Internationales

Wahlen in Frankreich: Ablehnung des Establishments

Massiver Zugewinn für Melenchon zeigt Potential für Linke
von Clare Doyle, „Committe for a Workers´ International“ // „Komitee für eine Arbeiterinternationale“ (CWI, dessen Sektion in Österreich die SLP ist)

Das Ergebnis der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen hat gezeigt, wie sehr die etablierten Parteien und das, wofür sie stehen, abgelehnt werden. Die Präsidentschaftswahlen markieren einen Wendepunkt in der Politik Frankreichs. Sie eröffnen neue Möglichkeiten für eine Bewegung von unten, die in der Lage sein kann, eine neue linke und sozialistische Kraft aufzubauen.

In der zweiten Runde, die am 7. Mai zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen ausgetragen wird, werden viele WählerInnen Macron ihre Stimme geben, die ihn bisher nicht gewählt haben. Sie werden dies tun, um eine rechtsextreme Präsidentin zu verhindern. „Gauche Révolutionnaire“, die Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Frankreich, betrachtet eine Bewegung von unten als wichtigstes Mittel, um sich der Reaktion in den Weg zu stellen und gegen die Angriffe vorzugehen, die die herrschende Klasse durchführen will.

Was ist geschehen?

Der Kandidat der regierenden sogenannten „sozialistischen“ Partei (es geht um die Sozialdemokraten, die immer noch unter dem Namen „Parti Socialiste“ antreten) hat nicht mehr als 2,25 Millionen Stimmen bekommen. Das sind 6,3 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Der linke Kandidat Melenchon kam demgegenüber auf sieben Millionen Stimmen bzw. 19,6 Prozent. Damit lieferte er sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Francois Fillon, dem diskreditierten Vertreter der Konservativen von der Partei „Les Républicains“, der auf 19,9 Prozent kam.

Berichten zufolge waren bis zum letztlichen Wahltag nicht weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten unsicher, wen bzw. ob sie überhaupt wählen sollten. Verglichen mit 2012 ist die Wahlbeteiligung zwar zurückgegangen. Sie lag aber dennoch bei über 78 Prozent. Es ist klar, dass viele junge Leute und ArbeitnehmerInnen Veränderungen sehen wollen, was ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen angeht.

Die Illusionen, die noch in die „neue“ Bewegung des letztlich erstplatzierten Kandidaten Emmanuel Macron gesetzt werden, werden schon bald zerplatzen wie Luftblasen. Er kam in der ersten Runde auf 25,9 Prozent und wird in der zweiten Runde aller Voraussicht nach Marine Le Pen vom „Front National“ bezwingen. Bevor er vor einem Jahr zurücktrat, um seine Bewegung/Partei „En Marche!“ („In Bewegung“) zu gründen, hielt er in der verrufenen Regierung unter Präsident Hollande einen Ministerposten inne. Als ehemaliger Bankier und Architekt der verhassten und arbeitnehmerfeindlichen Reform des Arbeitsrechts wird er die öffentlichen Ausgaben weiter senken und Arbeitsplätze reduzieren. Lockern wird er hingegen die Vorgaben für die Geschäfte der Großkonzerne.

Mit ihrer protektionistischen und gegen das Establishment gerichteten Rhetorik hat Marine Le Pen vom „Front National“ wahrscheinlich Millionen von Stimmen von wütenden ArbeiterInnen und jungen Leuten erhalten. Sie hat permanent von sich behauptet, für „das Volk“ zu stehen und einen neuen Ansatz zu vertreten. Zum jetzigen Zeitpunkt geht niemand davon aus, dass sie ihren Stimmanteil im zweiten Wahlgang wesentlich wird vergrößern können. Die Umfragen gehen von Werten von 60 Prozent bis 65 Prozent für Macron und 35 Prozent bis 40 Prozent für Le Pen aus.

Melenchon

Eine der dramatischsten Entwicklungen bei dem „Rennen“ ums Präsidentenamt war der massive Zugewinn für „Das aufständische Frankreich“ des Kandidaten Jean-Luc Melenchon, der gegenüber 2012 mehr als drei Millionen Stimmen hinzugewonnen konnte. Und das mit einem Programm, das eine umfassende Erhöhung bei den öffentlichen Investitionen vorsieht, um Arbeitsplätze zu schaffen, öffentliche Dienstleistungen auszubauen und die Steuern für Super-Reiche drastisch anzuheben. Für die Kandidatin von „Lutte Ouvrière“ (LO; „Arbeiterkampf“) stimmten rund 231.600 Menschen und weitere 392.400 für Philippe Poutou von der „Nouveau Parti Anticapitaliste“/„Neue Antikapitalistische Partei“ (NPA). Beide mussten im Vergleich zu 2012 Einbußen hinnehmen.

Hätte Melenchon die volle Unterstützung der linken Organisationen bekommen und würde man die Stimmen, die LO und NPA bekommen haben, hinzuzählen, dann wäre Melanchon möglicherweise in die zweite Runde gekommen! Damit hätten die ArbeiterInnen und jungen Leute jedenfalls eine eindeutige Wahl im zweiten Wahlgang gehabt: zwischen einem Kandidaten, der den Kapitalismus und die Reaktion verteidigt und einem, der für den Kampf gegen das System und den Wandel im Interesse der Beschäftigten und jungen Leute steht.

Das nun vorliegende Ergebnis steht weder für das Ende der Schlacht, noch steht eine Niederlage für Le Pen für das Ende des Rechtsextremismus in Frankreich. Es ist bereits zu Demonstrationen gegen Le Pen gekommen. Die größte Herausforderung besteht nun allerdings für Melenchon darin, die Kräfte zu mobilisieren, die ihn unterstützt haben und mit ihnen zusammen eine durch und durch sozialistische Bewegung aufzubauen. Er muss jetzt zu Versammlungen einladen bzw. aufrufen, die in den Betrieben und Wohnvierteln im ganzen Land stattfinden müssen, um auf diese Weise eine Bewegung gegen den französischen Kapitalismus zu mobilisieren. Überall müssen seine AnhängerInnen Organisationsarbeit leisten, um eine Partei aufzubauen, die fähig ist, bei den Parlamentswahlen, die im Juni anstehen, einen Wahlkampf für die echte Wahrnehmung von Arbeitnehmerbelangen auf Grundlage eines sozialistischen Programms zu führen.

Hintergrundmaterial des CWI zum Thema findet sich hier. Eine Übersetzung der Erklärung von „Gauche Révolutionnaire“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Frankreich) wird so bald wie möglich veröffentlicht.

Der Artikel wurde zuerst am 24. April 2017 auf www.socialistworld.net veröffentlicht.

 

Solidarität mit der LGTBQ-Community in Tschetschenien

Nikita Tarasov

Am 22. April demonstrierten 750 Menschen solidarisch gegen die akute Verfolgung von homosexuellen Männern in der russischen autonomen Republik Tschetschenien. Die SLP war auch dabei. 
Unsere russische Schwesterorganisation "Социалистическая Алтернатива" spielt übrigens seit Jahren eine wichtige Rolle im Kampf für LGBTQI-Rechte, sowie im Aufbau von antikapitalistischen, sozialistischen Alternativen.
Nach dem Demozug gab es eine Schweigeminute und anschließende Reden. In diesen wurden Internationale Solidaritätsdemos angekündigt und
sichere Asylwege für Betroffene gefordert. Es wurde auch die Sündenbockpolitik der russ. Regierung erwähnt, die von den sozialen Missständen ablenken soll.
Nein zur Verfolgung von sexuellen Minderheit! Gleiche Rechte für alle unabhängig von Gender und sexueller Orientierung! Hoch die internationale Solidarität!

 

Türkisches Referendum: Das „Ja“ ist ein Pyrrhussieg für Erdogan.

Am Sonntag den 16. April hat die Türkei die kontroversiellste und fragwürdigste Abstimmung in ihrer Geschichte durchgeführt. Zur Abstimmung standen jene Verfassungszusätze, die Präsident Erdogan diktatorische Macht geben – inklusive der Möglichkeit das Parlament aufzulösen. Offiziell hat die „Ja“ Seite knapp mit 51% der Stimmen gewonnen.

Das Ziel des Referendums war, das Erdogan diktatorische Macht bekommen kann weil seine Möglichkeit, sich länger auf demokratischem Weg im Amt halten zu können, ein zeitliches Ablaufdatum hat. Das Referendum selbst wurde in höchst undemokratischer Art durchgeführt. Nach einem versuchten und fehlgeschlagenen Militärputsch im Juli 2016 wurden hunderttausende Beschäftigte, inklusive hochrangiger Soldaten, RichterInnen, StaatsanwältInnen, Polizeioffiziere und AkademikerInnen von ihrem Posten entlassen und sind bis heute entlassen und viele JournalistInnen, politische AktivistInnen, GewerkschafterInnen und Abgeordnete wurden festgenommen.

Die Zeit vor dem Referendum war von staatlichen Repressionsmaßnahmen gekennzeichnet. Die Referendums Kampagne fand vor dem Hintergrund des Ausnahmezustandes statt und Erdogan und seine Vasallen haben alles getan, um die „Nein“ Kampagne zu unterdrücken. Wer für ein „Nein“ öffentlich auftreten wollte wurde körperlich angegriffen und von der Polizei festgenommen. Erdogan und seine Verbündeten haben hysterisch das „Nein“-Lager als „VerräterInnen“, „SpalterInnen“ und „TerroristInnen“ diffamiert. AktivistInnen, die versuchten für „Nein“  Infotische zu machen wurden oft von der Polizei festgenommen. Die „Nein“-Kampagne wurde von den Medien weitgehend ignoriert.

Während die „Nein“-Kampagne unterdrückt wurde, wurde die „Ja“-Kampagne im Gegenteil de facto vom Staat selbst durchgeführt. Alle verschiedenen staatlichen Ressourcen wie Plakatwände, die Medien, staatliche Gelder, Polizeikräfte etc. wurden zu diesem Zweck benutzt. Während die Abgeordneten der HDP („Demokratische Partei der Völker“, eine linke pro-kurdische Partei die als einzige politische Organisation im Norden von Kurdistan eine „Nein“-Kampagne organisierte) ins Gefängnis gesteckt wurden, wurden die Reden von Vertretern der AKP, der Regierungspartei, landesweit während der Hauptabendzeit ausgestrahlt.

Trotzdem waren alle diese Maßnahmen nicht genug für das „Ja“-Lager. Am Tag des Referendums verkündete die Wahlkommission (YSK) dass sie auch nicht von ihr gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge als gültig zählen würde. Das ist ein klarer Bruch der Wahlbestimmungen und ein deutlicher Indikator für Wahlbetrug. Berichten zufolge wurden 1,5 Millionen nicht gekennzeichneter Stimmen gezählt und, falls das stimmt, dann kann mit Sicherheit gesagt werden, dass das Referendum manipuliert wurde. Kein Wunder also wenn Erdogan der Wahlkommission schon während seiner Rede nach der Abstimmung dankte.  

Ein Pyrrhus-Sieg

Trotz der absolut antidemokratischen Kampagne des „Ja“-Lagers sowie des offensichtlichen Wahlbetrugs entfielen im Referendum lediglich 51 Prozent der Stimmen auf „Ja“. Das kann wie ein Sieg erscheinen - es ist aber ein sehr gutes Beispiel für einen Pyrrhussieg (Pyrrhus, König von Epirus - siegte über die römische Armee in der Schlacht von Asculum, jedoch mit so vielen Verlusten, dass er später den Thron aufgeben musste). Der Preis des Sieges in einer Schlacht war die politische Macht, die Pyrrhus eigentlich wollte. Gleichermaßen hat Erdogan zwar diese Abstimmung gewonnen – er kann jedoch letztendlich sehr viel mehr verlieren. Zunächst einmal hat die Hälfte des Landes trotz der Atmosphäre einer de facto Diktatur gegen Erdogans Willen gestimmt. Das zeigt ziemlich klar die Wut auf ihn und sein Regime, welche ebenfalls unter einem Teil der traditionell konservativen AKP-WählerInnen vorhanden ist. Die Summe der Stimmen der beiden „Ja“-Parteien, der AKP und der rechtsextremen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), belief sich bei den letzten Wahlen auf fast 60 Prozent. Das „Ja“-Lager beim Referendum bekam lediglich 51 Prozent – trotz der Manipulationen. In den drei größten Städten der Türkei Istanbul, Ankara und Izmir, stimmte eine Mehrheit mit „Nein“. Das ist umso beachtlicher, da sowohl in Istanbul als auch in Ankara die AKP vorherige Wahlen gewinnen konnte. Der Verlust der zwei größten Städte der Türkei ist ein großer Rückschlag für Erdogan vor den Lokalwahlen 2018.

Die Situation rund um die kurdischen WählerInnen war ein weiter wichtiger Faktor für das Endergebnis. Zu Beginn der Abstimmungskampagne wurden die Abgeordneten der HDP, sowie ihre beiden Ko-Vorsitzenden, festgenommen. In Nordkurdistan wurden viele HDP-Mitglieder in Gewahrsam genommen und viele örtliche HDP-BürgermeisterInnen aufgrund erdichteter Terrorismusvorwürfe ihrer Ämter enthoben. Erdogan wusste sehr gut, das die nationalistischen Parteien – die Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) wie auch die MHP - keine Basis in Nordkurdistan besaßen. Die AKP war bei Wahlen die zweitgrößte Partei nach der HDP. Somit war die HDP die einzige politische Organisation, welche eine effektive „Nein“-Kampagne unter den kurdischen WählerInnen hätte organisieren und somit die herrschende Partei herausfordern können. Darum hat Erdogan diese Partei zu Beginn der Kampagne gezielt ausgeschaltet.

Das Ergebnis des Referendums bestätigt das. Seit den letzten Wahlen gab es unter kurdischen WählerInnen einen Anstieg bei den Stimmen für Erdogan. In Diyarbakir, der größten kurdischen Stadt innerhalb der Türkei, belaufen sich die Stimmen der MHP und der AKP zusammen bei den letzten Wahlen und die „Ja“-Stimmen im Referendum auf 22 Prozent bzw. 32 Prozent. In der Stadt Van waren es 30 Prozent bzw. 43 Prozent und in Hakkari 14 Prozent bzw. 32 Prozent. Unter dem Einfluss der staatlichen Repression, dem aufgezwungen Exil für tausende Menschen als Resultat des Kriegs- und Belagerungszustand für viele kurdische Städte und dem Fehlen der HDP als organisierte Kraft der Wahlebene – bei all diesen Umständen hat sich die Prozentzahl der kurdischen Stimmen in Richtung Erdogan verschoben. Aber das ist in keiner Weise Ausdruck der wirklichen, sozialen Dynamik hinter dem AKP- und dem „Ja“-Wahlergebnis.

„Es gibt immer Hoffnung“

Mit dem Referendum hat die de facto Diktatur der Türkei eine gesetzliche Grundlage erhalten. Aber hinter dem Vorhang des Sieges zeigen die Ergebnisse in Wirklichkeit, dass Erdogan die Unterstützung in der Bevölkerung entgleitet. Die unter der Oberfläche schlummernde Wut hat sich noch tiefer in die Gesellschaft gegraben. Das Referendum ist ohne Zweifel ein Nagel im Sarg der fragilen, bürgerlichen Demokratie des Landes. Doch eine Stimmung der Verzweiflung wäre der wirkliche Nagel für die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und Armen. Schon jetzt sehen wir Reaktionen auf den Straßen. In Gegenden wie Istanbul, Nordzypern und anderen Orten gab es spontane Demonstrationen noch am selben Abend des Referendums. Das ist ein ermutigendes Zeichen, dass eine Schicht der Gesellschaft den Übergang zu einer Diktatur nicht kampflos hinnehmen wird. Das ist die Saat, aus welcher massenhafter Widerstand gegen die Durchsetzung der neuen Verfassungsänderungen durch die Regierung erwachsen muss. Solch ein Widerstand muss sofort organisiert werden und auch die „Ja“-Wähler unter den Armen, Jugendlichen und ArbeiterInnen erreichen. Ihnen muss man erklären, dass diese Änderungen in keiner Weise bedeuten, dass sich ihre Lage verbessert; geschweige denn, dass das Bisschen, was sie vom vergangenen ökonomischen Wachstum abbekommen haben, gesichert wäre. Dieses Wachstum war die Hauptstütze für die sozialen Reserven der AKP. Ganz im Gegenteil: Die ökonomische Lage verschlechtert sich schnell und mit die Verstärkung autoritärer Maßnahmen soll dem Regime helfen, die wachsende Unzufriedenheit und potenzielle Explosionen des Klassenhasses niederzuschlagen.

In solch einer Phase ist die angeblich „sozialdemokratische“ Opposition der CHP keine wirkliche Alternative für die Massen. Obwohl diese Partei gegen Erdogan ist und für ein „Nein“ geworben hat, ist sie eine nationalistische Partei mit einem Wirtschaftsprogramm, das jenem der AKP sehr ähnlichen ist. Es basiert auf der Fortführung des Kapitalismus, also der ökonomischen Ausbeutung der Mehrheit. Der große Unterschied ist der, dass die CHP einen anderen Flügel der türkischen Bourgeoisie repräsentiert.

Die politische Polarisierung in der türkischen Gesellschaft zwischen AKP und CHP ist dem Anschein nach eine Lifestyle-Frage – konservativ oder säkular. Doch beide fußen auf dem herrschenden System und den gesellschaftlichen Strukturen. Eine vereinte ArbeiterInnenbewegung ist das einzige Gegenmittel zu diesen pro-kapitalistischen Parteien und zu Erdogans polarisierendem Gift. Was wir brauchen ist eine alternative Partei, für welche die HDP ein wichtiger Ausgangspunkt sein kann. Eine Partei, welche den Klassenkampf gegen den Weg in die Diktatur aufnimmt und stattdessen für gute Jobs und Lebensbedingungen, öffentliche Dienste, soziale Gerechtigkeit, die Rechte der KurdInnen und anderer Minderheiten und für ArbeiterInneneinheit und Sozialismus kämpft. Angesichts der aufziehenden Diktatur können wir unser Vertrauen nur in unsere eigene Kraft setzen.

http://www.sosyalistalternatif.com/

Frankreich: Linke Kandidaten legen zu

Die alte politische Elite ist diskreditiert – Jean-Luc Mélenchon wird immer stärker
Von Clare Doyle, Komitee für eine Arbeiterinternationale

Während die Präsidentschaftswahlen in Frankreich immer näher rücken, ist der Wahlausgang immer schwieriger vorherzusagen. Über 40 Prozent der Wahlberechtigten sind immer noch unentschlossen, wen sie wählen oder ob sie sich überhaupt an der Wahl beteiligen sollen. Eine tiefe Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung drückt sich darin aus, dass die Zustimmungsraten für linke und sozialistische KandidatInnen in den letzten Tagen drastisch zugenommen haben. Sie treten gegen jene KandidatInnen an, die an der Spitze der Gesellschaft stehen, ihr Leben im Luxus verbringen und dem Rest der Bevölkerung noch erzählen, dass man sich „mehr anstrengen“ soll.

Am stärksten hat bislang Jean-Luc Mélenchon von der Bewegung „France Insoumise“ („Das aufständische Frankreich“) hinzugewonnen. Mit seinem starken, gegen die Austerität und ihre Folgen gerichteten Wahlkampf haben sich seine Umfragewerte verdoppelt. Auch seine persönlichen Zustimmungswerte haben sich in den letzten beiden Märzwochen mehr als verdoppelt: von 19 Prozent auf nun 47 Prozent. Im Vergleich dazu kämpft Benoit Hamon einen aussichtslosen Kampf. Er ist der offizielle Kandidat der sozialdemokratischen, regierenden und sich selbst als „sozialistisch“ bezeichnenden „Parti Socialiste“ (PS), die seit Jahren an der Regierung beteiligt ist und einen unbeliebten und konzernfreundlichen Kurs gefahren hat.

Der französische Kapitalismus mit all seinen FürsprecherInnen und VertreterInnen hat keine Alternative zur Stagnation, der Erwerbslosigkeit oder den Kürzungen der Sozialleistungen mehr zu bieten. Stattdessen regiert und agiert die Regierung zunehmend autoritär. Die Attacke mit einem Mehlbeutel auf Francois Fillon, den Kandidaten der konservativen Partei „Les Républicains“, in Straßburg am vergangenen Donnerstag ist nur ein Hinweis auf die Frustration und die Missachtung gegen diejenigen, die für das Establishment stehen.

Am 4. April hat das zweite Fernsehduell dieses Wahlkampfes, an dem alle elf KandidatInnen teilgenommen haben, die Karten auf ziemlich drastische Weise neu gemischt. Indem er sich auf beeindruckende Weise dafür stark machte, den Bankiers und Großkonzernen Reichtum und Macht wegzunehmen, konnte Mélenchon seine Beliebtheitswerte weiter ausbauen. Philippe Poutou, der Kandidat der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA), ist Sohn eines Briefträgers und einer Hausfrau und selbst Fabrikarbeiter bei Ford. Er sorgte für wahre Aufregung, als er die anderen, wohl behüteten und korrupten PolitikerInnen anging. Sie würden sich die Taschen mit öffentlichen Geldern füllen, vor allem Francois Fillon und Marine Le Pen. Ferner sprach er vom völlig anderen Leben, das man führt, wenn man von einem Arbeitnehmerlohn leben muss und keine Immunität bei Strafverfolgung genießt.

Es sind noch zwei Wochen bis zum ersten Wahlgang am 23. April und Mélenchon werden aktuell 17 Prozent der Stimmen vorausgesagt. Fillon kommt demgegenüber auf 19 Prozent und könnte von Mélenchon noch überholt werden. Eine nach dem TV-Duell durchgeführte Umfrage ergab, dass Mélenchon 25 Prozent der sechs Millionen Menschen, die das Duell am Bildschirm verfolgt haben, überzeugt hat, ihm ihre Stimme zu geben. Im Vergleich dazu kommt die bisher auf Platz eins aller Umfragen liegende und für die extreme Rechte antretende Marine Le Pen auf lediglich elf Prozent Zustimmung unter den ZuschauerInnen.

Der Wahlkampf von Mélenchon, der Massenkundgebungen abhält und innovativ Gebrauch von den modernen Medien macht, verleiht der Wut der ArbeiterInnen und der jungen Leute in Frankreich eine Stimme gegen die verhätschelte, betrügerische Elite, die im Luxus lebt, während die Bevölkerungsmehrheit mit Austerität und Erwerbslosigkeit konfrontiert ist. Die britische Zeitung „The Daily Telegraph“ schreibt dazu am 6. April: „Die Parti Socialiste liegt auf dem Sterbebett und kann sich nicht mehr auf ihre alte Basis, die Arbeiterklasse, verlassen […] nach ihrem Bekenntnis zur keynesianistischen Reflation und einem Kahlschlag bei den Arbeitsplätzen“. (Dies erinnert an das, was mit der Regierung Mitterand von 1981 geschah, die bei ihrem Amtsantritt ernste Angriffe auf die Banken und Großkonzerne ausführte, nur um am Ende wieder ganz nach deren Pfeife zu tanzen.) Die Erwerbslosigkeit, von der 4,5 Millionen Menschen betroffen sind, liegt doppelt so hoch wie in anderen großen Staaten Europas. Bei den jungen Leuten liegt sie sogar bei 25 Prozent.

Ende März ist Hamon, der offizielle Kandidat der regierenden Sozialdemokraten von der „Parti Socialiste“, dann von seinem linken Kontrahenten Jean-Luc Mélenchon überholt worden. Dies geschah, nachdem die beiden hinsichtlich eines gemeinsamen Wahlkampfes zu keiner Einigung gekommen waren. 2008 hatte Mélenchon sein Mandat als Abgeordneter der PS niedergelegt und die Partei nach 35 Jahren Mitgliedschaft verlassen. Als Grund gab er den konzernfreundlichen Kurs der sozialdemokratischen „Parti Socialiste“ an. 2012 kandidierte er bei den Präsidentschaftswahlen und kam in der ersten Runde auf elf Prozent.

In den letzten Jahren hat Mélenchon versucht, zusammen mit der „Kommunistischen Partei Frankreichs“ (KPF), UmweltaktivistInnen und anderen Kräften eine „Linke Front“ zu formieren. Ein Hindernis dabei waren jedoch die Bündnisse der KPF, die diese auf kommunaler wie auch auf Landesebene mit der PS eingegangen ist. Mélenchon selbst ist unter ArbeiterInnen zwar beliebt und hat seine Wahlkampagne schon früh gestartet. Langsam war er hingegen, als es darum ging, eine reelle Alternative zu organisieren. Weder seine eigene „Partei der Linken“ („Parti de Gauche“) noch seine Bewegung „Das aufständische Frankreich“ hatten effektive Strukturen in Form von Ortsgruppen oder regelmäßigen Treffen vorzuweisen, in deren Rahmen über politische Ausrichtung, Aktionen und KandidatInnen hätte entschieden werden können.

Doch die Anziehungskraft, die dieser 65-Jährige mit seinen Reden von „einer Revolution der BürgerInnen“ erzielen konnte, hat dazu geführt, dass seine Organisation auf 300.000 Mitglieder angewachsen ist. Auf „YouTube“ hat er 260.000 AbonnentInnen (mehr als alle anderen KandidatInnen zusammen), und er schafft es, dass zehntausende von Menschen zu seinen Veranstaltungen pilgern. Dabei scheint es ganz egal zu sein, ob er persönlich oder nur als Hologramm auftritt! Am 19. Februar, dem Jahrestag der „Pariser Commune“ des Jahres 1871, beteiligten sich bis zu 110.000 Menschen, um mit ihm zusammen in Richtung Bastille zu marschieren.

Zehntausende Menschen sind zusammengekommen, um zu hören was er zur aktuellen Tagespolitik zu sagen hat. Das sind mehr Menschen als die anderen linken oder rechten KandidatInnen bei ihren Veranstaltungen zusammenbringen. Selbst Marine Le Pen, die einzige Kandidatin, von der bislang sicher angenommen wird, dass sie es in die zweite Runde schaffen wird, erfährt nicht so viel Zuspruch.

Das Programm von Mélenchon umfasst die Anhebung des Mindestlohns um 15 Prozent, eine Verringerung der Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden, sechswöchigen bezahlten Urlaub, die Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre und eine starke Steuerprogression, die bei Personen mit mehr als dem 20-Fachen des Durchschnittseinkommens bis auf 100 Prozent steigt. Er betrachtet die EU als „neoliberalen“ Block, da sie eine entsprechende Politik betreibt, und macht sich für einen Austritt aus der NATO stark. Obwohl er früher einmal Trotzkist war, spricht Mélenchon nicht (wie das CWI) von einem alternativen sozialistischen Europa. Er geht auch nicht so weit, sich für grundlegende Maßnahmen einzusetzen, die nötig sind, um mit den multinationalen Konzernen, den Banken und den Anteileignern ins Gericht zu gehen. Die Verstaatlichung der Banken und Monopole oder eine demokratisch-sozialistische Wirtschaftsplanung stehen nicht auf seiner Agenda. Doch seine Ideen und sein Enthusiasmus sind zweifellos der Grund für seine Popularität.

In einer aktuellen Meinungsumfrage wird Mélenchon als der Politiker bezeichnet, den sich die FranzösInnen am meisten wünschen, um „in Zukunft eine wichtige Rolle zu spielen“. Damit liegt er noch vor Emmanuel Macron und weit vor Marine Le Pen. Mit Ergebnissen von rund 25 Prozent werden beide bis dato am ehesten als die bezeichnet, die eine Chance haben, in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl zu kommen.

Die bisherigen Regierungsparteien der französischen Rechten und „Linken“ sind so sehr in Verruf geraten, dass es möglich ist, dass ihre Kandidaten nicht in die zweite Runde kommen und somit weder die konservative Partei „Les Républicains“ noch die PS den künftigen Präsidenten stellen wird. Das wäre das erste Mal seit Gründung der Fünften Republik durch Präsident De Gaulle im Jahre 1958. Die Implosion und der Bruch innerhalb der alten sozialdemokratischen Partei PS ist bereits in vollem Gange. Dazu ist es schon einmal (in der Nachkriegszeit) gekommen und es kann durchaus wieder geschehen. Aber auch bei der gaullistischen Rechten sind Zersetzungserscheinungen möglich. Die Internetseite des „National Review“ meint, dass „viele WählerInnen in der Stimmung sind, alles niederzureißen“. Dieser Gärungsprozess kann neue Möglichkeiten eröffnen, um den Aufbau einer wirklich sozialistischen Linken voranzutreiben.

Hintergrund

Im Frühjahr 2016 war Frankreich von einer Welle an Streiks und Massendemonstrationen erschüttert. Im April dieses Jahres befindet sich das Land nun in heller Aufregung, was die politische Ebene angeht. Hinter der Unbeständigkeit und Unvorhersehbarkeit der weiteren Entwicklungen steht eine angespannte soziale Lage.

Der Ausnahmezustand, der nach den schrecklichen Terroranschlägen verhängt worden war, ist weiterhin in Kraft. Zeitweilig geht damit eine provozierend starke Polizeipräsenz auf den Straßen einher. Im März folgten neue Unruhen in den sozial benachteiligten Vororten von Paris und andernorts. Was die oft nur kleinen aber erbittert geführten Streiks angeht, kommt das Land nicht zur Ruhe. Die Beschäftigten reagieren damit auf Attacken, die sich gegen Löhne und Arbeitsbedingungen richten, aber auch gegen Kürzungen im öffentlichen Dienst oder das selbstherrliche Vorgehen privilegierter Arbeitgeber. Und gegenwärtig erlebt Frankreich „ein Freudenfeuer der Eliten“, so die Beschreibung des Wirtschaftsmagazins „The Economist“.

Vor der ersten Wahlrunde scheint Marine Le Pen, die Kandidatin der extremen Rechten, sicher zu sein, auch die zweite Runde zu erreichen, die am 7. Mai stattfinden wird. Die meisten Umfragen deuten allerdings darauf hin, dass sie in diesem Fall nicht so viele Stimmen bekommen wird wie ihr Gegner – unabhängig davon, wer dann noch gegen sie im Rennen ist. Momentan ist unwahrscheinlich, dass dieser Kontrahent aus dem Lager der „traditionellen“ Linken oder von Seiten der rechts-konservativen Parteien kommen wird. Man geht davon aus, dass der „unabhängige“ Kandidat Emanuel Macron von den desillusionierten WählerInnen aus beiden Lagern profitieren wird. Was am Ende dieses turbulenten Wahlkampfs herauskommen wird, ist jedenfalls alles andere als ausgemacht. Natalie Nougayrede schrieb vor einem Monat in der britischen Zeitung „The Guardian“: „Eine niedrige Wahlbeteiligung verbunden mit einer zunehmenden politischen Polarisierung, weiteren Skandalen oder – noch schlimmer – gar mit Gewaltausbrüchen könnten dazu führen, dass Le Pen am Ende gewinnt.“

Die Märkte haben bereits damit begonnen auszurechnen, was ein Wahlsieg von Le Pen kosten würde. Zu ihren vielen ausländerfeindlichen, gegen Muslimas und Musleme, die EU und die Globalisierung gerichteten politischen Statements zählt auch ihr Bekenntnis, ein Referendum über die EU durchführen zu wollen. Damit will sie Kapital schlagen aus der ablehnenden öffentlichen Meinung gegenüber der neoliberalen Politik. Sie sagt, dass der Euro als Waffe gegen Länder wie Griechenland eingesetzt worden ist, um diese zur Umsetzung von Austeritätsprogrammen zu zwingen. Le Pen tritt dafür ein, den Euro zugunsten des Franc fallen zu lassen und eine Parallelwährung wie den ECU, den es in der Vergangenheit schon einmal gab, einzuführen. Dabei ist es keineswegs so, dass alle FN-WählerInnen diese Politik unterstützen. Schätzungen zu Folge sind sechzig Prozent dafür, und nur ein Fünftel aller Wahlberechtigten findet diese Vorschläge gut.

In der „Financial Times“ vom 21. März geht der Wirtschaftsjournalist Patrick Jenkins davon aus, dass ein Austritt Frankreichs aus dem Euro so gut wie sicher das Ende von Europas gemeinsamer Währung bedeuten würde. Er nennt Zahlen des Forschungsinstituts „Autonomous“, wonach den Banken Kosten in Höhe von 820 Milliarden US-Dollar entstehen würden. Das „entspräche ziemlich genau den Verlusten, die im Zuge der Sub-Prime-Krise 2008 in den USA gemacht worden sind“. Es käme demnach zu „einem erneuten Lehman-Effekt“ […] der eine weltweite Rezession so gut wie unausweichlich machen würde.“ Im selben Artikel wird zwar auch darauf verwiesen, dass ein Wahlerfolg von Le Pen unwahrscheinlich ist. Am Ende wird hingegen festgestellt, dass „traditionelle Meinungsumfragen heute kaum noch Relevanz haben.“ Und: „Als clever könnte sich am Ende erweisen, wer sich auf alle Eventualitäten vorbereitet hat.“

Le Pen hat sich oft damit gebrüstet, dass eine Stimme für sie eine Stimme gegen das Establishment sei. Damit nimmt sie Bezug auf die „überraschenden“ Wahlentscheide zum Brexit in Großbritannien und für Trump in den USA, die sie beide freudig begrüßt hat. (In der Öffentlichkeit vermittelt sie nicht den Eindruck, als habe das entgegen allen Erwartungen schlechte Abschneiden ihres rechtsextremen Kameraden Geert Wilders in den Niederlanden ihren Optimismus trüben können.) Sie vermittelt den Anschein, eher für die nationalen Interessen Frankreichs zu stehen als für die globalen, eher die französischen ArbeiterInnen zu unterstützen als die MigrantInnen und eher die kleinen Unternehmen als die abgehobene bürgerliche Elite des Landes.

Ihre Politik ist nicht offen faschistisch. Sie hat aber im Inland wie im Ausland Unterstützer, die ganz und gar zur Reaktion zu zählen sind. Mit ihrem Besuch bei Putin in Moskau hat sie gerade erst einem der rechtesten Politiker ihre Aufwartung gemacht und dabei zugesagt, sich für die Aufhebung der Sanktionen einzusetzen, die wegen des Krieges in der Ukraine und der Übernahme der Krim verhängt worden sind. (Das ist übrigens ein Punkt, den sie mit dem Kandidaten der konservativen Rechten, Francois Fillon, gemein hat).

Marine Le Pen hat einige der schlimmsten Eigenschaften abgelegt, die dem alten „Front National“ anhafteten. Das gilt selbst für den Namen der Partei. Im Wahlkampf tritt sie nur noch als „Marine“ auf und behauptet, „im Namen des Volkes“ zu kämpfen. Demgegenüber positioniert sich Marion Marechal-Le Pen, ihre Nichte und FN-Abgeordnete für das Département Vaucluse, entschieden gegen das Recht auf Abtreibung. Sie ist praktizierende Katholikin und übernimmt die Rolle des „Werkzeugs, mit dem man die Hardliner bei der Stange hält.“ („Financial Times“, 1. April 2017) Marine hat ihren eigenen think-tank eingerichtet, den sie „Die Horazier“ nennt. Dieser hat Pläne zur Übernahme sämtlicher Wahlbezirke ausgearbeitet, wozu auch eine Debatte gehört, welchen Armeeoffizieren man im Fall der Wahl von Le Pen zur Präsidentin und der Verkündung des Kriegsrechts trauen kann!

Die „Parti Socialiste“

Viele KandidatInnen, die in der ersten Wahlrunde eigentlich gegen Le Pen angetreten wären, haben sich bereits wieder zurückgezogen. Der derzeitige Präsident Francois Hollande hat sich noch nicht einmal bemüht, erneut anzutreten. Er hat von seinem Recht, ein weiteres Mal kandidieren zu können, gar nicht erst Gebrauch gemacht. Auch das ist in der Geschichte der Fünften Republik beispiellos. Seine Entscheidung kann niemanden überraschen. Schließlich kam er im Laufe seiner Amtszeit auf beispiellos schlechte Umfragewerte – einmal gar auf schmachvolle vier Prozent Zustimmung.

Auch die Partei von Hollande, die sogenannte „Parti Socialiste“, die in den letzten fünf Jahren an der Macht war, ist überaus unbeliebt. Sie läuft Gefahr, auseinander zu brechen und von der politischen Bildfläche zu verschwinden. Der Präsident und die Regierung haben in einer Zeitspanne die Amtsgeschäfte geführt, in der ein Wachstum verzeichnet wurde, das sich im Durchschnitt auf ein Prozent beziffern lässt. In dieser Zeit verringerte sich Anzahl an sicheren Arbeitsplätzen für junge Leute und es kam zu enormer sozialer Unzufriedenheit. Das ist das direkte Ergebnis ihrer neoliberalen und in hohem Maße konzernfreundlichen Politik. „Die politische Klasse ist gespalten und ihre Angst vor der Straße ist förmlich spürbar“, so Tony Barber in der „Financial Times“.

Nach der Massenbewegung gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts im vergangenen Jahr sind führende Köpfe der Partei, die darauf gehofft hatten, von der PS zum Präsidentschaftskandidaten nominiert zu werden, zu Gunsten des linkesten aller KandidatInnen abgestraft worden. Zu den Verlierern der PS-Vorwahlen zählte auch der ehemalige Premierminister Manuel Valls. Stattdessen wurde Benoit Hamon gekürt, der für kurze Zeit das Amt des Bildungsministers in der aktuellen Regierung inne hatte. Sein Programm greift zumindest die alltäglichen Probleme der arbeitenden und jungen Menschen auf, was die Sorge um den Arbeitsplatz, Löhne und Sozialausgaben angeht. Er spricht von Steuererhöhungen für Großkonzerne, die Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzen (vgl.: http://www.socialistworld.net/doc/7876).

Macron

Nur wenige Tage später verkündete einer der zurückgewiesenen Kandidaten, der bisherige Premierminister Manuel Valls, dass er die PS nicht im Wahlkampf unterstützen werde. Stattdessen wolle er zur Wahl seines alten „Weggefährten“ Emanuel Macron aufrufen, der als „unabhängiger“ Kandidat ins Rennen um das Präsidentenamt geht. Macron hat sich in einem Rechtsruck vor nicht einmal einem Jahr von der PS verabschiedet, um seine eigene Partei namens „En Marche!“ („Vorwärts!“) zu gründen. Unterdessen erklären immer mehr „Sozialisten“ ihre Unterstützung für ihn. Darunter ist auch der ehemalige Bürgermeister von Paris und der amtierende Bürgermeister von Lyon.

Emanuel Macron, der aus dem Bankensektor (Bankhaus Rothschild) kommt, steht für eine Senkung der Unternehmenssteuer um 25 Prozent. Mit 39 Jahren ist er der jüngste aller KandidatInnen, durch und durch als Vertreter des Neoliberalismus zu bezeichnen und ein zuverlässiger Fürsprecher der EU und ihrer Institutionen. Bei Wahlen ist er zuvor noch nie angetreten, von Hollande jedoch zum Wirtschaftsminister ernannt worden, um ein umfangreiches Kürzungsprogramm durchzusetzen. Im „Wirtschaftsprogramm“ seiner neuen Partei spricht er davon, den Haushalt um sechzig Millionen Euro verschlanken und vorab 120.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst entlassen zu wollen. Die mittlerweile vollkommen pro-kapitalistische „Parti Socialiste“ hat er verlassen wie man sonst nur aus einem Zug aussteigt, um auf den nächsten aufzuspringen. Damit zeigt er auf, wie weit sich seine alte Partei schon von der Idee des öffentlichen Eigentums und der geplanten Wirtschaftsabläufe verabschiedet hat, die früher einmal charakteristisch für sie gewesen ist.

„Les Républicains“

Auch die Vorwahlen der größten rechts-konservativen Kraft, die sich vor kurzem in „Les Républicains“ umbenannt hat, brachten ein überraschendes Ergebnis. Die beiden wichtigsten Kontrahenten, Alain Juppé und Nicolas Sarkozy, wurden vom „Außenseiter“ Francois Fillon auf die hinteren Plätze verwiesen. Als Politiker, der fünf Jahre lang das Amt des Premierministers inne hatte, trägt er Luxusarmbanduhren und Anzüge, die 13.000 Euro kosten. Von Wladimir Putin bekam er eine Flasche „Chateau Mouton Rothschild“ aus dem Jahr 1931 geschenkt. Das ist das Geburtsjahr seiner Mutter. Für alle anderen Menschen im Land will er ein Programm durchsetzen, das als „Schocktherapie“ zu bezeichnen ist. Es geht darin um Austerität und Deregulierung, das Schleifen des Arbeitsrechts, eine Anhebung des Renteneintrittsalters und die „Reform“ des angesehenen französischen Sozialstaats. Er gehört zu den Fürsprechern des „freien Marktes“ an und beruft sich auf das Erbe von Margaret Thatcher in Großbritannien.

Fillon steht für die traditionelle Rechte und ist eine Zeit lang als derjenige Kandidat gehandelt worden, der die rechtsextreme Marine Le Pen in der zweiten Wahlrunde würde schlagen können. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ weist mittlerweile jedoch darauf hin, dass er seit Ende letzten Jahres in den Umfragen immer weiter zurückfällt.

Und dann wurden die verheerenden Enthüllungen in der Satirezeitung „Le Canard Enchaine“ über große Summen in Höhe von 700.000 Euro veröffentlicht, die Fillon in betrügerischer Absicht an seine Ehefrau überwiesen hat, die als seine parlamentarische Assistentin fungiert haben soll. Ähnliche Geschichten kursierten bald auch im Zusammenhang mit seinen Kindern und schnell war die Rede von „Penelopegate“. (Dies geschah kurze Zeit nachdem Präsident Hollande den Rücktritt seines Innenministers, Bruno Le Roux, bekannt geben musste, der seinen Töchtern in den Schulferien ganz ähnliche Zahlungen hatte zukommen lassen.) Dann kam die Nachricht, dass Fillon ganze 50.000 Euro für die „Vermittlung“ eines Treffens zwischen Wladimir Putin und einem Milliardär aus dem Libanon kassiert hat. Es ging um Öl-Geschäfte. Fillons Stern sinkt.

Die Patrizierfamilien der französischen Rechten hatten schon Skrupel, Fillon zu unterstützen. Doch jetzt verlassen sie scharenweise sein Lager. Aber auch das kann ihn nicht aus der Fassung bringen. Er bleibt dabei, dass am 23. April Millionen von WählerInnen (so wörtlich) für ihn stimmen werden. Sie würden momentan nur noch zögern, die Karten auf den Tisch zu legen. „Das verlorene Schaf wird in die Herde zurückkehren“, so stand es in der „Le Monde“ vom 1. April 2017 zu lesen. Es handelt sich hierbei um das Pfeifen im Walde, nur, um die eigene Moral aufrecht zu erhalten. Viele, die bei einem anderen Kandidaten für „Les Républicains“ gestimmt hätten, haben offen erklärt, in der ersten Runde für den Kandidaten der Mitte, Macron, stimmen zu wollen. Das deutet erneut darauf hin, was für ein zuverlässiger Kandidat dieser angeblich „unabhängige“ ehemalige „Sozialist“ Macron in Wirklichkeit für die kapitalistische Klasse ist.

Das Dilemma mit den zwei Wahlrunden

Vor ein paar Monaten bestand das Dilemma für ArbeiterInnen und junge Leute, die wütend auf die PS sind, weniger darin, sich in der ersten Runde für einen der verschiedenen linken Kandidaten entscheiden zu müssen. Die große Frage war, ob man sich für den Fall, dass die regierende PS abgestraft gar nicht erst in die zweite Runde käme, würde überwinden können, am Ende für einen „traditionellen“ Vertreter der Arbeitgeber von der Partei „Les Républicains“ zu entscheiden. Schließlich sah es sehr lange danach aus, dass man nur so die Machtübernahme durch die Rechtsextremen würde verhindern können. Jetzt, da alles danach aussieht, dass man sich in der zweiten Runde für Emmanuel Macron entscheiden muss, um Le Pen zu stoppen, werden viele, die ihn als Emporkömmling mit einer Negativbilanz an arbeitnehmerfeindlichen Entscheidungen betrachten, nicht Willens sein, ihm ihre Stimme zu geben.

Die „Financial Times“ schrieb am 3. April: „Letzte Meinungsumfragen zeigen, dass Millionen von StammwählerInnen der traditionellen Rechten und Linken in Frankreich bereit sind, in der zweiten Runde für Frau Le Pen zu stimmen, wenn ihr zuvor favorisierter Kandidat ausscheiden sollte.“ Die Zeitung fügt jedoch hinzu: „Die Abneigung gegenüber den etablierten Parteien ist aber derart groß, dass sich sogar noch mehr Menschen für eine Stimmenthaltung entscheiden könnten.“ Junge Leute und ArbeitnehmerInnen, die die Haltung von Le Pen gegenüber MigrantInnen, Muslima und Muslime verachten, werden hingegen noch weiter gehen. Sie werden ihre Wut zum Ausdruck bringen, indem sie noch vor Beginn der zweiten Runde auf die Straße gehen. „Gauche Révolutionnaire“ (GR), die Sektion des CWI in Frankreich, würde eine derartige Entwicklung sehr begrüßen und wird sich an solchen Protesten beteiligen. Wir werden für den Aufbau einer Massenbewegung argumentieren, die sich durch Kampfbereitschaft gegen sämtliche Vertreter des kapitalistischen Systems auszeichnen muss.

Was konkret die Wahl angeht, empfiehlt GR, in der ersten Runde für Mélenchon zu stimmen und sich in der zweiten Runde der Stimmabgabe zu enthalten (es sei denn, Mélenchon schafft es entgegen aller Vorhersagen bis in die letzte Runde). Wir können zwar nachvollziehen, dass viele ArbeiterInnen und junge Leute mit zugehaltener Nase für jeden Kandidaten stimmen werden, der in der zweiten Runde gegen Marine Le Pen übrig bleibt.

GR geht davon aus, dass die wichtigere Aufgabe nach den Wahlen so oder so darin besteht, eine neue sozialistische Kraft mit Massencharakter aufzubauen. Das macht es nötig, diejenigen anzusprechen, die ihre Stimme in der ersten Runde Mélenchon oder einem anderen linken Kandidaten gegeben und die sich in den letzten Jahren an den sozialen Kämpfen beteiligt haben. Mit dem Ansatz, den wir vertreten, können wir hingegen auch diejenigen ArbeitnehmerInnen und jungen Leute ansprechen, die sich für keinen der beiden übrigbleibenden Kandidaten entscheiden wollen. Angesichts der ganzen Manipulationsversuche von Seiten der Reichen und Mächtigen, durch die sich das heutige politische System „auszeichnet“, betrachten sie es schon als vollkommen belanglos, sich überhaupt noch an Wahlen zu beteiligen.

Der wohl tragischste Aspekt der momentanen Situation besteht darin, dass sich eine breite Schicht an jungen Leuten aktiv am Wahlkampf von Le Pen beteiligt. Unter den 18- bis 25-Jährigen ist der „Front National“ zur beliebtesten Partei geworden. Das ist die Altersgruppe, die sich traditionell nicht so stark an Wahlen beteiligt wie ältere Schichten in Frankreich. Diese jungen Menschen gelten als nicht besonders gut informiert, was das Programm des FN angeht. Was sie wollen, ist eine Stimme gegen das System abzugeben.

Linke wie rechte Populisten erwecken den Eindruck, gegen die Elite zu stehen. Doch der FN macht diesen Leuten gegenüber den Eindruck, entschlossener vorzugehen als jede andere Partei, wenn es darum geht, zu radikalem Wandel zu kommen und der Bevölkerung in der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas ein besseres Leben zu verschaffen. Allein diese Feststellung ist ein Urteil gegen alle anderen Parteien der sogenannten politischen Linken, die darin gescheitert ist, diese Leute mit der Idee vom sozialistischen Wandel zu inspirieren.

Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2002 sind die Parteien, die links von der pro-kapitalistischen „Parti Socialiste“ standen, zusammen auf fast vier Millionen Stimmen gekommen. Beinahe drei Millionen haben für trotzkistische Kandidaten gestimmt. Knapp eine Million entschied sich für die „Kommunistische Partei“. Und sogar noch im 2007 kamen diese Kräfte zusammengenommen auf beinahe drei Millionen Stimmen. Die Möglichkeiten für TrotzkistInnen, eine neue Partei zu gründen, die der Arbeitnehmerschaft ein klares antikapitalistisches Programm anbietet, sind jedoch vertan worden. Was die Woge der Unterstützung angeht, die Mélenchon mit seinem Programm zuteil wird, ist es nicht unmöglich, diesen Zuspruch in eine wirklich sozialistische Bewegung münden zu lassen, die viele der ArbeiterInnen und jungen Leute ansprechen kann, welche sich zeitweilig der extremen Rechten zugewandt haben, um gegen das System zu rebellieren.

Parlamentswahlen

Nach den Präsidentschaftswahlen muss die Frage beantwortet werden, wie das Parlament und die Regierung zusammengesetzt sein sollen, mit denen das neue Staatsoberhaupt Frankreichs zusammenarbeiten wird. Über die Sitzverteilung in der Nationalversammlung werden die Wahlen entscheiden, die am 11. und 18. Juni dieses Jahres anstehen.

Ein Sieg Macrons bei den Präsidentschaftswahlen ist zum jetzigen Zeitpunkt immer noch am wahrscheinlichsten. Das wird der unzufriedenen französischen Arbeiterklasse aber keine neuen Spielräume verschaffen. Für seine noch in den Kinderschuhen steckende Partei „En Marche!“, die bisher keine Abgeordneten hat, wird Macron im Parlament keine Mehrheit bekommen. Das wird ihn aber nicht daran hindern, parteiübergreifende Allianzen zu schmieden, um sein Programm des „milden Neoliberalismus“ durchzubekommen.

Auch Marine Le Pen sagt, sie sei sicher, dass ihre Partei, die bisher mit nur zwei Abgeordneten im Parlament vertreten ist und vor Ort einige gewählte RepräsentantInnen hat, in allen der 577 Wahlbezirke mit eigenen KandidatInnen bei den Parlamentswahlen dabei sein wird. Ihr „Front National“ (FN) hat aber nicht die finanziellen Mittel, um gleich zwei Wahlkämpfe auf die Beine stellen zu können. (Womöglich müssen sie erneut bei einer russischen Bank um Hilfe bitten!)

Gerade in jüngerer Zeit hat der FN mehr politische Erfolge vorzuweisen, was vor allem für Frankreichs „Rost-Grütel“ im Nordosten des Landes gilt. Aber auch in den südlichen Landesteilen hat man stärkere Unterstützung. Dennoch wäre es ein harter Weg, wollte Le Pen im eher unwahrscheinlichen Fall ihrer Wahl zur neuen Präsidentin Frankreichs irgendeine Form von arbeitsfähiger Mehrheit mit anderen Kräften im Parlament zustande bekommen. Abgesehen davon hat sie versprochen, dass sie wieder zurücktreten und an anderer Stelle weiterkämpfen wird, wenn ihr geplantes Referendum über Europa, dass sie innerhalb von sechs Wochen nach ihrer vermeindlichen Wahl durchführen will, nicht zum Austritt aus der EU führt.

Aufbau einer Bewegung des sozialistischen Kampfes

Die aktuell wichtigste Aufgabe besteht in Frankreich genau wie in so vielen anderen Ländern Europas darin, eine neue sozialistische Partei für ArbeiterInnen und die jungen Leute aufzubauen. „Gauche Revolutionnaire“ erklärt in ihrer Zeitung „L’Égalité“ („Gleichheit“) die notwendigen Aspekte, die ein sozialistisches Programm umfassen muss, und erneuert darin immer wieder den Vorschlag, dass Mélenchons Bewegung „France Insoumise“ sich entsprechend ausrichtet. Ebenso wird detailliert erklärt, wie „Das aufständische Frankreich“ vorgehen muss, um eine Massenpartei der Arbeiterklasse aufzubauen.

In den bevorstehenden Wochen wird es in der politischen Landschaft Frankreichs zu weiteren Erschütterungen kommen. Weil sich die politische wie auch die ökonomische Krise weltweit weiter zuspitzt, wird die schon legendäre Kampfbereitschaft der französischen Arbeiterklasse weltweit ein starkes Signal setzen und auf politischer Ebene die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Was die sozialistische Veränderung angeht, kann dies wegweisenden Charakter bekommen.

Der Artikel erschien zuerst am 8. April auf socialistworld.net.

 

Erdoğan kann nicht demokratisch

Türkei: Die Lage wird sich weiter verschärfen
von Ismail Okay, Ankara

In den letzten zwei Jahren wurde die Türkei von Unterdrückung, Repressionen, Terrorismus und Chaos beherrscht. Zeitungen, Verbände, Verlage wurden dicht gemacht; Journalisten, Akademiker, Beamte suspendiert, entlassen und verhaftet; Streiks wurden verboten. Es herrscht Angst, weil man nicht weiß, wer als nächster dran sein wird. So ist das Land zu einem angespannten und düsteren Ort geworden.

Die politische Krise wird nach dem Verfassungsreferendum am 16. April eine neue Stufe erreichen. Denn Hintergrund der Volksabstimmung ist einerseits die nahende Wirtschaftskrise, die allmählich spürbar wird und direkte Auswirkungen auf das Leben von Millionen Menschen aus der Arbeiterklasse haben wird, andererseits die imperiale und anti-kurdische Politik des Erdoğan-Regimes in Syrien, die das Land immer mehr in den Kriegssumpf geraten lässt. Erdoğans Regime verliert tatsächlich seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 an Unterstützung und kann sich nur durch Nationalismus, Repressionen, den Abbau demokratischer Rechte und verschiedene taktische Manöver an der Macht halten. Der Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch im Juli 2016 ausgerufen wurde, ist gerade eine Voraussetzung zur Durchsetzung seiner Pläne.

Die AKP-Regierung verliert auch ihre Unterstützung in der kurdischen Region, aufgrund ihrer nationalistischen Haltung und der Rückkehr zu militärischen Aktionen gegen die KurdInnen.

Aber Erdoğan hat die Möglichkeit, alle Mittel des Staates in seinem Interesse einzusetzen. Hinzu kommt. dass er systematisch und bewusst nach dem Motto „alle sind gegen uns“ eine Stimmung von Paranoia zu schaffen versucht. Aktuelle Auseinandersetzungen, wie die mit den Regierungen in den Niederlanden oder Deutschland sollen dazu dienen, sich in eine Opferrolle zu begeben und mittels Nationalismus Unterstützung für die Abstimmung bei dem kommenden Referendum zu bekommen. Das treibt Erdoğan mit hetzerischer Wortwahl auf die Spitze.

Erdoğan will Macht konzentrieren

Das Referendum-Paket, dessen Abstimmung am 16. April stattfinden soll, ist das einzige Mittel, mit dem er seine 15-jährigen Macht aufrecht erhalten kann – denn auf demokratischer Basis ist das kaum vorstellbar. Deshalb soll die Verfassung in 18 kritischen Punkten geändert werden, um eine diktatorische Herrschaft zu ermöglichen.

Im Falle einer Verfassungsänderung würden Exekutive, Judikative und Legislative in den Händen einer einzigen Person konzentriert. Mit anderen Worten: der Präsident wird sowohl die Regierung, das Gericht, der Richter, der Staatsanwalt als auch das Parlament sein. Wenn der Präsident es will, darf er das Parlament auflösen, was er als Erpressungsinstrument gegen die Abgeordneten einsetzen kann. Auf der anderen Seite aber wird das Parlament sowieso seine Funktion de facto verlieren. Die MinisterInnen oder VizepräsidentInnen können außerhalb des Parlaments ernannt werden. In diesem Fall kann der Präsident – wie im Fall des Präsidenten der Republik Aserbaidschan, der seine Frau als Vizepräsident ernannt hatte – seine Frau, Tochter oder Sohn als VizepräsidentIn und MinisterIn benennen. Sowohl der Präsident als auch VizepräsidentInnen und MinisterInnen können nur vor Gericht gestellt werden, wenn 400 von den 600 Abgeordneten des Parlaments dem zustimmen. Aber auch wenn das geschehen sollte, was einem Wunder gleich käme, wird kein Richter, der vom Präsidenten ernannt wurde, diesen verurteilen.

Tiefe politische Krise

Diese Entwicklungen sind Ausdruck einer tiefen politischen Krise, die die Türkei seit Jahren beherrscht. Nach der Wahlniederlage von Erdoğan im Juni 2015 war keine bürgerliche Partei im Stande eine Regierung zu bilden. So konnte die AKP bei den nächsten Wahlen nach sechs Monaten wieder die Mehrheit im Parlament erlangen. Aber die politische Krise blieb weiterhin bestehen. Der Putschversuch vom Juli 2016 eröffnete Erdoğan und der AKP neue Möglichkeiten, ihre Macht zu konsolidieren, in dem Erdoğan eine weitgehenden Kontrolle über den Staatsapparat erlangte. Aus diesem Grund, wird er nicht zögern, mit allen Mitteln zu verhindern, dass HAYIR (Nein) bei dem Referendum gewinnt.

Aber: Ein Sieg von Erdoğan und Co. ist längst nicht sicher. Im Gegenteil, trotz all der Repressionen, der Verhaftungen und Bedrohungen ist eine mehrheitliche Ablehnung der Verfassungsänderungen möglich.

Egal, wie das Referendum ausgeht, sind Neuwahlen wahrscheinlich. Ein Sieg von HAYIR wäre ein großer Schlag für das Regime, und das kann die Opposition ermutigen die Regierung zu Neuwahlen zu zwingen.

Im Falle eines Sieges für Erdoğan wird er die Regierung zu Neuwahlen zwingen, um als Präsident schnell wie möglich zu seiner neuen Macht zu gelangen. Denn diese neuen Gesetzesänderungen werden erst mit der nächsten Wahl gültig. Doch unabhängig vom Ergebnis des Referendums, wird immer weiteren Teilen der Gesellschaft klar, welchen verrotteten Charakter dieses Regime hat. Es geht jedoch nicht nur darum, wie und wann es zu Fall kommt – noch wichtiger ist, ob und wie eine linke Massenkraft entstehen kann, die eine sozialistische Alternative zur diesem Regime auf zeigen kann.

 

Irland: Staat will „Jobstown Not Guilty“ mundtot machen

Historische „Assembly for Justice“ (dt: Versammlung für Gerechtigkeit) trotzt den Versuchen, Proteste zum Schweigen zu bringen
von Danny Byrne, Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI)

Am 29. März vollzog der irische Staat eine drastische Wende hin zu einer autoritären Offensive. Diese Offensive versucht Widerstand zu kriminalisieren. Es geht insbesondere um den symbolischen Protest in Jobstown gegen Wassergebühren und Austerität, welcher das Auto der damaligen Vize-Premierministerin Joan Burton für kurze Zeit blockierte, als diese 2014 das Arbeiterviertel Jobstown in Dublin besuchte. Für ihre Teilnahme an diesem Protest wird 18 Menschen die absurde Anschuldigung der „Freiheitsberaubung“ angedichtet. Unter ihnen befindet sich auch der Parlamentsabgeordnete der linken „Solidarity“ (ehemals Anti-Austerity-Alliance) und Socialist Party (Schwesterorganisation der SLP in Irland) Mitglied Paul Murphy, sowie weitere Mitglieder der Socialist Party. Der Prozess soll am 24. April beginnen und kann bei vollem Strafmaß lebenslange Haft nach sich ziehen.

Die Kampagne Jobstown Not Guilty gründete sich als Antwort auf diesen Skandal. Sie fordert die Anschuldigungen fallenzulassen und organisiert Öffentlichkeitsarbeit, um die Wahrheit über die Hintergründe des Jobstown-Protests und die Unschuld der Angeklagten zu verteidigen.

Die Kampagne hat durch Aufklärungsflugblätter umfassend Solidarität organisiert und mobilisierte für eine Massenversammlung, eine „Versammlung für Gerechtigkeit“, in Dublin am 1. April. Die irische Arbeiterklasse antwortete mit Empörung auf diesen krassen Angriff auf das Recht auf Protest und auf die Kämpfe gegen die Wassergebühren und die Austerität. Unterstützung für die Kampagne und die Angeklagten ist weit verbreitet.

Staat schlägt aus Angst um sich – doch wird zurückgedrängt

Die Kampagne, sowie die dahinter steckende Gefahr von Aktionen und Radikalisierung der Arbeiterklasse, verkörpert einen Albtraum für das Establishment. Jenes hatte gehofft, die Beschuldigten kurz und schmerzlos vor die Gerichte zu zerren und dann (so zumindest die Hoffnung) direkt weiter ins Gefängnis zu schicken.

Doch als die Dynamik an Fahrt aufgenommen und hunderte Plakate in ganz Dublin die „Versammlung für Gerechtigkeit“ beworben hatten, schlugen sie aus Angst wild um sich und versuchten verzweifelt, jene die sie wegsperren wollten, mundtot zu machen.

Am 29. März berief die „Direktorin der öffentlichen Strafverfolgung“ (DPP – Beamte, die in Irland für alle strafrechtlichen Verfahren verantwortlich ist; Anm. d. Ü.) die Angeklagten vor Gericht ein – mit einer Vorankündigung von 24 Stunden. Sie behauptete, dass die Pläne und Aktivitäten der Jobstown Not Guilty-Kampagne die Integrität des Gerichts verletzen würden und versuchte, die Kautionsauflagen der Angeklagten auszuweiten, indem sie ihnen die Teilnahme an der Kampagne und an Protestveranstaltungen verweigern und sie sogar vom öffentlichen Reden über den Fall (oder Kommentieren in sozialen Medien) abhalten wollten. Damit wollte sie verhindern, dass die Beschuldigten die öffentliche Wahrnehmung dieses historischen Angriffs auf das Recht auf Protest steigern.

Die DPP forderte, dass die Angeklagten diese Einschränkungen befolgen sollten – andernfalls drohe ihnen sofortige Haft. Somit würden sie die gesamte Zeit bis zum Prozess verlieren, sowie die Zeit während des Prozesses selbst, welcher voraussichtlich mindestens sechs Wochen beanspruchen wird. Den Beschuldigten ein solches Ultimatum mit einer Vorankündigung von 24 Stunden zu geben, war offensichtlich ein Versuch sie durch Schikane zum Aufgeben zu bewegen.

Doch die Angeklagten zeigten beeindruckende Entschlossenheit und wiesen daraufhin, dass solche drakonischen Bedingungen vollkommen inakzeptabel seien. Sie bekräftigten, dass sie diese Kautionsauflagen nicht annehmen würden und dass sie bereit sind ins Gefängnis zu gehen, um das Recht auf Protest und ihre Unschuld gegen die Scheinanschuldigungen zu verteidigen. Die Kampagne wechselte in den fünften Gang. Die vielen Menschen, die erfuhren was gerade passiert, reagierten mit Schock, Fassungslosigkeit und Entrüstung.

Das war ein Versuch, die Jobstown Not Guilty-Kampagne zu eliminieren, die „Versammlung für Gerechtigkeit“ zu sabotieren und die Effektivität der Öffentlichkeitsarbeit zu untergraben. Jedoch ging der Schuss für das Establishment auf jede erdenkliche Art nach hinten los.

Der Parlamentsabgeordnete Paul Murphy sagte (am 30. März, also vor der „Versammlung für Gerechtigkeit): „Wir antworteten auf den neuesten Angriff auf das Recht auf Protest in der Form, wie wir das immer tun – indem wir dieses Recht ausüben. Das Resultat dessen war, dass die DPP den Antrag auf Ausweitung der Kautionsauflagen fallen gelassen hat. Stattdessen wurde uns eine eingeschränkte Verpflichtung auferlegt – obwohl wir morgen an der Versammlung für Gerechtigkeit teilnehmen und sprechen werden, werden wir den Prozess nicht erwähnen. Andere werden über unsere Kampagne gegen den Angriff auf das Recht auf Protest sprechen. Sobald die Versammlung beendet ist, steht es uns frei den Prozess wiederzuerwähnen, solange wir die Rechtsprechung nicht behindern, was auch nie unsere Absicht war. Wir werden uns weiter aktiv in die Jobstown Not Guilty-Kampagne und die Öffentlichkeitsarbeit einbringen.“

Das bedeutet, dass der Staat zumindest kurzzeitig in den 48 Stunden nach dem Antrag der DPP einen flüchtigen Eindruck jener massenhaften Empörung bekommen hat, die ein solcher Schritt nach sich gezogen hätte. Davon ausgehend ist er von dem Versuch, diese drakonischen neuen Bedingungen durchzusetzen, zurückgewichen. Alles was sie erreicht haben, war, dass sie nur noch klarer die undemokratische und drakonische Natur dieses Falls und ihrer Absichten gezeigt haben.

Assembly for Justice – eine historisches Zeugnis des Arbeiterwiderstands

Eine oder auch zwei Tränen sind in den Korridoren der Macht sicherlich geflossen als die Bilder und Videos aus der bekannten, gewerkschaftsnahen „Liberty Hall“ in Dublin veröffentlicht wurden. Am Samstag, den 1. April versammelten sich über 700 Menschen und zeigten eine historische Darbietung von Widerstand und Kampfgeist.

Die Veranstaltung begann damit, dass sich die Beschuldigten – mit Klebeband geknebelt – auf der Bühne aufreihten. Dieses Klebeband rissen sie ab und warfen es unter donnerndem Applaus und begeisterten Rufen beiseite. Die Veranstaltung war elektrisierend – ein massenhafter Ausbruch von Wut, Solidarität und Entschlossenheit unter solider Teilnahme aus der Arbeiterklasse. Prominente aus Medien, Kultur und Sport standen zusammen mit GewerkschafterInnen, MieteraktivistInnen und SozialistInnen auf der Bühne. Paddy Hill von den berühmten Birmingham 6, welcher tatsächlich für 16 Jahre durch den britischen Staat seiner Freiheit beraubt wurde, und Paul Murphy stachen durch besonders mitreißende Beiträge aus der dreistündigen Versammlung heraus, welche durchgängig von Ovationen unterbrochen wurde. Sie spiegelte das Zusammenkommen von verschiedenen Adern des Widerstands, Arbeitercommunities und ihren Kämpfen. Sie war sich der vereinigenden und überragenden Bedeutung dieses historischen Kampfes vollkommen bewusst.

Etwas faul im Staate?

Der einschneidende Schritt der letzten Woche kam von einem staatlichen Establishment, welches in eine Krise verwickelt ist, die ihre Autorität und Glaubwürdigkeit massiv untergräbt. In den letzten Wochen und Monaten waren die Schlagzeilen voll von Geschichten über Korruption und Vetternwirtschaft an der Spitze der Polizei – wobei besonders Chief Commissioner Nóirín O’Sullivan in der Schusslinie stand.

Das Offensichtliche, welches Teil all dieser Krisen ist, war dennoch Jobstown. Dieselbe Polizei-Commissioner hat sich direkt in den Fall eingemischt und ein Team von vier Polizisten aufgestellt, welches für Monate rund um die Uhr versucht hat, den Jobstown-Protest zu kriminalisieren. Sie haben eine Spionage-Operation gestartet (Operation Mizen, unter der Führung des Ehemanns des Commissioner), welche versuchte „im Dreck zu wühlen“ und Paul Murphy und anderen TeilnehmerInnen des Protests und der Anti-Wassergebühren-Bewegung etwas anzuhängen. Millionen Euros an Steuergeldern wurden ausgegeben, um 18 ArbeiterInnen aus Jobstown und anderen nachzustellen.

Die Polizeihierarchie ließ dann die Nachricht durchsickern, dass die Protestierenden der Freiheitsberaubung beschuldigt werden, bevor diese Beschuldigung überhaupt die Angeklagten erreichte!

Das alles ist offensichtlich ein abgekartetes Spiel. Die Angeklagten sind Opfer einer undurchsichtigen Staatsmaschinerie, welche in Skandale verwickelt ist und das bisschen Respekt und Legitimität noch verliert, welche sie unter ArbeiterInnen und Jugendlichen hat. Auf der Versammlung für Gerechtigkeit bekam Paul Murphy eine kräftiges Echo, als er über die Ansicht der Socialist Party sprach, dass eine wahrhaft demokratische, gemeindebasierte, alternative Polizei eine immer dringendere Notwendigkeit wird. Jobstown Not Guilty hat durch diesen Kampf das Potenzial hervorgerufen, grundlegend die wahre Natur des repressiven, irischen Staatsapparats den tausenden ArbeiterInnen und Jugendlichen zu offenbaren.

Neue Phase sozialer Konflikte

Die staatliche Offensive auf das Recht auf Protest und sich zu organisieren findet zu einer Zeit statt, in der der Kampf wichtiger denn je wird, da sich eine neue Phase von sozialen und gewerkschaftlichen Konflikten in Irland eröffnet. Am 31. März – dem Tag, an dem die Jobstown-Beschuldigten vor Gericht den letzten Skandal anfochten – befand sich das Land im Griff eines wilden Generalstreiks des Transportwesen. Zug- und BusarbeiterInnen legten im ganzen Land die Arbeit aus Solidarität nieder und weigerten sich, die Streikposten der Bus Eireann-ArbeiterInnen zu durchbrechen. Diese befinden sich seit über zehn Tagen nun im uneingeschränkten Ausstand. Das ist Teil der Wiederbelebung der Arbeitskämpfe. ArbeiterInnen im Transport- und Bildungswesen, sowie im Einzelhandel und anderen Sektoren versuchen mit immer kämpferischeren Methoden den Kampf gegen die chronische Zurückhaltung bei Löhnen aufzunehmen.

Wenn das Establishment in diesem Prozess gewinnt und friedlichen Protest als „Freiheitsberaubung“ brandmarkt, würden auch solche Aktionen leichter in einer ähnlichen Art und Weise so eingestuft werden. Das Recht, Streikposten aufzustellen, oder lediglich durch eine Stadt zu demonstrieren und den Verkehr zu verzögern, sind in Gefahr.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der Bedeutung dieses Kampfes für die breitere Gewerkschaftsbewegung, lief eine Delegation der uniformierten, streikenden BusarbeiterInnen zur Versammlung für Gerechtigkeit und wurden mit riesigem Applaus empfangen. Ein führender Aktivist der NBRU (National Bus and Rail Union, dt: Gewerkschaft für Bus und Bahn und im Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzung) sprach zur Versammlung, wie auch der Vorsitzende der UNITE-Gewerkschaft in Irland, Jimmy Kelly.

Ein entscheidender Kampf

Dies ist nur der Anfang der Schlacht. Sie kann eine entscheidende für den irischen Klassenkampf werden. Die Socialist Party, als Teil von Solidarity – The Left Alternative, steht im Zentrum sehr bedeutsamer Ereignisse, welche einen Wendepunkt für die Entwicklung einer neuen, kämpfenden Massenkraft der sozialistischen Linken darstellen können. Unsere sozialistische Vision der revolutionären Veränderung war ein Faden, welcher sich durch viele der Diskussionen vom Samstag spann. Er kann in den kommenden Monaten die Ohren vieler Tausender mehr erreichen.

Wir setzen uns dafür ein, die Kämpfe, Forderungen und Bedürfnisse von Jobstown Not Guilty, der massenhaften Frauenbewegung für Abtreibungsrechte und der anwachsenden Welle von Arbeitskämpfen zu einem politischen Kampf zusammenzubringen, welcher das verfallende Establishment der korrupten und rückständigen irischen, herrschenden Klasse durch eine echte, sozialistische Demokratie ersetzt.

Die Arbeiterklasse und Jugendbewegung in Irland und darüber hinaus sollte Jobstown würdigen – eine kleine, mutige, kämpferische und entschlossene Arbeitergemeinde. Ihr Zusammenhalt mit den Angeklagten und ihr Trotzen gegen die Verunglimpfung, Repression und Einschüchterung verdient Achtung und Solidarität von ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen, Jugendlichen und SozialistInnen aus aller Welt.

Dieser Artikel erschien zuerst am 04. April 2017 in englischer Sprache auf www.socialistworld.net

 

Syrien: Nein zu Trumps Angriff!

Raketenangriff verschärft den Syrienkonflikt und befeuert die Spannungen zwischen den Weltmächten
Von Niall Mulholland

Die Entscheidung von US-Präsident Trump, die Shayrat Luftwaffenbasis in Syrien anzugreifen, verschärft den langjährigen Konflikt in Syrien und befeuert in gefährlicher Weise die Spannungen der USA nicht nur mit Russland und dem Iran, sondern auch mit China und Nordkorea. Der Angriff wird die Rivalität zwischen sunnitisch und schiitisch geprägten Regimen im Nahen Osten erheblich vergrößern.

Trump behauptet, der Angriff mit Marschflugkörpern wurde „auf jenen Flughafen in Syrien, von dem der Chemieangriff ausging“ ausgeführt. Dabei bezieht er sich auf Khan Sheikhun [eine von Rebellen gehaltene Stadt in der syrischen Provinz Idlib, A.d.Ü.], in der vergangene Woche über siebzig Menschen starben.

Die beängstigende Anzahl toter ZivilistInnen, darunter Kinder, führte weltweit zu berechtigter Abscheu zahlreicher Menschen aus der Arbeiterklasse. Die USA haben jedoch mit der Unterstützung anderer westlicher Mächte diesen schrecklichen Zwischenfall auf zynische Weise genutzt, um die eigene Position im Syrienkonflikt zu stärken. Der Westen, der den Sturz des Präsidenten Assad anstrebt, hat dem syrischen Regime sehr überstürzt die Schuld an den Toten gegeben. Allerdings benutzt die instabile Trump-Regierung den Raketenangriff auch, um innenpolitische Unterstützung zu gewinnen und von ihrer Unfähigkeit zur Umsetzung von Trumps Wahlversprechen und zur Verbesserung der Leben der AmerikanerInnen abzulenken.

Trump hat den Raketenangriff auf Syrien befohlen, ohne dass es zu einer Untersuchung des Chemieangriffs gekommen wäre, ohne ein UN Mandat oder auch nur ein Mandat des amerikanischen Kongresses anzusuchen. Die US-amerikanischen Angriffe wurden von mehreren europäischen Staaten, darunter Großbritannien, Deutschland und Frankreich, aber auch der Türkei und Israel willkommen geheißen. Auch die oppositionelle islamistische Ahrar al-Sham-Miliz unterstützte den „chirurgischen Angriff“.

Assad wird den Angriff der USA nutzen, um in Syrien sein anti-imperialistisches Image zu stärken. Dennoch können SozialistInnen sein Regime in keiner Weise unterstützen, das kein Interesse am Leben unschuldiger ZivilistInnen in Syriens langem und brutalen BürgerInnenkrieg gezeigt hat. Assad ist ein brutaler Diktator, der dazu bereit ist skrupellose Methoden einzusetzen, um an der Macht zu bleiben. Dennoch gibt es bis jetzt keinen sicheren Beweis, dass das Assad-Regime für den Chemieangriff verantwortlich ist. Angesichts der Tatsache, dass Assad mit der entscheidenden Unterstützung von Putin gerade dabei ist, den Krieg zu gewinnen, scheint ein willkürlicher Chemiewaffenangriff aus seiner Sicht widersinnig, könnte dieser ja die Ausrede für einen möglichen US-Angriff liefern.

Moskau besteht darauf, dass die syrische Luftwaffe ein Depot für chemische Waffen getroffen hätte, die von Rebellen, die die syrische Regierung bekämpfen, produziert worden seien. Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz, geht noch weiter: „Von einem solchen Giftgaseinsatz können nur die bewaffneten Oppositionsgruppen profitieren. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, haben de-facto keine Chance, sich militärisch gegen das Regime zu wehren. Und wie die jüngsten Reaktionen von US-Präsident Trump zeigen, ermöglichen ihnen solche Aktionen, wieder die Unterstützung der Assad-Gegner zu bekommen.“ (zitiert nach Deutsche Welle vom 6.4.17)

Konterrevolution

Momentan ist das einzig sichere über die schrecklichen Geschehnisse in Khan Sheikhun letzte Woche, dass viele ZivilistInnen getötet wurden, nach Hunderttausenden anderen Toten aufgrund des Krieges. Dies ist im Grunde eine Folge der Konterrevolution, die sich in Syrien nach der tatsächlichen Massenrevolte 2011 gegen die Herrschaft von Assad entwickelte, die von den revolutionären Bewegungen in Tunesien und Ägypten inspiriert worden war. Aber ohne eine starke vereinigte Organisation der Arbeiterklasse und eine sozialistische Führung konnten sektiererische und islamistische Kräfte, die von den reaktionären Golfstaaten und der Türkei sowie von den westlichen Mächten unterstützt wurden, ein Vakuum nutzen, was zur Degeneration der Massenrevolte in einen bösartigen, vielschichtigen Bürgerkrieg führte.

Es ist noch unklar, ob der us-amerikanische Raketenangriff eine Machtdemonstration und eine begrenzte Aktion darstellt oder ob er einer breiteren militärischen Intervention in Syrien vorangeht. Die Shayrat Luftwaffenbasis ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die syrischen und russischen Operationen gegen die hauptsächlich islamistischen bewaffneten Oppositionsgruppen, der US-Angriff wird somit eine zerstörerische Wirkung haben.

Russland verurteilte den US-Luftangriff als „Akt der Aggression“ und als „Verstoß gegen internationales Recht“ und setzte die Kommunikationskanäle aus, über die mit Washington militärische Aktionen in Syrien abgesprochen wurden, um unabsichtliche Zusammenstöße zu vermeiden.

Diese Entwicklungen eröffnen die Möglichkeit direkter Zusammenstöße zwischen den von den USA angeführten und russischen Militäreinheiten in Syrien, mit weitreichenden Konsequenzen für die Region und die Welt.

Der Iran, dessen Milizen auf der Seite der Assad-Truppen kämpfen, verurteilte die Handlungen der USA ebenfalls scharf. Das bedeutet zusätzliche gefährliche Komplikationen am Boden, denn die iranischen Truppen befinden sich auch im Irak und kämpfen dort offiziell zusammen mit dem von den USA unterstützen Regime in Bagdad gegen den IS.

Dass Trump den Luftangriff befahl, während er sich in Gesprächen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping befand, der die USA besucht, wird nur zu einem weiteren Ansteigen der Spannungen mit dem Regime in Peking führen. Anfang vergangener Woche deutete Trump darauf hin, dass er dazu bereit wäre „unilaterale“ [also einseitig von einem Land ausgehende, Anm.] militärische Aktionen gegen Nordkorea zu starten und machte auch drohende Bemerkungen wegen Chinas militärischem „Inselbau“ im südchinesischen Meer. Laut der Financial Times (London am 7.4.17), „warnte Liu Binjie, der dem ständigen Komitee, das Chinas Parlament beaufsichtigt, vorsitzt, vor einem unilateralen Vorgehen in Nordkorea. ‚Der gesamte Staat ist militarisiert‘, sagte er. ‚Wenn man sie mit Gewalt bedroht, könnte das nach hinten losgehen.‘“

Wie das CWI warnte, bedeutet der Beginn von Trumps Regierung einen Übergang zu gefährlicheren und unvorhersagbareren weltweiten Entwicklungen. In so einer Situation braucht die Arbeiterklasse und die Jugend im Nahen Osten, in den USA und überall sonst auf der Welt eine Massen-Anti-Kriegs-Bewegung und die Entwicklung starker Arbeiterparteien mit einer mutigen sozialistischen Politik, um dem Krieg, Terror und der Armut des Kaptialismus und des Imperialismus etwas entgegenzusetzen.

  • Stoppt Trumps Angriffe auf Syrien – gegen alle Einmischungen in der Region durch äußere Mächte
  • Schluss mit Krieg und Terror in Syrien, dem Irak und dem ganzen Nahen Osten
  • Nein zu Rassismus und der Benutzung von MigrantInnen und Geflüchteten als Sündenböcke
  • Für Arbeitereinheit und Sozialismus!
Niall Mulholland ist Mitglied des Internationalen Sekretariats des Komitees für eine Arbeiterinternationale. Der Artikel erschien zuerst am 7. April 2017 auf socialistworld.net .

 

     

    Not und Widerstand in Griechenland

    Christian Bunke

    Seit Jahren wird der griechische Staat schon zu massiven Einsparungen gezwungen. Das hat zur Verelendung von wachsenden Teilen der Bevölkerung geführt. Laut einem OECD-Bericht aus 2015 leben 30% unter der Armutsgrenze. 17% können ihren täglichen Bedarf an Lebensmitteln nicht decken. Drei Millionen sind von der Gesundheitsversorgung abgeschnitten. 300.000 Haushalte haben kein Einkommen und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50%. Nur 11% der Bevölkerung verspüren noch „Hoffnung“.

    Das alles sei nötig, behaupten die Spitzen von EU bis IWF, um die griechische Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Das Gegenteil ist passiert. Die griechische Wirtschaft ist immer noch in der selben Rezession wie zu Beginn der Finanzkrise. Die europäischen Finanzminister fordern weitere Einsparungen. Und die „linke“ Regierung wird sie umsetzen. Regierungschef Tsipras hat bereits weitere Kürzungen ab August 2018 angekündigt. Was sich in Griechenland abspielt, ist ein warnendes Beispiel dafür, wo Wirtschaft und Politik international hinsteuern.

    Doch trotz aller Probleme wehrt sich die Bevölkerung gegen die Ungerechtigkeiten. Anfang März streikten in Athen die FahrerInnen der U-Bahnen, S-Bahnen und Straßenbahnen. Sie protestierten gegen die geplante Privatisierung des öffentlichen Verkehrs. Finanzbeamte haben derweil ein großes Transparent aus ihrem Ministerium gehängt: Sie fordern ein Ende des Sparkurses.

    Am 14. März wurden zahlreiche staatliche Krankenhäuser für einen Tag bestreikt. Dort sind tausende Stellen nicht besetzt, der Rettungsdienst funktioniert nicht mehr, Überstunden werden nur verspätet bezahlt und mancherorts fehlt es am nötigsten: Nicht einmal Handschuhe oder Wattetupfer gibt es mehr.

    Fast ein Jahr mussten die Reinigungskräfte der Athener Busgesellschaft kämpfen. Darunter auch Mitglieder der griechischen Schwesterorganisation der SLP. Nach ihrer Entlassung wurden ihnen ausbleibende Löhne nicht gezahlt. Weil sie vor der Zentrale der Busgesellschaft dagegen protestierten, wurde ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt. Doch ihre Ausdauer hat sich gelohnt. Jetzt hat jedeR von ihnen zwischen 3.-4.000 Euro bekommen. Der Kampf geht aber weiter – die Reinigungskräfte wollen ihren Job zurück!

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    Schottlands zweiter Anlauf

    Sebastian Kugler

    Ja zur Unabhängigkeit Schottlands – mit sozialistischem Programm!

    Im März beschloss das schottische Parlament, vor dem Hintergrund des Brexits, ein zweites Referendum über die Frage der Unabhängigkeit. Doch um einen konsequenten Kampf für Unabhängigkeit geht es der federführenden Scottish National Party (SNP) nicht. Sie nutzt die Drohung, ein unabhängiges Schottland würde der EU beitreten, um in den Brexit-Verhandlungen Zugeständnisse aus London zu bekommen. Sie trägt selbst die Kürzungspolitik mit, die aus London kommt.

    Vor drei Jahren konnte ein „Ja“ nur durch eine monatelange Angstkampagne des europäischen Establishments verhindert werden – dennoch stimmten 45% mit „Ja“. Es waren vor allem ArbeiterInnen und Jugendliche, die damit gegen Kürzungspolitik und für Selbstbestimmung stimmten.

    Ein Ende der Fremdbestimmung ist weder durch Zugeständnisse der britischen Regierung noch durch eine Unabhängigkeit auf kapitalistischer Basis (mit oder ohne EU) möglich. Die Socialist Party Scotland (CWI in Schottland) kampagnisiert für ein „Ja“ – verbunden mit radikalen Maßnahmen, um die Herrschaft der Banken und Konzerne, egal welcher Herkunft, zu brechen. Nur in einem unabhängigen sozialistischen Schottland können die Menschen über wirtschaftliche und soziale Belange selbst entscheiden. Das kann Massenbewegungen in Britannien und Irland anstoßen, die dem Spardiktat den Kampf ansagen und das Projekt Schottlands unterstützen. Sie können der erste Schritt zu einer sozialistischen Föderation der Region und Europas sein

     

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    Irland: Strafen fürs Protestieren

    Eddie McCabe, Socialist Party (CWI Irland)

    Die irische Regierung versucht Proteste gegen ihre unsoziale Politik zu kriminalisieren.

    Am 21.10.2016 wurde ein 17jähriger wegen „Freiheitsberaubung“ schuldig gesprochen. Die „Freiheitsberaubung“ bestand aus einem Sitzstreik gegen die Wassergebühren und die damit verbundene neoliberale Politik der irischen Regierung. Dabei wurde das Auto der damaligen stellvertretenden Premierministerin Joan Burton (Labour Party) für 2,5 Stunden in Jobstown in Tallaght (einem ArbeiterInnenviertel in Südwestdublin) aufgehalten. Ein weiterer Prozess gegen sieben andere AktivistInnen, darunter Socialist Party bzw. „Solidarity“ Parlamentarier Paul Murphy, ist im Laufen. Wenn Paul für länger als sechs Monate ins Gefängnis muss, wird ihm sein Parlamentssitz entzogen. Den insgesamt 19 Angeklagten werden Straftaten von „Verstößen gegen die öffentliche Ordnung“ bis hin zur „Freiheitsberaubung“ (Höchststrafe: lebenslange Haft) vorgeworfen. Durch die Verurteilung des Minderjährigen gibt es nun einen Präzedenzfall, mit dem normalen DemonstrantInnen Freiheitsberaubung vorgeworfen werden kann.

    Die überzogene Anklage markiert einen gefährlichen Schritt in Richtung Kriminalisierung von Protesten. Die Prozesse sind Teil einer politischen Kampagne des Staats. Sie dienen zur Unterdrückung der Opposition der ArbeiterInnenklasse und ihrer RepräsentantInnen. Denn tatsächlich ist die von Skandalen gebeutelte Fine Gael-Regierung stark in Bedrängnis – es könnte sogar sein, dass Präsident Enda Kenny aufgrund von Skandalen (die Regierung versucht einen prominenten Whistleblower anzupatzen) zurücktreten muss. Weil sie die Kampagne des Massenboykotts gegen die Wasserabgaben anführten, wurden die Socialist Party und Solidarity (ein Bündnis mit Anti-Sparpolitik-AktivistInnen, früher unter dem Namen Anti-Austerity-Alliance, AAA) zur Zielscheibe des Staats. Der Hintergrund der Anklagen sind die sich zuspitzenden Widersprüche in einem Europa in der Krise: Proteste, Streiks und „Aufstände an der Wahlurne“ gegen die Politik der Herrschenden sind an der Tagesordnung. Wie im Fall von Joan Burton werden PolitikerInnen immer öfter von der ArbeiterInnenklasse bloßgestellt. Die Jobstown-Verfahren sind eine Vorbereitung auf Kämpfe, die aufgrund der Wirtschaftskrise vermehrt aufbrechen werden.

    Der Jobstown-Protest fand zum Höhepunkt der Bewegung gegen Wassergebühren statt. Zwei Wochen davor hatten 200.000 Menschen an Protesten teilgenommen. Einen Monat davor, am 11. Oktober, demonstrierten 100.000 in Dublin, am selben Tag als Paul Murphy die Nachwahl unter dem Banner eines linken Bündnisses aus AAA und People Before Profit gewann und als Vertreter des Wahlkreises Dublin South West ins irische Parlament (Dail) einzog. Sein Sieg war das Ergebnis eines radikalen Wahlkampfs, der zum Massenboykott der Gebühren aufgerufen hatte. 70% der Bevölkerung zahlten diese Gebühren nicht. Nach den Wahlen wurden die Wassergebühren aufgeschoben. Es ist unwahrscheinlich, dass sie nochmal eingeführt werden - ein riesiger Erfolg der Kampagne! Das politische Establishment reagierte mit einer Schmutzkübelkampagne. Fine Gael verglich die DemonstrantInnen sogar mit ISIS. Die Popularität der Bewegung nahm trotzdem zu. Dies versuchte man aufzuhalten durch eine Spaltung der Bewegung, indem die kämpferischeren Teile dämonisiert wurden und eine Versöhnung mit den eher passiven Teilen angestrebt wurde. Das Ziel dieser Strategie war es, den führenden Persönlichkeiten der Bewegung zu schaden, vor allem die Abgeordneten von AAA/Solidarity standen im Visier von Herrschenden und Medien. Es geht ihnen auch darum zu verhindern, dass sich eine starke Linke verankert. Eine jüngste Umfrage sieht Solidarity-People Before Profit bei 9% landesweit (Labour: 5%,Sinn Fein: 13%).

    Die Abgeordneten von Solidarity, Ruth Coppinger und Paul Murphy, verteidigten die Proteste, kämpften gegen die Dämonisierung an und konnten die Berichterstattung der Medien wesentlich beeinflussen. Sie zeigten die Probleme auf, die die Menschen vor Ort motivierte, Widerstand gegen Joan Burton zu leisten. Die Labour Party hatte ihre WählerInnen verraten, denn sie unternahm nichts gegen die anwachsende Ungleichheit der irischen Gesellschaft. Die Socialist Party und Solidarity werden an vorderster Front gegen die Angriffe vorgehen. Die Kampagne #JobstownNotGuilty hat es sich zum Ziel gesetzt, den ersten Schuldspruch durch politischen Druck auf der Straße und weitere Mobilisierungen in der Berufung zu kippen. Die Kampagne erfährt enorme internationale Unterstützung, nicht nur in Form von Aktionen, sondern auch durch Leute wie Noam Chomsky, Jean-Luc Melenchon, Schauspieler Ricky Tomlinson sowie diverse linke ParlamentarierInnen und GewerkschafterInnen in Europa. Am 23. März fand ein internationaler Aktionstag statt, mit Aktionen vor den Botschaften Irlands in mehreren Ländern. Eine Schlüsselrolle kommt aber dem Aufbau einer starken unabhängigen Linken zu – für den die Socialist Party und ihre Mitglieder kämpfen.

    Mehr Infos: www.socialistparty.ie und auf Facebook Jobstown not guilty

     

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