Geschichte und politische Theorie

Die „halbe“ Revolution in der DDR 1989/90

Ingmar Meinecke (SAV, deutsche Schwesterorganisation der SLP)

„Liebe Freunde, Mitbürger, es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!", mit diesen Worten begann der Schriftsteller Stefan Heym am 4. November 1989 seine Rede vor mehr als einer halben Million Menschen auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz.

Gerade einmal ein Jahr lag zwischen den Großdemonstrationen Anfang Oktober 1989 in der DDR und dem Anschluss der DDR an die BRD am 3.10.1990. In diesem Zeitraum wurden die Herrschenden der DDR gestürzt, die Mauer geöffnet, die D-Mark eingeführt. Zunächst war ein ganzes Land dabei, leidenschaftlich eine neue Gesellschaft, einen wirklichen Sozialismus zu erschaffen. Nur ein paar Monate später ging die neue CDU-geführte DDR-Regierung daran, eine kapitalistische Wiedervereinigung zu betreiben und die DDR von der Landkarte verschwinden zu lassen. Wie konnte der revolutionäre Zug auf die Gleise der Wiederherstellung des Kapitalismus geraten?

Der Unmut wächst

Auch nach dem Aufstand von 1953 war in der DDR nie völlige Ruhe eingezogen. In den 1980ern fielen die neuen Töne aus der Sowjetunion über Perestroika und Glasnost auf fruchtbaren Boden. In Polen gab es von der Gewerkschaft Solidarność angeführte Massenstreiks. Anders in der DDR: Als die sowjetische Zeitschrift Sputnik Kritik an der Zustimmung der KPD zum Hitler-Stalin-Pakt übte, wurde sie in der DDR kurzerhand verboten.

Drei Ereignisse heizten 1989 die Stimmung weiter an: Die Reaktion der SED auf die Repression in China, die Fälschung der Kommunalwahlen und schließlich die sich beschleunigende Fluchtwelle aus der DDR. Bis Ende September hatten schon 25.000 das Land verlassen. Diese Fluchtwelle setzte eine Diskussion in Gang: Warum gehen so viele weg? Was ist das für ein Land, aus dem Menschen einfach abhauen, ihre Habe, Freunde und Familie zurücklassen? Die offiziellen Reaktionen, man solle diesen Leuten „keine Träne nachweinen“, ekelten viele an.

Die Opposition formiert sich

Am Montag, dem 4.9., kamen nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche 1200 Menschen zusammen und demonstrierten. Die Losungen waren: „Wir wollen raus!“ und „Wir wollen eine neue Regierung!“. Sicherheitskräfte griffen ein. Dies wiederholte sich die nächsten Montage. Am 25. September versammelten sich schon 8000. Nun hieß es nicht mehr „Wir wollen raus!“, sondern „Wir bleiben hier!“.

Im September gründeten sich die ersten oppositionellen Gruppen. Das Neue Forum brachte einen Aufruf heraus, den schon innerhalb der ersten vierzehn Tage 4500 Leute mit der Forderung nach einem demokratischen Dialog in der Gesellschaft unterzeichnen. Bis Mitte November kamen 200.000 Unterschriften zusammen. Doch Honecker und die SED-Führung wollten keinen Dialog. Die Zulassung des Neuen Forums wurde abgelehnt. Doch das machte die Gruppe erst recht populär.

Die Massen auf der Straße

Als im Oktober versiegelte Züge mit Flüchtlingen durch Dresden in den Westen fahren, kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstrant*innen und der Polizei. Am 7.10., dem 40. Jahrestag der DDR, fanden sich gegen 17 Uhr einige hundert Jugendliche auf dem Berliner Alexanderplatz ein. Um 17:20 Uhr zog die Menge Richtung Palast der Republik, in der Honecker und Co ihre DDR feierten. Die nun 2000 bis 3000 Menschen riefen „Gorbi, Gorbi!“ und „Wir sind das Volk!“. Gegen Mitternacht schlugen Sondereinheiten der Volkspolizei und der Staatssicherheit los. Über 500 wurden verhaftet.

Zwei Tage später, am Montag, dem 9.10., waren alle Augen auf Leipzig gerichtet. Würde die DDR ihren „Platz des himmlischen Friedens“ erleben? Drei Tage vorher war in der Leipziger Volkszeitung die Drohung erschienen: „Wir sind bereit und willens (…) diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss mit der Waffe in der Hand.“

Doch in der Staatsmacht zeigten sich Risse. Drei Sekretäre der Leipziger SED-Bezirksleitung beteiligten sich an einem Aufruf zur Deeskalation, der am Nachmittag über den Stadtfunk verbreitet wurde. Daraufhin erlebte Leipzig mit 70.000 Menschen die bislang größte Demonstration. Machtvoll klang der Ruf „Wir sind das Volk!“ über den Georgi-Ring. Auch die Internationale wurde gesungen. Am selben Abend demonstrierten 7000 in Berlin und weitere 60.000 im ganzen Land.

Nun beschleunigte sich die Entwicklung. Die Demonstrationen breiten sich bis zum nächsten Wochenende weiter aus: Je 20.000 in Halle und Plauen, 10.000 in Magdeburg, 4000 in Berlin. Der nächste Montag brachte einen neuen Rekord: Allein 120.000 in Leipzig. Nun berichten die Zeitungen der DDR zum ersten Mal in sachlichem Ton über die Demonstrant*innen, die eine Woche zuvor noch Randalierer*innen, Rowdys und Konterrevolutionär*innen waren. Am selben Tag traten Mitarbeiter*innen des Teltower Geräte- und Reglerwerkes aus dem FDGB, der Einheitsgewerkschaft der DDR, aus, gründeten die unabhängige Betriebsgruppe Reform und riefen zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften auf. Sie forderten „Streikrecht, Demonstrationsrecht, Pressefreiheit, die Beendigung der Reiseeinschränkungen und der offiziellen Privilegien“.

Am 18. Oktober trat Erich Honecker zurück. Nachfolger wurde Egon Krenz. Doch dieser Schritt beruhigte die Massen nicht, vielmehr gingen mehr und mehr auf die Straßen. Krenz schlug Misstrauen entgegen. Auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 23.10. mit nun schon 250.000 Teilnehmern waren die Slogans „Egon, wer hat uns gefragt?“, für „freie Wahlen“, „Visafrei bis Hawai!“ oder „Die führende Rolle dem Volk!“. Doch es wurde nicht nur demonstriert. Bei der kasernierten Bereitschaftspolizei in Magdeburg wählten die Wehrpflichtigen einen Soldatenrat. Schülerinnen und Schüler sorgten für die Abschaffung der disziplinierenden Kopfnoten zu Betragen, Fleiß, Ordnung und Mitarbeit und des Samstagsunterrichts.

Der Durchbruch

Die Demonstrationen schwollen weiter an. Zum Beispiel in Leipzig: 20.000 am 2.10., 70.’000 am 9.10., 120.000 am 16.10., 250.000 am 23.10., 300.000 am 30.10 und schließlich 400.000 am 6.11. Dazwischen die Manifestation von mehr als 500.000 (manche sprechen von bis zu einer Million) in Ost-Berlin am 4.11. Die Proteste hatten Ende Oktober das ganze Land erfasst: Süd und Nord, Groß- und Kleinstädte, Arbeiter*innen und Intellektuelle. Bestimmende Themen waren: Freie Reisemöglichkeiten, die Aufklärung der Übergriffe vom 7./8. Oktober., Schutz der Umwelt, ein Ende der Privilegien und des Machtanspruchs der SED. Die Regierung trat schließlich am 7.11. zurück. Am 8.11. folgte das gesamte Politbüro.

Am 9.11. abends trat Politbüromitglied Günter Schabowski vor die Presse. Kurz vor Ende, um 19:07 Uhr, teilte er mit, die DDR hätte die Grenzen geöffnet. Aufregung machte sich breit. Er erklärte, ab acht Uhr des morgigen Tages könnten alle ihr Visum abholen. Doch die Bevölkerung wartete nicht auf das Visum, sondern begann, die Grenzübergänge nach West-Berlin zu belagern. Die Grenzer*innen waren überrascht. Um Mitternacht entschlossen sich einzelne Kommandeure angesichts des Drucks der Massen, die Übergänge zu öffnen. Die Mauer fiel. In den nächsten Wochen ging ein ganzes Land auf Reisen.

Tauziehen und zögerliche Opposition

Nun kam es zum Tauziehen zwischen den Massen auf der Straße, den Oppositionsgruppen und der staatlichen Bürokratie. Die Frage, die niemand wirklich laut stellte, die aber über allem schwebte, war: Wer hat die Macht? Der Staats- und Parteiapparat zunehmend nicht mehr, die Oppositionsgruppen aber auch nicht. Zuerst blickten die Massen auf die Führer*innen der Oppositionsgruppen, oft genug unter Zufällen über Nacht ins Rampenlicht geraten, auch auf einige SED-Reformer wie den neuen Regierungschef Hans Modrow und auf bekannte Künstler*innen und Intellektuelle.

Als das ganze Ausmaß der Korruption Anfang Dezember aufflog, waren die Arbeiter und Arbeiterinnen entschlossener als zuvor, die ganze alte Spitze loszuwerden. Hatten sie doch gerade in der ČSSR gesehen, dass ein zweistündiger Generalstreik die dortige KP schnell zur Raison brachte. Nun forderte auch das Neue Forum in Karl-Marx-Stadt einen eintägigen landesweiten Generalstreik für den 6.12. Dieser Aufruf wurde sofort unisono vom FDGB, den Block-Parteien und Bärbel Bohley, eine der landesweiten Führerinnen des Neuen Forums, verurteilt. Alle fürchteten, die Situation könnte außer Kontrolle geraten. Der Aufruf wurde zurückgezogen. Nichtsdestotrotz kam es in Plauen am 6.12. zu einem zweistündigen politischen Warnstreik mehrerer Betriebe, auch in anderen Orten gab es eigenständige Streikaktionen.

Die Modrow-Regierung versuchte nun, die Opposition einzubeziehen, um die Lage zu stabilisieren. Am 22.11. sprach sich das Politbüro der SED dafür aus, mit der Opposition einen „Runden Tisch“ zu bilden. Dieser tritt am 7.12. das erste Mal zusammen. In der anschließenden Erklärung hieß es: „Obwohl der ‚Runde Tisch‛ keine parlamentarische oder Regierungsfunktion ausüben kann, will er sich mit Vorschlägen zur Überwindung der Krise an die Öffentlichkeit wenden. (…) Er versteht sich als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land.“

Aber Kontrolle heißt nicht Regieren. Überrascht vom Tempo der Entwicklungen wollten die Oppositionsgruppen weiter einen Dialog mit der SED und den Staatsorganen betreiben, anstatt selbst die Macht zu übernehmen. Rolf Henrich, Mitbegründer des Neuen Forums, meinte am 28.10. in einem Interview mit der Zeitung „Der Morgen“, dass man vorläufig ohne umfassendes Programm auskommen wolle. Er trete für einen themenbezogenen Dialog ein, der nicht mehr allein auf der Straße stattfinden könne.

Diese Halbherzigkeit und Unentschlossenheit der Opposition hatte eine inhaltliche Grundlage. Es stellten sich zwei grundlegende Fragen. Erstens: Wie konnte man die alte Spitze und die Bürokratie tatsächlich von der Macht vertreiben? Zweitens: Wie sollte die neue Gesellschaft aussehen, insbesondere ihr Wirtschaftssystem und welche Rolle spielte dabei der andere Teil Deutschlands, die kapitalistische BRD? Diese Fragen waren nun permanent auf der Tagesordnung und dabei nicht immer klar abgegrenzt, sondern durchwoben einander.

Bis in den November hinein war die DDR-Revolution eindeutig pro-sozialistisch. Das war zu sehen an den Äußerungen fast aller Oppositionsgruppen, den Transparenten, Sprechchören und Reden auf den Demonstrationen. Die Schriftstellerin Christa Wolf sagte am 4.11.: „Stellt Euch vor, es ist Sozialismus und keiner rennt weg!“ und bekam dafür einen Riesenapplaus. „Unbegrenzte Macht den Räten!“ war auf einem Transparent zu lesen. Doch wie war dieser „bessere Sozialismus“ oder eine Räteherrschaft zu erreichen? Darauf gab es keine Antworten. Die Macht lag auf der Straße. Aber die Opposition des Herbstes 1989 ließ sie dort liegen, bis sie Kohl und Co schließlich aufhoben und den Weg zur kapitalistischen Wiedervereinigung wiesen.

Als entscheidend erwies sich dabei die wirtschaftliche Lage. Ab dem Dezember häuften sich die Meldungen über den maroden Zustand der DDR-Wirtschaft. Bis dato geheim gehaltene Zahlen und Fakten zur niedrigen Produktivität und zur Verschuldung des Landes wurden bekannt. Die Besuche im Westen führten den DDR-Arbeiter*innen den dortigen höheren Lebensstandard vor Augen. Die soziale Spaltung in der BRD trat dabei in den Hintergrund. Es wuchs die Stimmung, nach dem “Experiment DDR” nicht noch ein weiteres “Experiment” zu wagen. Das Selbstbewusstsein der Arbeiter*innenklasse erlitt durch den Blick auf den schlechten Zustand der volkseigenen Betriebe einen schweren Dämpfer. Dazu kam die oben geschilderte Führungslosigkeit.

Ab Dezember schwenkten auch Bundesregierung und Kapitalist*innenklasse in Westdeutschland um. Bis dahin waren sie vorsichtig gewesen, allzu forsch in Richtung Wiedervereinigung zu gehen. Sie hatten einen langsamen Übergang der DDR in Richtung Kapitalismus für unbedenklicher gehalten. Ab Dezember wurde ihnen nach und nach klar, dass eine DDR, in der es offen blieb, wohin sich das Land entwickelte, auch die Bundesrepublik destabilisieren könnte. Gleichzeitig erkannten sie die Schwäche sowohl der bröckelnden SED-Bürokratie als auch der DDR-Opposition und sahen die Chance, in dieses Vakuum zu stoßen und die ganze DDR im Handstreich der Bundesrepublik anzuschließen und einen neuen Markt zu erschließen.

Die Mehrzahl der Arbeiter*innen der DDR wollten 1990 keine Experimente mehr. Aber dann wurden sie dem Experiment der kapitalistischen Konterrevolution ausgesetzt, der Zerschlagung einer staatlichen Wirtschaft, die durch Betriebsschließungen und Privatisierungen zu Millionen Arbeitslosen führte, zur Abwertung der Biografien, zum dauerhaften Zustand, dass der Osten bis zum heutigen Tag in vielen Aspekten gegenüber dem Westen benachteiligt ist.

Die verpasste Chance

Bis zum November 1989 und selbst danach noch gab es in der DDR viele Elemente der politischen Revolution, die der russische Revolutionär Leo Trotzki gegen den Stalinismus, diese bürokratische Entstellung des Sozialismus, für notwendig erachtete. Doch im Endeffekt kam es zur anderen, auch von Trotzki für möglich erachteten, Entwicklung: der kapitalistischen Restauration. Maßgeblich dafür war, dass sich keine bei den Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten verankerte Oppositionskraft herausgebildet hatte, die einen gangbaren konkreten Weg zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft weisen konnte.

Stefan Heym fasste diese verpasste Chance einige Jahre später wie folgt zusammen:

„Vergessen Sie nicht, es gab keine Gruppe, keine organisierte Gruppe, die die Macht übernehmen wollte. (…) Es gab nur Einzelpersonen, die zusammengekommen waren und ein Forum oder eine Gruppe oder so etwas gebildet hatten, aber nichts, was man braucht, um eine Revolution zu machen. Das gab es nicht. Und deshalb ist das alles implodiert und es gab niemandem, der die Macht übernahm, außer dem Westen. (…) Stellen Sie sich vor, wir hätten die Zeit und die Gelegenheit gehabt, in der DDR einen neuen Sozialismus, einen Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz, einen demokratischen Sozialismus zu entwickeln. Das hätte ein Beispiel dann auch für Westdeutschland sein können und die Entwicklung hätte anders verlaufen können.“

Mit Vollgas in die Krise?

Das Beispiel der Autoindustrie verdeutlicht: 2019 erinnert stark an 1929.
Martina Gergits

Vor 90 Jahren ging der große Börsencrash als Sinnbild der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus in die Geschichte ein. Heute steuern wir erneut auf eine Krise zu. Im Unterschied zu 1929 geht ihr aber heute kein „goldenes Zeitalter“ des Aufschwungs voraus.

Politik und Wirtschaft versprachen in den 20er Jahren, vor allem in den USA, dauerhaften Wohlstand – der trotzdem bei vielen nie ankam. Dennoch: Kreditwesen entwickelte sich, der „Kauf auf Pump“ boomte. Konnten sich in den USA noch 1919 nur Reiche ein Auto leisten, so hatte Anfang 1929 jede*r Fünfte ein Auto. Bereits Ende der 1920er zeichnete sich in den USA Überproduktion ab. Es wurde mehr produziert als profitabel verkauft werden konnte. Die Aktienkurse lösten sich immer weiter von den ihnen zugrunde liegenden realwirtschaftlichen Daten. Es entwickelte sich eine Spekulationsblase, die am schwarzen Donnerstag 1929 platzte.

Auch 2019 werden die Zeichen für eine weitere Krise immer deutlicher. Der Welthandel verlangsamt sich und im April prognostizierte der Internationale Währungsfonds IWF eine Verlangsamung des Wachstums für 70% der Weltwirtschaft in diesem Jahr. Deutschland, die größte Industrie- und Exportwirtschaft der Eurozone, verzeichnete im April einen Rückgang der Industrieproduktion um 1,9%. Besonders betroffen war eine entscheidende Industrie: Der Automobilsektor. Deutschland wie Österreich hängen massiv von ihm ab. In Österreich ist jeder 9. Arbeitsplatz dieser Branche zuzuordnen.

Die Autoindustrie ist die wichtigste industrielle Branche des Weltkapitalismus. Bereits in den 1920ern begann sie, den „Eisenbahnkapitalismus“ als Wirtschaftsmotor abzulösen. Seit Jahrzehnten stellt sie nun mit der Ölbranche sieben von zehn der mächtigsten Unternehmen der Welt. Unter den 500 größten Unternehmen entfielen 2018 ein Drittel des Gesamtumsatzes an Öl, Auto und Flugzeugbau. Das Gewicht dieser Industrie zeigt sich auch darin, dass sie sich seit den 70er Jahren im selben Krisenzyklus wie die Weltwirtschaft bewegen.

Die Krise 2008 erwies sich als die bisher stärkste der Branche. 2007 wurde noch ein neuer Produktionsrekord aufgestellt, ähnlich wie vor der Krise 1973. Auch 2019 kommt sie nach dem Produktionsrekord von 2018. Laut einer Studie des Forschungsinstituts CAR könnte heuer der globale Absatz neuer Autos um gut 5% sinken. Einen derartigen Einbruch gab es nicht einmal nach der Krise 2008. Grund dafür ist vor allem der mangelnde Absatz in China. Selbst 2008 stieg die Autoproduktion in China und federte die Krise ab. Seit 2018 sehen wir jedoch auch in China einen Rückgang im Wirtschaftswachstum von prognostizierten 6% auf ca. 3-4%.

Die heutigen Entwicklungen wirken wie die Jahre nach 1929 in Zeitlupe. Je länger dies anhält, desto mehr drückt die Last des aufgestauten Kapitals. Findet es keine Möglichkeiten für profitablen Einsatz, sucht es Fluchtwege: Zunächst braucht es komfortable Plätze zum Verweilen. Das lässt Steueroasen aufblühen, wie sie die Panama Papers aufgedeckt haben. Mittlerweile sind 40% aller Direkt-Investitionen von Unternehmen Manöver zur Steuervermeidung. Andererseits fließt Kapital zurück in ebenjene Hochrisiko-Finanzmärkte, deren Einbruch die Krise 2008 ausgelöst hat.

Weniger mobiles industrielles Kapital verlagert seine Hoffnungen in Technologie, um die Konkurrenz zu übertrumpfen. Diese Flucht in die Forschung erleben wir als Hypes um „Industrie 4.0“ usw., die sich oft als heiße Luft herausstellen, welche sich in Tech-Blasen ansammelt. Sinkende Produktionskosten und steigender Wettbewerb bedeuten eine Krise der Profitabilität – eine Entwicklung, die auch in den 1920ern auftrat. Der immer größere Anteil maschineller Produktion gegenüber menschlicher Arbeit untergräbt nicht nur die Profitraten – die immer höheren Fixkosten machen die Industrie- und Tech-Giganten auch immer weniger manövrierfähig im Krisenfall: Arbeiter*innen lassen sich leichter abstoßen als Maschinenparks.

In den meisten Ländern hat der leichte „Aufschwung“ nach der Krise 2008 zu keinem erhöhten Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse geführt. Im Gegenteil, das Kürzungsdiktat verstärkte Armut und Arbeitslosigkeit. Ein weiterer Faktor, der den Handlungsspielraum des Kapitals im nächsten Ernstfall beschränkt. Eine neue globale Wirtschaftskrise in Verbindung mit einer eskalierenden Klimakatastrophe sind ein turbulenter Start in die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts.

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Zahlen und Fakten: Krise 1929 – 2019

> Die Krise von 1929 bleibt der dramatischste plötzliche Einschnitt in der Geschichte des Kapitalismus. Die Industrieproduktion ging in den kapitalistischen Ländern von 1929 bis 33 im Durchschnitt um 40% zurück. In Deutschland fiel sie auf 58% des Standes von 1928. Noch drastischer sank in vielen Industrieländern die Auslastung der Produktionskapazitäten, in Deutschland stand sie 1932 bei nur noch 35%. Der Welthandel brach zusammen, Staaten tauschten Güter nur noch direkt gegeneinander aus.

> Nach der Nachkriegsära der Globalisierung kündigt sich wieder eine Krise des Welthandels an. Zwischen 1987 und 2007 betrug der Zuwachs des Welthandels laut OECD durchschnittlich 7%. 2017 lag er nur bei 5,5%, 2019 sinkt er auf 2,1%. Gleichzeitig fallen 2019 die Auslands-Direktinvestitionen um 3% - das erste Mal seit 2008.

> Ausdruck dieser Krise der Globalisierung ist auch der Handelskonflikt zwischen den USA und China: US-Exporte nach China brechen dieses Jahr um 31% ein, umgekehrt exportiert China 8% weniger in die USA.

> Trotz der „goldenen Zwanziger“ blieb zwischen 1924 und 1929 die Investitionsquote in Deutschland besonders niedrig. Ebenso dümpelt sie seit der Krise 2008 vor sich hin – Bürgerliche Kommentator*innen warnen ebenfalls vor der „Investitionsschwäche“.

> Die österreichische Zulieferindustrie zeigt die Symptome der kommenden Krise. Ende Juni brachen die Profite der Voestalpine v.a. wegen eines nachlassenden Weltmarktes um 60% ein. Es werden 150 weniger Arbeiter*innen angestellt als im Vorjahr.

> In den USA leiteten Krise und New Deal auch eine neue Welle an Klassenkämpfen ein – vom viertägigen Generalstreik in San Francisco bis zum legendären Teamster-Streik in Minneapolis. Besonders in der Autoindustrie entstanden neue, kämpferische Gewerkschaften. Auch 2019 streiken 50.000 Arbeiter*innen bei General Motors. Dieses Jahr wird das Streik-Rekordjahr von 2018 in den USA noch übertreffen.

Quellen: OECD, Statistisches Bundesamt, IMF World Economic Outlook, sowie Andreas Wilkens: Das ausgebliebene Wachstum. (in: Möller, Kittel (Hg.): Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918-1933/40)

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1929 – 2019: Der Teufelskreis der Krisen

Jeder Versuch, Krisen auf Basis des Kapitalismus zu lösen, bereitet nur die nächsten Krisen vor.
Sebastian Kugler

Die Weltwirtschaftskrise 1929 nahm als Börsencrash in den USA ihren Ausgang – doch ihre wahre Wucht entfaltete sie, weil dieser die aufgestauten Widersprüche des Kapitalismus entfesselte. Das verbindet die damalige Krise mit unserer heutigen Periode, entsprechend gibt es viele Parallelen, aber auch Unterschiede. Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich: Die konkrete Form einer Krise im Kapitalismus ist das Ergebnis der Art, wie das System mit den vorhergehenden Krisen umgegangen ist.

Bis 1929 herrschte die liberale Auffassung, der Staat solle bei Krisen nicht steuernd eingreifen. Diese würden nur das „natürliche“ Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage wiederherstellen. Auch Marx bemerkte im 3. Band des „Kapital“: „Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen.“ – Der Unterschied: Die bürgerliche Ökonomie sieht in diesem Gleichgewicht den natürlichen Zustand des Kapitalismus, während Marx erkennt, dass es nur „für den Augenblick“ hergestellt werden kann.

Der Liberalismus musste 1929 an seinen eigenen Voraussetzungen scheitern. Er verstand Krisen immer als Aussortierung der kleinen, nicht konkurrenzfähigen Marktteilnehmer*innen. Das bedeutete im Gegenzug, dass zunehmend große „Player“ übrigblieben, die immer größere Teile des gesamten Systems trugen. Durch diese Tendenz zur Monopolisierung kann sich das System im Krisenfall aber nicht mehr durch ein Auffressen der Kleinen stabilisieren.

Dieser Prozess ging einher mit der zunehmenden Verschmelzung verschiedener Wirtschaftszweige unter dem Kommando des Großkapitals, vor allem von Banken und Industrie. Dadurch sprang jede Krise in einem Sektor auf den anderen über. Österreich etwa wurde von der Krise 1931 mit dem Kollaps der Großbank Creditanstalt voll von der Krise erfasst. An ihr hingen zwei Drittel der österreichischen Industrie und große Mengen zentral- und osteuropäischen Kapitals - sie war „too big to fail“. Das ist heute noch ausgeprägter: Autokonzerne haben ihre eigenen Finanzmarkt-Unternehmen und Banken mischen in der Ölindustrie mit.

1931 kollabierte das internationale Kreditsystem. Nun schlug die Stunde des Staates, dessen Intervention zur Rettung des Kapitals verschiedene Formen annahm. Der russische Revolutionär Leo Trotzki bemerkte in dieser Periode, dass sie sich im Wesentlichen in zwei rivalisierenden Konzepten ausdrückte: Faschismus – wie in Österreich und Deutschland, und New Deal – wie in den USA.

In Österreich etwa nahm die autoritäre christlichsoziale Regierung zur Rettung der Creditanstalt eine Anleihe des Völkerbunds (Vorgänger von internationalen Organisationen wie UNO und IWF) von 300 Millionen Schilling auf – und verpflichtete sich zu brutalen Kürzungsmaßnahmen. Das erinnert an Griechenland während der Eurokrise: So wie in Athen die Troika der EU das Sagen hatte, schickte der Völkerbund einen Gesandten nach Wien, um die Einhaltung des Kürzungsdiktats zu garantieren - den niederländischen Faschisten Rost van Tonningen. Er erkannte, dass der kapitalistischen „Sanierung“ vor allem zwei Faktoren im Weg standen: Die Arbeiter*innenbewegung und die parlamentarische Demokratie, durch welche diese den Bürgerlichen immer wieder dazwischenfunkte. Nach der Ausschaltung des Parlaments notierte er in sein Tagebuch: „Zusammen mit dem Kanzler und [Nationalbank-Präsident] Kienböck haben wir die Ausschaltung des Parlaments für nötig gehalten, da dieses Parlament die Rekonstruktionsarbeit sabotierte.“

Der neue aufgehende Stern am dunklen Himmel der bürgerlichen Ökonomie hieß John M. Keynes. Er befürwortete staatliche Intervention zur Ankurbelung der Märkte. Keynes war kein Linker – er wollte nur den Kapitalismus von der Nachfrage-Seite wieder anstarten. Das konnte Lohnsteigerungen bedeuten, aber auch staatliche Infrastrukturmaßnahmen – vor allem im Rüstungsbereich. Deswegen begrüßte er sowohl den New Deal der Roosevelt-Regierung als auch die Zwangsbeschäftigung des frühen deutschen Faschismus.

Es waren nicht Keynes‘ „antizyklische“ Maßnahmen, die den Kapitalismus wieder aus der Krise holten. Auch der von ihm geforderte anhaltend niedrige Zinsfuß führte nicht zur Steigerung der Investitionen. Er musste selbst zugeben, dass es Krisen gibt, in denen „keine durchführbare Senkung des Zinsfußes groß genug sein wird.“ Das gilt auch heute: Nach der Krise 2008 senkten die großen Zentralbanken die Leitzinsen radikal, um Investitionen zu begünstigen und die Zinsen dann wieder stetig anheben zu können. Zehn Jahre später liegt der Leitzins der EZB noch immer bei 0,00% und auch die US-amerikanische FED senkte ihn dieses Jahr schon zum zweiten Mal. Diesmal auf 1,75%, Tendenz fallend.

„Überwunden“ wurde die Krise von 1929 schließlich durch den 2. imperialistischen Weltkrieg, der durch die verschiedenen Formen der Staatsintervention vorbereitet wurde. 1945 übernahmen die USA die Rolle der staatlichen Schutzmacht für den Weltkapitalismus. Der staatlich organisierte Marshallplan war das Instrument, um im Zuge des Wiederaufbaus in Europa den Nachkriegsaufschwung herzuleiten. Doch so wie der Liberalismus vor ihm, erzeugte auch sein Nachfolger, der Keynesianismus, die Bedingungen für sein eigenes Scheitern: Der Marshallplan schuf neue Märkte, doch das bedeutete neue Konkurrenz aus Europa und Japan. Das Ende des Nachkriegsaufschwungs konnte auch durch zunehmende Staatsverschuldung nicht gestoppt werden. Der Liberalismus kehrte zurück, nur dass dieser nun die gestiegene Bedeutung staatlicher Intervention weder zurücknehmen konnte noch wollte – er veränderte sie nur. Fernab davon, sich „zurückzuziehen“ wurde der Staat vielmehr als Instrument zur Schaffung von Finanzmärkten und als Abstellgleis für Schulden genutzt – die Explosion der Staatsschulden beginnt mit der neoliberalen Ära von Thatcher und Reagan. Als die finanzmarktbasierten Krücken des Weltkapitalismus 2008 wieder einbrachen, waren die Staaten ebenfalls zur Stelle – was in vielen Staaten die Fortsetzung der Krise als Staatsschuldenkrise bedeutete.

Jede Krisenpolitik, ob klassisch liberal, keynesianisch, neoliberal oder die aktuelle Synthese, verlagert nur das Problem in einen anderen Sektor des Kapitalismus. Egal wo die Bombe platzt: Wenn es nach diesem System geht, werden es wieder wir sein, die die Scherben aufsammeln müssen.

Kurz bevor die Krise der 1930er im Weltkrieg mündete, setzte sich Trotzki mit den verschiedenen Methoden der bürgerlichen Krisenbearbeitung auseinander. Seine Schlussfolgerung könnte aktueller nicht sein: „Um die Gesellschaft zu retten, ist es weder notwendig, die Entwicklung der Technik aufzuhalten, Fabriken zu schließen, Prämien für die Farmer festzusetzen, um die Landwirtschaft zu sabotieren, ein Drittel der Arbeiter in Bettler zu verwandeln, noch einen Appell an wahnsinnige Diktatoren zu machen. Alle diese Maßregeln, entschieden die Interessen der Gesellschaft gefährdend, sind unnötig. Unbedingt nötig ist die Trennung der Produktionsmittel von ihren parasitären Besitzern und die Organisation der Gesellschaft nach einem rationalen Plan. Dann erst wird es möglich sein, die Gesellschaft wirklich von ihren Übeln zu heilen.“

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Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Marx aktuell: Demokratie und Kapitalismus

Die Demokratie ist tot, lang lebe die Demokratie!
Moritz Erkl

Demokratie und Kapitalismus sind keineswegs gleichbedeutend. Die meisten Länder bedienen sich nach wie vor autoritärer Systeme unterschiedlichster Ausprägung. Auch wenn in vielen Staaten demokratische Rechte erkämpft wurden - die „Mitbestimmung“ im Rahmen dieses Systems ist extrem begrenzt und macht bei wirtschaftlichen Fragen Halt: „Demokratie für eine verschwindende Minderheit, Demokratie für die Reichen - so sieht der Demokratismus der kapitalistischen Gesellschaft aus.“ (Lenin 1917 in: „Staat und Revolution“, 5. Kapitel).

Arbeitsrechte, Versammlungsfreiheit, Wahlrechte – kurzum alle Errungenschaften, die letztlich die Arbeiter*innenbewegung erkämpft hat – sind im Kapitalismus ständigen Angriffen ausgesetzt. Da die entgegengesetzten Interessen von Arbeiter*innen und Kapitalist*innen immer wieder aufeinander prallen wird auch die bürgerliche Demokratie Opfer dieses Tauziehens.

Insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten wird die bürgerliche Demokratie zum Klotz am Bein des Kapitals, wenn es darum geht, schnell drastische Maßnahmen zum Schutz der Profite durchzusetzen. Sie muss dann „marktkonform“ (Angela Merkel) um- bzw. abgebaut werden. Wenn die Organisationen der Werktätigen keine glaubhafte Alternative zur Krise des Systems anbieten können, kann es den Kapitalist*innen auch, zumindest vorübergehend, gelingen, Teile der Arbeiter*innenklasse hinter sich zu vereinen – es schlägt die Stunde der „starken Männer“. Mithilfe einer enormen Propagandamaschinerie wird der verständliche Wunsch einer selbstbestimmten Existenz vieler Menschen für die Interessen des Kapitals missbraucht. Dabei wird das zugrundeliegende System und seine inneren Widersprüche nicht angetastet, das Eigentum an Produktionsmitteln bleibt in den Händen der bürgerlichen Klasse.

Doch der Abbau von bürgerlich-demokratischen Mechanismen ist auch ein gefährliches Unterfangen für die Herrschenden. Zum einen diskreditieren sie sich ideologisch und provozieren Kämpfe um demokratische Rechte. Zum anderen nehmen sie sich ein wichtiges Instrument zur Stabilisierung ihrer wirtschaftlichen und politischen Herrschaft. Nicht nur, dass die Führungsebenen von Arbeiter*innenparteien und Gewerkschaften – mit Privilegien in den bürgerlichen Machtapparat integriert – als willige Helferlein zur Niederhaltung des Proletariats zunehmend verschwinden. Auch die Möglichkeit der Vermittlung zwischen einzelnen kapitalistischen Interessensgruppen – auch über Staatsgrenzen hinweg – geht verloren. Deshalb ist die Abschaffung der bürgerlichen Demokratie stets nur das letzte Mittel der Herrschenden.

Sozialist*innen verteidigen alle demokratischen Rechte gegen die autoritären Offensiven von oben. Doch wir bleiben dabei nicht stehen, sondern kämpfen für echte Demokratie: Eine sozialistische Demokratie, in welcher die Wirtschaft nicht den Profitinteressen überlassen wird, sondern demokratisch geplant wird.

Zum Weiterlesen:

Broschüre der SLP:

Basiswissen Marxismus - Marxistische Staatstheorie

Bestellen unter slp@slp.at

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Wir können uns nur selbst vom Kapitalismus befreien

Aufstieg von Rechten in der Krise kann durch revolutionär-sozialistische Alternative gestoppt werden.
Christian Bunke

Mehr als zehn Jahre ist der Beginn der Weltwirtschafts- und Finanzkrise nun schon her. Warnsignale für neue Rezessionen gibt es inzwischen wieder fast täglich. Hinzu kommt die Bedrohung durch die Klimakrise, welche in der Gesellschaft zu berechtigten existentiellen Ängsten führt. Kein Wunder, dass bei vielen Menschen Erinnerungen an die Jahre nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 wachwerden. Das waren Jahre, in denen in vielen Ländern faschistische Regime an die Macht kamen, nicht zuletzt in Österreich und Deutschland 1933. Dieser Prozess mündete in millionenfachen Massenmord und den 2. Weltkrieg. 

Doch es war kein automatischer Prozess. Es hätte nicht so kommen müssen. Tatsächlich tragen falsche strategische und taktische Richtungsentscheidungen der Organisationen der Arbeiter*innenbewegung eine große Mitschuld an der Katastrophe der 1930er Jahre. Die Führungen der Kommunistischen Parteien sahen in der Sozialdemokratie, nicht den Nazis, den Hauptfeind. Die Führung der Sozialdemokratie hoffte vergeblich auf „demokratische“ Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager. Aus diesen Fehlern muss man lernen, sonst droht deren Wiederholung.

Eine Lehre ist, dass man die Demokratie nicht rettet, indem man deren bürgerliche Form unkritisch verteidigt. Auch hilft es nicht, auf die Fortschrittlichkeit „liberaler“ bürgerlicher Kräfte zu hoffen. Die bürgerliche Demokratie geriet im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 ins Taumeln, weil das ihr zugrundeliegende Wirtschaftssystem von Privatbesitz und Wettbewerb nicht mehr funktionierte und arbeitenden Menschen keine Hoffnung mehr bieten konnte.

Es waren Faschist*innen, Nazis und andere reaktionäre Kräfte, die diesen Hoffnungsverlust für ihre reaktionären Zwecke nutzten. Sie konnten dies tun, weil sowohl sozialdemokratische Kräfte als auch die kommunistischen Parteien der Situation nur wenig mehr als wahlweise Phrasendrescherei oder eine unkritische Verteidigung des Status Quo entgegensetzen konnten. Am Ende stand in vielen Ländern die Vernichtung sowohl der bürgerlichen Demokratie, als auch die Beseitigung aller Gewerkschaften, Parteien und Vereine der Arbeiter*innenbewegung.
Heutige Entwicklungen erinnern an die Jahre nach 1929: Während linke und linksliberale Kräfte daran scheitern, den Kapitalismus zu reformieren, wächst die Gefahr von rechts. Als die schwarz-blaue Regierung über „Ibiza“ stolperte, feierten manche Linke dies als einen „Triumph“ fortschrittlicher Politik. Tatsächlich gibt es nichts daran zu feiern, dass schwarz-blau über eine Intrige gestolpert ist, die wahrscheinlich von konkurrierenden bürgerlichen Kräften vorbereitet und durchgeführt worden ist.

Diese Regierung hätte schon Monate früher beseitigt werden können. Über 100.000 Menschen demonstrierten gegen die Einführung des 12-Stundentags. Die Führung der Gewerkschaften redete damals von einem Aufstand gegen die Regierung – und tat dann nichts. Der 12-Stundentag ist heute Realität, arbeitende Menschen leiden darunter. Hier ist ein deutliches Echo der frühen 1930er Jahre zu spüren: Phrasendrescherei, gepaart mit Tatenlosigkeit, führt in die Niederlage.

Was gegen den 12-Stundentag getan werden kann, hat die SLP damals aufgeführt: Wählen wir Streikkomitees, die demokratisch durch die Belegschaften ihrer Betriebe legitimiert sind. Eine Betriebsrätekonferenz kann eine Eskalationsstrategie beschließen. Diese Strategie muss Betriebsversammlungen, Demonstrationen, Streiks und schließlich einen Generalstreik beinhalten.
Um eine solche Strategie in der Gewerkschaftsbewegung umzusetzen, braucht es eine politische Kraft, die in Betrieben und Nachbarschaften ausreichend verankert ist, um für diese Ideen zu werben. Eine solche politische Kraft würde vor Augen haben, dass die von ihr geforderte Eskalationsstrategie ein Instrument ist, um unter arbeitenden Menschen das Selbstvertrauen in die eigenen organisatorischen Fähigkeiten zu stärken – ohne ein solches Selbstvertrauen ist kein Kampf für eine sozialistische Welt möglich.

Nach der Niederlage der deutschen Arbeiter*innenbewegung gegen die Nazis zog der Revolutionär Leo Trotzki die Schlussfolgerung, dass die deutschen Arbeiter*innenparteien genau dieser Aufgabe nicht nachgekommen waren, was er an der verfehlten politischen Ausrichtung sowohl der Sozialdemokratie als auch der KPn festmachte. Er analysierte, dass beide Parteiführungen kein ernsthaftes Interesse am Kampf für eine sozialistische Gesellschaft hatten und deshalb scheiterten. Trotzkis Konsequenz: Eine solche Kraft - eine revolutionäre Partei - musste von Grund auf neu aufgebaut werden. Vor dieser Herausforderung stehen wir auch heute.

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Vor 100 Jahren… „Biennio Rosso“

Vor 100 Jahren fanden die zwei roten Jahre, das „Biennio Rosso“ statt. Die revolutionäre Welle nach 1917 erfasste auch Italien. Damals organisierten sich Arbeiter*innen, vor allem rund um Turin, in Räten, streikten und übernahmen die Produktion. Doch abgesehen von Turin, wo Antonio Gramsci und die Gruppe „L’Ordine Nuovo“ aktiv waren, unterstützte die Sozialistische Partei die Bewegung nicht. Staat und Kapital aber setzten auf Mussolini und die aufkommenden faschistischen Organisationen – und die blutige Konterrevolution. Das Biennio Rosso ist ein Beweis für das Potential von Massenbewegungen - aber auch dafür, dass es eine politische Führung braucht, um zu gewinnen.

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Vor 80 Jahren... Beginn des 2. Weltkrieges

Vor 80 Jahren begann am 1. September 1939 der 2. Weltkrieg. Die imperialistische und faschistische Politik Hitlers sollte dem Deutschen Reich eine Monopolstellung auf dem Kontinent sichern. Viel zu spät wurde der systematischen Ermordung von Jüd*innen durch das Eingreifen der Alliierten etwas entgegengesetzt. Dieses Eingreifen erfolgte nicht aus antifaschistischen, sondern aus imperialistischen Motiven. Der 2. Weltkrieg, auch als Reaktion auf die Wirtschaftskrise 1930er Jahre, hatte vor allem wirtschaftliche Gründe. Durch Zwangsarbeit verdienten Großkonzerne in Folge enorm; Staaten sicherten sich Rohstoffe und Absatzmärkte. Krieg folgt im Kapitalismus immer einer eisernen Profitlogik, die auch über Millionen von Leichen geht.

 

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Woodstock on Fyre

Vor 50 Jahren fand das legendäre Woodstock-Festival statt. Entgegen dem gegenkulturellen Mythos hatte Organisator Michael Lang damals vor allem eines im Kopf: Richtig viel Geld machen. Gemeinsam mit zwei Risikokapital-Investoren zog er das Projekt auf. Um die Gewinne zu maximieren, wurde vor allem in Werbung investiert, um die Organisation vor Ort machte man sich kaum Gedanken. Das Ergebnis: völliges Chaos beim Festival, nicht einmal Eintrittstickets wurden kontrolliert. Ironischerweise schuf das Versagen der profitorientierten Festivalorganisation den künstlerischen und politischen Freiraum, der das Festival als Höhepunkt der gegenkulturellen Bewegung erscheinen ließ. Unvergessen blieb dabei etwa Jimi Hendrix‘ musikalische Zerstörung der US-Hymne, die er immer wieder durch bombengleiche Geräuschkulissen unterbrach. Geld machte damit jedoch vor allem der Warner-Konzern, dessen Doku-Film „Woodstock“ gleichzeitig den Mythos Woodstock erst so richtig befeuerte. 50 Jahre später wollte Lang nun das Festival im großen Stil zurückholen. Diesmal scheiterte er jedoch schon beim Anlauf: Zwei Wochen vor dem Termin wurde das ganze abgesagt, weil es wieder zu schlecht vorbereitet war und drohte, wie das desaströs gescheiterte Fyre Festival 2017 zu enden.

 

Bild von Woodstock Whisperer - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=75526619

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NATO: Vor 75 Jahren...

... wurde vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs die NATO gegründet. Sie sollte dazu beitragen, die globale Vorherrschaft der USA voranzutreiben. Das Bündnis kapitalistischer Mächte bekämpfte in der Vergangenheit zudem den stalinistischen Block und versuchte, sozialistische und antiimperialistische Revolutionen in kapitalistischen Ländern zu verhindern. Die Geschichte der NATO ist – trotz unterschiedlicher Strategien in den vergangenen Jahrzehnten – eine Geschichte stetiger Aggression. Das immense Arsenal an Atomwaffen und die Politik des Erstschlags machen die imperialistische NATO zu einem gefährlichen Player auf der Weltbühne. 

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