Geschichte und politische Theorie

Vor 100 Jahren ... (Oktober/November 2020)

1920 stimmten 59% für den Verleib Südkärntens bei Österreich. Das hat kaum mit Nationalismus zu tun: Die Hälfte der slowenischsprechenden Bevölkerungsmehrheit wählte v.a. ein Bündnis mit der österreichischen Arbeiter*innenklasse, die sich 1918 in Räten organisiert und demokratische und soziale Rechte erkämpft hatte – bessere Kampfvoraussetzungen als unter der SHS-Monarchie.

Im nächsten Jahrhundert werden slowenischsprechende Menschen marginalisiert, verfolgt und entrechtet: Von Kündigungen im öffentlichen Dienst ab 1920 über Verschleppungen und Ermordungen in der Nazizeit bis zum SPÖ-Bürgermeister-geführten Ortstafelsturm 1972 und darüber hinaus.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Friedrich Engels und die Frauen

Der Lebemann als Revolutionär. Oder, warum wir so wenig über die Burns-Schwestern wissen.
Albert Kropf

Die Forschung zum Leben von Marx und Engels begann schon zu ihren Lebzeiten und dementsprechend gut erforscht ist es. Wer sich mit Engels beschäftigt, kommt an seinem Buch "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" nicht vorbei. Darin beschreibt er die Grundlagen der Unterdrückung der Frau und die Bedeutung sexistischer Moralvorstellungen zum Erhalt von Klassengesellschaften.

Er analysierte diese Zusammenhänge nicht nur, sondern brach für die Zeit auch radikal damit. Von Ehe, Monogamie und Standesdünkel hielt er wenig und lebte lange mit zwei Schwestern aus den irischen Arbeiter*innen Slums in Manchester zusammen. Wir wissen viel über das gesellschaftliche Leben von Engels, aber kaum etwas über jenes der Burns Schwerstern. Zu mutmaßen, Engels hätte sich (wie damals durchaus üblich) zwei arme Frauen „gehalten“, ist eine flache Analyse. Das Ignorieren dieser Beziehung durch Sozialdemokratie und Stalinismus zeigt, dass beide bürgerliche Moralvorstellungen tief verinnerlicht haben.

1842 ging Engels auf Wunsch des Vaters nach Salford bei Manchester. Er arbeitete im Familienbetrieb und studierte den modernen Industriekapitalismus. In England gab es schon eine aktive Arbeiter*innen-Bewegung, an der er sofort andockte. Wahrscheinlich ist, dass Engels dabei relativ bald auf Mary Burns gestoßen ist und sie 1842/43 eine Beziehung eingingen. Ziemlich gesichert ist, dass sie ihn in die gefährliche Welt von „Little Ireland“ in Manchester einführte (und damit auch schützte), wo er für sein erstes Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ recherchierte. Er wiederum unterstützte ihre politische Tätigkeit für die irische Unabhängigkeit.

Später zog Engels mit Mary und ihrer Schwester Lydia zusammen und war spätestens nach Marys Tod in einer Beziehung mit Lydia. Wobei viel darauf hindeutet, dass alle drei auch wechselnde Sexalpartner*innen hatten. Das „Verhältnis“ war kein Skandal - der „Skandal“ war, dass Engels die Unterschichtfrauen Mary und dann Lydia als „seine Frau“ vorstellte und sie somit neben sich auf seine gesellschaftliche Stufe stellte. Auch Marxens Frau war wegen der „gesellschaftlichen Unmöglichkeit“ geschockt, als Engels mit Mary bei ihnen in Brüssel zu Besuch war. Dass er Lydia erst am Totenbett formal heiratete, um ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen, ändert daran nichts. Von formalen Dingen, wie Heirat hielt er nichts. Besitzdenken, sowohl persönlich wie materiell war ihm fremd. Engels baute sich abseits des bürgerlichen Familien-Ideals, aus dem Marx und Burns Clan sein eigenes Familienkonstrukt. Ihnen hinterließ er auch einen Großteil seines Vermögens. Marxens Grab in Highgate bei London war als „Familiengrab“ gedacht. Erst als er sah, wie es zur „Pilgerstätte“ wurde, verfügte er, dass seine Asche in den Ärmelkanal geschüttet werden soll. Für sich wollte er keine Pilgerstätte.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Oktoberstreik 1950 - Veranstaltung am 29.10.

Sie nannten es „Rettung der Demokratie“, und verhinderten so, dass wir was zu sagen haben.
Thomas Hauer

Österreich ist bekannt als eines der reichsten Länder der Welt. Das sah nach 1945 aber noch ganz anders aus. Der 2. Weltkrieg hinterließ nicht nur Berge von Leichen, sondern auch ein zerstörtes Land. Damals war Österreich eines der ärmsten Länder Europas. Hauptaufgabe war also der Wiederaufbau, der alles untergeordnet wurde, auch der Lebensstandard der Arbeiter*innen. Die bürgerlichen Kräfte in Österreich waren seit jeher schwach und lange v.a. ein Anhängsel der Monarchie. Nach dem 1. Weltkrieg stützten sie in weiten Teilen zuerst den Austrofaschismus, dann das NS-Regime. Durch diese Schwäche konnte die österreichische Bourgeoisie keine tragende Rolle beim Wiederaufbau spielen. Im Gegenteil: Die Klein- und Mittelbetriebe mussten vom österreichischem Staat, unterstützt durch den „Marshallplan“, aufgepäppelt werden. Die nun verstaatlichte Groß- und Schwerindustrie sicherte ihnen einen günstigen Zugang zu Rohstoffen und verschaffte die benötigte Infrastruktur. Ganz nach dem Motto, das wie ein Tinnitus bis heute nachklingt: „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“.

Dass diese Formel aber heute wie damals nicht stimmt, zeigte die Tatsache, dass die Unternehmen die Preise für die Waren des täglichen Bedarfs drastisch anhoben und so die arbeitende Bevölkerung in immer größeren Hunger und Armut drängte. Vor allem, weil Unternehmer*innen und die Leitungen der verstaatlichten Betriebe der Meinung waren, dass die Löhne niedrig gehalten werden müssen, um den Wiederaufbau der Wirtschaft zu stabilisieren. Die Kapitalist*innen waren sich also einig, dass die Rechnung der Arbeiter*innenklasse umgehängt wird. Um diese Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, die schon den Preis für Krieg und Faschismus bezahlt hatte, abzuschwächen, aber auch um Protesten zuvorzukommen, verhandelte der ÖGB die „Lohn-Preisabkommen (LPA)“. In Verhandlungen mit Vertreter*innen aus Wirtschaft und Regierung sollte so die Entwicklung von Löhnen und Preisen geregelt werden.

Diese LPA`s waren die Vorläufer der Kollektivvertragsverhandlungen und somit der Beginn der Sozialpartnerschaft. Die Sozialpartnerschaft, die von gemeinsamen Interessen von Kapital und Arbeit ausgeht, setzt daher v.a. auf Verhandlung und lehnt das Mittel des Arbeitskampfes weitgehend ab. Sie ist mehr als eine Taktik und ist als Ideologie zum Flaggschiff des ÖGB geworden. Ihr schreibt er fast alle seine Erfolge zu. Die wenigsten Gewerkschaftsmitglieder werden aber wissen, dass diese Festung (heute eher Ruine) des sozialen Friedens in Österreich mit Gewalt und politischem mundtot-Machen seiner Gegner*innen durchgesetzt wurde. Diese Gegner*innen waren aber nicht etwa Vertreter*innen des Kapitals, sondern wichtige Teile der österreichischen Arbeiter*innenklasse selbst.

Der ÖGB führte nämlich keinen Kampf gegen die Ausbeutung, sondern festigte sie, indem er zwar für eine Abschwächung eintrat, sie aber prinzipiell als alternativlos hinnahm. Allerdings hielten sich die Kapitalist*innen nicht an die Vereinbarungen, was die Preise wieder explodieren ließ. So wie die Stimmung in der Bevölkerung – denn die Gewerkschaft hielt am Abkommen und den niedrigen Löhnen fest. 1949, nach dem 3. LPA, kam es zu Betriebsversammlungen und Protestkundgebungen. Als während der Verhandlungen zum 4. LPA durchsickerte, dass es wieder nicht die Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllen würde, kam es ausgehend von Westösterreich im ganzen Land zu Streiks und Demonstrationen.

In der Folge spielten ÖGB und SPÖ eine desaströse Rolle. Die Partei und die theoretische Kampforganisation der Arbeiter*innenklasse führten diese nicht an, sondern taten alles, um ihre Eigeninitiative abzuwürgen. Bewusst wurde von SPÖ und ÖGB das Gerücht gestreut, dass die Streikbewegung ein Putschversuch der KPÖ sei, um die Macht zu erlangen. Zuletzt wurden Streikende von Schlägertrupps, die der Bau-Holz Gewerkschafter Franz Olah aufstellte, auseinandergejagt. Doch von der KPÖ ging für das System keine Gefahr aus. Schon im Widerstand war es der Linie der stalinistischen Sowjetunion folgend primär um die Wiedererrichtung der bürgerlichen Demokratie gegangen, nicht um den Sturz des Kapitalismus. Obwohl viele KPÖler*innen führende Rollen bei den Streiks hatten, war die KPÖ nicht viel mehr als die österreichische Filiale der stalinistischen Sowjetunion, die kein taktisches Interesse an einem Umsturz in Österreich hatte.

Erst 2015 wurde die Geschichte des Oktoberstreiks vom ÖGB historisch aufgearbeitet, die Putschthese revidiert und damals ausgeschlossene Gewerkschaftsmitglieder rehabilitiert. Was bleibt, ist aber eine Gewerkschaft, die seit jeher Bewegungen der Arbeiter*innenklasse nicht anführt und unterstützt, sondern zügelt und zum Stillstand bringt. Indem sie es nicht schafft, über den Tellerrand der kapitalistischen Logik zu blicken, ist sie ein stabilisierender Faktor des kapitalistischen Ausbeutungssystems und setzt so letztlich die Interessen der Herrschenden um.

Der Rest des Schwerpunktes zum Thema: 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

70 Jahre nach dem Oktoberstreik - Lehren für heute

Die LPA 1947-51 waren zentral für den kapitalistischen Wiederaufbau und das Festschreiben der Sozialpartnerschaft.
Sarah Moayeri

Die Niederschlagung der Oktoberstreiks 1950 durch die Sozialdemokratie und die ÖGB-Führung markierte den Beginn der Festschreibung einer sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung der österreichischen Gewerkschaftsführungen. Bis heute sind die damit einhergegangenen Folgen für die Arbeiter*innenklasse - der immer wiederkehrende Verrat durch die eigene Führung und die Passivität der österreichischen Arbeiter*innenbewegung insgesamt - deutlich zu spüren.

Die Streiks im Oktober 1950 waren die bis dahin größte Streikbewegung der 2. Republik. Weit über 100.000 Beschäftigte - zum Höhepunkt 200.000 - traten in Aktion gegen das 4. Lohn-Preis-Abkommen, beschlossen im Geheimen von Regierung, ÖGB-Führung und Unternehmensvertreter*innen, das für die Arbeiter*innenklasse hohe Reallohnverluste bedeutete.

Was war die politische Situation nach 1945? Vor dem Hintergrund wachsender außenpolitischer Spannungen, der antikommunistischen Agenda der Westmächte und dem einsetzenden Kalten Krieg trieb die Bundesregierung die Westintegration Österreichs voran. Dem entgegen stand ein relevantes antikapitalistisches Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse nach den Erfahrungen mit Faschismus und Krieg, sowie Hoffnungen, hervorgerufen durch die Verstaatlichungen der Nachkriegszeit und Arbeiter*innenverwaltung in Teilen der Wirtschaft.

Das Bewusstsein wichtiger Teile der Arbeiter*innenklasse war in der Nachkriegszeit geprägt von dieser objektiven Lage sowie von einem relevanten Selbstbewusstsein und Radikalisierung. Vielen war im Krieg der Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus deutlich geworden; der existierende Wunsch nach einer gemeinsamen Arbeiter*innenpartei (für die es 1945 sehr reale Ansätze gab) stand einer angepassten Sozialdemokratie mit rechter Führung gegenüber. Dass diese mit allen Mitteln die Sozialpartnerschaft durchsetzen wollte, hängt auch mit dieser relativen Stärke der Arbeiter*innenklasse zusammen. Schon nach dem 1. Weltkrieg, als es in weiten Teilen Europas zu revolutionärer Initiative der Massen kam, spielte die Sozialdemokratie eine desaströse Rolle. Als Arbeiter*innen 1945 wieder begannen, das öffentliche Leben zu verwalten und kontrollieren, erstickte die SPÖ die Bewegung mit aller Kraft. 1950 ließ sie es gar nicht so weit kommen.

Der Ausbruch der Streiks begann am 25.September in der VÖEST (später VOEST), maßgeblich organisiert sowohl durch KP-Mitglieder, als auch durch Mitglieder der rechten VdU (Vorgängerin der FPÖ). Diese war ein Sammelbecken alter Nationalsozialist*innen, was im Kontext der herrschenden antikommunistischen Propaganda dafür genutzt wurde, das Bild eines Schulterschlusses zwischen Kommunist*innen und Faschist*innen zu zeichnen.

In den darauffolgenden Tagen breitete sich die Bewegung in andere Teile Österreichs aus, insbesondere in die östlichen und steirischen Industriegebiete. Die Streiks nahmen einen enorm radikalen und schlagkräftigen Charakter an: In Wien und Niederösterreich kam es während der Bewegung zu Besetzungen von Bahnhöfen, Postämtern, Straßen und Gleisen. Doch die Dynamik wurde unter anderem durch die Rolle der KPÖ abgebremst. Der Beschluss der KPÖ-Führung, den Streik drei Tage lang zu unterbrechen, bremste die Bewegung. Die Atempause wurde von Regierung und ÖGB-Führung genutzt, um den Mythos vom Umsturzversuch durch die KPÖ zu etablieren und damit die Legitimation für die Niederschlagung vorzubereiten. Entgegen der Darstellung des Putsch-Mythos hatte die KPÖ von Anfang an eine widersprüchliche Position gegenüber der Streikbewegung. Verflochten mit der sowjetischen Bürokratie hatte die KPÖ generell kein Interesse daran, Österreich durch eine wirklich revolutionäre Bewegung der Arbeiter*innenklasse zu destabilisieren und wollte aber gleichzeitig Verbesserungen durchsetzen. 1950 zeigte sich auch, dass es der KPÖ nicht um den Kampf um Sozialismus ging - eine Folge ihrer Volksfrontpolitik im Widerstand gegen den Faschismus, wo sie das Bündnis mit bürgerlichen Antifaschist*innen suchte und dafür die Kritik am Kapitalismus zurückstellte.

Die Ziele der Proteste hatten potentielle Sprengkraft: Die Lohn-Preis-Abkommen zu Fall zu bringen, die Forderung nach Rücknahme der Preissteigerungen oder Verdopplung der Löhne und sofortigem Preisstopp. All das forderte die Große Koalition aus ÖVP und SPÖ wie auch die ÖGB-Führung massiv heraus. Es ging also nicht nur um eine rein ökonomische Frage, sondern auch um die Frage der Machtverhältnisse im Land und der Rolle der Gewerkschaftsführung.

Mit dem gescheiterten Versuch eines Generalstreiks Anfang Oktober setzte der Anfang vom Ende der Streikbewegung ein. Die sozialdemokratische Bau-Holz-Gewerkschaft und ihr Vorsitzender Olah organisierten maßgeblich die Niederschlagung der Streikenden durch Einsatzkommandos. Die US-Besatzungsmacht unterstützte sie finanziell, mit LKWs und Kommunikationsmitteln.

Auch die öffentliche Propaganda gegen die „kommunistischen Putschisten“ zeigte ihre Wirkung. Mit der Niederschlagung der Streiks und der Durchsetzung der Lohn-Preis-Abkommen ging eine Säuberung des ÖGB von kommunistischen und kämpferischen Mitgliedern einher. Tausende Gewerkschaftsmitglieder wurden in Folge ausgeschlossen. Das Scheitern des Oktoberstreiks war auch der vorläufige Sieg angepasster, sozialdemokratischer Elemente im ÖGB und einer gewerkschaftlichen Strategie - der Sozialpartnerschaft -, welche Streiks als wichtigstes Kampfmittel der Arbeiter*innenklasse vollkommen fremd waren und sind. Ein Interesse an der Sozialpartnerschaft hatten und haben sowohl die Kapitalist*innen, um die Arbeiter*innenklasse und -bewegung unter eine gewisse Kontrolle zu bekommen, als auch Reformismus und Sozialdemokratie, die den Kampf um Sozialismus aufgegeben haben und selbst materiell von diesem System profitieren bzw. hoffen zu profitieren.

Die Ideologie und die Institutionalisierung der Sozialpartnerschaft ist eine der größten Hemmnisse für den Wiederaufbau einer starken Arbeiter*innenbewegung heute. Sie hat zur Folge, dass der ÖGB und die Teilgewerkschaften nicht einmal ansatzweise dagegen kämpfen, dass die Krisenkosten auf dem Rücken der Arbeiter*innenklasse ausgetragen werden sollen. Dabei ist die Sozialpartnerschaft als naturgemäß widersprüchliches Bündnis zwischen „Arbeiter*innenvertretung“ und Kapitalist*innen nicht nur ein österreichisches Phänomen: In sehr vielen Ländern hat sich eine ähnliche Gewerkschaftspolitik und -bürokratie herausgebildet, die auf Zusammenarbeit mit den Herrschenden statt auf Kampfmaßnahmen setzt.

Wir befinden uns in einer der tiefsten Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Gerade in einer solchen Krise gibt es keinen ökonomischen Spielraum mehr für die Sozialpartnerschaft. Immer schlechtere Kollektivvertragsabschlüsse, Nulllohnrunden und eine ausbleibende Mobilisierung der Arbeiter*innenschaft zeigen, dass mit dieser Gewerkschaftsführung nichts zu gewinnen ist. Schon jetzt hat die Corona-Krise zu massivem Stellenabbau und Betriebsschließungen geführt. Hohe Arbeitslosigkeit, Kürzungspolitik und weitere soziale Verwerfungen stehen uns bevor. Die einzige Kraft, die wirksam dagegen ankämpfen kann - mit Arbeitskämpfen, Streiks und wenn nötig Fabrikbesetzungen/-übernahmen - ist die Arbeiter*innenklasse. Dafür müssen wir an die kämpferischen Traditionen von 1950 anknüpfen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Das Erbe von 1950 endlich abschütteln

Die Arbeiter*innen in Österreich sind nicht braver als anderswo – aber Traditionen sind verschüttet.
Philipp Chmel

In Österreich gibt es aktuell keine ausgeprägte Streikkultur. Die Gründe dafür sind aber nicht bei den Beschäftigten zu suchen. Vielmehr ist der Mythos von den „friedlichen Arbeiter*innen“ Resultat anti-revolutionärer und Kapitalismus-stützender Gewerkschaftspolitik von oben. Die Niederschlagung des Oktoberstreiks nimmt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle ein.

Während es in den 1950er und 60er Jahren noch etwa 50-100 Streiks pro Jahr gab, nahmen diese in den Folgejahren zunehmend ab; in den 1990er Jahren gab es dann einige Jahre ohne einen einzigen Streik. Diese Entwicklung war das Ergebnis der Durchsetzung der Sozialpartnerschaft durch ÖGB und SPÖ mit all ihren Folgen. Das dadurch geschaffene Bild von der angeblichen “Streikfaulheit” der Beschäftigten dient bis heute als Rechtfertigung für konsensorientierte Gewerkschaftspolitik und übertönt zudem die durchaus kämpferischen Traditionen der österreichischen Arbeiter*innen-Bewegung: 

1848 im Kampf um demokratische Rechte, 1918 für eine sozialistische Republik, 1927-1934 gegen den Faschismus, und 1950 im Oktoberstreik gegen das 4. Lohnpreisabkommen. Auch die „wilden“ – also vom ÖGB nicht unterstützten – Streiks, besonders in den 1970ern, zeugen vom Willen zum Widerstand der Basis, welche sich immer wieder gegen den Wunsch nach sozialpartnerschaftlicher Ordnung des ÖGB wehrte.

Die relative Passivität der österreichischen Arbeiter*innen-Bewegung ist also kein Naturzustand, sondern wurde von oben durchgesetzt, zum Teil auch mit Gewalt wie im Fall des Oktoberstreiks. Fritz Klenner, „Erfinder“ der Putschlüge, gab 30 Jahre nach dem Oktoberstreik zu, dass es nicht ein kommunistischer Putsch war, vor dem sich die ÖGB-Führung fürchtete. Das eigentliche Ziel war, eine alternative – kämpferische – Gewerkschaftspolitik mit allen Mitteln zu verhindern und die Rolle des ÖGB als kapitalistische Gewerkschaft des Interessenausgleichs zu zementieren. Und dazu war jedes Mittel recht. Der SPÖ-Gewerkschafter Franz Olah (GBH) war der extremste Ausdruck dieser Politik: Nicht nur organisierte er die Schlägertrupps gegen streikende Arbeiter*innen. Er veruntreute auch noch Gewerkschaftsgelder und versorgte damit die FPÖ und die neu gegründete Kronen Zeitung.

Die Niederlage des Oktoberstreiks war auch eine Niederlage der Linken innerhalb von SPÖ und ÖGB. In den Tagen nach dem Oktoberstreik wurde der ÖGB von „kommunistischen Elementen“ gesäubert – 85 führende Gewerkschaftsfunktionäre, darunter Vizepräsident Fiala, wurden ausgeschlossen, ÖGB-Angestellte sowie Streikführer*innen in den Betrieben entlassen. In der SPÖ setzte die Parteiführung zum vernichtenden Schlag gegen die SPÖ-Linke aus. Weitere Folgen waren ein Rückgang der Streiktage um fast zwei Drittel und die „Erziehung“ der Arbeiter*innen zur Passivität.

Diese von oben erzwungene Passivität hatte und hat natürlich Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiter*innen-Klasse. Seit einigen Jahren bewegt sich jedoch wieder mehr, es wird häufiger gestreikt, auch wenn es bisher meist bei symbolischen Dampfablass-Aktionen geblieben ist. “Streik” hat seinen Charakter als gewerkschaftliches “Schimpfwort” großteils verloren.

Der Aufholbedarf ist aber enorm, es fehlt massiv an Streik-Erfahrung, sowohl bei der Gewerkschaftsführung als auch bei den Beschäftigten. Dies wird besonders im internationalen Vergleich deutlich: Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (2017) gab es 2007-16 in Frankreich durchschnittlich 123 Streiktage pro 1.000 Beschäftigte/Jahr, in Österreich waren es lediglich 2. Auch der letzte österreichweite Streik liegt bald 20 Jahre zurück; dieser war 2003 gegen die Pensionsreform, blieb jedoch – nicht zuletzt, weil die Gewerkschaft klein beigab – weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Wir brauchen also dringend eine kämpferische Gewerkschaftsopposition, um zu verhindern, dass die Folgen der Wirtschafts- und der Corona-Krise auf unser aller Rücken ausgetragen werden. Daher braucht es einen offensiven Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie, denn diese ist nicht nur ein Hindernis für klassenkämpferische Politik (hallo Metaller-Abschluss), sondern häufig sogar aktiver Gegner davon. Viele Beispiele, wie z.B. das Abwürgen der Streikbewegung im Sozial- und Gesundheitsbereich Anfang dieses Jahres, zeigen das. Viele sind von der katastrophalen Politik des ÖGB zu Recht enttäuscht und treten aus oder gar nicht erst ein. Gerade deshalb ist es aber besonders wichtig, kämpferische Kolleg*innen innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften zusammenzubringen.

Basisinitiativen wie Wir sind sozial aber nicht blöd und Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit sind gute Beispiele dafür, wie der Aufbau von kämpferischen Strukturen sowohl inner- als auch außerhalb der Gewerkschaften funktionieren kann. Und diese Strukturen sowie die Kämpfe, die sie führen sind zentral für den Aufbau einer neuen Arbeiter*innenpartei mit sozialistischem Programm!

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Marx aktuell: Die Krux mit der Gewerkschaftsführung

Lukas Kastner

Spricht man mit Arbeiter*innen über die Gewerkschaftsführung, wird diese oft - und oft zu Recht - als „die da oben“, die es sich selbst irgendwie richten und die Beschäftigten verkaufen, angesehen. Doch warum verhält sich die Gewerkschaftsführung so wie sie es tut? Anstatt Charakterschwäche einzelner stellt das Arrangieren der Gewerkschaften mit dem kapitalistischen System das Hauptproblem dar. Gewerkschaften stehen in unmittelbaren betrieblichen Auseinandersetzungen – sei es um Löhne, Arbeitszeit, oder Arbeitsbedingungen und vor dem Hintergrund der Krise auch gegen Arbeitsplatzabbau und andere Verschlechterungen. Hierbei liegt aber auch das Problem, welches Gewerkschaften haben: Sie kämpfen unmittelbar für Verbesserungen innerhalb des Systems. Ohne tiefer gehende Analyse des Kapitalismus und Perspektive außerhalb desselben, bleibt aber nur die Illusion, die Probleme von Arbeiter*innen könnten im Kapitalismus gelöst werden. Die sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften Österreichs stellen hierfür ein gutes Beispiel dar, die schon mit Ende des 19. Jahrhunderts dem Kurs der Sozialdemokratie folgten und immer stärker auf Reformen setzten, den Kapitalismus aber zunächst de facto und später auch offiziell verteidigten (was sich in der Begeisterung für „Keynesianismus“ ausdrückt).

Diese Ideologie hatte in einer Schicht materiell begünstigter Funktionär*innen, welche persönlich kein Interesse an der Überwindung des Systems mehr hatten, auch eine sehr materielle Basis. Nach 1945 verschrieben sich SPÖ und ÖGB dem Wiederaufbau des Kapitalismus. Gewerkschaftsführer*innen verstehen sich bis heute als Vermittler*innen zwischen Unternehmen und Arbeiter*innen. Letztere wurden so ihrer Kampforganisationen beraubt und sollten durch Krümel abgespeist werden.

Mit einer derartigen Politik geraten Gewerkschaften in einen Widerspruch: Verbesserungen sollen in einem Wirtschaftssystem aufrechterhalten werden, welches sie aufgrund der Profitlogik nicht dauerhaft dulden kann. Wer in der Logik des Kapitalismus denkt und agiert, landet letztlich bei „Sachzwängen“, „Standortlogik“ und stimmt Verschlechterungen zu. Dass sich Beschäftigte deswegen unabhängig von der Gewerkschaftsführung und teilweise sogar unabhängig von den Gewerkschaften organisieren, ist verständlich und begrüßenswert. Doch wäre es ein Fehler, den Gewerkschaften komplett den Rücken zu kehren. Die von Lenin in „Der Linke Radikalismus“ verwendete Formulierung: „Die Gewerkschaften … sind aber gerade Organisationen, die Massen erfassen“ ist nach wie vor gültig. Sozialist*innen müssen dies aufgreifen und dürfen die Gewerkschaften und ihre Mitglieder nicht der Gewerkschaftsbürokratie überlassen, sondern müssen diese wieder zum Kampfmittel der Arbeiter*innenklasse machen. Kämpferische und demokratische Gewerkschaften müssen letztlich auch betriebliche Forderungen mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbinden.

  • Zum Weiterlesen: Wladimir Iljitsch Lenin, „Linker Radikalismus“. Die Kinderkrankheit im Kommunismus
Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Daten und Fakten zum Oktoberstreik 1950

Thomas Hauer

400.000-500.000 Beteiligte am Streik

8.1947: 1. Lohn-Preisabkommen (LPA), um die schnelle Entwicklung der Preise und die langsame der Löhne zu regulieren

9.1948: 2. LPA, da sich die Unternehmen nicht an die Vereinbarungen halten

5.1949: 3. LPA führt zu ersten Betriebsversammlungen und Protestkundgebungen (z.B. in Wien 100.000 und in Graz 12.000 Teilnehmer*innen)

9.1950: Geheimverhandlung über das 4. LPA

Die Ereignisse 1950:

23.9.: Meldung der Arbeiterzeitung (SPÖ), dass bereits ein Abkommen getroffen wurde

24.9.: VÖST-Linz beschließt als erster Betrieb einen einstündigen Warnstreik. Andere Linzer Großbetriebe machen mit

25.9.: 20.000 demonstrieren dagegen in Linz

26.9.: Auch in Ostösterreich Betriebsversammlungen und Streiks

27.9.: Mit Zustimmung bzw. auf Initiative der KPÖ wird überall beschlossen, die Streiks für 3 Tage zu unterbrechen. Eine Betriebsrätekonferenz wird einberufen

  • 242 Betriebe mit 40.000 Arbeiter*innen streiken alleine in Wien zwischen 24. und 27.9., in Nieder- und Oberösterreich 50.000 bzw. 60.000 Streikende

28.9.: die Arbeiterzeitung schreibt: „kommunistischer Generalstreikversuch gescheitert“ - Beginn der Putschthese

29.9.: VÖST-Linz hat als einziger Betrieb ununterbrochen gestreikt. In Ranshofen wird ein Streikbeschluss für 30. Sept. gefasst. Sonst überall ein Abbröckeln der Streikstimmung

30.9.: Forderungen der Betriebsrätekonferenz: Verdopplung der vorgesehenen Lohnerhöhung, sofortiger Preisstopp

3.10.: Antikommunistische Hetze in den Medien

4.10.: Nur wenige Betriebe streiken noch. Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Schlägertrupps von Bau-Holz-Gewerkschafter Franz Olah. Brutale Übergriffe der Exekutive

5.10.: Verhaftungen von Kommunist*innen und Streikenden; Werksbesetzungen durch die Exekutive. In der Nacht beschließt die Betriebsrätekonferenz, die Streiks abzubrechen

  • Durch Säuberung von „kommunistischen Elementen“ wurden in der Folge 85 führende Gewerkschaftsfunktionär*innen ausgeschlossen, sowie Streikführer*innen in den Betrieben entlassen.

2015 wird die Kommunistenputsch-These nach einer historischen Aufarbeitung vom ÖGB revidiert

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Warum musste Leo Trotzki sterben?

von Conny Dahmen, Köln

Avenida Río Churubusco 410, Coyoacán, Mexico Stadt, 20. August 1940, 17:20 Uhr: Natalia Sedowa erfasst das Grauen, als sie ihren Mann schreiend und blutüberströmt aus seinem Arbeitszimmer wanken sieht, einen Eispickel im Hinterkopf. Eine Zeit lang kämpft er noch um sein Leben, doch am nächsten Tag erliegt der russische Revolutionär Leo Trotzki (60) seinen Verletzungen. 300 000 Menschen kommen zu seinem Begräbnis.

Dem Mörder, Ramón Mercader, gelingt die Flucht nicht mehr, Trotzki kann ihn mit Hilfe seiner Leibwächter noch festhalten. Der GPU-Geheimagent hatte sein Opfer seit Jahren verfolgt, sein Umfeld infiltriert, sich sogar mit einer Sekretärin Trotzkis verlobt, bis er sich unerkannt den Zutritt zu Sedowas und Trotzkis Haus erschleichen konnte. 1960, nach seiner Haftentlassung, wird ihm für seine Tat der Titel eines Helden der Sowjetunion verliehen. Bereits wenige Monate zuvor hatte der stalinistische Maler David Alfaro Siqueiros ein erfolgloses Attentat mit Maschinenpistolen organisiert; danach wurde das Anwesen strengstens bewacht. Beide sahen sich als Vollstrecker eines Todesurteils, das über Trotzki bereits 1934 in Abwesenheit bei einem Schauprozess gefällt worden war.

Warum musste Leo Trotzki sterben? Wie konnte dieser alte Mann, der bereits drei Jahre lang im mexikanischen, zuvor im türkischen und norwegischen Exil gelebt hatte, das Stalin-Regime noch dermaßen in Angst und Schrecken versetzen, dass es ihn um den halben Erdball jagte?

Trotzki war der letzte der alten bolschewistischen Führer*innen der Oktoberrevolution. Diejenigen, die nicht eines natürlichen Todes gestorben waren, hatte Stalin aus dem Weg räumen lassen. Als Vorsitzender des Petrograder Sowjets 1905 sowie 1917 war er einer der wichtigsten Organisatoren der Oktoberrevolution, später Volkskommissar (so hießen in der Sowjetunion die Minister) für äußere Angelegenheiten und Gründer und Führer der Roten Armee im Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg wurde gewonnen, allerdings unter großen Opfern. Viele der besten Kommunist*innen starben, das Land war zerstört, die Produktion am Boden. Die militärisch gestärkte, aber politisch geschwächte Rätemacht sah sich gezwungen, erst Bauernaufstände niederzuschlagen, und schließlich mit der “Neuen Ökonomischen Politik” marktwirtschaftliche Elemente wieder einzuführen.

Kampf gegen den Stalinismus

In seiner Analyse des Stalinismus zeigt Trotzki auf, dass für die Entwicklung des Sozialismus  gesellschaftlicher Überfluss vorhanden sein muss, da sonst nur der Mangel verallgemeinert würde. Dieser Mangel ließ in der Sowjetunion eine privilegierte Parteikaste mit eigenen Interessen und dem neuen Generalsekretär Stalin an der Spitze entstehen, die immer mehr Macht in ihren Händen konzentrierte.

Trotzki wurde politisch kaltgestellt, denn er hatte von Anfang an vor den gefährlichen Auswüchsen der Bürokratie und ihrer falschen konservativen und nationalistischen Politik gewarnt. Er sah hier keine klassische kapitalistische Konterrevolution, sondern einen politischen Rückschlag der Revolution, der eine neue Schicht dominieren ließ. Nicht die alte herrschende Klasse kam zurück an die Macht, sondern eine abgehobene bürokratische Schicht stützte sich auf die neuen sozialen Verhältnisse, die durch die Revolution geschaffen wurden: Auf das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die Planwirtschaft. Um die Macht zurück zu gewinnen, sei eine politische Revolution notwendig, welche die Produktionsweise aufrechterhält und die Arbeiter*innendemokratie wiederherstellt, wie Trotzki in seinem Werk „Verratene Revolution“ von 1936 darlegt.

Zehntausende Bolschewiki standen ihm in seinem Kampf zur Seite und schlossen sich zwischen 1927 und 1923 der Plattform der Linken Opposition an. Lenins Widerstand gegen die Bürokratie endete mit seinem Tod Anfang 1924, was Stalins Machtposition enorm stärkte. Diese verteidigte er nicht nur durch eine beispiellose Verleumdungskampagne gegen den „konterrevolutionären Trotzkismus“, sondern auch durch eine Politik, die Trotzkis Erkenntnissen diametral entgegen stand.

Während die Linke Opposition weiter für Internationalismus stand und die Russische Revolution als ersten Schritt in Richtung einer Weltrevolution sah, begründete die Parteispitze mit der Theorie des „Sozialismus in einem Land“, warum die Verteidigung der Sowjetunion – und damit Macht und Privilegien der Bürokratie – über die Ausdehnung der internationalen Revolution gestellt werden müsse, welche diese Macht und Privilegien infrage gestellt hätte.

Der Theorie der „Permanenten Revolution“ setzte Stalin die alte Etappentheorie eines falsch verstandenen Marxismus entgegen, derzufolge in wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern zunächst die bürgerliche Revolution durchgeführt und ein funktionierender Kapitalismus aufgebaut werden müsse, bevor zu einem – sehr viel – späteren Zeitpunkt  eine sozialistische Umwandlung der Gesellschaft möglich sei. Vor dem Hintergrund dieser Theorien wurden immer wieder wichtige Chancen für die internationale Revolution verspielt, mit einem enormen Blutzoll für die Arbeiter*innenklasse. So verordnete Stalin der chinesischen KP, sich der bürgerlichen Kuomintang-Partei zu fügen. 1927 kündigte diese die Zusammenarbeit auf, ihre Truppen richteten ein Massaker an Arbeiter*innen in Shanghai an und zerschlugen die KP in den Städten.

Die Permanente Revolution

Trotzkis gefährlichste Waffe war das geschriebene Wort – und das bis heute. Seine „Theorie der Permanenten Revolution“, die er 1906 in seiner Broschüre „Ergebnisse und Perspektiven“ darlegte, beschreibt auch heute noch die Aufgaben revolutionärer Bewegungen in der neokolonialen Welt. Trotzki zufolge ist die nationale kapitalistische Klasse in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung, wie damals im zaristischen Russland, zu schwach, um die bürgerliche Revolution durchzuführen – also die Landverteilung zu klären, eine bürgerliche Demokratie zu etablieren und die nationale Frage zu lösen. Diese fortschrittliche Rolle kann dann nur die städtische Arbeiter*innenklasse aufgrund ihres revolutionären Potenzials und ihrer Stellung im Produktionsprozess spielen und die damals weitaus größere Klasse der Bäuer*innen in der Revolution leiten.

Hat sie die Macht in einem unterentwickelten Land erst einmal errungen, müsse sie unweigerlich mit der sozialistischen Umwandlung des Eigentums beginnen, um die demokratischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu erfüllen. In diesem Sinne also ist die Revolution „permanent“, weil sie weitergeht als die bürgerliche Revolution.

Dies ist beim „Arabischen Frühling“ ausgeblieben und so konnten zwar einige Diktatoren gestürzt, nicht aber Armut und Unterentwicklung beseitigt werden. Die Bewegungen sind nicht weit genug gegangen, so dass wir heute erneuten Krieg, Terror und Elend in Syrien, Libanon usw. sehen. Trotzki weist in diesem Zusammenhang aber auch auf die Notwendigkeit einer internationalen Ausdehnung sozialistischer Revolutionen hin.

Die Bolschewiki stürzen den Kapitalismus

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse riefen Trotzki und Lenin, als sie im Frühjahr 1917 aus dem jeweiligen Exil nach Russland zurück kehrten, zur Machtübernahme durch die Arbeiterklasse auf – was ihnen reichlich Kritik und Lenin den Vorwurf des „Trotzkismus“ in der Partei einbrachte. Im Februar hatte eine Revolution den Zaren zu Fall und die bürgerliche Provisorische Regierung an die Macht gebracht, die aber die Forderungen der Massen nach Land, Brot und Frieden nicht erfüllen konnte.

Wieder bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, die neben dem russischen Parlament ein selbständiger Machtfaktor wurden. Lenins „Aprilthesen“ fußten auf Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Trotzki als früherer Kritiker von Lenins Vorstellungen von der revolutionären Partei hatte sich zwischenzeitlich vom bolschewistischen Organisationsverständnis überzeugen lassen und wurde umgehend in das Zentralkomitee der Partei gewählt.

Den bolschewistischen Anführer*innen der Oktoberrevolution war allerdings bewusst, dass die sozialistische Revolution zwar in Russland begonnen, aber in Deutschland und im Rest Europas vollendet werden müsse, sonst wäre sie verloren. Doch die revolutionäre Welle gegen Ende des Krieges gegen Ende des Krieges wurde überall sonst niedergeschlagen oder vereinnahmt. Die junge Sowjetrepublik blieb isoliert und sah sich sogleich einer Invasion zahlreicher militärischer Einheiten der imperialistischen Armeen ausgesetzt. Den jahrelangen blutigen Bürgerkrieg konnten die extrem opferbereiten Revolutionär*innen zwar gewinnen, die Wirtschaft brach jedoch zusammen und die Demokratie in den Sowjets und in der Partei blieb auf der Strecke.

Faschismus-Analyse

Die revolutionären Möglichkeiten der frühen 1920er Jahre vor allem in Deutschland, aber auch in Italien und Ungarn wurden verpasst. Später hatte die falsche Politik der (von Stalin kontrollierten) Kommunistischen Internationale in Deutschland und Spanien verheerende Auswirkungen. Das erleichterte Hitler die Machtergreifung und die Vorbereitung auf den Krieg.

Trotzki erkannte im Faschismus eine besondere Form der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion auf eine schwere Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems. Auf Grundlage einer Massenbasis im Kleinbürgertum, zum Beispiel bei Bauern, kleinen Gewerbetreibenden oder Beamten und und bei den verarmten Erwerbslosen, im sogenannten „Lumpenproletariat“, konnte er alle Organisationen der Arbeiter*innenbewegung zerstören.

Trotzkis Schlussfolgerung, dass das Bürgertum kein Bündnispartner im Kampf gegen den Faschismus sein kann, da es mit seinem System die Basis für ihn bereitet, gilt auch heute noch. Ebenso wie seine dringende Empfehlung an die KPD, eine Einheitsfront mit der SPD als Partei mit großer Arbeiter*innenbasis zu bilden und den Faschismus so zurück zu schlagen. Dies lehnte die KPD ab, beschimpfte die SPD stattdessen und erklärte, der „Sozialfaschismus“ der SPD sei noch gefährlicher als Hitler.

Nach dem blutigen Scheitern dieser Sozialfaschismus-Theorie schwenkten die Stalinisten international um und erklärten die „Volksfront“ zum Leitfaden ihrer Politik, was sich wiederum im Kampf gegen den Faschismus in Spanien als fatal erweisen sollte. Nun sollten die kommunistischen Parteien Bündnisse mit pro-kapitalistischen Parteien eingehen, um die bürgerliche Demokratie zu verteidigen.

Der Hintergrund dafür war der Versuch, eine erfolgreiche sozialistische Revolution in Spanien zu vermeiden, die zu weiteren Erhebungen in Europa und damit in der Weiterentwicklung zu einer möglichen Entmachtung der Stalin-Bürokratie geführt hätte. In Spanien war die Folge dieser Politik der Sieg und die jahrzehntelange blutige Herrschaft des Faschismus.

Die „Feder“ ist nicht zu schlagen

Der Kampf der Linken Opposition in Russland wurde immer schwieriger, die Verfolgung ihrer Mitglieder durch Staatsapparat und Geheimpolizei härter. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossen, verhaftet, in den Tod getrieben oder liquidiert. Trotzki wurde 1928 auf die Insel Büyükada vor Istanbul verbannt, wo er seine Kontakte mit linken Oppositionellen aus verschiedenen Ländern verstärkte.

Als die III. Internationale, mittlerweile Instrument des Stalinismus, offensichtlich politisch verloren war, gründeten rund 3000 Marxist*innen 1938 die IV. Internationale, die sofort auf entschiedene Gegner stieß: Den Stalinismus, die schwache Sozialdemokratie, den Imperialismus und natürlich den Faschismus.

Die Unterdrückung und der stalinistische Terror in Russland erreichte mit den Moskauer Schauprozessen von 1936 bis 1938 eine neue Qualität: Mindestens acht Millionen Menschen wurden verhaftet, fünf bis sechs Millionen starben in den Gulags, unter ihnen auch Familienmitglieder Trotzkis, die gar nicht politisch aktiv waren. Viele Revolutionär*innen wurden in dieser Zeit gebrochen. Selbst Diego Rivera und Frida Kahlo, die Trotzkis Asyl in Mexiko organisiert hatten, krochen Jahre später zu Kreuze. 

Trotzki stand auch für konsequenten Optimismus, selbst in seinen dunkelsten Stunden. Im Februar 1940 schrieb er in seinem als “Testament” bezeichneten “Tagebuch im Exil”:

“Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute noch stärker als in meiner Jugend. Natascha hat das Fenster zur Hofseite noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren blauen Himmel darüber und die Sonne überall. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.”

 

Mehr zum Thema: 

Hegel

Vor 250 Jahren wurde G. W. F. Hegel geboren. Seine Philosophie der Dialektik und der historischen Analyse wurde insbesondere durch die Erfahrungen der Französischen Revolution angestoßen. Für Hegel verwirklichte sich hier eine Idee in der Geschichte; dies war der Anlass für die Entwicklung seiner idealistischen Philosophie, welche die bürgerliche Gesellschaft theoretisch durchdrang. Die dialektische Logik hat nicht nur die Geschichte theoretisch verallgemeinert, sondern auch die Kategorien des bürgerlichen Denkens beschrieben. Damit wurde die bürgerliche Gesellschaft für Marx kritisierbar, der Hegels Dialektik materialistisch wendete.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Marxismus aktuell!

Sebastian Kugler

Leo Trotzki kämpfte mit aller Kraft gegen die stalinistische Diktatur – ein Kampf, der ihn schließlich das Leben kostete. Doch Trotzki wies beide oberflächlichen Erklärungsmuster für das Entstehen des Stalinismus zurück: Weder war die Diktatur einfach nur das Machwerk eines Bösewichts, noch war sie die unvermeidliche Konsequenz der Revolution und der Politik Lenins, wie es die bürgerlichen Geschichtsbücher gerne behaupten.

Als die Bolschewiki die Oktoberrevolution anführten, war ihnen bewusst, dass die Revolution zwar in Russland begonnen wurde, aber in Deutschland und im Rest Europas vollendet werden müsse – ohne die internationale Revolution wäre die russische verloren. Tatsächlich brach gegen Ende des Krieges eine revolutionäre Welle los. Doch nirgendwo anders war die Revolution erfolgreich – sie wurde brutal niedergeschlagen und massakriert wie in Deutschland und Ungarn oder „totumarmt“ wie in Österreich. In beiden Szenarien spielten die sozialdemokratischen Parteien eine zentrale Rolle, um die Revolution zu verhindern.

Die junge Sowjetrepublik blieb isoliert – und sah sich sogleich einer Invasion zahlreicher militärischer Einheiten der imperialistischen Armeen ausgesetzt, für die der erste Weltkrieg trotz des sofortigen Friedensangebots seitens des revolutionären Russlands nicht zu Ende war. Sie wollten nun gemeinsam mit den gestürzten zaristischen Militärs auch die russische Revolution zu Fall bringen. Ein jahrelanger blutiger Bürger*innenkrieg war die Folge, welchen die Bolschewiki und ihre Bündnispartner*innen nur dank des Aufopferungswillens unzähliger Revolutionär*innen gewannen. Die Revolution überlebte – jedoch schwer verstümmelt. Der Isolation und dem Krieg fiel nicht nur die Wirtschaft zum Opfer, sondern auch die Demokratie in den Sowjets (deutsch: Räten) und in der Partei.

In seiner Analyse des Stalinismus baut Trotzki auf Marx und Engels auf. Er zeigt auf, dass für die Entwicklung des Sozialismus der gesellschaftliche Überfluss vorhanden sein muss, welchen der entwickelte Kapitalismus produziert, da sonst „nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte“ (Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie). Genau dies, so Trotzki, passierte aber in Russland, nachdem die internationale Revolution scheiterte. Das war die Basis für den Aufstieg der bürokratischen Diktatur, an deren Spitze Stalin stand: „Die gesellschaftliche Nachfrage nach einer Bürokratie entsteht immer dann, wenn scharfe Gegensätze vorhanden sind, die es zu «lindern», «beizulegen», zu «schlichten» gilt (immer im Interesse der Privilegierten und Besitzenden und immer zum Vorteil der Bürokratie selber).“ (Leo Trotzki: Verratene Revolution) Den einzigen Ausweg sah Trotzki in einer internationalen Revolution, welche auch eine politische Revolution in der Sowjetunion bedeuten müsste.


Zum Weiterlesen:

 

Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, Essen: Arbeiterpresse Verlag, 1997

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

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