Das Erbe von 1950 endlich abschütteln

Die Arbeiter*innen in Österreich sind nicht braver als anderswo – aber Traditionen sind verschüttet.
Philipp Chmel

In Österreich gibt es aktuell keine ausgeprägte Streikkultur. Die Gründe dafür sind aber nicht bei den Beschäftigten zu suchen. Vielmehr ist der Mythos von den „friedlichen Arbeiter*innen“ Resultat anti-revolutionärer und Kapitalismus-stützender Gewerkschaftspolitik von oben. Die Niederschlagung des Oktoberstreiks nimmt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle ein.

Während es in den 1950er und 60er Jahren noch etwa 50-100 Streiks pro Jahr gab, nahmen diese in den Folgejahren zunehmend ab; in den 1990er Jahren gab es dann einige Jahre ohne einen einzigen Streik. Diese Entwicklung war das Ergebnis der Durchsetzung der Sozialpartnerschaft durch ÖGB und SPÖ mit all ihren Folgen. Das dadurch geschaffene Bild von der angeblichen “Streikfaulheit” der Beschäftigten dient bis heute als Rechtfertigung für konsensorientierte Gewerkschaftspolitik und übertönt zudem die durchaus kämpferischen Traditionen der österreichischen Arbeiter*innen-Bewegung: 

1848 im Kampf um demokratische Rechte, 1918 für eine sozialistische Republik, 1927-1934 gegen den Faschismus, und 1950 im Oktoberstreik gegen das 4. Lohnpreisabkommen. Auch die „wilden“ – also vom ÖGB nicht unterstützten – Streiks, besonders in den 1970ern, zeugen vom Willen zum Widerstand der Basis, welche sich immer wieder gegen den Wunsch nach sozialpartnerschaftlicher Ordnung des ÖGB wehrte.

Die relative Passivität der österreichischen Arbeiter*innen-Bewegung ist also kein Naturzustand, sondern wurde von oben durchgesetzt, zum Teil auch mit Gewalt wie im Fall des Oktoberstreiks. Fritz Klenner, „Erfinder“ der Putschlüge, gab 30 Jahre nach dem Oktoberstreik zu, dass es nicht ein kommunistischer Putsch war, vor dem sich die ÖGB-Führung fürchtete. Das eigentliche Ziel war, eine alternative – kämpferische – Gewerkschaftspolitik mit allen Mitteln zu verhindern und die Rolle des ÖGB als kapitalistische Gewerkschaft des Interessenausgleichs zu zementieren. Und dazu war jedes Mittel recht. Der SPÖ-Gewerkschafter Franz Olah (GBH) war der extremste Ausdruck dieser Politik: Nicht nur organisierte er die Schlägertrupps gegen streikende Arbeiter*innen. Er veruntreute auch noch Gewerkschaftsgelder und versorgte damit die FPÖ und die neu gegründete Kronen Zeitung.

Die Niederlage des Oktoberstreiks war auch eine Niederlage der Linken innerhalb von SPÖ und ÖGB. In den Tagen nach dem Oktoberstreik wurde der ÖGB von „kommunistischen Elementen“ gesäubert – 85 führende Gewerkschaftsfunktionäre, darunter Vizepräsident Fiala, wurden ausgeschlossen, ÖGB-Angestellte sowie Streikführer*innen in den Betrieben entlassen. In der SPÖ setzte die Parteiführung zum vernichtenden Schlag gegen die SPÖ-Linke aus. Weitere Folgen waren ein Rückgang der Streiktage um fast zwei Drittel und die „Erziehung“ der Arbeiter*innen zur Passivität.

Diese von oben erzwungene Passivität hatte und hat natürlich Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiter*innen-Klasse. Seit einigen Jahren bewegt sich jedoch wieder mehr, es wird häufiger gestreikt, auch wenn es bisher meist bei symbolischen Dampfablass-Aktionen geblieben ist. “Streik” hat seinen Charakter als gewerkschaftliches “Schimpfwort” großteils verloren.

Der Aufholbedarf ist aber enorm, es fehlt massiv an Streik-Erfahrung, sowohl bei der Gewerkschaftsführung als auch bei den Beschäftigten. Dies wird besonders im internationalen Vergleich deutlich: Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (2017) gab es 2007-16 in Frankreich durchschnittlich 123 Streiktage pro 1.000 Beschäftigte/Jahr, in Österreich waren es lediglich 2. Auch der letzte österreichweite Streik liegt bald 20 Jahre zurück; dieser war 2003 gegen die Pensionsreform, blieb jedoch – nicht zuletzt, weil die Gewerkschaft klein beigab – weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Wir brauchen also dringend eine kämpferische Gewerkschaftsopposition, um zu verhindern, dass die Folgen der Wirtschafts- und der Corona-Krise auf unser aller Rücken ausgetragen werden. Daher braucht es einen offensiven Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie, denn diese ist nicht nur ein Hindernis für klassenkämpferische Politik (hallo Metaller-Abschluss), sondern häufig sogar aktiver Gegner davon. Viele Beispiele, wie z.B. das Abwürgen der Streikbewegung im Sozial- und Gesundheitsbereich Anfang dieses Jahres, zeigen das. Viele sind von der katastrophalen Politik des ÖGB zu Recht enttäuscht und treten aus oder gar nicht erst ein. Gerade deshalb ist es aber besonders wichtig, kämpferische Kolleg*innen innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften zusammenzubringen.

Basisinitiativen wie Wir sind sozial aber nicht blöd und Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit sind gute Beispiele dafür, wie der Aufbau von kämpferischen Strukturen sowohl inner- als auch außerhalb der Gewerkschaften funktionieren kann. Und diese Strukturen sowie die Kämpfe, die sie führen sind zentral für den Aufbau einer neuen Arbeiter*innenpartei mit sozialistischem Programm!

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