Geschichte und politische Theorie

Profitraten in der Auto(matisierten) Produktion

Philipp Chmel

Das Ziel aller Kapitalist*innen ist, möglichst viel Profit im Vergleich zu dem von ihnen vorgeschossenen Kapital zu machen. Dieses teilt Marx in zwei Kategorien: 1) das konstante Kapital (c), z.B. Maschinen und Werkzeuge. 2) das variable Kapital (v) - also die Lohnsumme für die menschliche Arbeitskraft.

 

Die Kapitalist*innen kaufen unsere Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit. Der Lohn entspricht im Durchschnitt dem Wert unserer Arbeitskraft – ist aber weniger als der Wert unserer gesamten in dieser Zeit geleisteten Arbeit. Das Kürzel (m) steht für diesen Mehrwert. Der Wert jeder Ware ist also c+v+m. (m) ist die Differenz zwischen vorgeschossenem Kapital und dem Wert der Ware, also das, woraus die Kapitalist*innen ihren Profit schlagen. Das Verhältnis (m) zu (v) nennt Marx die Mehrwertrate (m/v). Sie zeigt, wieviel von unserer Arbeit wir tatsächlich bezahlt bekommen – und wieviel die Kapitalist*innen einstreichen.

 

Der tatsächliche Profit bemisst sich aber im Verhältnis des Mehrwerts zum gesamten vorgeschossenen Kapital (c+v). Marx definiert deswegen die Profitrate als m/c+v. Da die Ausweitung des Arbeitstages (absoluter Mehrwert) nur begrenzt möglich ist, versuchen die Kapitalist*innen, die Produktivkraft der Arbeit mittels neuer Technologie und Maschinen zu steigern (relativer Mehrwert). Das führt dazu, dass (c) größer wird. Die organische Zusammensetzung des Kapitals (c/v), also der Grad der Mechanisierung, nimmt zu. Das zeigt die Entwicklung der Autoindustrie. 2017 war die Beschäftigtenzahl mit 8,4 Millionen ähnlich wie 1970, die Zahl der pro Jahr hergestellten KfZs stieg jedoch von 16,5 auf 96 Millionen - eine unglaubliche Steigerung der Produktivkraft. Doch weil die Arbeitskraft jetzt noch effektiver ausgepresst werden kann, hat sie einen immer geringeren Anteil am Gesamtprodukt. Nimmt die organische Zusammensetzung des Kapitals (c/v) folglich stärker zu als die Mehrwertrate (m/v), dann führt das zu sinkenden Profitraten.

Dieser Dynamik versuchen die Kapitalist*innen entgegenzuwirken: Jobs streichen, um „überflüssige“ Ausgaben für variables Kapital zu reduzieren. Schicht- und Nachtarbeit, um die Maschinenlaufzeit zu erhöhen und konstantes Kapital effizienter zu nutzen. Investitionen in E-Mobilität und autonomes Fahren, um neue Märkte zu sichern. Letzteres hat zwei wichtige Folgen: Erstens werden für Elektroautos weniger Bauteile und darum weniger Beschäftigte gebraucht, die organische Zusammensetzung nimmt also noch mehr zu. Zweitens sind die nötigen Investitionen für neue Technologien sehr hoch. Um sich gegen die US Tech-Giganten (Tesla, Google & Co) zu behaupten und die Kosten für konstantes Kapital zu drücken, bedarf es vermehrter Kooperation (z.B. BMW & Daimler) und Fusionen (Fiat Chrysler & PSA Renault). Auch hier folgen die aktuellen Ereignisse den historischen Entwicklungen. 1974/75 gab es 25 relevante Autokonzerne, heute 12. Die Zulieferindustrie dominieren weltweit nur drei bis fünf Konzerne.


SLP-Broschüre: Basiswissen Marxismus – Politische Ökonomie

Bestellen unter: http://slp.at

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Vor 100 Jahren: Prohibition in den USA

Christliche Gruppen hatten im 19. Jahrhundert eine angebliche Antwort auf die Frage, woher Elend kommt: Die Armen seien selber schuld. Wären sie „moralisch gefestigter“, hätten sie doch alle Chancen zum Aufstieg, so die Bürgerlichen. Zur Moral müsse man sie im Zweifel per Gesetz zwingen. So kam es zum Verbot von Alkohol, das 1920 in den USA eingeführt wurde. Statt mehr „Moral“ zu erreichen, explodierte das organisierte Verbrechen, 1933 wurde die „Prohibition“ also wieder abgeschafft.
Alkoholismus wurde auch von der Arbeiter*innenbewegung bekämpft, aber anders. Nicht als Ursache des Elends, sondern weil es sich nüchtern besser gegen Kapitalismus kämpfen lässt.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

10 Jahre unibrennt

Das Audimax der Uni Wien wurde im Oktober 2009 zum Zentrum einer globalen Bewegung.

Überall auf der Welt wurden Hörsäle besetzt und demonstriert. Ein Jahr nach Ausbruch der Krise 2008 wurden Banken mit Milliarden gerettet, während die Unis weiter ausgehungert wurden. Das befeuerte unsere Wut und den Wunsch nach Veränderung. Gemeinsame Aktionen mit Metaller*innen und Elementarpädagog*innen zeigten, dass wir mit unseren Anliegen nicht alleine waren. Unsere Forderungen nach mehr Geld für Bildung, Soziales, Jobs und Wohnen überschnitten sich.

Die Führungslosigkeit der Proteste war Stärke und Schwäche zugleich. Wir konnten zwar einer Spaltung ohne „Gesicht nach außen“ entgegenwirken, mussten aber alles basisdemokratisch beschließen. Schnell zeigte sich, dass vor allem jene gehört wurden, die es sich zeitlich leisten konnten, Tag für Tag an Plenumssitzungen teilzunehmen. Schnell bildeten sich informelle Hierarchien – eine stetige Zersplitterung der Bewegung ohne demokratisch legitimierte Führung war die Folge.

Auch wenn wir keine grundlegenden Veränderungen im Bildungssystem erkämpften, trugen diese Monate zur Radikalisierung hunderter junger Menschen bei. Viele sind heute in politischen Zusammenhängen aktiv, die nach unibrennt gegründet wurden. Ich selbst habe im Audimax erste Gespräche mit SLP-Aktivist*innen geführt und bin froh, nun gemeinsam für ein Ende von Ausbeutung, Profitgier und Unterdrückung zu kämpfen.

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Das war „Eine Welt zu gewinnen“ 2019

Moritz Erkl

Mit einer Diskussion zu „30 Jahre nach dem Mauerfall – Systemalternative Sozialismus“ ging am 9. November das jährliche SLP-Seminar „Eine Welt zu gewinnen“ erfolgreich zu Ende. Zwei Tage voller Diskussionen, Workshops und einem reichhaltigen Angebot an politischer Literatur markieren inzwischen einen politischen Fixpunkt für viele Teilnehmer*innen im Herbst. Das zeigte sich auch wieder an der regen Beteiligung. Eine Vielzahl von Aktivist*innen informierten sich über den Kampf gegen Amazon in den USA und international, tauschten sich über die Solidaritätsbewegung mit der kurdischen Widerstandsbewegung in Rojava aus oder besprachen eine Strategie für die kommenden Lohnverhandlungen im privaten Sozial- und Gesundheitsbereich.

Besonders spannend waren die Diskussionen mit den internationalen Teilnehmer*innen. So berichtete Emily Burns (Sozialistin der belgischen Schwesterorganisation der SLP, LSP/PSL) von den hunderttausenden Menschen weltweit, die gegen Frauenunterdrückung und Sexismus auf die Straße gehen. Connor Rosoman (Socialist Alternative Großbritannien) sprach über die Position von Sozialist*innen zu Brexit und EU und Chancen und Verantwortung von Jeremy Corbyn und eine sozialistische Politik in Britannien.

Unter den Teilnehmer*innen waren besonders viele Menschen, die noch nicht Mitglied einer Organisation sind, sondern auf der Suche nach Ideen für eine Systemveränderung. Deshalb lag auch der thematische Schwerpunkt dieses Jahr auf dem Thema Klimakrise mit Gästen von “Fridays for Future”, “Workers for Future” und “Make Rojava Green again”. Diskutiert wurde in spannenden Veranstaltungen zu “Klima vs. Kapitalismus” und “Natürliche Feinde? Wie wir Klima und Jobs vereinbaren können”. Auch abseits der offiziellen Workshops nutzten wir die Zeit, zum Beispiel um den Wahlerfolg der sozialistischen Stadträtin Kshama Sawant in den USA (Seattle) zu feiern oder um über Perspektiven für eine linke Arbeiter*innenpartei in Österreich zu diskutieren. Allen Beteiligten ist klar, ganz gleich ob im Kampf gegen Rassismus oder für bessere Arbeitsbedingungen, in internationaler Solidarität oder gegen die Zerstörung unseres Planeten durch Mega-Konzerne: Wir haben eine ganze Welt zu gewinnen.

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Vor 30 Jahren...

Sarah Lammer

Die UNO-Kinderrechtskonvention, die am 20.11.1989 einstimmig beschlossen wurde, umfasst zehn Grundrechte zum Schutz von Kindern. Offiziell werden diese  von mehr Staaten unterstützt als alle anderen UN-Vereinbarungen. Dass dies eher ein symbolischer Akt als ein verbindlicher Vertrag ist, zeigt der Weltkindergipfel im Jahr 2000, der die ernüchternde Bilanz zieht: „Zehn Jahre nach Einführung der UNO-Kinderrechte hat sich die Welt für Kinder und Jugendliche nicht verbessert“. Für ein Ende des Sozialabbaus und ausreichend Finanzierung für Kinder- und Jugendeinrichtungen können wir uns nicht auf UNO & Co. verlassen, dass müssen wir selbst erkämpfen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Weder Stalinismus noch Kapitalismus!

Zur „politischen Revolution“ fehlten die organisierten und verwurzelten revolutionären Kräfte.

Die Aufgabe des Sturzes des Stalinismus und seine Ersetzung durch Arbeiter*innen- bzw. Räte-Demokratie unter Aufrechterhaltung und Ausbau einer nicht-kapitalistischen Planwirtschaft bezeichnete der Revolutionär Leo Trotzki einst als „politische Revolution“. Er verstand sehr früh, dass der Macht-Zuwachs der Bürokratie der Beginn einer inneren und schleichenden Gegenrevolution nach der erfolgreichen Oktoberrevolution in Russland 1917 war. Die selben Entwicklungen erkannte auch Lenin, der seine letzten Lebensjahre dem Kampf gegen die Bürokratisierung widmete. Ein Hauptgrund lag in jenen Rückschlägen, welche die Revolution weltweit erlitt. Nichtsdestotrotz hätte eine erfolgreiche Rückeroberung der politischen Macht durch die organisierte Arbeiter*innen-Bewegung in einzelnen Ländern einen wichtigen Anstoß für andere Regionen, inklusive des kapitalistischen Westens, gegeben. Dies ist ein weiteres Prinzip unseres anti-stalinistischen Räte-Sozialismus: Internationalismus oder Niederlage!

Der 2. Weltkrieg schuf eine besondere Situation, da sich die Sowjetunion trotz bürokratischer Diktatur und faschistischem Feldzug auch aufgrund der wirksamen Vorteile der Planwirtschaft behaupten konnte. Das neue Gleichgewicht zwischen kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Welt enthielt ab den 1950ern viele osteuropäische Länder, in denen nicht nur der Kapitalismus diskreditiert war, sondern auch die Herrschaft der Bürokratie bekämpft wurde. Wäre in der DDR 1953 oder Ungarn 1956 die politische Revolution mit der Festigung einer Räte-Demokratie gelungen, hätte dies höchstwahrscheinlich eine Kettenreaktion ausgelöst. Millionen Menschen wären weltweit inspiriert worden, ihr Schicksal kollektiv in die eigenen Hände zu nehmen und den jeweiligen Eliten zu entreißen.

Die Programme der Bewegungen, die sich jeweils um das machtvolle Mittel des Generalstreiks sammelten, enthielten Forderungen wie echte freie Wahlen, Beibehaltung des sozialistischen Eigentums in der Industrie, Betriebsräte mit unabhängigen Gewerkschaften, Streik- und Versammlungsrecht, Presse- und Religionsfreiheit. Moskau rollte mit Panzern jede dieser potentiellen Revolutionen nieder. Dadurch wurde verständlicherweise unter Arbeiter*innen im Westen das sowjetische System immer unbeliebter. Für die herrschenden Eliten im Westen war es wichtig, vom eigentlichen pro-sozialistischen Programm der Aufständischen abzulenken. Dem spielte die Ostblock-Bürokratie in die Hände, da sie überall „pro-kapitalistische Verschwörungen“ ausmachte.

Der nächste große Konflikt wurde als „Prager Frühling“ 1968 bekannt:1953 hatte der Kreml eine Währungsabwertung angeordnet, die den Lebensstandard um 11% senkte. Die Wirtschaft wuchs in den nächsten zehn Jahren kaum. Als Alexander Dubcek 1968 den Vorsitz der KP Tschechiens übernahm, startete er ein Programm zur Liberalisierung der Wirtschaft und zur Einführung begrenzter demokratischer Rechte – dem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Diese Bemühungen um die Öffnung der Gesellschaft fanden großes Echo bei den Massen. Zuerst versuchte der Kreml, Dubcek zum Rückzug zu bewegen. Im August wurde der Prager Frühling unter dem Druck der benachbarten stalinistischen Staaten, die eine Ausbreitung der Proteste befürchteten, unter den Ketten der Block-Panzer zerstört.

Als in Polen 1981 nach der Formierung der Gewerkschaft Solidarnosc mit 14 Millionen Mitgliedern General Jaruzelski das Kriegsrecht erklärte, hatte sich in Moskau der Wind bereits zu drehen begonnen. Teile der Bürokratie suchten zur Sicherung ihrer Herrschaft nach einem Ausweg mittels Änderungen in der wirtschaftlichen Struktur; der Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung). Die Bürokratie selbst blickte Richtung kapitalistischer Restauration. In Polen selbst, wie später auch in anderen Ländern, intervenierten westliche kapitalistische Eliten sowie die katholische Kirche, um die anti-stalinistische Bewegung entscheidend in eine anti-sozialistische Richtung zu lenken. In der Folge konnten sich die pro-kapitalistischen Kräfte innerhalb von Solidarnosc durchsetzen.

Vor dieser Ausgangslage wurde 1989 der letzte Akt des Stalinismus eingeläutet. Die Massen setzten sich unaufhaltsam in Bewegung, wie etwa bei den Leipziger Montagsdemonstrationen. Die gewaltigen Ereignisse von 1989-91 zeigten die potentielle Macht organisierter Arbeiter*innen. Nur das Fehlen einer gefestigten politischen Organisation, welche in und mit den Massenbewegungen eine Räte-Demokratie errichten hätte können, ermöglichte der Bürokratie, die kapitalistische Transformation unter Beibehaltung autoritärer Strukturen und mit dem Schüren nationalistischen Hasses umzusetzen. Doch gerade die Erfahrungen der jungen Generationen mit den Folgen der letzten 30 Jahre seit der Wende bergen den Ansatz für einen neuen revolutionären Anlauf.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Woher kam der Stalinismus?

Moritz Erkl

Wer heute von der Notwendigkeit spricht, den Kapitalismus abzuschaffen, bekommt noch immer häufig zur Antwort, dass das in einer Diktatur enden müsse – wie man in der Sowjetunion gesehen habe. Doch der Stalinismus war keine zwangsläufige Folge der Russischen Revolution und der Politik der Bolschewiki. Es waren konkrete historische Umstände, die den Aufstieg einer bürokratischen Kaste ermöglichten, die heute zurecht allen Arbeiter*innen verhasst sein sollte.

Nach dem Sturz des Kapitalismus in Russland brach ein Sturm der Konterrevolution über die junge Rätedemokratie herein. 21 imperialistische Armeen versuchten, die Revolution aus Angst vor ihrer internationalen Ausbreitung im Keim zu ersticken. Obwohl es der hastig aufgestellten Roten Armee gelang, die neue Ordnung zu verteidigen, waren die Opfer immens. 6 Millionen Menschen starben im Bürger*innenkrieg bzw. an seinen Folgen, darunter viele der aufopferungsvollsten bolschewistischen Revolutionär*innen. Die internationale Ausbreitung der Revolution wurde verhindert – nicht nur durch Militär und Polizei, sondern auch mithilfe der sozialdemokratischen Führungen. Die junge UdSSR blieb isoliert.

Um die wirtschaftliche Rückständigkeit im Vergleich zum kapitalistischen Westen auszugleichen, wurde kleinbäuerlichen Schichten kapitalistischer Handel im Rahmen der NÖP (neue ökonomische Politik) gewährt. Die Plätze der verstorbenen Revolutionär*innen wurden von ehemaligen Beamt*innen des Zarismus und von Karrierist*innen aufgefüllt. Aus ihnen wurde die bürokratische Kaste, welche zunehmend an Macht gewann. Ihr Repräsentant wurde ausgerechnet Josef Stalin, welcher – bekannt für sein organisatorisches Talent – an die Spitze einer innerparteilichen Untersuchungskommission zur Bekämpfung des Karrierismus gesetzt wurde.

Die Bürokratie führte in den folgenden Jahren die Sowjetunion nicht mehr im Interesse der Arbeiter*innenklasse, sondern in ihrem eigenen. Danach richtete sich auch ihre Ideologie, wie der antistalinistische Revolutionär Leo Trotzki analysierte:

„Stalins Fraktion hat nicht im mindesten die unvermeidlichen Resultate der Entwicklung vorhergesehen, die ihr jedes Mal über den Kopf wuchsen. Sie reagierte darauf mit administrativen Reflexen, Die Theorie ihrer jeweiligen Wendung schuf sie nachträglich, ohne sich viel darum zu kümmern, was sie am Tage zuvor lehrte.“ (Leo Trotzki: Verratene Revolution, 1936)

Auch wenn der Stalinismus das Ergebnis von Faktoren war, die die Revolutionär*innen nur unzureichend beeinflussen konnten, heißt das nicht, dass es keine Lektionen für revolutionäre Organisationen gibt: Nur konsequente innerparteiliche Demokratie kann bürokratische Tendenzen im Zaum halten, nur eine internationale Revolution ermöglicht echte sozialistische Demokratie.


Zum Weiterlesen:

Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?
z.B. Mehring Verlag, 2016 (4. Auflage)

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Entstehung, Wesen und Untergang des Stalinismus

Der Stalinismus entstand als Folge der Isolation des revolutionären Russlands.

Die Parteibonzen von einst sind die Mafia-Kapitalist*innen von heute.

Politik und Selbstverständnis des Stalinismus haben überhaupt nichts mit den Prinzipien der ursprünglichen sowjetischen Revolutionär*innen wie Lenin und Trotzki zu tun. Die Russische Revolution 1917 sollte eine echte demokratische und sozialistische Gesellschaft schaffen, in der Reichtum und Ressourcen in öffentliches Eigentum überführt, die Produktion und Verteilung von gewählten Arbeiter*innen-Räten geplant werden sollen. Die Bolschewiki waren Internationalist*innen, die allen Minderheiten im ehemaligen russischen Reich das Recht auf Selbstbestimmung garantierten und sich für eine freiwillige Föderation sozialistischer Staaten aussprachen. Die Bolschewiki waren überzeugt, dass die neue Arbeiter*innen-Republik nur dann überleben und sich Richtung Sozialismus entwickeln könnte, wenn sich die Revolution auch in den fortgeschritteneren Ländern ausweitet.

Leider scheiterte die revolutionäre Welle, die den 1. Weltkrieg beendete und den Sturz der deutschen Monarchie sowie das kurze Aufflammen von Räte-Republiken in Ungarn, Bayern und entsprechender Ansätze in Österreich und der Tschechoslowakei erlebte. Die neue russische Republik wurde von 15 imperialistischen Armeen überfallen. Diese unterstützten die gegenrevolutionären „Weißgardisten“ und richteten enorme Zerstörung an. Viele der besten Arbeiter*innen wurden in die Kämpfe hineingezogen, starben oder hungerten. Andere mussten die Fabriken verlassen, um die neue Gesellschaft irgendwie zu verwalten. Das revolutionäre Russland beendete den Bürger*innen-Krieg erschöpft, verwüstet und isoliert.
Eine Schicht von Bürokrat*innen, von denen viele sich ursprünglich der Revolution widersetzt hatten, entwickelte sich und wurde in Ermangelung einer internationalen Revolution gestärkt, fand mit Stalin einen Anführer und ergriff die politische Macht aus den Händen der geschwächten Arbeiter*innen-Bewegung. Sie festigte ihre Macht durch einen neuen Bürger*innenkrieg in den 30er-Jahren mit Massenverhaftungen, Terror und Hinrichtungen gegen die alten Bolschewiki. Sie hob deren Internationalismus auf und ersetzte ihn durch die rückschrittliche Ideologie des "Sozialismus in einem Land". Tatsächlich handelte es sich um eine politische Konterrevolution, die einen bürokratischen Staatsapparat hinterließ, der große Teile der zaristischen und sogar kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelte, die die verstaatlichte Planwirtschaft überwachte und ausnutzte.

Aufgrund der Planwirtschaft und der Entschlossenheit der Massen in der Sowjetunion ging die UdSSR trotz der Unfähigkeit der stalinistischen Bürokratie aus dem 2. Weltkrieg siegreich hervor. Osteuropa, einschließlich eines Teils Deutschlands, wurde von der sowjetischen Armee kontrolliert. Im weiteren Verlauf brachen die alten bürgerlichen Staaten zusammen. In der Tschechoslowakei und anderswo keimten revolutionäre Bewegungen auf. Ursprünglich wollte Stalin den Kapitalismus in der Region aufrechterhalten, mit Marionetten-Regierungen als Puffer zwischen Ost und West. Aber diese Position erwies sich als nicht realisierbar. Eine Entwicklung unabhängiger sozialistischer Republiken würde die Herrschaft der UdSSR-Bürokratie untergraben. Deshalb löste die Sowjet-Armee unabhängige Aktionen von Arbeiter*innen und Aufständischen mit Gewalt auf. Die bürokratische Planwirtschaft wurde auf die gesamte Region ausgedehnt. Während die russische Revolution weiter degenerierte, wurden in Osteuropa die neuen Regimes von Anfang an in dieser deformierten Form eingesetzt.

Obwohl die Planwirtschaft unter schrecklicher bürokratischer Misswirtschaft und Verschwendung litt, erwies sie sich eine Zeit lang dennoch als effizienter als die Marktwirtschaft. In den kriegszerstörten Volkswirtschaften Osteuropas war das Pro-Kopf-Wachstum in den zwanzig Jahren nach dem Krieg etwa 2,4 Mal so hoch wie in Europa insgesamt.

Doch dies förderte auch den Wildwuchs der Bürokratie: Als Stalin an die Macht kam, zählte die Bürokratie einige Hunderttausend. In den 80er Jahren wurde sie zu einem 20 Millionen starken, alles verbrauchenden Apparat. Ohne Arbeiter*innen-Demokratie zur Steuerung und Kontrolle der Wirtschaft hatte die Bürokratie einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums durch Diebstahl und Bestechung abgebaut. Die Verschwendung lag bei ca. 30% der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion. An ihrer Spitze stand eine kleinere Elite, deren absurder Lebensstil durch Breschnews riesige Sammlung an Luxusautos veranschaulicht wurde.

Man kann die Festigung der Bürokratie als Ausdruck der allgemeinen Gegenrevolution auffassen, wobei gleichzeitig dieselbe Bürokratie die zentrale Errungenschaft der Revolution (nicht-kapitalistische Planwirtschaft) als Grundlage ihrer Macht – vorerst – akzeptieren musste und ausbeutete. Doch solch ein System muss immer stärker in Konflikt mit den arbeitenden Massen geraten. Immer aggressiver wird die anti- und gegenrevolutionäre Rolle der Bürokratie in der täglichen Politik. Am Ende dieses Prozesses steht die Entscheidung: Wiederherstellung des Kapitalismus oder echter Sozialismus mit Arbeiter*innen-Demokratie.

Je komplexer die Wirtschaft wurde, umso schwerer wirkte der bürokratische Ballast und das Fehlen der Arbeiter*innen-Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft. Die Bürokratie reagierte darauf in eigener Weise: Mit den Schlagwörtern „Perestroika“ und „Glasnost“ zielte Gorbatschows Politik darauf ab, die Verschwendung der Bürokratie zu reduzieren, ohne ihnen die Macht zu nehmen (Reform von oben, um eine Revolution von unten zu verhindern). Sie öffnete die Tür zur Wiederherstellung des Kapitalismus. In der Sowjetunion selbst entwickelte sich eine schwere Krise. Zum Beispiel führte Gorbatschows Verbot von Alkohol zu Zuckermangel, da allerorts illegal gebrannt wurde. Die Unzufriedenheit in den Massen äußerte sich vor allem in einer Serie von Streiks im Bergbau im Juli 1989.

Eine wachsende Schicht der Bürokratie reagierte auf das Wanken ihres Systems: Man blickte zum Kapitalismus, um seine Haut zu retten. Der Übergang der Industrie in Privatbesitz sollte von ihr selbst vorgenommen werden; größtenteils direkt in die eigenen Taschen. Die Massenbewegungen in den verschiedenen Ländern ab 1989 waren zwar stark genug, die monolithisch wirkende politische Herrschaft der Parteibürokratien zu brechen – doch ohne eine Perspektive, wie der zunächst geforderte wirkliche, demokratische Sozialismus erkämpft werden könne, bedeutete der Sturz der alten Parteieliten ihre Wiederauferstehung als kapitalistische Wirtschaftseliten. Damit war die Grundlage für den Mafia-Kapitalismus der kommenden Jahrzehnte gelegt: Die Parteibonzen wurden zu Oligarch*innen, die sich gemeinsam mit ihren neuen Freund*innen aus den westlichen Chefetagen die profitablen Teile der Ruinen ihres alten Systems krallten. Ein Prozess, der auch die Grundlage für die in den letzten Jahren zunehmenden Proteste gegen Korruption, für Jobs und Löhne, von denen man leben kann, ist.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Einige der Aufstände gegen den Stalinismus

DDR 1953

Im Juni 1953 entwickelt sich eine Streikbewegung gegen Lohnkürzungen und Leistungsnormen, die von der SED-Bürokratie eingeführt wurden. Die Bewegung wird von Bau- und Metallarbeiter*innen getragen und erfasst einen Großteil der Parteibasis. Die Führung antwortet mit brutaler Gewalt und tötet dutzende Demonstrant*innen.

 

Ungarn 1956

Eine Massenbewegung aus Arbeiter*innen und Jugendlichen belebt den Rätegedanken wieder und will echten Sozialismus. Dies ist eine enorme Bedrohung für die Bürokratie im ganzen Ostblock. Am 25. Oktober werden Hunderte erschossen, am 4. November wird die Arbeiter*innen-Revolution durch Kreml-Truppen endgültig niedergeschlagen.

 

Prag 1968

Der „Prager Frühling“ ist eine Bewegung für einen demokratischen Sozialismus. Wieder schlagen sowjetische Panzer den Aufstand nieder. Kombiniert mit der Vielzahl an Bewegungen rund um 1968 bedeuteten die Prager Ereignisse weltweit die Abkehr einer Vielzahl kommunistischer Aktivist*innen vom Stalinismus.

 

Proteste in Sowjetrepubliken wegen Umweltverschmutzung

Proteste zu Umweltfragen brechen in den 80ern in Teilen der Sowjetunion aus. Auch kommen in Folge der Unterdrückung des Selbstbestimmungsrechts Elemente von Nationalismus auf. Dem Ursprung nach sind es dennoch auch soziale Konflikte. Die Luft in vielen Städten ist so verschmutzt, dass die Lebenserwartung zurückgeht. Baikalsee und Kaspisches Meer sind voller Industrieabfälle. Der Aralsee ist aufgrund Brezhnevs erzwungenem Baumwoll-Anbau in Usbekistan praktisch verschwunden.

 

Polen 1970 und 1981

Die Massenproteste in Polen ab 1970, ausgelöst durch steigende Lebensmittel-Preise, bedeuten den Anfang vom Ende des Stalinismus. Auch hier ist der Wunsch nach echtem Sozialismus mit Arbeiter*innen-Demokratie anfangs groß. 1980 bildete sich die größte unabhängige Gewerkschaft der Welt: Solidarnosc. Nur die Verhängung des Kriegsrechts 1981 verhinderte den vollständigen Zusammenbruch des Regimes.

 

Peking 1989

Am „Platz des himmlischen Friedens“ versammeln sich zigtausende Arbeiter*innen und Student*innen, um gegen das Regime zu protestieren. Zur Bekräftigung ihres sozialistischen Anspruches singen sie unermüdlich die „Internationale“. Die Regierung richtet ein Massaker mit hunderten Toten an.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

30 Jahre Wende: Keine „blühenden Landschaften“

Dem Zusammenbruch des Stalinismus folgte Instabilität statt harmonischer kapitalistischer Weltordnung.
Ein Schwerpunkt auf Basis eines Artikels von Rob Jones von Sotsialisticheskaya Alternativa aus Russland, zusammengestellt von Franz Neuhold.

1989-91 erlebte die Welt eine Serie dramatischer Umbrüche in Osteuropa mit dem reihenweisen Sturz stalinistischer Diktaturen. Die Auswirkungen sind bis heute von enormer Bedeutung. Blicken wir zurück: Am 13. September 1989 bildete die Gewerkschaft „Solidarnosc“ in Polen aufgrund einer überwältigenden Mehrheit bei der Wahl die erste „nicht-kommunistische“ Regierung im „Ostblock“ seit 1948. Zwei Monate später wurde die Berliner Mauer niedergerissen. Die spektakulären Ereignisse von 1989 inspirierten, zumindest damals, Arbeiter*innen und arme Menschen auf der ganzen Welt, während Diktator*innen überall vor Angst zitterten. Doch die großen Hoffnungen zerfielen zu Illusionen, große Versprechungen und Zuversicht endeten in sozialem Desaster, Instabilität und Kriegen.

Innerhalb von nur zwei Jahren wurde die ehemalige DDR vom kapitalistischen Westen übernommen. Ursprünglich lauteten die Forderungen der Demonstrant*innen allerdings "freie Wahlen, freie Medien, Reisefreiheit und demokratischer Sozialismus". Aufgrund des Fehlens einer organisierten politischen Kraft für den Aufbau einer echten sozialistischen Arbeiter*innen-Demokratie konnte jedoch der westdeutsche Kapitalismus das ganze Land unter seiner Kontrolle wiedervereinigen. In weiterer Folge begann Jugoslawien zu zerfallen. Nach dem gescheiterten Staatsstreich im August 1991 brach die Sowjetunion zusammen, in der Folge auch die Tschechoslowakei.

Der Kapitalismus wurde in der gesamten Region wiederhergestellt. Der Kalte Krieg endete mit der Auflösung des Militärblocks Warschauer Pakt, der gegen den US-Imperialismus gerichtet war. Francis Fukuyama kündigte 1992 mit vollem Triumphgehabe das "Ende der Geschichte" an. Damit meinte er, dass von nun an keine sozialen Revolutionen mehr stattfinden bräuchten bzw. würden, da der Kapitalismus die höchste Entwicklungsstufe der Menschheit darstelle. Dieser Standpunkt ist mittlerweile genauso Geschichte wie die Herrschaft der stalinistischen Bürokratien.
Die Massenbewegungen wurden damals von der Hoffnung angetrieben, dass durch die Abschaffung der abscheulichen bürokratischen Diktaturen das Leben dramatisch verbessert werden würde. Demokratie sollte sich mit sozialem und wirtschaftlichem Fortschritt verbinden. Doch die Region verbrachte das folgende Jahrzehnt in einer schrecklichen wirtschaftlichen Depression, die schlimmer war als in den 1930er Jahren. Die ehemals zentral geplanten Volkswirtschaften wurden durch das Chaos des „freien Marktes“ ersetzt. Während der deutsche Kanzler Kohl „blühende Landschaften“ versprach, zeigten sich immer stärker Merkmale von „Entwicklungsländern“ bzw. der neo-kolonialen Welt. Selbst die Weltbank als einer der Hauptarchitekten des Übergangs musste offenlegen, dass das Brutto-Inlands-Produkt in Mittel- und Osteuropa bis zum Jahr 2000 um 15% und in der ehemaligen UdSSR um 40% zurückgegangen war. Die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen stieg von 4% auf 20%.

Zum ersten Mal seit 1945 brachen in Europa und Zentralasien Kriege zwischen Staaten aus. Brutale ethnische Konflikte forderten unmittelbar hunderttausende Menschenleben. Etwa vier Millionen Menschen wurden vertrieben, als die imperialistischen Mächte und die neuen nationalen kapitalistischen Eliten um das Wrack des ehemaligen Jugoslawiens kämpften. Mindestens 150.000 Menschen starben in den beiden russisch-tschetschenischen Kriegen und weitere 60.000 im tadschikischen Bürger*innen-Krieg. Die Konflikte in Moldawien, Georgien, zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie in der Ostukraine sind nach wie vor ungelöst. Ein Blick zurück, um vorbereitet zu sein auf die kommenden Bewegungen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Seiten