden!

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Eine Welt zu gewinnen 2018

„Eine Welt zu gewinnen“ fand wieder statt – besser, motivierender, lauter und wütender als je zuvor!
Simon Salzmann

Vom 19. Bis 20. Oktober fand in Wien „Eine Welt zu gewinnen 2018“ statt.  Es gab diverse Diskussionen zu brennenden politischen Themen in Österreich und international. Veredelt wurde all dies durch Beiträge von über 80 TeilnehmerInnen, u.a. aus den USA, Spanien, Serbien und Deutschland.

Der Freitag Abend brachte die erste große Podiumsdiskussion zu „International gegen Patriachat und Kapital – Frauenbewegungen weltweit“. Gesprochen haben Laura Garcia von der feministischen Organisation „Libres y Combativas“ (Spanien), Christian Berger, Sprecher des Frauenvolksbegehrens und Martina Gergits für die sozialistisch-feministische Plattform „Nicht Mit Mir“.

Der Samstag brachte neun verschiedene Arbeitskreise zu aktuell brodelnden Themen. Es wurden unter anderem die Folgenden diskutiert: Widerstand gegen die rückschrittliche Bildungspolitik der Regierung, Streik im Sozialbereich und die Unmöglichkeit, im Kapitalismus eine Lösung für die Klimakatastrophe zu finden.

Abgeschlossen wurde das Event mit einer weiteren großen und stimmungsgeladenen Podiumsdiskussion, in der es konkret um gewerkschaftlichen Widerstand und Streik gegen diese Regierung ging. RednerInnen waren Irene Mötzl, Betriebsrätin beim Wohnservice Wien und Aktivistin der SLP und Peter Redl, Betriebsrat im UKH Lorenz Böhler.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

1918-34: Zurückweichen, bis man an der Wand steht

Wie Zögern und Zaudern der sozialdemokratischen Führung in den Untergang führten.
Flo Klabacher

Justizpalast, November 2018: noch immer prangt über dem Portal der Doppelkopfadler, das Wappentier ders austrofaschistischen Ständestaates

Die Sozialdemokratie glaubte zu keinem Zeitpunkt daran, dass die ArbeiterInnenbewegung einer entscheidenden Auseinandersetzung mit dem Bürgertum gewachsen ist. Anstatt die mächtige revolutionäre Bewegung in Österreich 1918 an die Macht zu führen, suchte sie einen Kompromiss mit dem extrem geschwächten Bürgertum: Herausgekommen ist die Republik Deutsch-Österreich. Die herrschende Klasse nahm dankend an.

Doch jeden Spielraum, den ihr die SDAP (Vorgängerin der SPÖ) gab, um ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu unterstreichen, nutzte das Bürgertum, um seine Machtposition zu stärken und die ArbeiterInnenbewegung zurückzudrängen. Beispiel Militär: Das sozialdemokratisch geführte Ministerium für Heereswesen organisierte die Volkswehr als erstes Heer der Republik und ernannte den Erzreaktionären von Boog zum Oberbefehlshaber – von Boog organisierte abseits der Volkswehr geheime Offiziersregimenter, unter Ausschluss von Juden und Soldatenräten. In Kärnten wurde mit Hülgerth ein späterer Vizekanzler des Austrofaschismus Landesbefehlshaber der Volkswehr. Sobald die SDAP aus der Bundesregierung ausschied, organisierte die bürgerliche Koalition das Heer neu, inklusive ideologischer Säuberung, und machte es zu einem zentralen Instrument für die spätere Machtergreifung des Faschismus.

Dass die „Christlichsoziale Partei“ (Vorgängerin der ÖVP) kein Interesse an Zusammenarbeit und Republik hatte, machte sie klar, sobald sie sich sicher im Sattel fühlte – und mit Mussolinis Unterstützung ihre „Heimwehren“ aufbaute. Daraufhin gründete die SDAP mit dem „Republikanischen Schutzbund“ auch eine bewaffnete Organisation. Der Name ist Programm: Die Antwort auf faschistische Umtriebe und den Abbau demokratischer Rechte war keine Offensive mit dem Ziel der Übernahme der Macht durch die ArbeiterInnenbewegung - sondern die Verteidigung ebenjenes Staates, den das Bürgertum als Instrument zur Umsetzung seiner Angriffe nutzt.

Im „Roten Wien“ setzte die SDAP zwar ein beispielloses Wohnbau-, Bildungs- und Sozialprogramm um, das u.a. durch Luxussteuern finanziert wurde. Sie verzichtete aber darauf, die kapitalistischen Besitzverhältnisse anzugreifen. Die revolutionären Floskeln des Linzer Programms (1926) blieben Papiertiger. Provokationen von Angriffen auf soziale und gewerkschaftliche Rechte bis hin zu faschistischen Morden an sozialistischen AktivistInnen häuften sich. Doch die SDAP-Führung hielt die Füße still und verzichtete darauf, die empörte Stimmung in der ArbeiterInnenklasse zu nutzen und in die Offensive zu gehen. Sie mied die Konfrontation, beschwichtigte die eigene Basis, bremste Widerstand aus und wich Schritt für Schritt zurück. Das Bürgertum fühlte sich dadurch bestärkt und ging immer mehr in die Offensive.

Als 1927 Mitglieder der paramilitärischen, faschistischen „Heimwehren“ nach dem Mord an einem Kind und einem Invaliden, die an einer Schutzbund-Demonstration teilgenommen hatten, freigesprochen wurden, ließ sich die Basis nicht mehr beschwichtigen: Spontan breitete sich eine Streikbewegung aus, am 15. Juli fand eine Massendemonstration statt. Dabei ging der Justizpalast, Symbol der bürgerlichen Klassenjustiz, in Flammen auf. Die Polizei schoss in die Menge, 89 Menschen starben, 1.100 wurden verletzt.

Diese Explosion von Wut auf das herrschende System hätte einen neuen Aufschwung der ArbeiterInnenbewegung bringen können. Doch es fehlte eine Organisation, die die Wut aufgefangen und kanalisiert hätte. Die SDAP verriet den Aufstand und setzte Schutzbund-Einheiten ein, um die „Ordnung“ wiederherzustellen. Die KPÖ hatte es nie geschafft, sich eine Basis in der Arbeiterinnenklasse aufzubauen. Zudem war sie in dieser Zeit bereits hauptsächlich damit beschäftigt, Stalins aus Moskau diktiertem Zickzack-Kurs zu folgen. Die Linken in der SDAP waren zu schlecht organisiert und es fehlte die politische Klarheit, um in dieser Situation ein Aktionsprogramm vorstellen zu können. Die aufkommende linke „Jung-Opposition“ um Ernst Fischer scheute davor zurück, um die politische Führung der Partei und ein revolutionäres Programm zu kämpfen. Die Wut verpuffte, die Opfer waren umsonst, Frustration machte sich breit.

 

Die Weltwirtschaftskrise 1929, Massenarbeitslosigkeit und Armut schwächten die Kampfkraft der ArbeiterInnenbewegung. Um den Kapitalismus zu retten, wollte das Bürgertum nun endgültig Schluss machen mit dem „Roten Wien“, den Arbeitsschutzgesetzen und der organisierten ArbeiterInnenbewegung.

Die SDAP dagegen wollte die Christlichsozialen immer noch von den Vorteilen eines Rechtsstaates überzeugen. Sie pfiff die Basis bei jedem Protest gegen Provokationen der Regierung zurück. Selbst nach der Ausschaltung des Parlaments 1933 versuchte sie, mit Dollfuß zu verhandeln und zu diskutieren, statt die Massen auf die Straßen zu mobilisieren. Als die eigene Parteibasis am 12. Februar 1934 bewaffnet gegen die faschistische Machtübernahme kämpfte, ließen sich führende Funktionäre in Schutzhaft nehmen, hielten die Schutzbund-Waffenverstecke geheim und verweigerten die Führung des Aufstands.

Austromarxismus: Eine Alternative?

Leon Neureiter

Noch heute wird oft wehmütig auf die scheinbar glorreiche Vergangenheit der Sozialdemokratie geblickt. Dabei wird, etwa in Materialien der Sozialistischen Jugend, deren damaliges ideologisches Vehikel, der „Austromarxismus“, als scheinbare Alternative zu revolutionärem Marxismus und opportunistischem Reformismus verklärt.

Dabei gab und gibt es „den“ Austromarxismus nicht. Der Austromarxismus war keine einheitliche marxistische Strömung. Tatsächlich gab es ein weites Spektrum von Ansätzen, von Experimenten mit Rätedemokratie bis zu Sozialismusvorstellungen, die nicht einmal eine Umwälzung der Produktionsweise einschlossen. Dieses Spektrum stellte die stellte die Spannweite der Reaktionen der Parteibürokratie auf eine Situation sozialer Spannungen dar. Denn die Sozialdemokratie wollte einerseits eine Revolution verhindern, was auch ihr Kopf Otto Bauer nie leugnete. Andererseits wollte sie aber auch das Gespenst der Revolution am Leben erhalten, um Verhandlungsgewicht mit bürgerlichen Kräften zu haben und die ArbeiterInnen an sich zu binden. Theorie diente der nachträglichen Rechtfertigung der Aktionen der Sozialdemokratie – ein Beispiel hierfür ist Otto Bauers Theorie des »Gleichgewichts der Klassenkräfte«, die von ihm nachträglich aufgestellt wurde, um die reformistischen Reaktionen der sozialdemokratischen Parteiführung auf die durchaus revolutionäre Situation zu rechtfertigen.

Was die austromarxistischen DenkerInnen jedoch gemeinsam hatten, war, dass sie den Sturz des bürgerlichen Staates klar ablehnten – ihr rechter Flügel rund um Karl Renner leugnete sogar von Anfang an den Klassencharakter des bürgerlichen Staats. Doch auch der linke Flügel rund um Max Adler, der rätedemokratische Elemente befürwortete, wollte diese lediglich mit dem bürgerlichen Staat verbinden. Wenn es nach Otto Bauer ging, würde »der Sozialismus selbst aus der Tatsache der Demokratie kommen, denn die Demokratie […] schlägt von selbst zum Sozialismus um.« Dies ist eine vollständige Verklärung des Klassencharakters des bürgerlichen Staates. Es wird suggeriert, dass Wahlen in diesem Rahmen seinen eigenen Rahmen sprengen und letztendlich die Macht des Bürgertums brechen könnten. Ein fataler Irrtum, denn zur Not greifen die KapitalistInnen selbst auf undemokratische und diktatorische Mittel zurück – genau das mussten die AustromarxistInnen im Februar 1934 selbst miterleben. Der gescheiterte Februaraufstand stellte gleichzeitig den Höhepunkt des Verrats durch den „Austromarxismus“ sowie dessen komplettes Scheitern dar.

 


Zum Weiterlesen:

Sozialistische LinksPartei (Hrsg.): „Wir gehen nicht zurück“ – 80 Jahre Februaraufstand

Die Broschüre beinhaltet eine Analyse des Austromarxismus und dem Text von Leo Trotzki: „Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus“

Zeitreihe Erste Republik

1918

14.-22.1. „Jännerstreik“ mit ca. 1 Million ArbeiterInnen, es bilden sich Räte.

1.2. Aufstand der Matrosen in Cattaro (heute: Kotor/Montenegro)

30.10. Die provisorische Nationalversammlung beschließt eine provisorische Verfassung. Renner konstituiert die erste Konzentrationsregierung

3.11. Gründung der KPÖ

9.11. Novemberrevolution in Deutschland

12.11. Ausrufung der Republik. 150.000 demonstrieren vor dem Parlament.

27.11. Einführung des allgemeinen freien Wahlrechts, auch für Frauen

1919

16.2. Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung. Koalition zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokratie.

1.-2.3. Erste Reichskonferenz der österreichischen ArbeiterInnenräte

21.3. Ausrufung Ungarische Räterepublik

7.4. Ausrufung Münchner Räterepublik

20.-21.4.

Generalstreik in Italien, Höhepunkt der „zwei roten Jahre“

1920

12.5. Gründung der ersten Heimatwehr in Tirol durch den Christlichsozialen Steidler

17.10. Erste Nationalratswahl. Die Christlichsozialen werden stärkste Partei und formen eine Alleinregierung.

1923

19.2. Gründung des Republikanischen Schutzbundes.

2.4. "Schlacht auf dem Exelberg" in Wien: 300 Nazis schießen auf 90 sozialdemokratische ArbeiterInnen.

November 1924

Auflösung der letzten ArbeiterInnenräte durch die SDAP

1927

30.1. In Schattendorf, Burgenland, töten Heimwehrler ein Kind und einen Kriegsinvaliden.

14.7. Urteil im Schattendorfer Prozess: Freispruch für die Mörder.
15.7. Generalstreik in Wien. Brand des Justizpalastes. Die Wiener Polizei tötet ca. 90 DemonstrantInnen.

1929

24.10. Ausbruch der Weltwirtschaftskrise.
7.12. Eine Verfassungsnovelle gibt dem Bundespräsidenten diktatorische Durchgriffsrechte (noch heute gültig).
18.5.1930 Die vereinigten Heimwehren schwören den "Korneuburger Eid" und erklären Marxismus und Demokratie den Krieg.

24.5.1931 Höhepunkt der Bankenkrise in Österreich: Zusammenbruch der Credit-Anstalt

1933

Februar: Die Arbeitslosigkeit erreicht den Höchststand von 600.000.

4.3. Ausschaltung des Parlaments, Beginn der Dollfuß-Diktatur

31.3. Verbot des Schutzbundes

27.5. Verbot der KPÖ

23.9. Verordnung zur "Errichtung von Anhaltelagern zur Internierung politischer Häftlinge".

12.2. 1934 Beginn des ArbeiterInnenaufstands gegen den Austrofaschismus

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