Internationales

Algerien: Proteste gegen Bouteflika

Moritz Bauer

Seit 22. Februar protestieren, marschieren und streiken in Algerien Hunderttausende gegen Präsidenten Bouteflika und die Fortsetzung seiner Herrschaft. Bouteflika fungiert seit einem Schlaganfall 2013 nur als Marionette. Tatsächlich herrscht eine korrupte Elite aus Militär, Wirtschaft und seiner Partei (Nationale Befreiungsfront).

Die Proteste begannen, als Bouteflika ankündigte, für eine 5. Amtszeit kandidieren zu wollen. Hunderttausende strömten zu den Massenprotesten, getrieben von der Perspektivlosigkeit und dem diktatorischen Regime. Die Jugend (Durchschnittsalter: 28-30 Jahre) kennt kein Algerien ohne Bouteflika. Die Zukunftsaussichten sind düster angesichts von 10% Arbeitslosigkeit – unter Jugendlichen noch höher – sowie der enormen Ungleichheit zwischen den Herrschenden und der normalen Bevölkerung.

Ähnlich wie im arabischen Frühling waren es junge Menschen, die die Proteste lostraten und prägten. Am 4. März leerten tausende Studierende die Universitäten und drängten auf die Straßen. Am 11. März kündigte Bouteflika an, nicht für eine 5. Amtszeit zu kandidieren. Zeitgleich wurde die Wahl auf unbestimmte Zeit verschoben und soll nach einer „nationalen Konferenz“ stattfinden, die das politische System „reformieren“ soll. Da die Wahlverschiebung jedoch nur mehr Zeit für die Herrschenden bedeutet, um ihre Macht zu sichern, gehen die Proteste weiter.

Der Aufstand in Algerien zeigt, dass Widerstand in arabischen Ländern unabhängig vom islamischen Fundamentalismus möglich ist. Die Bewegung braucht allerdings ein Programm und demokratische Organisationen der Arbeiter*innen und Jugendlichen, um dauerhafte Verbesserungen erkämpfen zu können. Das Scheitern des „arabischen Frühlings“ hat gezeigt, dass es nicht reicht, einen Diktator loszuwerden. Anstelle von Hoffnungen in eine Reformierung der verrotteten politischen Systeme braucht es eine sozialistische und demokratische Neuorganisierung der Gesellschaft, die in der Lage ist, die sozialen Probleme zu lösen und die korrupte Elite UND die kapitalistischen Profiteure zu beseitigen. Eine Alternative mit einem kämpferischen und antikapitalistischen Programm könnte sich auch in andere Länder ausbreiten, etwa nach Tunesien, wo es Anfang des Jahres ebenfalls Massenproteste gab.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Wie Reformismus auch der Umwelt schadet

Linke Regierungen in Lateinamerika beute(te)n die Umwelt aus
Sonja Grusch

Auch wenn es schon wieder fast Geschichte ist haben doch eine Reihe von linken Regierungen die letzten Jahre die Geschicke in Lateinamerika gelenkt: Bolivien, Venezuela, Argentinien, Brasilien etc. Das „rote Jahrzehnt“ hatte seine wirtschaftliche Basis nicht zuletzt im Rohstoffboom. V.a. China war ein unersättlicher Abnehmer von Rohstoffen und Lateinamerika hat geliefert. Abgesehen davon, dass das eine sehr unsichere Basis ist, um eine Wirtschaft oder auch Sozialausgaben darauf zu stützen gingen die verschiedenen linken Regierungen dabei auch alles andere als zimperlich um.

Begehrte Rohstoffe

Die Ölabhängigkeit Venezuelas ist ein altbekanntes Problem. Sinkende Ölpreise bzw. sinkender Absatz ziehen dem Regime den finanziellen Boden unter den Füssen weg. Doch Lateinamerika hat mehr als Öl zu bieten. Begehrt sind z.B. seltene Erden und Metalle wie z.B. Lithium das aus den Salzseen der Anden gewonnen wird. Bei der Gewinnung wird viel Wasser verschwendet – im Gegenzug dazu können sich europäische Regierungen über scheinbar „klimafreundliche“ E-Autos freuen, für die das Lithium benötigt wird, die dann ihre CO2-Bilanz verschönern.  

Auch Biomasse zur Energiegewinnung wird großflächig in Lateinamerika angebaut. Die benötigten großen Landflächen sind entweder ohnehin schon im Besitz von Großgrundbesitzern oder Multis – oder diese sichern sich den Zugriff mit allen Mitteln. Die Rechte der indigenen Bevölkerung oder Urwälder sind dabei störend und werden nicht erst seit Bolsonaro beseitigt. Jener hat den brasilianischen Regenwald, eine der „Lungen der Erde“, zur schnelleren Abholzung freigegeben. Und der brasilianische Geheimdienst spricht sich gegen eine Amazonas Synode des Vatikans aus: aus „Sorge um wirtschaftliche Interessen“.

Die Folgen sind Dürre, Wassermangel und eben Exportabhängigkeit. Für die zunehmende Wasserknappheit in Brasilien z.B. ist zu bis zu 70% die immer intensivere Landwirtschaft verantwortlich (Mais, Soja und Viehzucht). 2015 verzeichnete das Land die bisher größte Wasserkrise von der Millionen Menschen betroffen waren. Die Verwaltung der Wasserreserven liegt seit der PT-Regierung bei Privat-Public-Partnership Unternehmen, die Profitorientiert arbeiten. Wartungsarbeiten werden aus Kostengründen gestrichen, die Leidtragenden sind die Millionen in den großen Städten.

Mangelnde Sorgfalt der großen Konzerne ist auch der Hintergrund des bereits zweiten Dammbruches eines Abraumbeckens einer Eisenerzmine, diesmal in Brumadinho Anfang des Jahres. Rund 50 ähnlicher Mienen gibt es im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais  und schon 2015 kam es zu einem ähnlichen „Unglück“ bei dem riesigen Mengen des mit Schwermetallen versetzten Schlamms austraten. Im Jänner 2019 starben unmittelbar 3-400 Menschen, die langfristigen Folgen für die Umwelt und damit die Menschen sind nicht absehbar. Verantwortlich ist das Bergbauunternehmen Vale, eines der drei weltweit größten Unternehmen in diesem Bereich mit einem Börsenwert von 77 Milliarden Dollar. Aber bei der Sicherheit vor Ort wird ebenso gespart wie bei der Unterstützung der Opfer…

Gut gemeint ist eben oft nicht gut

Die „linken“ Regierungen haben – im Gegensatz zu rechten Vorgängerregierungen – zumindest einen Teil der Einkommen aus dem Rohstoffboom in verschiedenste Sozialprogramme gesteckt. Doch sie haben an den Fundamenten der Wirtschaft nichts geändert. Die Förderung bzw. Produktion von Rohstoffen wurde privaten, profitorientierten Firmen überlassen. Oder staatlichen Firmen, die teilweise eher wie eine Mafia agieren, wie die Skandale um den staatlichen Erdölkonzern Petrobras aufgezeigt haben. Mit Ende des Rohstoffbooms versiegt die Quelle für die Sozialprogramme. Die Verträge mit Firmen, die die Umwelt ausbeuten und ihre Schäden bleiben aber zurück.

Nach Polen 2018 richtet im kommenden Dezember Chile das nächste COP 25 Treffen aus. Von internationalen Organisationen ist wenig zu erwarten. Doch auch in Lateinamerika gibt es Proteste gegen die Zerstörung der Umwelt. Diese sind eng verbunden mit den Bewegungen der indigenen Bevölkerung die gegen die Zerstörung ihres Lebensraums und für ihre Rechte kämpft verbunden. Sie sind Teil der sozialen Proteste der Menschen in den Städten, die für ihr Recht auf sauberes und ausreichendes Trinkwasser kämpfen und das auch Hand in Hand mit den Beschäftigten dieser (teil)privatisierten Unternehmen tun.

Die Folgen der „linken“ Regierungen zeigen, dass es mehr braucht um Mensch und Umwelt zu schützen und eine lebenswerte Zukunft ohne Armut und Ausbeutung zu sichern: die Übernahme der Wirtschaft durch die öffentliche Hand bei gleichzeitiger Verwaltung und Kontrolle durch die Beschäftigten, die Menschen vor Ort und auch Vertreter*innen von Umweltschutzorganisationen und Indigenas.

Revolution? Was ist das?

Ein revolutionärer Sturz des Kapitalismus ist nicht nur möglich, sondern auch nötig.
Oliver Giel und Sebastian Kugler

Sind Reformen, die die Auswirkungen des Kapitalismus abschwächen, möglich? Ganz klar: Ja, sind sie. Seit das Kapital die bestimmende Macht der modernen Gesellschaften geworden ist, haben die, die das Kapital schaffen, aber von ihm beherrscht werden, die Arbeiter*innenklasse, immer wieder gezeigt, dass sie fähig und willens sein können, ihre Interessen gegen das Kapital durchzusetzen. Abschaffung der Kinderarbeit, Begrenzung der Arbeitszeit, allgemeine Sozialversicherungen, und sogar das Frauenwahlrecht wurden durch Arbeiter*innen erkämpft, teilweise unter Einsatz ihres Lebens.

Nur laufen Reformen immer Gefahr, wieder rückgängig gemacht zu werden. Aber nicht, weil eine Mehrheit plötzlich mehr arbeiten will oder eine allgemeine Krankenversicherung unattraktiv geworden wäre - sondern weil sie der Profit- und Konkurrenzlogik des Kapitals widersprechen. Wenn Schwarz-Blau und die Bosse Österreich „konkurrenzfähig“ machen wollen, müssen die Möglichkeiten für die Reichen, Profite zu machen, vergrößert werden. Etwa durch den 12-Stunden-Tag. Da andere kapitalistische Staaten das gleiche Ziel haben, ist es kein Wunder, dass in Deutschland nun auch die Aufweichung der Arbeitszeitgesetze gefordert wird. Das heißt, dass im globalisierten Kapitalismus wortwörtlich jeder Angriff auf eine*n ein Angriff auf alle ist. Das heißt auch, dass auch die wohlwollendste Regierung, die dem Staatszweck verpflichtet ist, den Kapitalismus zu verwalten, den Sozialkahlschlag mittragen muss. Es heißt schließlich, dass Reformen nur erkämpft und verteidigt werden können, wenn man mit dieser Logik bereits im Kampf bricht. Wirkliche Reformen sind das, was übrig bleibt, wenn das System sich nur um den Preis dieser Zugeständnisse überhaupt halten kann. Dauerhaft werden sich aber die Verbesserungen, die mit diesen Reformen verbunden sind, nur halten können, wenn das System, dem sie aufgezwungen wurden, ganz gestürzt wird – also durch eine Revolution.

Eine Revolution ist kein Putsch, sondern bewusste Selbsttätigkeit der Massen. In einer Revolution wird die Mehrheit der Menschheit vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Ohne aktive Beteiligung der Arbeiter*innenklasse ist eine Revolution heute überhaupt nicht denkbar – in diesem Sinne ist eine Revolution viel demokratischer als die Stellvertretungspolitik im Parlament. Trotzdem ist „Revolution“ für viele Menschen immer noch verbunden mit Gewalt. Doch die Geschichte widerlegt diese Verbindung: Revolutionäre Erhebungen der Arbeiter*innenklasse waren und sind ihrem Wesen nach nicht blutrünstig, ihnen wurde die Gewalt von außen aufgezwungen. Sei es die Pariser Kommune 1871, die erste Arbeiter*innendemokratie der Welt, die Russischen Revolutionen 1917, die Räterepubliken in Deutschland 1918/19, der Versuch eines Sozialismus durch Reformen in Chile, genauso wie die antistalinistischen Revolutionen in Ungarn 1956 oder der Tschechoslowakei 1968: Was immer einen hohen Blutzoll gefordert hat, war das Gemetzel, das die Herrschenden angerichtet haben, um diese Bewegungen zu unterdrücken.

Die Geschichte birgt also viele Lehren. Nicht alle sind den immer neuen Massenbewegungen, die dieses System immer wieder gegen sich aufbringt, im Moment der Auseinandersetzung präsent. Deswegen braucht die Arbeiter*innenklasse eine eigene Partei. Eine Partei, für die sie nicht das Stimmvieh von Funktionär*innen ist, sondern eine Partei, die das Instrument ihres Kampfes um Befreiung ist. In einer revolutionären Partei kann die Arbeiter*innenklasse die Lehren der Geschichte speichern. Und in Form der revolutionären Partei können die am weitesten fortgeschrittenen Teile der Arbeiter*innenklasse in entscheidenden Auseinandersetzungen mit den Herrschenden den Weg zeigen, wie ihre Macht tatsächlich gebrochen werden kann: Durch die Enteignung der Kapitalist*innen und die Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft durch demokratische Räte.

Nur so können nicht nur die Angriffe des Kapitals zurückgeschlagen werden, sondern auch die Basis geschaffen werden für eine neue Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der nicht der Profit einer Minderheit, sondern die Bedürfnisbefriedigung und die Entfaltung der Fähigkeiten der Mehrheit der Zweck gesellschaftlicher Praxis ist. Diese Gesellschaft nennen wir Sozialismus, und den Prozess, das Geschick in die eigenen Hände zu nehmen, nennen wir Revolution. So sehr sich der Kapitalismus seit der Zeit von Marx und Engels verändert hat, diese revolutionäre Idee ist brandaktuell – denn die einzige Alternative dazu ist die fortschreitende Zerstörung von Gesellschaft und Planet durch den Kapitalismus.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Das Scheitern des Reformismus des 21. Jahrhunderts

Der Kapitalismus und sein Staat können nicht wegreformiert werden.
Sebastian Kugler

Wer die Revolution zugunsten der Reform ablehnt, wird am Ende ohne beides dastehen.

Als Anfang 2015 die „Koalition der radikalen Linken“ („Syriza“) in Griechenland an die Macht kam und Tsipras Premierminister wurde, kannte das Entsetzen bürgerlicher Medien und Regierungen keine Grenzen. Denn die neue Regierung hatte angekündigt, das Kürzungsdiktat zu beenden, unter dem die Bevölkerung seit Ausbruch der Eurokrise litt. Das Kapital und seine Schreiberlinge reagierten mit wütender Hetze in bester Kalter Kriegs-Tradition und mit unverblümter Erpressung. Vier Jahre später ist alles anders: Die Financial Times berichtet voll Lob über die Wandlung des „Lenins der Ägäis“ zum „Darling des EU-Establishments“. Syriza hat das Kürzungsdiktat nicht nur nicht beendet: Nachdem Tsipras das eindeutige „Nein“ bei einem Referendum zur Frage eines neuen, von der EU diktierten, Kürzungsprogramms ignoriert hatte, setzte seine Regierung die brutalsten Kürzungsmaßnahmen seit Ende der Militärdiktatur um – schlimmere, als die der sozialdemokratischen und konservativen Vorgängerregierungen.

Wie konnte das passieren? Waren Tsipras und Syriza von Anfang an böswillige Verschwörer, die sich ein linkes Mäntelchen umwarfen, um ihre eigentlich neoliberalen Pläne effektiver umzusetzen? Nein. Der Grund für die Kapitulation Syrizas liegt in den unlösbaren Widersprüchen ihrer politischen Perspektiven. Denn entgegen den Befürchtungen des europäischen Kapitals wollte Syriza den Kapitalismus nicht abschaffen. Das Thessaloniki-Programm der Partei sah im Wesentlichen die Rücknahme von Kürzungen, ein Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, progressive Besteuerung und einige demokratische Reformen vor. Alles Maßnahmen, die in der „guten, alten Zeit“ des Nachkriegsaufschwungs auch von bürgerlichen Regierungen umgesetzt wurden. Doch seit Ende des Nachkriegsaufschwungs und besonders seit Ausbruch der Krise 2007/8 hat sich der wirtschaftliche Spielraum für solche Maßnahmen radikal verkleinert. Gleichzeitig hat sich das politische Kräfteverhältnis massiv verschoben. Der Verrat der Führungen der großen Organisationen der Arbeiter*innenklasse hat die Arbeiter*innenbewegung in eine Krise gestürzt – zugunsten der bürgerlichen Kräfte, die ihr System als alternativlos präsentieren konnten. Vor diesem Hintergrund war es in Griechenland unmöglich, auch nur beschränkte Reformen durchzuführen, ohne an die politischen und wirtschaftlichen Grenzen des Kapitalismus zu stoßen. An diesen Grenzen gibt es nur mehr die Alternativen: Bruch mit dem Kapitalismus oder Unterwerfung unter sein Diktat. Syriza zog, gegen den Willen der Massen, letzteres vor. Andros Payiatsos, Marxist und Aktivist der griechischen Schwesterorganisation der SLP, Xekinima, sieht darin „eine entscheidende Lektion in Bezug auf die Rolle des Reformismus in der aktuellen globalen Epoche“. Nämlich, „dass der Versuch einer linken Partei, in der Regierung die Krise des Kapitalismus zu managen und innerhalb des Systems Lösungen für die ökonomischen und sozialen Probleme zu finden, zum Scheitern verurteilt ist“.

Was sich in Griechenland innerhalb eines halben Jahres in verdichteter Form abgespielt hat, entfaltete sich in Venezuela ähnlicher über die letzten 15 Jahre. Chavez verschaffte sich dank des stärkeren Zugriffs auf die verstaatlichte Erdölindustrie wirtschaftlichen Spielraum für weitreichende soziale Reformen: Armut und Analphabetismus wurden effektiv bekämpft und sogar Formen von demokratischer Mitbestimmung in der Wirtschaft wurden erprobt. Doch das kapitalistische Wirtschaftssystem blieb bestehen – die gesamte Nahrungsmittelindustrie ist in den Händen von ein paar Familien. Diese setzen ihre Macht ein und erzeugen künstliche Nahrungsmittelengpässe, um die linke Regierung unter Druck zu setzen. Die Wirtschaft blieb vom Ölpreis und damit den Launen des internationalen Marktes abhängig. Ebenso blieb der bürgerliche Staat und seine Institutionen bestehen. Chavez versuchte, ihn für linke Politik nutzbar zu machen, indem er „seine“ Leute an die richtigen Positionen setzte. Doch damit schuf er nur die Grundlage für eine bürokratische und korrupte Freunderlwirtschaft in den staatlichen Apparaten, deren Auswüchse unter Maduro groteske Ausmaße annahmen. Aufgrund der besonderen Situation gelang es in Venezuela länger, auf dem schmalen Grat zwischen Revolution und Zusammenbruch zu wandeln. Doch dieser Grat kommt an sein Ende und der Aufprall droht umso härter zu werden.

Denn die Widersprüche eines reformistischen Regimes lassen sich nur um den Preis der Aufgabe seiner fortschrittlichen Elemente im Zaum halten. So beschloss Syriza Anti-Streik-Gesetze. Chavez und Maduro setzten Gewalt gegen Demos und Fabrikbesetzungen ein, die genau das forderten, was die Regierung versprach. In Bolivien wurde Morales mit seiner Partei „Bewegung für den Sozialismus“ erster indigener Präsident des Landes und setzte viele Verbesserungen für indigene Schichten um – doch auch er blieb auf der Basis des Kapitalismus. Die Folge: Seit 2011 versucht Morales, eine Autobahn durch das indigene TIPNIS-Gebiet zu bauen, die Konzernen wie dem brasilianischen Ölmulti Petrobas profitable Geschäfte ermöglicht. Den indigenen Widerstand lässt er mithilfe bewaffneter Trupps niederschlagen. Am weitesten fortgeschritten ist dieser Prozess wohl in Nicaragua, wo Ortega heute eine Karikatur der linken sandinistischen Bewegung anführt. Seit mehr als einem Jahr befindet sich seine Regierung quasi im Bürger*innenkrieg gegen die Jugend des Landes, die gegen Armut und Perspektivlosigkeit rebelliert.

Das Versagen des Reformismus ist umso fataler, als seine Niederlage nicht einfach zum Ausgangszustand zurückführt. Mangels linker Alternative kann die gerechtfertigte Wut über diese Politik zu Rekrutierungsfeldern für rechte und rechtsextreme Kräfte werden. In allen genannten Ländern mischen sich solche Kräfte in die Bewegungen gegen die scheiternden reformistischen Regierungen und bieten sich als Alternativen dar. So entstehen konterrevolutionäre Dynamiken, die nicht nur errungene Fortschritte rückgängig machen, sondern darüber hinaus grundlegende soziale und demokratische Errungenschaften zerstören können. Das erschütterndste Beispiel dafür ist die Machtübernahme Bolsonaros in Brasilien. Sein Aufstieg ist ohne den Frust über die jahrelange Korruption der einst gefeierten „Arbeiterpartei“ PT nicht erklärbar.

In „normalen“ Perioden scheint der Reformismus den Massen als vernünftiger Weg, weil er die Grundlagen des Systems, das er reformieren will, nicht in Frage stellt. Doch die Konfrontation, die er mit den Auswüchsen des Systems eingeht, macht es nötig, genau diese Grundlagen in Frage zu stellen. In diesen Perioden fällt der Reformismus notwendigerweise hinter das Bewusstsein der Massen zurück: Denn nicht mehr die revolutionäre Umwälzung scheint utopisch, sondern die weitere Reform des Bestehenden. Marxist*innen können den Erfolg eines Bruches mit dem Kapitalismus nicht garantieren. Dieser ist von vielen Faktoren abhängig, nicht zuletzt der Existenz einer revolutionären Partei, in welcher sich die fortgeschrittensten Schichten der Arbeiter*innenklasse zusammenschließen - und ob es gelingt, den Unmut zu einer internationalen revolutionären Welle zusammenzufügen. Garantieren können wir nur, dass der reformistische Weg, auch wenn er weniger konfrontativ erscheint, auf jeden Fall in die schmerzhafte, schlimmstenfalls blutige Niederlage führt.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Zahlen und Fakten: Versprochen und gebrochen

In Griechenland trat Syriza 2015 mit dem Versprechen an, die Kürzungspolitik zu beenden und Löhne und Pensionen wiederherzustellen. Tsipras kündigte an, dem Diktat der Troika zu trotzen. Dieses Versprechen brach er, obwohl sich die Bevölkerung in einem Referendum klar gegen die Annahme eines nächsten Memorandums aussprach. Die traurigen Folgen: Verdienten 2009 nur 4% der Arbeitenden unter 300€, waren es 2017 bereits 14%. Das Pensionsalter erhöht die Regierung auf 67 Jahre. Die Pensionen wurden noch einmal um 18% gekürzt. Die Hälfte der Landbevölkerung ist nun von Armut bedroht. Die Ernährungsunsicherheit stieg von 7% im Jahr 2008 auf nun 14%.

Als Daniel Ortega und die FSLN 2006 in Nicaragua an die Macht kamen, erhofften sich viele ein Anknüpfen an die sandinistischen Traditionen. Das Gegenteil war der Fall: Ortega schenkte der Kirche ein komplettes Abtreibungsverbot. Bei den Protesten gegen seine Pensionskürzungen starben bereits über 300 Menschen.

2006 verkündete Hugo Chavez, er plane „die Bolivarianische Revolution direkt in Richtung Sozialismus zu führen“. Doch statt demokratischer Planung der Wirtschaft von unten förderte Chavez hauptsächlich Kooperativen, die weiter konkurrieren mussten. Nur der staatliche Zugriff auf die Ölindustrie wurde verstärkt, doch im Ölkonzern PdVSA wurde den Beschäftigten die Mitbestimmung verweigert. Argument: Das Unternehmen sei „zu wichtig“. Statt den Kapitalismus zu stürzen, wurden Parallelmärkte errichtet, was nur die Inflation vorantrieb. Nun erhöhte die Hyperinflation die Kosten eines Arztbesuchs auf das mehr als 6fache!

In Deutschland argumentiert der rechte Flügel der Partei Die Linke immer wieder für Regierungsbeteiligungen, um „mitzugestalten“. Die Bilanz einer solchen Beteiligung in Berlin: Der rot-rote Senat war 2001-11 verantwortlich für 100.000 privatisierte Wohnungen, 35.000 abgebaute Stellen im öffentlichen Dienst, Kürzungen im Bildungssystem und vieles mehr.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Mit kleinen Schritten in den Abgrund

Dass die Rechte heute so stark ist, liegt am Scheitern linker Versuche, den Kapitalismus zu reformieren.
Jan Millonig

In den 2000ern blickten viele hoffnungsvoll auf linke Regierungen in Südamerika wie die von Chavez in Venezuela oder Morales in Bolivien. Nach dem Ausbruch der Krise 2007/08 schien auch in Europa der Boden fruchtbar für linke Regierungen: Tausende feierten auf Frankreichs Straßen den Sieg Hollandes, der sich als linker Sozialdemokrat präsentierte. In Spanien schoss Podemos aus dem Boden und schien kurz davor, die alten Parteien zu überholen. Und schließlich kam 2015 in Griechenland mit Syriza eine Partei an die Macht, deren kompletter Name auf Deutsch „Koalition der radikalen Linken“ heißt.

Und heute? Allerorts lesen wir vom Aufstieg der Rechten: Von Trump über Bolsonaro, Modi und Duterte bis zu Putin, Orban, Salvini und – Kurz. Wie konnte das passieren? Damit beschäftigt sich der aktuelle Vorwärts-Schwerpunkt.

Der Grund dafür, dass rechte und neoliberale Kräfte in vielen Ländern die Macht übernehmen konnten oder die politische Lage prägen, ist noch vor den „linken“ 2000ern zu suchen. Wir können die aktuelle Situation nur vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der traditionellen Massenparteien der Arbeiter*innenklasse, wie der Sozialdemokratie, und dem Fehlen oder Scheitern neuer linker Kräfte analysieren. In den 1980ern waren es oftmals die sozialdemokratischen Parteien selbst, welche die neoliberale Wende eingeläutet haben. Die Folge: Sie verloren stark an Unterstützung durch Arbeiter*innen, was dem Aufstieg des Rechtspopulismus den Weg bereitete. Mit dem Kollaps des Stalinismus beschleunigte sich diese „Verbürgerlichung“. Gleichzeitig brachen die in manchen Ländern sehr starken kommunistischen Parteien ideologisch und organisatorisch völlig zusammen. Die Arbeiter*innenklasse hat seitdem weder ein Kampfinstrument noch eine ideologische Antwort auf den Kapitalismus und seine Spar- und Spaltungspolitik in der Hand.

Die Weltwirtschaftskrise 2007/08 verdeutlichte diese Krise der Arbeiter*innenbewegung und Linken noch einmal verstärkt. Denn organisierter Widerstand fand kaum statt, dafür gab es aber spontane Bewegungen, wie „Occupy“ in den USA oder die „Indignados“ in Spanien. Aus dem aufflammenden systemkritischen Bewusstsein zu dieser Zeit entstanden vielerorts neue linke Parteien wie Podemos in Spanien. Bereits existierende, jüngere Formationen bekamen Aufwind, wie Syriza in Griechenland. Doch aufgrund der fortschreitenden Verschärfung der Systemwidersprüche und dem damit verbundenen Kürzungsdiktat des Kapitals standen diese neuen Formationen sehr schnell im Praxistest. Ihre Strategien, dem System durch Reformen die Zähne zu ziehen, scheiterten fatal. Andere Linksparteien bestehen schon seit den 2000ern, wie P-Sol in Brasilien oder Die Linke in Deutschland. Dort konnte der Aufstieg des Rechtspopulismus aufgrund deren Existenz und deren relativ breiter Unterstützung verzögert werden. Doch P-Sol konnte Bolsonaro nicht aufhalten, und auch Die Linke wird die AfD nicht stoppen können, wenn sie so weiter macht wie bisher.

Ähnlich wie vor 30 Jahren erweist sich das Scheitern der Linken als Sprungbrett für die Rechten. Das muss auch eine Warnung für neue linke Hoffnungsträger*innen wie Jeremy Corbyn in Britannien oder Bernie Sanders und die Democratic Socialists of America (DSA) sein. Denn obwohl die einzelnen Projekte unterschiedlich sind, so gibt es doch in all diesen Formationen gemeinsame Tendenzen: Die Beschränkung auf die Wahlebene, der Mangel an demokratischen Strukturen und das Fehlen eines klaren sozialistischen Programms - ein Programm, das unvereinbar mit jedweder Verschlechterung für die Masse ist und sich den kapitalistischen Spielregeln nicht beugt, sondern den Kapitalismus als das entlarvt, was er ist: Ein System, das nur für eine kleine Elite „funktioniert“ und abgeschafft gehört.

Jan Millonig.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Nordirland: Ermordung der Journalistin Lyra McKee

Gewerkschafter*innen protestieren gegen sektiererische Gewalt
Anton McCabe, Geschäftsführender Vorstand der National Union of Journalists (Angabe dient nur zur Kenntlichmachung der Person) und Mitglied der Socialist Party (CWI Irland)

Menschen aus der Arbeiterklasse auf beiden Seiten des sektiererischen Grabens in Nordirland waren angewidert von den tödlichen Schüssen auf die junge Journalistin Lyra McKee in Derry City am vergangenen Donnerstagabend. Anton McCabe, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der National Union of Journalists (Angabe dient nur zur Kenntlichmachung der Person), und Mitglied der Socialist Party, der Lyra kannte, hat die Protestaktionen der NUJ und anderer Gewerkschaften anlässlich der Ermordung mitorgansiert.

Die Ermordung meiner Freundin und Gewerkschaftskollegin Lyra McKee am Donnerstag, den 18. April, als sie während eines Aufstands in der Stadt Derry als Journalistin arbeitete, hat die Menschen in Nordirland bewegt.

Bei Zusammenstößen zwischen der Polizei und lokalen Jugendlichen im Greggan Estate kam es zu Schüssen auf die Polizei seitens der republikanischen Paramilitärs, bei denen Lyra getötet wurde.

Wenige Stunden nach ihrem Tod hatten sich über 2.000 Menschen in Derry’s Creggan Estate versammelt, in dessen Nähe Lyra zu Tode kam. Am Freitagnachmittag nahmen über 1.000 Personen an einer Protestaktion in Derry teil, die vom Gewerkschaftsrat der Stadt und unserer lokalen Ortsgruppe der National Union of Journalists (NUJ) organisiert wurde.

Am Samstag organisierten NUJ-Mitglieder und andere Gewerkschafter*innen Proteste in der Stadt Belfast und den Städten Omagh, Enniskillen, Dungannon, Strabane und Newry. Ein NUJ-Mitglied ergriff die Initiative in Dungannon.

Etwa 250 Menschen nahmen an der Kundgebung in Omagh teil, die innerhalb von 16 Stunden nach der Ermordung stattfand. Einige waren von weither angereist, ein Teilnehmer war z.B. die 110 Meilen aus Dublin gefahren.

In London initiierten einige Gewerkschaftsaktivist*innen eine Mahnwache anlässlich der Beerdigung am Mittwoch, den 24. April. Die Gewerkschaft organisierte am Dienstag auch eine Mahnwache in Dublin. Der Mid-Ulster Trade Union Council organisierte eine Mahnwache in Cookstown, County Tyrone, anlässlich der Beerdigung am Mittwoch.

Alle Todesfälle sind tragisch, doch Lyras Tod hat einen Nerv getroffen, weil sie eine außergewöhnliche Person war. Sie nutzte ihre großen Talente nicht nur, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie hatte eine natürliche Empathie für die entfremdeten jungen Menschen, die am Donnerstag in Derry randaliert hatten.

Sie verstand, dass sie vom „Friedensprozess“ in Nordirland vergessen worden waren. Als Journalistin dokumentierte sie, wie dieser die Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllt hat.

Selbstmordraten

Eine ihrer wichtigsten Arbeiten war die Thematisierung von Selbstmorden. Sie wies darauf hin, dass seit den Waffenstillständen der Paramilitärs von 1994 4.500 Menschen durch Selbstmord gestorben sind. Das sind mehr Tote als diejenigen, die in 25 Jahren anhaltender politischer Gewalt ermordet wurden, bekannt als „The Troubles“.

Die Reaktion auf ihren Tod zeigt, dass sich viele gegen eine Rückkehr zu den Jahren der Gewalt wehren. Unter denjenigen, die die Ermordung am schärfsten verurteilten, fanden sich ehemalige republikanische Gefangene.

Die „Neue IRA“, die für den Mord verantwortlich gemacht wird, zeigt den Bankrott des militanten Republikanismus. Der Organisation haftet ein dauerhafter Hauch des Kriminellen an, ältere Mitglieder sind Agent*innen der Sicherheitskräfte.

Eine Hommage an Lyra muss darin bestehen, für eine Gesellschaft zu kämpfen, auf die sie stolz wäre. Die Armut und Entfremdung des Kapitalismus und die staatliche Repression, die junge Menschen in ihrer Verzweiflung zu Randale und Paramilitarismus treibt, müssen durch den gewerkschaftlichen Kampf um menschenwürdige Arbeitsplätze, Wohnungen und Dienstleistungen für alle beantwortet werden.

Als junge lesbische Frau lebte Lyra in Nordirland lebte auf dem einzigen Teil der Insel, wo sie nicht das Recht hatte, die Person zu heiraten, die sie liebte. Auch das muss sich ändern.

In Irland war Lyra die dritte Journalist*in, die in 23 Jahren getötet wurde. Journalist*innen werden international zunehmend bedroht. Journalist*innen und Gewerkschafter*innen müssen da jetzt eine Grenze ziehen, denn ein vierter Mord kann passieren.

Eine weitere Analyse der Ermordung von Lyra McKee, republikanischen „Dissident*innen“-Gruppen, und der Situation in Nordirland wird Ende dieser Woche auf socialistworld.net veröffentlicht.

Sri Lanka: Nein zu terroristischen Bombenangriffen

Der gemeinsame Kampf der Arbeiter*innen kann das Wachstum von Rassismus und Spaltung unterbinden.

Die Vereinigte Sozialistische Partei in Sri Lanka, die Tamil Solidarity Campaign und die Socialist Party in England und Wales (Schwesterorganisation der SLP in GB) verurteilen aufs Schärfste die schrecklichen Anschläge, die am Ostersonntag (21.04.2019) in Sri Lanka stattgefunden haben.

Gut koordinierte Angriffe fanden an acht Orten statt, darunter drei Kirchen, die sich für das Ostergebet füllten. Neben sechs Orten in Colombo wurden auch berühmte Kirchen in Negambo und Batticalo angegriffen. Zum Zeitpunkt des Schreibens wird geschätzt, dass über 300 Menschen ihr Leben verloren haben und über 500 verletzt wurden. Es wird erwartet, dass die Zahl der Todesopfer weiter ansteigen wird. Die Opfer dieses willkürlichen Angriffs kamen aus allen größeren ethnischen und religiösen Gruppen Sri Lankas – Menschen, die Hauptsprache Tamil und Menschen, die Singhalesisch sprechen, Muslime, Hindus, Buddhist*innen und Christ*innen waren betroffen. Auch britische, chinesische, niederländische, portugiesische und türkische Besucher*innen des Landes starben bei dem Angriff.

Es ist noch nicht klar, wer dahinter steckt. Noch hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt. Die sri-lankische Regierung sagt, die Angriffe seien von einem „religiösen Extremisten“ begangen worden. Es ist nicht klar, welche Gruppe oder welche Nationalitäten hinter diesen gedankenlosen Angriffen standen. Der Premierminister hat die Morde mit dem Anschlag in Neuseeland in Verbindung gebracht. In dieser Ungewissheit erfasst die Angst das Land. Die Regierung hat alle sozialen Medien verboten, den nationalen Ausnahmezustand und Ausgangssperre erklärt. Die Armee wird auf den Straßen eingesetzt, während die Regierung das Land weiterhin in einer sehr angespannten Stimmung hält.

Die Wahl der Orte, an denen die Angriffe stattgefunden haben, und der damit verbundene religiöse Extremismus haben alle Bevölkerungsgemeinschaften schockiert. Obwohl es in der Geschichte Sri Lankas noch nie Massenmorde dieser Art gegeben hat, sind Gewalttaten nicht neu. In diesem Jahr jährt sich zum zehnten Mal das brutale Ende des drei Jahrzehnte andauernden Bürgerkriegs. Über 140.000 Menschen sollen allein in der letzten Phase des Krieges umgekommen sein. Die derzeitig wichtigste Oppositionspartei, die Sri Lanka Freedom Party (SLFP) und der ehemalige Präsident Mahinda Rajapaksa und seine Familie waren weitgehend für die genozidähnlichen Morde an der tamilischen Bevölkerungsminderheit während des Krieges mit den LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) verantwortlich, die für einen eigenen Staat kämpften. Der Rajapaksa-Clan hatte in der Vergangenheit die Kontrolle über einen Großteil des Staatsapparats, einschließlich des Verteidigungsministeriums.

Seit dem Ende des Krieges im Mai 2009 wurden die Spannungen zwischen den drei wichtigsten in Sri Lanka lebenden Bevölkerungsgemeinschaften enorm verschärft. Es wurden keine konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Bedingungen für die Zehntausende von Kriegsopfern ergriffen. Viele werden immer noch als politische Gefangene gehalten. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um das Problem des gewaltsamen Verschwindens oder der Freigabe von militärisch besetzten Gebieten anzugehen. Demokratische Rechte werden nach wie vor verweigert.

Der Triumphalismus, den die Familie Mahinda Rajapaksa nach Kriegsende entfesselt hat, hat den nationalistischen buddhistischen Chauvinismus gestärkt. Obwohl der buddhistische Extremismus nur von einer kleinen Minderheit der singhalesischen Mehrheitsbevölkerung auf der Insel unterstützt wird, wurde er von der Familie Mahinda Rajapaksa bewusst gefördert. Der ehemalige Verteidigungsminister Gotabaya Rajapaksa war direkt an der Gründung der Bodu Bala Sena (BBS) beteiligt, einer offen rassistischen buddhistischen Mönchsorganisation. Diese Organisation hat die sich die muslimische Community herausgegriffen: Ihre Hasspropaganda hat zu einer Reihe von Angriffen gegen die muslimische Bevölkerungsminderheit beigetragen. Darüber hinaus wurden anti-muslimische Gefühle geschürt, insbesondere im östlichen Teil Sri Lankas, wo die Mehrheit der Muslime lebt.

Solche Gräben aufzumachen wird von denen als notwendig erachtet, die zurück an die Macht kommen wollen, die der Masse der einfachen Menschen nichts zu bieten haben und daher eine Machtbasis unter den rechten Gruppen und ihren Anhänger*innen wie Gotabaya Rajapaksa suchen. Gotabaya gründete zu diesem Zweck eine Organisation namens Eliya. Führende Mitglieder dieser Organisation setzen sich offen für den Hass gegen andere Gemeinschaften ein, insbesondere gegen die tamilischsprachigen Muslime.

Die Vertreibung aller Muslime aus dem Norden durch die LTTE in den 90er Jahren öffnete eine große Kluft zwischen den im Norden ansässigen, hauptsächlich hinduistischen Tamil*innen und den Muslimen. Die Wunden, die bei dieser Erfahrung zugefügt wurden, sind noch nicht vollständig verheilt. Seit den Unruhen gegen Muslime im Jahr 1915 sieht sich die muslimische Gemeinschaft in Sri Lanka Angriffen von allen Seiten geschürten Vorurteilen ausgesetzt und fühlt sich ausgegrenzt. Die daraus resultierende Isolation und berechtigte Angst vor Angriffen trägt dazu bei, dass selbst ernannte Führer*innen eine enorme Autorität übernommen haben, da sie sich als starke Stimme für die Gemeinschaft präsentieren. Dieser Separatismus hat jedoch nicht dazu beigetragen, die Lebensbedingungen für die Mehrheit der Muslime, die in bitterer Armut leben, zu verbessern.

Aber solche Ideen und einige weltweite Ereignisse hatten dazu geführt, dass unter der muslimischen Bevölkerung ein gewisser rechtsextremer religiöser Radikalismus entstanden ist. Allerdings ist es nur eine kleine Minderheit, die sich solchen Ideen anschließt, und die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung lehnt die Ideen des rechtsgerichteten politischen Islams ab. Es ist auch bekannt, dass die sri-lankische Regierung in der Vergangenheit paramilitärische Gruppen gebildet und bewaffnet hat, um sie im Krieg gegen die LTTE einzusetzen. Über viele Jahrzehnte hinweg haben Rechtsregierungen in Sri Lanka verschiedene Formen des religiösen Extremismus für nützlich befunden, um solche Kräfte zu mobilisieren, Gewalt zwischen den Gemeinschaften zu fördern und letztlich ihre instabilen Regime aufrechtzuerhalten.

Dieser Geschichte ist es zu verdanken, dass viele heute eine Art Beteiligung des Verteidigungsministeriums – oder zumindest der Anhänger*innen des ehemaligen Verteidigungsministers – an diesen Angriffen vermuten. Der leitende Minister Mano Ganesan gab zu, dass die Offiziere der Ministerialsicherheitsabteilung (MSD) vor einigen Tagen gewarnt worden waren, Selbstmordattentäter hätten es auf Politiker*innen abgesehen. Es zeigt sich auch, dass viele Minister und ihre Familien Vorbereitungen getroffen haben, um sich vor möglichen Angriffen zu schützen. Die sri-lankische Regierung hat es völlig versäumt, die Bevölkerung von dieser Information in Kenntnis zu setzen und alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Angriff zu verhindern.

Die rechten Kräfte haben sich bereits formiert, um aus diesen schrecklichen Morden politisches Kapital zu schlagen. Während sie vorgeben, hinter allen Gemeinschaften zu stehen und „Einheit“ zu predigen, verbreiten sie bereits Hass. Unterstützer*innen des indischen Premierministers Narendra Modi versuchen, aus dieser Tragödie Kapital zu schlagen, indem sie sagen, dies sei ein von pakistanischen Nationalist*innen organisierter Angriff. Der bekannte rechte Politiker Subramaniyam Swamy hat bereits die Rückkehr der Familie Mahinda gefordert, um ISIS zu bekämpfen. Er forderte auch, Modi zu wählen, um solche Ereignisse in Indien zu verhindern.

Obwohl die sri-lankische Regierung und alle rechten Parteien zu „Frieden und Einheit“ aufgerufen haben, sind ihre Anhänger*innen und hochrangige Vertreter*innen bereits auf dem Vormarsch und verbreiten Hass. Einige Leute, die in Verbindung mit der von Gotabaya Rajapaksa geführten Organisation Eliya stehen, unternahmen dreiste Anstrengungen, sich mit den führenden Organisator*innen der Tamil Solidarity in Verbindung zu setzen und baten sie, gegen den „islamischen Terrorismus“ zusammenzuarbeiten. Sie behaupteten, es handele sich um eine ausländische Intervention. Tamil Solidarity verurteilt diese Angriffe und wird mit allen ehrlichen Kräften zusammenarbeiten, welche die Rechte aller Bevölkerungsgemeinschaften verteidigen. Aber das Angebot der Eliya-Vertreter*innen lehnte Tamil Solidarity ab und wies darauf hin, dass es gerade die spaltende Politik und die Kriegstreiberei von Rajapaksa und seinen Anhänger*innen ist, die die Flamme der religiösen und ethnischen Spaltung im Land angefacht hat.

Es besteht die weit verbreitete Angst, dass Vergeltungsmaßnahmen gegen die muslimische Minderheit, insbesondere seitens buddhistischer Extremist*innen, stattfinden könnten. Auch die Spannungen zwischen Tamilen und Muslimen im Osten können sich nun verschärfen. Schwächelnde sri-lankische Regierungen haben in der Vergangenheit ethnische und religiöse Spaltungen genutzt, um ihre Macht zu festigen und zu erhalten. Insbesondere von Gotabaya Rajapaksa ist zu erwarten, dass er diesen Vorfall nutzt, um sich wieder in den Vordergrund zu spielen und einen Anspruch als gültigen Kandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen zu stellen.

In kurzer Zeit haben jedoch arbeitende und arme Menschen aus allen Communities die anderen mächtigen Traditionen, die es in Sri Lanka gibt – die Solidarität – bewiesen. In einem Krankenhaus im überwiegend muslimisch geprägten Kalmunai versammelte sich eine riesige Menschenmenge, um Blut für die verletzten Opfer des Anschlags zu spenden. Solche Aktionen fanden sowohl in Krankenhäusern im tamilisch dominierten Norden als auch im singhalesisch dominierten Süden statt. Sri Lanka besitzt eine eindrucksvolle Geschichte gemeinsamen Kampfes. Die Vereinigte Sozialistische Partei (USP) steht in dieser starken Tradition und setzt sich weiterhin für den vereinten Kampf der Arbeiter*innenklasse ein, um demokratischen Rechte für alle zu erlangen, einschließlich des Rechts auf Religions, Rede- und Versammlungsfreiheit, Streikrecht und nationale Rechte für Tamil*innen. Die USP macht auch deutlich, dass es nicht ausreicht, für demokratische Forderungen zu kämpfen, und fordert einen gemeinsamen Kampf, um das kapitalistische System ein für allemal zu beenden und eine demokratisch sozialistische Planwirtschaft aufzubauen, um jegliche Unterdrückung zu beenden.

Wir werden vielleicht nie die Wahrheit darüber erfahren, wer hinter diesen abscheulichen Morden steckt. Aber wir können gemeinsam gegen die Bedingungen kämpfen, die den Nährboden für Terroranschläge bilden. Wir müssen uns gemeinsam für bessere Bedingungen und demokratische Rechte für alle einsetzen. Wir müssen uns jeder Sündenbockpropaganda und spaltenden Hetze widersetzen. Nur die Arbeiter*innenklasse und die armen Massen zahlen den Preis für diese Terroranschläge. Die herrschende kapitalistische Klasse nutzt dies immer als Gelegenheit, um gegen unsere demokratischen Rechte vorzugehen und ihre Macht weiter zu festigen. Wenn wir diesen Terror verurteilen, müssen wir uns auch der Heuchelei des sri-lankischen Staates widersetzen, der selbst ein Terrorstaat ist. Gemeinsame Aktionen der Arbeiter*innenklasse und der Aufbau von Massenarbeiter*innenorganisationen sind das Einzige, was uns vor einer zukünftigen Spaltung und Eskalation von sektiererischen Angriffen schützen kann, die in der Zukunft stattfinden können.

Internationale Perspektiven

Bewegte Zeiten, große Aufgaben
Sonja Grusch

Manch eineR legt sich vor die Tür eine Türdacke mit der Aufschrift: „Die Welt ist ein Tollhaus – und hier ist die Zentrale“. Tatsächlich kann ein Blick in die Nachrichten den Eindruck erwecken, dass alles irgendwie chaotisch und verrückt ist. Doch die Zentrale des Wahnsinns sitzt woanders, nämlich in den Chefetagen der großen Konzerne. Und es ist eben nicht eine Zentrale, sondern viele, das ist ja auch eine der Ursachen des ganzen Problems.

Die wirtschaftlichen Aussichten sind alles andere als rosig. Im Presse-Interview sagte der Investor Jim Rogers das es krachen wird und „Die nächste Krise wird die schlimmste meines Lebens“. (Und der Mann ist immerhin 77 und hat schon einige erlebt).

Die Wirtschaftsforschungsinstituten veröffentlichten Zahlen deuten in dieselbe Richtung: Gerade erst hat der IWF seine jüngste Prognose veröffentlicht, die die Wachstumsaussichten um 0,2% abgesenkt hat – auf 3,3% die für die Weltwirtschaft für 2019 erwartet werden. Der auf den ersten Blick nicht besorgniserregende Wert ist allerdings nur durch nach wie vor scheinbar hohen Wachstumszahlen in Indien (7,3%) und China (6,3%) zustande gekommen – wobei der Wert für China, das für immerhin 16% des globalen BIP verantwortlich ist, der niedrigste seit 28 Jahren ist!

Für alle anderen Staaten liegen die erwarteten Wachstumszahlen weit darunter, unter 3, meist auch unter 2%. Für die Eurozone wird ein Wachstum von nur 1,3% erwartet, für die EU-Lokomotive Deutschland sogar nur 0,8%. Diese niedrigen Prognosen wurden erstellt, BEVOR die Effekte von weiteren drohenden Handelskonflikten voll schlagend werden. Wenn also Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), bei der Vorstellung des "World Economic Outlook" sagt "Eine globale Rezession steht sicher noch nicht vor der Tür" kann das wohl eher als Zweckoptimismus gewertet werden.

„Nichts gelernt“

Bürgerliche Kommentator*innen beklagen, dass Wirtschaft und Politik „nichts gelernt“ haben aus der Krise vor 10 Jahren. Die Kritik ist insofern unzulässig, als sie vom Kapitalismus als einem vernünftig agierenden homogenen System ausgeht. Doch wegen Konkurrenz, nationalstaatlicher Bindung und Profitnotwendigkeit werden dieselben „Fehler“ wieder gemacht – weil sie aus Sicht der einzelnen Firmen und Staaten Notwendigkeiten sind. Der Kapitalismus agiert nicht homogen und für das große Ganze sinnvoll, sondern widersprüchlich und auf der Basis der Interessen einzelner Unternehmen. Die „Vernunft“ scheitert daher spätestens an den Staatsgrenzen – auch wenn die Sozialdemokratie versucht, die EU als eine Einrichtung zu instrumentalisieren versucht, die gemeinsame europäische Kapitalinteressen über die nationalen Notwendigkeiten erhebt. Ein letztlich unmögliches Unterfangen.

Und darum sind die aktuellen Probleme jenen von vor 2007/08 nicht unähnlich: ein gewichtiges Problem ist die hohe Verschuldung: Die europäischen Banken haben rund 1.000 Milliarden an wackeligen (also potentiell uneinbringbaren) Krediten in ihren Büchern. Mit einem Krisenbeginn wird diese Zahl nach oben springen. Auch die Schulden Chinas haben sich in zehn Jahren auf 300% des BIP verdoppelt. Auch wenn das chinesische Regime aktuell wird über ein neues großes staatliches Investitionsprogramm nachdenkt, nicht zuletzt aus Angst vor der wachsenden Anzahl von Protesten und Streiks, ist die hohe Verschuldung ein echtes Problem.

Der Gesamtwert der weltweiten Verschuldung im öffentlichen und privaten Sektor entspricht 318 % des weltweiten Outputs. Das liegt knapp unter dem Rekordwert von 320% im Herbst 2016 – aber bei einem nominellen Allzeithoch von 182 Billionen US-Dollar. Ein wesentliches Problem dabei ist, dass der hohen Verschuldung nicht entsprechende Investitionstätigkeit gegenüber steht: Die Europäische Zentralbank EZB hat nicht nur sehr niedrige Zinsen, sondern auch „Strafzinsen“ (also quasi eine Gebühr) wenn Banken Geld bei der EZB parken. Die Banken wollen diese „Strafzinsen“ gerne abschaffen obwohl sie nur bei mageren 0,4% liegen. Sie bringen allerdings jährlich rund 7,5 Milliarden Euro. Das bedeutet dass Europas Banken pro 1.875 Milliarden Euro nicht als Kredite vergeben. Doch auch, wo Kredite aufgenommen werden, fliest viel in Finanzmarktspekulation und die Immobilienmärkte. Die niedrigen Investitionsquoten sind gerade in Europa ein massives Problem. Merkl hat bei der Eröffnung der Hannover Messe, der wichtigsten Industriemesse der Welt, gesagt, dass sie beim besten Willen nicht mehr sicher sein könne, ob Deutschland global „wirklich mitspielen“ könne. Ähnlich ist die Situation in Österreich, wo auch viel über G5 und die Notwendigkeit zu Investieren geredet wird. Aber Europa hat – gerade wenn es um Investitionen in neue Technologien geht – den Anschluss verloren. Hier führen die USA und China. Einmal mehr zeigt sich, dass die Umsetzung technischer Möglichkeiten an den Beschränkungen des Kapitalismus scheitert.

„Grüner Ausweg“?

Teile der Wirtschaft hoffen auf neue Sektoren. Der Hype um Tesla ist ein Indikator dafür, dass Teile des Kapitals die Umweltkrise auch als lukratives Investitionsfeld sehen. Manche hoffen wohl auch, hier eine Art neue, „grüne“ Lokomotive für die Weltwirtschaft gefunden zu haben. Kein Wunder, wenn also auch von Teilen des Kapitals die Klimakatastrophe als Problem erkannt und teilweise sogar Proteste unterstützt werden. Aber die Hoffnung auf einen „grünen“ Ausweg oder andere Möglichkeiten, eine kommende Wirtschaftskrise nicht nur hinauszuzögern, sondern zu verhindern, sind Schall und Rauch. Natürlich gibt es immer wieder Nischen, in denen das Kapital versucht, einen Ausweg aus der strukturellen Krise zu finden. Aber weil sich an den zugrundeliegenden Widersprüchen nichts ändert, können sie diesen Ausweg nicht liefern.

Rückzug auf die Home-Base

Das Kapital setzt aufgrund der strukturellen Krise immer stärker auf seine nationalstaatliche Basis und setzt „seine“ Regierungen ein, um die Rahmenbedingungen zu verbessern – Protektionismus inklusive. Auch diese Entwicklung beobachten wir schon länger. Es ist kein Zufall, dass bürgerliche Kommentator*innen aus Europa Trump als Wahnsinnigen darstellen. Tatsächlich ist er aber weniger irrational als dargestellt sondern v.a. ein guter Vertreter jener Teile des US-Kapitals, dass Protektionismus braucht. Zwar bringen in bürgerlichen Demokratien Wahlen nicht automatisch das Wunschergebnis für das Kapital, auch weil es eben auch verschiedene Kapitalfraktionen mit verschiedenen Interessen gibt, aber Trump & Co. machen ihren Job im Sinne des Kapitals gut. Klar ist auch, dass das Kapital kein Problem mit diktatorischen, sexistischen, homophoben, umweltzerstörenden Politiker*innen hat, solange diese den Rahmen für das jeweilige nationale Kapital optimieren. Das ist z.B. die Rolle des neuen brasilianischen Präsident Bolsonaro: er hat nicht nur die Weltklimakonferenz abgesagt, die im November dieses Jahres in Brasilien hätte stattfinden sollen sondern auch klar gemacht, dass die Abholzung des Regenwaldes beschleunigt wird. Neben der zunehmenden Aggressivität der Ausbeutung der Ressourcen – Mensch und Natur – im eigenen Land nehmen aber ebenfalls mit Intensivierung der kapitalistischen Widersprüche auch die innerimperialistischen Widersprüche zu: Der Konflikt um die Ukraine ist nicht beigelegt, der pazifische Raum ist ein Mienenfeld, in Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten und in Afrika finden Stellvertreterkonflikte oder sogar Stellvertreterkriege statt. Die Spannungen innerhalb der NATO – just zu ihrem 70. Geburtstag – spiegeln diese Konflikte wieder.

Auch in Venezuela geht es selbstverständlich nicht um Demokratie oder Menschenrechte: Dass Washington mit Elliot Abrams einen Mann verantwortlich machte, der schon seit Jahrzehnten für die brutale Kooperation der USA mit Diktaturen in Lateinamerika (Nikaragua, El Salvador, Guatemala etc.) bekannt war, zeigt, dass es niemals um Fragen von „Demokratie“ ging. Es um die Vormachtstellung in der Region - Venezuela ist nicht nur eines der wichtigsten Ölförderländer, sondern sitzt auf den größten Erdölreserven der Welt (bis 2010 galt Saudi Arabien als das Land mit den meisten Reserven, doch Venezuela ist von Platz 5 an die Spitze aufgerückt). Die enge Kooperation von Venezuela mit Russland sowie mit China - einem der Hauptgläubiger, der das Öl zur Befeuerung der eigenen Wirtschaft braucht - ist den USA ebenfalls ein Dorn im Auge. Denn die Konkurrenz verstärkt ihren Einfluss damit quasi vor der Haustür der USA selbst. Aktuell sieht es in Venezuela nach einem Patt aus – eine indirekte militärische Intervention oder auch ein Bürgerkrieg können nicht ausgeschlossen werden.

Der Kampf gegen den Klimawandel

Gerade in Afrika sind es nicht nur militärische Konflikte, sondern auch sog. „Naturkatastrophen“ oder die Folgen des Klimawandels die Menschen zur Flucht zwingen. Fast ein Drittel der rund 70 Millionen Menschen, die weltweit laut UNHCR auf der Flucht sind, müssen ihre Heimat verlassen weil der Klimawandel ihnen die Lebensgrundlage entzieht. Der Zyklop Idai war einer der drei stärksten auf der Südhalbkugel seit es Aufzeichnungen gibt und wird als Folge des Klimawandels gesehen – er hat in Mozambique, Simbabwe, Malawi und Südafrika hunderte Menschen getötet, hundertausende Obdachlos gemacht. Die weiteren Folgen in Form von Seuchen und Ernteausfällen sind noch gar nicht absehbar.

Der Klimawandel wird ein immer wichtigeres Thema: Kaum ein anderes Thema macht so deutlich, dass es keine nationalen Lösungen und keine Lösungen im Rahmen des Kapitalismus gibt. Am 15.3. waren 1,5 Millionen Schüler*innen auf der Straße – das ist eine der größten Jugendproteste seit langem. In einer Reihe von Ländern sind Mitglieder unserer Schwesterorganisationen Teil der Massenproteste. Wir wollen ein Programm und eine Kampfstrategie anbieten die in der Lage sind, aus Protesten eine Bewegung zu machen die echte Verbesserungen erkämpfen kann.

EU-Wahlen jenseits von Pest und Cholera

Klimawandel und Flucht werden auch Themen im EU-Wahlkampf sein. Die Elite in der EU versucht verzweifelt sich und ihr System zu legitimieren. Wenn man in Britannien sitzt ist der Eindruck des Tollhauses wohl noch stärker, angesichts des Brexit-Chaos, das nun in die Verlängerung geht. Auch innerhalb der EU sehen wir die Auswirkungen der Inhomogenität des Kapitals und seiner unterschiedlichen – oft widersprüchlichen – Interessen. Italien, die schwächste der „großen“ Volkswirtschaften in Europa ist das erste Land, das in eine Rezession eingetreten ist. Ohne jede Sympathie für die aktuelle Regierung muss man doch sagen, dass es zu simpel wär, die Verantwortung dafür ausschließlich der Regierung zuzuschieben. Ein „Ausweg“ der Koalition aus 5-Sterne Bewegung und Lega ist die stärkere Orientierung nach China. Italien ist der erste G7 Staat der die „Belt-and-Road“ Initiative („Neue Seidenstraße“) unterstützt – und einen Deal über 20 Milliarden Euro unterschrieben hat von dem man sich eine Ankurbelung der italienischen Wirtschaft erhofft.

Auch Griechenland hat sich Anfang April im Rahmen des 16+1 Treffens (China + 16 europäische Staaten, darunter elf EU-Staaten und fünf Beitrittskandidaten) vertraglich zur „Seidenstraße“  bekannt. Eine Entwicklung die – ebenso wie der wachsende Einfluss Chinas z.B. in Serbien oder jener Russlands in Ungarn andere imperialistische Staaten in Europa mit Sorge erfüllt.

Bei den EU-Wahlen im Mai 2019 wird sich auch die tiefe Krise der bürgerlichen Demokratie wieder spiegeln. Das Brexit-Chaos hat v.a. in Britannien das Vertrauen in den Parlamentarismus auf einen Tiefpunkt sinken lassen. Bürgerliche Kommentator*innen legen das in der Regel nur in eine Richtung aus – nämlich der Gefahr nach dem rechten Ruf nach einem „starken Mann“. Diese verkürzte Analyse wird gefüttert durch rechte Wahlerfolge. Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien werden in ganz Europa stärker – sie sind in der Opposition wie die spanische Vox oder auch in der Regierung wie in Italien, Österreich, Ungarn, Polen und einer Reihe weiterer Länder.

Auch für die EU-Wahlen besteht die Gefahr, dass die extreme Rechte ein starkes Ergebnis einfahren wird. Auch wenn die Bündnisse und Pakte auf der extremen Rechten noch offen sind, sie werden wohl zu den großen Player im kommenden EU Parlament zählen. ÖVP-Spitzenkandidatin Edstadler, bekannt für ihr rassistischen und sexistischen Ansichten meint: „Natürlich gibt es auf der europäischen Ebene Parteien, vor denen ich nur warnen kann. Extreme Rechte, die mit dem Ausstieg aus der EU liebäugeln, das sind ganz gefährliche Dinge“. Auch hier zeigt sich einmal mehr: man hat kein Problem mit dem Rassismus, dem Sexismus oder dem Neoliberalismus dieser Parteien. Aber man warnt vor dem Sprengstoff, den der Rechtspopulismus für die EU bedeuten kann – mit den dazugehörigen negativen Auswirkungen für z.B. das exportorientierte österreichische Kapital. Das steht hinter der Inszenierung von Volksparteien und Sozialdemokratie für die „demokratischen Werte“ der EU. Bei der ÖVP kommt wohl auch noch ein Schielen auf vorgezogene Neuwahlen zum taktischen Kalkül dazu…

Im EU-Wahlkampf wird einmal mehr deutlich, wie verwirrt das Bewusstsein ist. Viele Rechtsextreme sind EU-Kritiker*innen – aber nicht alle EU-Gegner*innen sind rechtsextrem. Viele, v.a. Jugendliche, sind für ein gemeinsames Europa – ohne deswegen neoliberale Kürzungspolitik zu verteidigen. Mit Volt tritt erstmals eine europäische Liste an – sie spricht v.a. junge, gut ausgebildete Menschen an, die sich positiv mit Europa identifizieren. Das Projekt selbst ist völlig uninteressant, aber es spiegelt das Bewusstsein einer Schicht von jungen Menschen wieder, die auch die Brexit-Frage in Britannien verkompliziert haben. Als Sozialist*innen lehnen wir die EU ab und zeigen ihren Charakter als kapitalistische Institution auf. Wir dürfen aber nie vergessen, dass inzwischen ein großer Teil der Menschen, die in der EU leben nichts anderes mehr kennen und auch von manchen Vorteilen, z.B. weil sie in einem anderen EU-Land arbeiten, studieren bzw. leben davon profitiert haben! Ein sozialistisches Programm muss auch hier Antworten geben. Wir überlassen weder die Wut über die EU den Rechten, noch die Hoffnungen in „Europa“ den bürgerlichen Parteien bzw. der Sozialdemokratie.

Europa in Bewegung

Die EU-Wahl wird keine zwischen Rechtspopulismus und „Europäischen Werten“ sein. Es gibt nicht nur Pest oder Cholera, sondern es braucht eine echte, eine sozialistische Alternative! Deren Grundlage sind die vielen Bewegungen und Kämpfe, die es in ganz Europa gibt.

In Osteuropa und auf dem Balkan gibt es in einer Reihe von Staaten seit Monaten Massenproteste gegen Korruption wie die wöchentlichen Demonstrationen in Serbien oder der Slowakei. Diese Stimmung ist auch die Grundlage von Wahlsiegen von „frischen“ Kandidat*innen wie in der Ukraine oder der Slowakei. Diese Entwicklung auf der Wahlebene spiegelt auch den Versuch des Establishments wieder, den Unmut über das Versagen der bürgerlichen Demokratie in die geordneten Bahnen des bürgerlichen Parlamentarismus zu lenken. Auch linke oder sozialistische Listen können Wahlkämpfe und die Bühne des Parlaments nutzen – aber das Schwergewicht der Arbeit muss in den Bewegungen selbst liegen!

Die Entwicklungen und Schwächen der diversen neuen Formationen auf der Linken sind ein ganz zentrales Problem für die Arbeiter*innenbewegung. Im Wesentlichen kann man sagen: sie sind weitgehend kleinbürgerliche Projekte geblieben und haben sich in Richtung „Pragmatismus“ entwickelt. Hoffnungen wurden enttäuscht und das macht es den Rechten leichter dieses Vakuum zu füllen. Hinzu kommt, dass die Führung der Gewerkschaften, v.a. auch durch ihre ideologische oder auch organisatorische Anbindung an die Sozialdemokratie oder reformistische Kräfte häufig nicht an der Spitze von Kämpfen steht, sondern – wie im Fall des ÖGB – auf die EU als Korrektiv setzt.

Es mangelt nicht an der Wut über dieses ungerechte System – die Zahlen über die wachsende Vermögens- und Einkommensungleichheit sind bekannt und empörend. Jeden Tag sterben 10.000 Menschen weltweit weil sie keinen Zugang zu medizinischer Betreuung haben – und gleichzeitig wird die zunehmend private Gesundheitsindustrie zu einem immer lukrativeren Geschäft. Es mangelt auch nicht an der Bereitschaft, sich zu wehren – das zeigen Klassenkämpfe und  Massenproteste auf der ganzen Welt. Wir sehen die Bewegungen im Sudan und Algerien die in einer ersten Runde Regimes zu Fall gebracht haben. Es ist noch zu früh um zu sagen, ob wir hier den Beginn eines zweiten arabischen Frühlings stehen – aber mit Sicherheit können wir sagen, dass es notwendig ist, in diesen Bewegungen die Lehren aus eben diesem zu ziehen.

In den USA gibt es einen Streik von 31.000 Supermarkt-Beschäftigten in Connecticut, Massachusetts, und Rhode Island. Dort sehen wir seit Jahren eine Welle von Streiks unter Lehrer*innen, ein Sektor mit hohem Frauenanteil wo es Überschneidungen zu den Frauenprotesten gegen Trump und der #metoo-Bewegung gibt. Auch in vielen anderen Protesten sehen wir Frauen in einer führenden Rolle – im Sudan, bei den Lehrer*innenstreiks im Iran, bei den großen Frauentagsprotesten in der Türkei.

In Frankreich kommen die Gelbwesten nicht zur Ruhe und wir sehen eine ganze Generation die radikalisiert wird durch die Klimaproteste und die offensichtliche Unfähigkeit und Unwilligkeit der Herrschenden, der globalen Erwärmung wirklich etwas entgegen zu setzen. In all diesen Bewegungen gibt es die Notwendigkeit, Perspektiven und Programme zu erarbeiten. Sozialist*innen haben hier auch eine enorme Verantwortung – nicht nur für die „eigene“ Organisation, sondern auch der Arbeiter*innenklasse und den unterdrückten Massen gegenüber. Die Welt ist in Bewegung – drücken wir den Protesten einen sozialistischen Stempel auf um sicherzustellen, dass am Ende nicht Barbarei, sondern Sozialismus steht!

USA: Den Bossen eine Lehre erteilen!

Über 100.000 Lehrer*innen haben für bessere Bezahlung, kleinere Klassen und gegen Privatisierung gestreikt.
Brettros

In den USA ist das Bildungswesen einer der wenigen Bereiche, die sich weitgehend in öffentlicher Hand befinden. Jedes Jahr werden mehr als 1.000 Milliarden US-Dollar ausgegeben. Das wollen die Kapitalist*innen gerne privatisieren. Seit Beginn der Wirtschaftskrise ist das eines der Hauptziele der Kürzungspolitik.

Gegen diese Bestrebungen stehen Lehrer*innen, die der am besten organisierte Teil der Arbeiter*innenklasse in den USA sind, auf. Während insgesamt nur 10% der Beschäftigten bei der Gewerkschaft sind, sind es bei Lehrer*innen über 40%. An vielen Orten haben sie Basisgruppen aufgebaut, um sich auf lokaler Ebene zu organisieren. In einigen Städten wie Los Angeles und Chicago haben diese Strukturen sogar die Führung ihrer Gewerkschaften errungen. Sie haben sich an Schüler*innen, Eltern und die umliegenden Stadtteile gewandt und mit ihren Forderungen breitere Schichten von Beschäftigten angesprochen (insbesondere berufstätige Eltern). So haben die Lehrer*innen breite Unterstützung gefunden. Sie haben sich nicht auf Gewerkschaftsbürokrat*innen oder "wohlwollende" Politiker*innen verlassen, sondern viel mehr auf ihre eigene Kraft, indem sie zur Waffe des Streiks gegriffen haben.

Es ist wichtig, dass die meisten dieser Streiks klare Siege errungen haben. Es ist ein Schlag gegen Trump und jene, die die Bildung „reformieren“ wollen und ein Signal an den Rest der Arbeiter*innenklasse, dass es möglich ist, zu kämpfen und zu gewinnen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Seiten