Trotzkis Marxismus: Eine Inspiration für heute

Trotzki verteidigte den Marxismus gegen Opportunismus und Dogmatismus.
Philipp Chmel

Ob Klimakrise oder Aufstieg des Rechtsextremismus - Trotzkis Theorien sind für heutige Kämpfe unverzichtbar.

 

Russland, 1905: Die russischen Arbeiter*innen kämpfen gegen die brutale Zarenherrschaft und für soziale Verbesserungen und demokratische Rechte wie Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und freies Wahlrecht - also Rechte, die zuvor in den großen bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und England erkämpft worden waren. Diese erste russische Revolution wird jedoch zurückgeschlagen. Trotzki, selbst zentraler Akteur der Ereignisse, zieht aus der Niederlage eine bis dahin unerhörte Schlussfolgerung: Er bricht mit der bis dahin gängigen Revolutionsvorstellung, die besagt, dass ein Land zunächst eine erfolgreiche bürgerliche Revolution - mit dem Bürgertum an der Spitze - nach dem Vorbild Frankreichs oder Englands durchführen muss, bevor der Kampf für Sozialismus geführt werden kann.

 

Trotzki erkennt, dass das russische Bürgertum im 20. Jahrhundert, anders als das englische oder französische in den Jahrhunderten davor, keine materielle Interessenbasis an einer bürgerlichen Revolution hat - denn die bürgerlichen Eigentums- und Produktionsverhältnisse waren im Weltmaßstab bereits vorherrschend und auch in Russland bereits weitgehend von oben umgesetzt. Das durch den “Kapitalismus von oben” entstehende russische Bürgertum war somit von Anfang an mit den bestehenden politischen Verhältnissen verschmolzen. Trotzkis These war die Schlussfolgerung, dass in so einer Situation die Arbeiter*innenklasse sowohl die Aufgaben der bürgerlichen als auch ihrer eigenen Emanzipation übernehmen müsste - da sie die einzige Klasse ist, in deren materiellem Interesse eine solche "permanente" Revolution ist.

Die Frage der Landreform ist ein konkretes Beispiel dafür. In den ländlichen Regionen Russlands herrschten damals tendenziell noch halb-feudale Verhältnisse, es gab eine große Masse an Landlosen. Großgrundbesitz und Kapital waren aber, unter anderem durch Investitionen, eng miteinander verzahnt. Die Kapitalist*innen hatten also kein Interesse an einer Landreform, da sie selbst vom Großgrundbesitz profitierten. Eine ähnliche Situation herrscht heutzutage in ökonomisch wenig entwickelten und neo-kolonialen Ländern, in denen Landraub durch internationale Konzerne ein massives Problem ist. Kleinbäuer*innen und Indigene werden von dem von ihnen bewirtschafteten Land vertrieben, um den Anbau von Cash-Crops oder den Abbau von Bodenschätzen zu ermöglichen. In einem Artikel zum Thema “Landgrabbing” schreibt die Plattform “Reset”: „In Brasilien besitzen 0,03% der Bevölkerung 45% der Anbauflächen, während fünf Millionen Familien völlig besitzlos sind. In den letzten 15 Jahren wurden aufgrund des kommerziellen Anbaus von Zuckerrohr ca. 35.000 Familien von ihrem Land vertrieben“. Besonders prickelnd: In dieser Zeit war der als links geltende Präsident Lula an der Macht, der entgegen seiner Wahlversprechen nicht die Rechte der Indigenen, sondern die Interessen von Industriellen wie dem „Sojakönig“ Matto Grosso, laut Greenpeace einer der Hauptverantwortlichen für die Zerstörung des Regenwaldes, schützte.

Trotzkis Theorie gilt also auch heute noch - und zwar in einem noch viel größerem Ausmaß als damals: Im Katastrophen-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts kann kein größerer Kampf um demokratische Rechte wirklich erfolgreich sein, wenn er nicht auch die wirtschaftliche Basis des politischen Systems angreift. So gelang es zwar den arabischen Revolutionen vor 10 Jahren, die Diktatoren zu stürzen - nicht aber die Armut und den Hunger, auf deren Basis sie herrschten. Dass es heute in vielen dieser Ländern noch schlimmer geworden ist, liegt nicht an den Revolutionen - sondern insbesondere daran, dass sie nicht weit genug gegangen sind.

Die Theorie der Permanenten Revolution lässt sich auch auf den Kampf gegen die Klimakrise anwenden. Nicht nur ist der Kapitalismus deren zentrale Ursache, sondern die Interessen fossiler Kapitalfraktionen (u.a. OMV, 3. Piste, Autoindustrie) bedeuten reale Zwänge für bürgerliche Parteien. Kaum an der Macht, haben sich die Grünen auch schnell von ihren Forderungen nach einem Stopp von fossilen Großprojekten verabschiedet.

Auch Trotzkis Kampf gegen den Faschismus war von dem gleichen Gedankengang geleitet: Die jeweilige materielle Interessenbasis der Klassen ist Dreh- und Angelpunkt der Analyse. Trotzki erkennt im Faschismus eine besondere Form der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion auf eine schwere Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems. Das Bürgertum entfesselte den Faschismus, um die Profite zu sichern. Über eine Massenbasis im Kleinbürgertum (z.B. kleine Gewerbetreibende) und Lumpenproletariat (z.B. Langzeitarbeitslose) versuchte der Faschismus,  jegliche Form der Arbeiter*innen-Organisation zu zerstören.
Trotzkis Schluss: Das Bürgertum kann kein Bündnispartner im Kampf gegen den Faschismus sein, da es und sein System die Basis für ihn bereitet. Dass das Bürgertum der radikalen Rechten gegenüber offen ist, wenn es darum geht, Profite und Investitionen zu sichern, können wir auch heutzutage beobachten. Das Handelsblatt titelte zum Beispiel nach der Wahl Bolsonaros: „Deutsche Wirtschaft feiert den ‚Trump der Tropen‘“.

Die Frage ist also nicht “Faschismus oder Demokratie?”, sondern “Faschismus oder Sozialismus?”- wie im spanischen Bürger*innenkrieg ab 1936, an dem Trotzki aus dem Exil leidenschaftlich Anteil nahm. Die vorherrschende stalinistische Doktrin zwang die Millionen revolutionären antifaschistischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen in ein Bündnis mit dem “republikanischen” Bürgertum gegen die faschistische Armee Francos. Doch genau diese scheinbare Breite erwies sich als Hindernis im antifaschistischen Kampf, denn die Arbeiter*innen und Bäuer*innen kämpften gegen Franco und für eine Freiheit, die ihnen das Bürgertum nicht geben wollte. Das Bürgertum schreckte vor der Revolution zurück und bremste den Kampf gegen Franco - der Faschismus siegte. Auch heute hat das Bürgertum Angst vor der mobilisierten Arbeiter*innenklasse. Denn, einmal in Bewegung, fordert diese häufig sehr schnell weitreichende soziale Verbesserungen und stellt zum Teil auch das politische und wirtschaftliche System selbst in Frage, wie die Rebellionen der letzten Jahre in Chile, Irak oder im Libanon gezeigt haben. Das Bürgertum hat also Angst, die Arbeiter*innen-Klasse für etwas zu mobilisieren, das ihren eigenen Machtverlust bedeuten kann.

 

Darum argumentierte Trotzki für eine Bündnispolitik auf dem Boden der organisierten Arbeiter*innenklasse und für ein Übergangsprogramm. Was bedeutet das? Wir müssen im hier und jetzt gegen Faschismus, Sexismus, Rassismus, andere Formen der Unterdrückung und die Klimakrise kämpfen. Da wir diese Kämpfe aber nicht im Rahmen des Kapitalismus gewinnen können, ist es notwendig, am Bewusstsein der Menschen anzusetzen und durch passende Forderungen die Brücke von den aktuellen Kämpfen zu einer sozialistischen Revolution zu spannen. Denn, wie schon Rosa Luxemburg sagte, erfordert der Kampf für den Sozialismus die Eroberung der Massen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: