Internationales

Das Modell Rojava

Demokratische Autonomie oder sozialistische Revolution?
Von Sascha Stanicic

„Rojava“ bedeutet Westen und bezeichnet den westlichen Teil des kurdischen Siedlungsgebiets, der auf syrischem Staatsgebiet liegt. Rojava ist also Syrisch-Kurdistan. Es besteht aus den drei Kantonen Cizîrê, Kobanî und Afrîn. Seit Juli 2012 gibt es dort eine „demokratische Autonomie“ genannte Selbstverwaltung, nachdem sich die bewaffneten Einheiten des syrischen Staates zurück gezogen hatten.

Die führende politische Kraft in Rojava ist die PYD, die syrisch-kurdische Schwesterpartei der PKK. Weltweite Beachtung findet Rojava seit dem erfolgreichen Widerstand gegen den so genannten Islamischen Staat (IS) bei der Verteidigung der Stadt Kobanî (Hauptstadt des gleichnamigen Kantons) und der Rettung der EzidInnen, die vom IS in den irakischen Sengal-Bergen im Juli 2014 festgesetzt worden waren. Spätestens seitdem präsentieren viele Linke die demokratische Autonomie in Rojava als eine antikapitalistische Revolution, vergleichen dies mit dem Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 und rufen zur – weitgehend unkritischen – Unterstützung von Rojava, der PYD und den von dieser dominierten Volksverteidigungseinheiten YPG und deren Frauenverteidigungseinheiten YPJ auf.

Die KurdInnen in Syrien

Die KurdInnen sind das größte Volk ohne eigenen Staat. Circa 4,5 Millionen KurdInnen leben in einem weitgehend zusammenhängenden Siedlungsgebiet, das in den heutigen Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien liegt. Nur im Norden des Irak konnte bisher eine kurdische Selbstverwaltung gebildet werden als Folge des Zerfallsprozesses des Iraks nach dem Angriffskrieg der USA und dem Sturz Saddam Husseins, der die KurdInnen während seiner Regentschaft brutal unterdrückt. Doch die dortige Selbstverwaltung, die sich durch die reichhaltigen Erdölvorkommen finanzieren kann, wird von korrupten pro-kapitalistischen Parteien dominiert: der Kurdisch Demokratischen Partei (KDP) von Masud Barzani und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) von Dschalal Talabani. Diese kooperieren eng mit den USA und dem Erdoğan-Regime in der Türkei. Im Iran und der Türkei sind die KurdInnen wichtiger nationaler und demokratischer Rechte beraubt und Opfer nationaler Unterdrückung. In der Türkei steht seit Ende der 1970er Jahre die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) unter der Führung Abdullah Öcalans an der Spitze des nationalen Befreiungskampfs. Dieser wurde über viele Jahre vor allem als Guerillakrieg geführt, der auch Mittel des individuellen Terrorismus einsetzte. In den letzten Jahren fand ein so genannter Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK statt, der jedoch mit den Luftangriffen des türkischen Militärs auf PKK-Stellungen seit Juli 2015 beendet wurde. Während die PKK über viele Jahre für einen selbständigen kurdischen Nationalstaat gekämpft hat, ist sie nach der Verhaftung von Abdullah Öcalan im Jahr 1999 und einer politischen Neuorientierung von dieser Forderung abgerückt und setzt sich nun für eine politische Lösung des Konflikts ein, die mit den Begriffen „Demokratische Autonomie“ und „Demokratischer Konföderalismus“ bezeichnet wird. Diese sehen Formen kommunaler demokratischer Selbstverwaltung im Rahmen der bestehenden Staatsgrenzen vor. In Türkisch-Kurdistan werden Aspekte der „demokratischen Autonomie“ in Form von Untergrund- bzw. Parallelstrukturen im Rahmen des türkischen Staates umgesetzt.1 In Rojava besteht seit Juli 2012, unter den Bedingungen von Bürgerkrieg und Belagerung, die Möglichkeit, dieses Konzept umzusetzen.

Das vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Unterdrückung der KurdInnen in Syrien, die zu einer massiven Auswanderung in die syrischen Metropolen Damaskus und Aleppo führte und die sehr vielen KurdInnen über Jahrzehnte die syrische Staatsbürgerschaft und damit grundlegende Bürger- und Menschenrechte verwehrte. Seit Beginn der 1960er Jahre verschärfte sich diese Unterdrückung. Bis zu 350.000 KurdInnen wurden ausgebürgert, viele landeten im Gefängnis, kurdische LandbesitzerInnen wurden enteignet und AraberInnen auf diesem Land angesiedelt. Kurdische Sprache und Musik waren verboten.2

Revolution in Syrien

Im Zuge des Arabischen Frühlings, insbesondere der revolutionären Massenbewegungen in Ägypten und Tunesien, kam es auch in Syrien zu Massenprotesten und einer revolutionären Volksbewegung gegen das diktatorische Assad-Regime, das in den letzten Jahren einen neoliberalen Umbau der syrischen Gesellschaft zu verantworten hatte.

Diese Proteste ergriffen auch die kurdischen Gebiete. So fanden in der Stadt Amûdê schon im März 2011 einige der ersten Proteste in ganz Syrien statt.3 Das unter Druck geratene Assad-Regime machte den KurdInnen einige Zugeständnisse. So erhielt ein Teil im April 2011 das Recht auf die syrische Staatsbürgerschaft, was zu einer Abschwächung der Proteste, nicht aber zu ihrem Ende führte.4 Als dann am 7. Oktober 2011 der prominente kurdische Oppositionspolitiker Mishal at-Tammu getötet wurde – bis heute ist nicht geklärt, wer für die Ermordung verantwortlich zeichnet -, entwickelten sich neue Massenproteste in Syrisch-Kurdistan.5

In Syrien wurde die revolutionäre Massenbewegung in der Folgezeit zu einem stark religiös und ethnisch geprägten Bürgerkrieg, der faktisch ein Stellvertreterkrieg imperialer Mächte wurde. Während Russland und China das Assad-Regime unterstützen, setzte der Westen und die Türkei zuerst auf die Freie Syrische Armee und dann auch auf die islamistische Al-Nusra-Front, um das Assad-Regime zu stürzen, welches einen Unterstützungsposten des verhassten iranischen Regimes in der Region darstellt.

Selbstverwaltung

In den kurdischen Gebieten gelang es der PYD Strukturen aufzubauen, die einer parallelen Selbstverwaltung gleich kamen. Im Juli 2012 zogen sich dann die Sicherheitskräfte des syrischen Staates weitestgehend aus Rojava zurück und die PYD-geführte Selbstverwaltung konnte die Kontrolle übernehmen. Über die genauen Umstände dieser Ereignisse gibt es unterschiedliche Darstellungen. Während die PYD von einer Revolution spricht und betont, die Bevölkerung Rojavas habe die Militärstellungen der syrischen Armee umstellt und diese habe sich kampflos zurück gezogen, behaupten andere politische Kräfte der KurdInnen, es habe einen Deal zwischen dem Assad-Regime und der PYD gegeben.

Für letzteres scheint zu sprechen, dass in Rojava weiterhin Militäreinrichtungen der syrischen Armee operieren können, es die Kontrolle über strategisch wichtige Punkte wie den Flughafen und Bahnhof von Qami‘lo hält und die öffentlichen Angestellten ihr Gehalt weiterhin aus Damaskus beziehen.6 Die PYD hingegen begründet diese Situation damit, dass sie durch die Akzeptanz einer begrenzten Präsenz des Assad-Regimes den Ausbruch eines Bürgerkriegs in Rojava selbst verhindert. Sie weist darauf hin, dass es in anderen Situationen sehr wohl zu Gefechten zwischen der YPG/YPJ und der syrischen Armee gekommen sei, sie aber eine strikte Politik der „legitimen Selbstverteidigung“ betreibe, also auf jegliche offensive militärische Aktionen verzichtet.7

Zweifellos lassen alle Berichte aus Rojava darauf schließen, dass es sowohl eine starke Dominanz der PYD, als auch eine breitere Aktivierung und Einbeziehung von Teilen der Bevölkerung gibt.

MarxistInnen verstehen unter Revolutionen vor allem Ereignisse in denen die Massen als selbständiger Faktor den Lauf der Geschichte beeinflussen. Natürlich werden auch in klassischen Revolutionen politische Kräfte zur Führung der Bewegung, wie es die Bolschewiki im Verlauf des Jahres 1917 in Russland wurden. Aber der Prozess in Russland war doch viel mehr der einer sich spontan Bahn brechenden Massenbewegung, die sich von unten in Form der Arbeiter- und Soldatenräte eigene Machtorgane schaffte, in denen alle Parteien um Einfluss rangen und die nach sechs Monaten dann durch freie Wahlen zu den Räten eine bolschewistische Mehrheit erhielten, welche den bewaffneten Aufstand vom 7. November (nach neuer Zeitrechnung) führte. In Rojava scheint der Prozess doch viel mehr von Beginn an durch die PYD gelenkt worden zu sein, der es jedoch gelungen ist Teile, nicht nur, der kurdischen Bevölkerung einzubeziehen.

Die Ereignisse in Rojava markieren den Beginn eines revolutionären Prozesses, der zu einer Veränderung der politischen Machtverhältnisse geführt hat, die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft in Rojava aber unangetastet lässt. Dieser Prozess ist gefährdet nicht nur durch äußere Feinde, sondern auch durch seine inneren Strukturen, wie wir in diesem Artikel darlegen wollen.

„Demokratische Autonomie“ in Rojava

Zweifellos bestehen in Rojava aber, unter widrigen äußeren Bedingungen, gesellschaftliche Verhältnisse, von denen die meisten Menschen in der Region nur träumen können und die eine enorme Anziehungskraft auf Jugendliche, ArbeiterInnen und Unterdrückte ausüben.

Es gibt eine Demokratisierung der Verwaltungsstrukturen und die Bildung von „Räte“ genannten Organen auf kommunaler Ebene, die vielen Berichten zu Folge nicht unwesentliche Teile der Bevölkerung vor Ort in Diskussions- und Entscheidungsprozesse einbeziehen. Gleichzeitig gibt es zweifelsfrei starke Bemühungen die ethnischen Minderheiten in den drei Kantonen Cizîrê, Kobanî und Afrîn in die Verwaltung der Gesellschaft einzubeziehen und Diskriminierungen zu beenden. Produktionsgenossenschaften werden gefördert. Und vor allem kommt den Frauen eine besondere Rolle zu, gibt es eine Quotierung von vierzig Prozent bei den meisten Verwaltungsgremien und wird ein aktiver Kampf gegen Frauenunterdrückung und patriarchalische Strukturen geführt. All das wirkt wie der einzige Hoffnungsschimmer in einer Region, die von ethnischen und religiösen Bürgerkriegen, Terror des Islamischen Staates, imperialistischen Militärinterventionen und Kriegen, diktatorischen Regimes, nationaler Unterdrückung, Frauendiskriminierung geprägt ist.

Natürlich müssen alle demokratischen und sozialen Errungenschaften in Rojava genauso verteidigt werden, wie die drei Kantone insgesamt gegen Angriffe des Islamischen Staates oder, wie zu erwarten ist, der Türkei. Die Frage ist aber, ob Rojava tatsächlich ein Modell für die ganze Region ist, um Unterdrückung, Krieg, Terror, Ausbeutung zu überwinden, wie es die PKK und PYD behaupten. Ist die „demokratische Autonomie“ ein Weg, um den Kapitalismus zu überwinden und die religiös-sektiererischen Bürgerkriege zu stoppen? Wir haben uns in der Ausgabe Nummer 24 von sozialismus.info ausführlich mit dieser Frage von einem theoretischen Blickwinkel beschäftigt und sind zu einem negativen Ergebnis gekommen.8 Die praktische Realität in Rojava scheint unser Urteil zu bestätigen.

Die real existierenden Verhältnisse in Rojava sollten nüchtern betrachtet und nicht romantisiert werden. Ein Vergleich zur Spanischen Revolution der 1930er Jahre führt in die Irre, denn in Spanien war der Prozess einer sozialen Revolution im Gange, der Land- und Betriebsbesetzungen, Enteignungen und eine breite Mobilisierung der Arbeiterklasse mit eindeutig sozialistischer Zielsetzung beinhaltete.

Ökonomie

Rojava versteht sich selber als klassenübergreifendes – nicht klassenloses – Projekt und hat den Anspruch, die kapitalistischen Wirtschaftsverhältnisse (konkret: Privateigentum an Produktionsmitteln, gewinnorientierte Produktion, Konkurrenz und Marktbeziehungen) nicht zu überwinden, sondern diese in den Dienst der gesamten Gesellschaft zu stellen.9 So spricht der Gesellschaftsvertrag der drei Kantone, die „Verfassung“ Rojavas, vom Schutz des Privateigentums und der Duldung „legitimer Konkurrenz“. Das steht im Einklang mit den wirtschaftlichen Ideen Abdullah Öcalans, der sich nicht für eine vergesellschaftete und geplante Wirtschaft ausspricht, sondern Konkurrenz durch Wettbewerb ersetzen möchte.10 Das ist eine Illusion, die in einer landwirtschaftlich dominierten Gesellschaft wie Rojava noch etwas nachvollziehbarer ist, aber als Modell für Industriestaaten wie die Türkei oder den Irak, geschweige denn Europa und Nordamerika nicht taugen kann.

Plastischen Ausdruck findet dieser Versuch die Interessen der Reichen, Unternehmer und Grundbesitzer mit denen der armen Massen zu versöhnen in der Tatsache, dass Akram Kamal Hasu zum Premierminister des Kantons Cizîre wurde. Er gehört zu den reichsten Unternehmern Syriens.11

Aber auch Rojava ist Teil einer imperialistisch dominierten Weltwirtschaft. Es ist unmöglich dauerhaft autarke Inseln zu bilden, die sich dem Druck des Weltmarkts entziehen können und eine ökonomischen Aufbau, steigenden Lebensstandard und Fortschritt ermöglichen. Jede gesellschaftliche Veränderung jenseits des Kapitalismus muss sich international ausdehnen, um überlebensfähig zu sein.

Um sich aber zumindest für eine Zeit gegen diesen Druck zu verteidigen, ist ein Bruch mit marktwirtschaftlichen Wirtschaftsstrukturen nötig. Nur auf Basis einer verstaatlichten und demokratisch verwalteten Wirtschaft, ökonomischer Planung und einem staatlichen Außenhandelsmonopol ist das vorstellbar. Die „demokratische Autonomie“ in Rojava sieht nicht vor, Marktbeziehungen in der Wirtschaft zu beenden. Paradoxerweise kann sich aber unter den Bedingungen von Wirtschaftsembargo, Belagerung, Bürgerkriegsgefahr (bzw. realem Bürgerkrieg in dem Staat, dem sich die drei Kantone zugehörig fühlen) dieses Modell eher für eine Zeit behaupten. Frieden und wirtschaftlicher Handel mit den kapitalistischen Staaten der Region würde die auf Genossenschaften basierende Wirtschaft der „demokratischen Autonomie“ der Konkurrenz billiger Waren ausliefern und zerstören.

Viele Linke, und auch die PYD selbst, bezeichnen die Verwaltungsstrukturen Rojavas als ein Rätesystem direkter Demokratie. Liest man den Gesellschaftsvertrag der drei Kantone, so enthält dieser viele progressive Zielsetzungen. Insbesondere sind hier, wie gesagt, der multi-ethnische Charakter und die Rolle, die Frauen zugewiesen wird, zu erwähnen. Streik- und Demonstrationsrecht werden ebenso festgeschrieben, wie das Recht auf politisches Asyl und ein generelles Abschiebeverbot von Asylsuchenden. Monopolbildung ist verboten, was jedoch formell auch in der Bundesrepublik und der EU der Fall ist.

Das Verwaltungssystem erinnert aber mehr an bürgerlich-parlamentarische Demokratien mit einem hohen Maß an kommunaler Selbstverwaltung, als an sozialistische Rätedemokratie. Wahlperioden werden auf allen Ebenen auf vier Jahre fest geschrieben, jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit ist nicht vorgesehen. In dem Buch „Revolution in Rojava“ schreibt Ercan Ayboğa von der Möglichkeit der Abwahl in den Kommunalräten, was im Gesellschaftsvertrag aber nicht ausdrücklich erwähnt wird. Auch gibt es keine Begrenzung des Einkommens von gewählten VertreterInnen, was eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, bürokratische Strukturen zu verhindern und wirkliche soziale Gleichheit zu erreichen. Auch wenn diese Strukturen mit den Begriffen „Räte“ und „Kommissionen“ bezeichnet werden, machen sie eher den Eindruck klassischer bürgerlich-parlamentarischer Wahlsysteme statt tatsächlicher direkter Demokratie. Die „Räte“ scheinen auch weniger zur Aufgabe zu haben, politische Richtungsentscheidungen zu treffen, sondern tatsächlich vor allem das Funktionieren der Verwaltung aufrecht zu erhalten.

In Anerkennung, dass diese Strukturen aber nur einen Teil der Bevölkerung erfassen, werden nun außerdem zusätzliche Parlamentswahlen vorbereitet, was zu einer Doppelstruktur der gesellschaftlichen Leitung und Verwaltung führen soll, aber den repräsentativen Charakter der Verwaltungsstrukturen wahrscheinlich verstärken wird.12

Kein Staat in Rojava?

Den VertreterInnen des Konzepts der „demokratischen Autonomie“ ist es gleichzeitig wichtig, ihr Gesellschaftsmodell von staatlichen Gesellschaftsmodellen abzugrenzen. Sie erwecken den Eindruck, als gebe es in Rojava keinen Staat mehr.

Alle Berichte aus Rojava müssen mit Vorsicht genossen werden. Das gilt sowohl für solche aus der PYD und ihrem Umfeld, als auch für Berichte zum Beispiel der Barzani-kontrollierten Nachrichtenagentur Rudaw aus dem Nordirak. Zu hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Informationen und Darstellungen von Ereignissen vor allem interessengeleitet sind. Natürlich müssen die Verhältnisse auch im historischen Kontext betrachtet werden. Keine Revolution könnte alle Überbleibsel der alten Gesellschaft in Denkweisen, Traditionen, Verhaltensmustern etc. über Nacht hinter sich lassen. Das gilt umso mehr, wenn die Gesellschaft von ökonomischer Rückständigkeit und einer Kriegssituation oder Belagerung geprägt ist.

Aber leider gibt es einige Hinweise, dass auch in Rojava Anspruch und Wirklichkeit auseinander fallen. So gibt es Berichte des britischen Journalisten Patrick Cockburn, die von ethnisch motivierten Übergriffen von YPG-Einheiten sprechen. Dies können Einzelfälle sein, die sich aus der Geschichte der Region erklären lassen und möglicherweise gegen Teile der arabischen Bevölkerung gerichtet sein, die in den 1960er Jahren und später in der Region auf Land angesiedelt wurden, das KurdInnen gehörte. Problematisch ist, dass die PYD zur Frage dieser AraberInnen scheinbar keine eindeutige Position hat. Während die PYD immer die Einbeziehung aller Bevölkerungsschichten in ihr Gesellschaftsprojekt betont, wird der PYD-Vorsitzende Salih Muslim mit den Worten zitiert: „Eines Tages werden diese Araber, die in die kurdischen Gebiete gebracht wurden, ausgewiesen werden müssen.“13

Auch gibt es Berichte von Repression gegen politische Demonstrationen anderer Parteien, so zum Beispiel gegen die Yekîtî Partei (Kurdische Demokratische Einheitspartei in Syrien).14 Auch wenn solche Berichte aus der Ferne schwer zu beurteilen sind, müssen sie ernst genommen werden.

Eines scheint zumindest klar zu sein: wenn man den Staat, im marxistischen Sinn, als Formation bewaffneter Menschen zur Aufrechterhaltung bestimmter Macht- und Eigentumsverhältnisse betrachtet, dann ist es offensichtlich, dass in Rojava ein durch die PYD und YPG dominierter Staat existiert und kein Selbstverwaltungsprojekt jenseits staatlicher Strukturen. Armee (YPG, YPJ), Polizei (Asayî), Gefängnisse und separater Justizapparat – was soll das darstellen, wenn nicht einen Staat? Vielleicht einen demokratischeren Staat, als es andere Staaten sind. Jedoch ist kommunale Selbstverwaltung und wirkliche Selbstverwaltung der gesamten Gesellschaft inklusive der Staatsorgane, Außenpolitik etc. zweierlei.

Aussichten

Das Schicksal Rojavas wird nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, in Rojava selbst entschieden. Der Verlauf der Bürgerkriege in Syrien und Irak, der militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der PKK, vor allem aber der Klassenkämpfe in der Region sind entscheidend, um dem kleinen Rojava eine Überlebensperspektive zu bieten. Deshalb sollten PKK und PYD alles dafür tun, um die Einheit der arbeitenden und verarmten Massen in der Region über ethnische und religiöse Grenzen hinweg herzustellen. Das ist die entscheidende Voraussetzung, um den Vormarsch des Islamischen Staates zu stoppen, aber auch die herrschenden Regimes zu stürzen und den Imperialismus zu vertreiben. Der multi-ethnische Anspruch Rojavas kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Tatsache, dass seit dem Kampf um Kobanî eine Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus und den pro-kapitalistischen kurdischen Parteien von Barzani und Talabani stattfindet und Vieles den Eindruck macht, dass die Betonung von der Multiethnizität Rojavas wieder stärker auf den kurdisch-nationalen Befreiungskampf gelegt wird (was durch die Angriffe des türkischen Militärs auf die PKK noch verstärkt werden könnte), lässt befürchten, dass diese Chance vertan werden könnte.

Die aktuellen Selbstmordanschläge der PKK, die auch einfache türkische Wehrpflichtige treffen und die Kooperation der PYD mit der vom US-Imperialismus angeführten Anti-IS-Allianz sind Hindernisse auf dem Weg zu einer solchen Einheit, weil sie den reaktionären Kräften in die Hände spielen, die ethnische Spaltung zu vertiefen. Es mag verständlich sein, die militärische Hilfe der US-Streitkräfte bei der Schlacht um Kobanî in Anspruch genommen zu haben, aber dies mit politischen Aussagen zu verknüpfen, die den Eindruck erwecken, PYD und USA verfolgten in der Region dieselben Ziele ist ein schwerer Fehler.15 Der IS konnte sich unter einem Teil der sunnitischen Bevölkerung eine Basis schaffen, weil diese unter US-Interventionen und -Dominanz seit Jahren leiden. Jeder Luftangriff der USA in der Region mag zwar unmittelbar IS-Stellungen zerstören, aber treibt potenziell mehr Sunniten in die Arme der Terrorbande.

Nun unterstützen die USA Erdoğans Angriffe gegen die PKK und lassen die KurdInnen fallen. Das bestätigt unsere Warnungen vor Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus und die Notwendigkeit eine unabhängige, multiethnische und sozialistische Arbeiterbewegung aufzubauen. Es kann sein, dass die US-Luftangriffe eine unmittelbare Hilfe waren, den IS vor Kobanî militärisch zurückzuschlagen, nun ist die Gefahr aber größer denn je, dass Kobanî zwischen dem IS und einem türkisch-amerikanischen Bündnis zerrieben wird.

Die Region braucht eine sozialistische Perspektive. Einheit der einfachen Bevölkerung, Kampf gegen alle reaktionären Kräfte, seien sie Islamisten oder Baathisten, und gegen den Imperialismus müssen dafür die Eckpunkte sein. Rojava ist ein Sonnenstrahl im Arabischen Winter, aber Rojava muss zu wirklich demokratischer Rätedemokratie und sozialistischer Politik übergehen, wenn es überleben und der Region einen Ausweg aufzeigen will.

Dieser Artikel basiert zu einem großen Teil auf Informationen aus den Büchern „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan“ von Thomas Schmidinger (Wien, 2014) und „Revolution in Kurdistan“ von Anja Flach, Ercan Ayboğa und Michael Knapp (Hamburg, 2015) Es war nicht möglich, in allen Fragen zu überprüfen, ob diese im Sommer 2015 noch alle zutreffen oder durch neuere Entwicklungen aufgehoben wurden.

Sascha Stanicic ist verantwortlicher Redakteur von sozialismus.info und Bundessprecher der SAV. Er ist aktiv in der LINKEN Berlin-Neukölln und der Antikapitalistischen Linken (AKL).

1 Demokratische Autonomie in Nordkurdistan, Mesopotamien Verlag, 2012
2 Flach, Ayboğa, Knapp – Revolution in Rojava, Seite 44ff., Hamburg 2015
3 Schmidinger – Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan, Seite 111, Wien 2014
4 Ebd., Seite 112
5 Ebd., Seite 114
6 Ebd., Seite 120
7 Flach, Ayboğa, Knapp – Revolution in Rojava, Seite 194ff, Hamburg 2015
8 Claus Ludwig – Demokratische Autonomie oder Sozialismus: Apos Zeitreise in die Utopie, in: sozialismus.info Nr. 24
9 Artikel 41 und Artikel 42 im Gesellschaftsvertrag der Kantone Cizîrê, Kobanî und Afrîn
10 Zitiert in: Ebd.
11 Schmidinger – Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan, Seite 141, Wien 2014
12 Flach, Ayboğa, Knapp – Revolution in Rojava, Seite 109/110, Hamburg 2015
13 www.mesop.de/pyd-leader-warns-of-war-with-arab-settlers-in-kurdish-areas/
14 Schmidinger – Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan, Seite 144, Wien 2014
15 www.rudaw.net/english/interview/03072014

 

Rojava: PYD-Führer für Bündnis mit Assad

Kein Vertrauen in autoritäre Herrscher oder die westlichen Mächte!
Von Serge Jordan, Dieser Artikel erschien im englischen Original zuerst am 6. August 2015 auf socialistworld.net.

Die massiven Luftschläge des türkischen Regimes unter Erdoğan auf Lager der kurdischen PKK („Arbeiterpartei Kurdistans“) und die darauf folgenden Reaktionen der PYD („Partei der Demokratischen Union“), eine Schwesterorganisation der PKK in Nord-Syrien, hat stärker als jemals zuvor ganz wesentliche Fragen revolutionärer Strategie aufgeworfen.

Seit dem Sommer 2012 hat die PYD, in der Folge des Abzugs syrischer Truppen aus diesen gebieten, einige Flecken im vornehmlich von KurdInnen bewohnten Teil Nordsyriens überrannt. Dies war vom Regime Bashar al-Assads ausgegangen, um die eigene militärische Macht darauf zu konzentrieren, den Vormarsch bewaffneter sunnitischer Gruppen in anderen Teilen des Landes aufzuhalten. Der PYD war es somit möglich, das vorhandene Vakuum auszufüllen.

Diese Machtverschiebung zugunsten der PYD, einer politischen Kraft, die sich der Notlage der kurdischen Massen angenommen hat, sowie die Kontrolle dieser Partei über ein Gebiet, das mittlerweile als Kantone von Rojava bekannt ist, hat zu einer Welle der Begeisterung unter der kurdischen Bevölkerung in Syrien aber auch weltweit geführt. Für viele KurdInnen war dies eine willkommene Entwicklung, die jahrelang unter der eisernen Hand der Assad-Diktatur zu leiden hatten und denen die Grundrechte verweigert wurden. So wurde ihnen zum Beispiel nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit ihre eigene Sprache zu sprechen.

Seither erregen bewaffnete Einheiten der PYD (die YPG und die YPJ) aufgrund ihres unbestrittenen Muts und der Existenz der kämpferischen Frauenverteidigungseinheiten im Kampf gegen das reaktionäre Wüten des „Islamischen Staates“ die Aufmerksamkeit von Millionen von Menschen. Nach eigenen Angaben versuchen sie, ein alternatives Regierungssystem aufzubauen, das auf der Harmonie zwischen den verschiedenen religiösen und ethnischen Richtungen inmitten eines sektiererischen Krieges basiert. Auch dies hat einen mitreißenden Effekt auf viele junge Menschen, linke und kurdische AktivistInnen auf der ganzen Welt.

Und dennoch kann man von Anfang an von einer Grauzone sprechen, was die Frage angeht, wie die PYD zum Assad-Regime steht. Wir müssen an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die PKK (das Äquivalent der PYD in der Türkei) seit rund zwei Jahrzehnten, seit ihrer Gründung im Jahr 1978 eine kooperative Beziehung zum Assad-Regime genoss, was auch mit dem Erhalt finanzieller Unterstützung einherging. Dann wendete sich das Regime gegen die PKK. Auch wenn der wirkliche Charakter der Beziehungen zwischen PYD und Assad-Regime in den vergangenen Jahren verschwommen geblieben ist, ist klar, dass es die PYD bislang vorgezogen hat, sich an keiner Konfrontation mit der syrischen Armee zu beteiligen.

In einigen Teilen von Rojava (wie z.B. in den mit jeweils rund 300.000 EinwohnerInnen größten Städten Qamishli und Al-Hasaka) hat das Assad-Regime zwar den größten Teil seiner Sicherheitskräfte abgezogen. Dennoch steht der öffentliche Dienst weiterhin unter der Leitung von Damaskus. Von hier aus werden immer noch die Löhne der Staatsbediensteten überwiesen, die lokale Verwaltung wird mit öffentlichen Geldern versorgt, und es werden hier einige Verwaltungsstellen unterhalten. Sogar die Schulprogramme sind dieselben geblieben wie unter Assad. OberschülerInnen lernen immer noch nach Lehrplänen, die von der ehemals regierenden „Baath Partei“ bewilligt worden sind.

Gleichzeitig kam es im letzten Jahr – parallel zum Erstarken des „Islamischen Staates“ – zur militärischen Zusammenarbeit zwischen PYD und dem US-Imperialismus. Wie mit militärischer Hilfe umzugehen ist, ist für das CWI zwar keine prinzipielle Frage (vor allem, wenn man es mit solchen Fanatikern wie vom „Islamischen Staat“ und deren mörderischem Wüten zu tun hat). Dennoch haben wir von Anfang an vor den politischen Gefahren gewarnt, die eine solche Zusammenarbeit mit sich bringen wird. Dies gilt insbesondere für die Millionen von Menschen im Nahen Osten. Wie werden sie, die unter den blutigen Interventionen des US-Imperialismus gelitten haben und weiterhin darunter leiden, eine solche Zusammenarbeit bewerten?

„Es sollte keine Illusionen geben, was die Rolle des westlichen Imperialismus angeht, dessen Vorgehen die religiös-sektiererische Spaltungen nur verstärken wird. […] Die Geschichte des kurdischen Volkes hat viele Male gezeigt, dass die imperialistischen Mächte und die kapitalistischen Eliten keine Freunde des lange schon andauernden Befreiungskampfes kurdischen Volkes sind.“ (www.socialistworld.net, „Kurdistan: The battle for Kobanê“ – 02/10/2014)

Allgemein zusammengefasst, haben wir gegen eine Strategie argumentiert, sich mit dem „Wohlwollen“ externer kapitalistischer Mächte arrangieren zu wollen anstatt sich mit den Menschen aus der Arbeiterklasse in anderen Ländern zu vereinen und dabei einen klaren Aufruf vom Klassen-Standpunkt aus sowie ein sozialistisches Programm zu vertreten, das auf der unabhängigen Mobilisierung gegen die o.g. Kräfte basiert.

Es ist nicht möglich, soziale Emanzipation und multi-ethnische Solidarität zu erreichen, wenn man gleichzeitig mit Kräften kooperiert, die in der Region die sektiererische Kriegführung verschärfen und durch ihre Vorgehensweise verfolgte sunnitische AraberInnen in die Hände des „Islamischen Staats“ treiben.

Wir haben auch erklärt, dass die Milde gegenüber der PYD durch den westlichen Imperialismus und das Assad-Regime mehr als alles andere das Produkt der Umstände sind: Rojava hat von einem heiklen Kräfteverhältnis profitiert, weil die herrschenden Eliten in der Region und im Westen mit dem „Islamischen Staat“ eine größere Aufgabe zu bewältigen hatten.

In den letzten zwei Wochen hat sich die Lage jedoch entscheidend verändert, wodurch sich dieses prekäre Gleichgewicht ebenfalls verschieben könnte. Insbesondere die USA haben entschieden, über die jüngste militärische Eskalation seitens der türkischen Regierung gegenüber der PKK in der Türkei und im Nordirak hinwegzusehen. Das Schweigen Amerikas wurde durch das Angebot des türkischen Präsidenten Erdogan erkauft, der den USA die Nutzung von Luftwaffenstützpunkten auf türkischem Boden erlaubt hat, von denen aus Angriffe gegen den „Islamischen Staat“ geflogen werden können.

Dieses jüngste Manövrieren und Taktieren zeigt einmal mehr, dass der US-Imperialismus das Schicksal und den Kampf der KurdInnen bloß als Pfand ausnutzt, das man im Spiel der Mächte einsetzen kann. Sobald es opportun erscheint, ist man ohne Umschweife bereit, den KurdInnen den Dolchstoß zu versetzen. Als Beleg ihrer ekelerregenden Heuchelei hat die US-Regierung ihrerseits die PKK dazu aufgerufen, „mit der Gewalt [gegen die Türkei] aufzuhören“, während man die umfassenden Luftschläge der Türkei auf PKK-Ziele als Akt der „Selbstverteidigung“ bezeichnet. Dabei sind bereits etliche ZivilistInnen ums Leben gekommen.

Vor diesem Hintergrund haben etwa in der vergangenen Woche verschiedene offizielle VertreterInnen der in Syrien ansässigen PYD öffentlich geäußert, dass Assads Regierung als Partner betrachtet werden kann. Salih Muslim, der Co-Vorsitzende der PYD, erklärte, dass die YPG sich „unter den richtigen Bedingungen der syrischen Armee anschließen könnte“. Idriss Nassan, ein führender Vertreter der PYD aus Kobanê, sagte, dass seine Partei sich mit dem Assad-Regime zusammenschließen könnte, „wenn es sich einer demokratischen Zukunft verpflichtet“.

In Erwartung der Tatsache, dass ihre Beziehungen zu den Amerikanern nach den jüngsten Ereignissen in der Türkei einer schweren Belastungsprobe unterliegen werden, nähert sich die PYD-Führung vorsichtig Assad an. Dies scheint eher aus Verzweiflung zu geschehen, da man nicht nur auf eine einzige Karte setzen will.

Doch wenn der Kampf der Menschen in Rojava darum geführt wird, die dringend nötige Unterstützung der Völker – jenseits von sektiererischen Grenzen und über Rojava hinaus – sicherzustellen, dann ist der jetzige Schritt der führenden PYD-Köpfe eine Strategie, die zum Scheitern verurteilt ist. Vor allem unter den Millionen von Menschen, die unter den Bombardements von Assad zu leiden haben oder die von den berüchtigten Schabiha-Milizen (unter der Führung von Assads Cousins; Erg. d. Übers.) gefoltert werden, werden diese Appelle an Assad mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht besonders gut ankommen. Auch in der kurdischen Gemeinschaft haben viele nicht vergessen, dass Assads Regime vor dem Krieg die KurdInnen gewaltsam unterdrückt und über Jahrzehnte hinweg ihre Identität in Syrien geleugnet hat.

Der amerikanische Sozialist John Reed hat einmal gesagt: „Wer auch immer die Zusagen von Uncle Sam für bare Münze nimmt, wird dafür mit Blut und Schweiß bezahlen“. Diese Erfahrung haben die KurdInnen schon viele Male auf heftige Art und Weise machen müssen. Was Reed über „Uncle Sam“ gesagt hat, gilt allerdings im selben Maße auch für pro-kapitalistische, sektiererische und blutrünstige Regime wie das von Assad. Ob und wann Assad die Oberhand gewinnen wird ist ungewiss. Fest steht, dass er die KurdInnen dann erneut unterwerfen und brutal behandeln wird. Was werden die führenden Köpfe der PYD dann tun?

An und für sich wäre es nicht falsch, die Spannungen, die zwischen verschiedenen regierenden Mächten bestehen, auszunutzen, um den Kampf der Massen zu befördern. Dabei sollte aber jede Taktik Teil einer klaren Strategie sein. Entscheidend ist das Ziel, immer und zu jedem Zeitpunkt die Feinde für das zu entlarven, wofür sie stehen – ohne dabei auch nur der geringsten Illusion Raum zu geben, was ihre wahre Intention angeht. SozialistInnen bauen auf die unabhängige Mobilisierung von unten als dem entscheidenden Faktor für echten Wandel. Bedauerlicher Weise handelt es sich bei der Herangehensweise der PYD-Führung um einen völlig anderen Ansatz.

Sie vertritt eine kurzsichtige Politik des Ausbalancierens zwischen verschiedenen kapitalistischen Mächten, die allesamt und immer wieder ihre grenzenlose Verachtung gegenüber den Interessen der kurdischen Massen gezeigt haben. Dies steht für einen kapitalen Fehler und eine objektive Hürde beim Aufbau von Solidarität, die mit allen außerhalb Rojavas bedrohten Bevölkerungsteilen über sektiererische Grenzen hinweggeht – egal, ob sie unter dem Assad-Regime oder den Luftschlägen der USA leiden. Dieses Vorgehen birgt das Risiko, die sektiererischen Spannungen noch größer werden zu lassen.

Nur mit einer Strategie, die auf einem konsequenten Programm zum gemeinsamen Handeln der Arbeiterklasse und für demokratische Rechte für alle Bevölkerungsteile in der Region aufbaut, ist man in der Lage, einen möglichen Ausweg aus der derzeitigen Katastrophe zu finden. In die imperialistischen Mächte und die autoritären Herrscher in der Region darf es kein Vertrauen geben.

Irland: Anklage gegen 23 DemonstrantInnen

Dem sozialistischem Parlamentsabgeordneten Paul Murphy wird Freiheitsberaubung vorgeworfen
Stellungnahme der Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV in Irland)

Am späten Abend des 12. August berichteten unterschiedliche Medien, dass gegen 23 Personen aus dem Arbeiterviertel Jobstown (Dublin) formell Anklage erhoben werden soll. Darunter ist auch der Parlamentsabgeordnete Paul Murphy, Ratsmitglied Kieran Mahon und Ratsmitglied Mick Murphy. Sie alle sind Mitglied der Anti Austerity Alliance (AAA; dt.: „Antiausteritäts-Bündnis“) sowie der Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Irland). Diese Information, die wahrscheinlich aus den Reihen der Gardai (irische Polizei) stammt, gelangte an die JournalistInnen, noch bevor die Beschuldigten darüber in Kenntnis gesetzt worden wären.

Stellungnahme der Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV in Irland)

Die Anklagen beziehen sich auf einen lokalen Protest, der im November 2014 stattgefunden hat, als die stellvertretende Premierministerin Joan Burton für gut zwei Stunden durch eine Sitzblockade aufgehalten worden ist. Es ist auch davon die Rede, dass man den Angeklagten gewalttätige Ausschreitungen, strafbare Sachbeschädigung und Freiheitsberaubung vorwirft. Das sind äußerst schwerwiegende Anschuldigungen. Der Vorwurf der Freiheitsberaubung kann unter Umständen zu lebenslanger Haft führen. Der Fall soll vor einem Bezirksgericht verhandelt werden, womit das Urteil von einer Jury und nicht von einer Richterin bzw. einem Richter gefällt werden wird. Es ist noch nicht bekannt, wann genau der Termin der Verhandlung sein wird. Voraussichtlich fällt er in die Zeit nach den Parlamentswahlen. Außer Frage steht hingegen, dass es sich hierbei um den bedeutendsten politischen Prozess seit Jahrzehnten handeln wird.

Als Reaktion auf die jüngsten Entwicklungen haben VertreterInnen der AAA diese Entscheidung als offenkundig politisch motiviert verurteilt. Die Anschuldigungen kommen zu einem Zeitpunkt, da die Meinungsumfragen für die Regierung schlecht aussehen und deren Pläne zur Einführung der Wassergebühren kaum noch durchsetzbar erscheinen. Schließlich hat diese Sondersteuer den „Eurostat Test“ (der zentraler Bestandteil ihres Finanzierungsmodells war) nicht bestanden und 57 Prozent der Haushalte haben die erste Zahlungsaufforderung boykottiert!

Im Februar sind im Laufe von zwei Wochen vierzig EinwohnerInnen von Jobstown festgenommen worden. Eine unverhältnismäßig große Anzahl an Beamten der Gardai hat die Betroffenen dabei im Morgengrauen aus ihren Betten geholt. Dieses gerade für Irland ungewöhnliche Vorgehen sollte allem Anschein nach darauf abzielen, ein ganzes Wohnviertel in Angst und Schrecken zu versetzen, in dem Menschen leben, die sich mit effektiven Protestformen gegen die „Ministerin für soziale Sicherheit“ zur Wehr setzen. Burton ist die Vorsitzende der sozialdemokratischen Labour Party, die gemeinhin als mitverantwortlich für Angriffe auf die ärmsten Teile der Gesellschaft gesehen wird. Ihre Opfer sind in erster Linie BezieherInnen von Sozialleistungen und Alleinerziehende. Außerdem soll mit dieser Anklage ein Warnsignal an die Arbeiterklasse insgesamt ausgesendet werden: „Folgt nicht dem Beispiel von Jobstown“.

Auch die Tatsache, dass JournalistInnen vorab mit vagen Informationen beliefert worden sind, ist keinem Zufall geschuldet. Auf diese Weise soll in den Wohnvierteln Angst verbreitet werden. Dass diese Informationen bekannt gemacht worden sind, steht ferner in direktem Widerspruch zur Begründung, weshalb man im Februar Razzien im Morgengrauen durchführen „musste“. Damals hieß es, bei den Beschuldigten bestehe „Fluchtgefahr“.

Die Protestaktion, auf die sich die Anklagen beziehen, war ein bedeutendes Ereignis in der Massenbewegung, die sich gegen die Wassergebühren im vergangenen Jahr entwickelt hat. Insgesamt waren rund 700 Personen aus der Umgebung daran beteiligt, die sich in einer Schule getroffen hatten, in der die Ministerin einen Vortrag gehalten hat. Sie waren zusammengekommen, nachdem sich die Nachricht von ihrer Anwesenheit im Viertel verbreitet hatte. In Verbindung mit der Empörung über die Wassergebühren herrscht in Jobstown nachvollziehbarer Weise große Wut, weil das Viertel vom Polit-Establishment seit Jahren vollkommen im Stich gelassen und von der „Labour Party“ verraten worden ist, die hier traditionell immer große Unterstützung hatte.

Doch diese Ereignisse sowie die gewaltsame Reaktion des Establishments darauf zeigen, wie stark die irische Gesellschaft polarisiert ist. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die von der verheerenden Austerität am meisten betroffen sind, auf der anderen befinden sich die, die davon profitieren. Darüber hinaus zeigt sich bei alldem, wie verkommen die „Labour Party“ mittlerweile ist. Dass es demnächst zu einem Verfahren kommt, in dem Joan Burton als Augenzeugin auftreten und gegen die Opfer ihrer eigenen wüsten Kürzungspolitik aussagen wird (wohlgemerkt in einem Prozess, in dem es in erster Linie um die politische Frage des Grundrechts auf Protest geht), wird nur dazu führen, das die Abneigung auf Labour“weiter zunimmt.

Gemeinsam mit den Menschen in Jobstown wird die Anti Austerity Alliance eine umfassende politische Kampagne führen, um für eine Aufhebung dieser Anklage zu kämpfen. Genau wie die Themen Wassergebühren und Austerität wird die AAA diese Posse zu einem ihrer Hauptthemen im Wahlkampf machen. Sollte es wirklich zum Verfahren kommen, dann werden wir dafür sorgen, dass es dabei auch um die Austerität gehen wird, und wir werden das Recht auf effektive Protestformen verteidigen.

 

     

    Großbritannien: Jeremy Corbyn zieht Tausende zu Veranstaltungen

    Vorbemerkung: In der britischen “Labour Party” wird bis zum 10. September ein neuer Vorsitzender gewählt. Was anfangs noch wie klares Rennen für die rechten KandidatInnen in der Partei aussah, ist nun mit dem wachsenden Zuspruch für den alternativen Kandidaten Corbyn zu einem Kampf um die Ausrichtung und Zukunft der Partei geworden. Wir veröffentlichen Artikel der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SLP und Sektion des CWI in England & Wales).

    Große Beteiligung an den Anti-Austeritätsveranstaltungen im ganzen Land

    von Steve Score

    Die Kandidatur von Jeremy Corbyn für den Vorsitz der sozialdemokratischen „Labour Party“ in Großbritannien hat den gesamten Wahlgang durcheinandergebracht. Im Gegensatz zu den drei anderen Variationen eines Tony Blair, die für „Austerität light“ stehen, hat Corbyn den Nerv getroffen.

    Eine große Zahl an jungen wie auch älteren Menschen, von denen viele bislang nicht Mitglied dieser Partei gewesen sind, haben sich von den Aussagen Corbyns, mit denen er sich gegen die Austerität richtet, begeistern lassen. Vergleichen lässt sich dies mit der gegen die Austerität gerichteten Stimmung, die im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum in Schottland aufkam und zum Aufstieg der „Scottish National Party“ führte. Darüber hinaus lassen sich auch Parallelen zu den Millionen Menschen ziehen, die bei den letzten Parlamentswahlen in Großbritannien für die „Green Party“ gestimmt haben.

    Umfragen deuten darauf hin, dass Jeremy Corbyn momentan tatsächlich vor seinen drei MitbewerberInnen um den Parteivorsitz der britischen Sozialdemokratie liegt. Von den Untergliederungen der Partei hat er die meisten Nominierungen bekommen. Ähnliches gilt für die Gewerkschaften, darunter auch die beiden größten des Landes, UNISON und UNITE. Es ist natürlich positiv, wenn eine Kandidat nominiert wird, der sich gegen die Austerität ausspricht, was darauf hindeutet, welcher Druck von unten ausgeübt wird. Im Falle von Dave Prentis, dem Generalsekretär von UNISON, spielten dabei zweifellos auch die Tatsache, dass die innergewerkschaftlichen Vorstandswahlen anstehen und die Notwendigkeit eine Rolle, sich diesbezüglich links geben zu müssen! Allein es reicht nicht, einfach nur den Kandidaten Corbyn zu nominieren. Wir müssen auch gegen die Austerität kämpfen, bevor es wieder zu Parlamentswahlen kommt. Dabei müssen die Gewerkschaften die Führung übernehmen und koordinierte Streikaktionen organisieren.

    Die „Labour“-Vorstandswahlen enden am 10. September, und der rechte Parteiflügel wie auch die Medien leiten schon zur Angst-Kampagne über, indem sie versuchen, Einfluss auf die Stimmabgabe zu nehmen. Dabei sagen sie, dass „Labour“ nicht mehr wählbar wäre, wenn der neue Vorsitzende Jeremy Corbyn heißen würde. Chris Leslie, designierter Finanzminister im Schattenkabinett von „Labour“, war sich nicht zu schade zu behaupten, dass Corbyns wirtschaftspolitisches Programm die Armen belasten würde. Diese Aussage kommt nach Jahrzehnten der Austerität, die von Leslie unterstützt wird und von allen drei etablierten Parteien durchgeführt wurde und die Lebensbedingungen der Ärmsten vollkommen zerstört hat! Er sagt, dass eine Partei unter Corbyn „nicht diejenige sei, in die er eingetreten wäre“.

    Das wirft die Frage auf, was geschehen wird, wenn Corbyn das Rennen tatsächlich für sich entscheidet! Er würde als Geisel der Parlamentsfraktion von „Labour“ beginnen, die von der Partei-Rechten dominiert wird. Bedauerlicher Weise hat er bereits gesagt, dass er sogar Anhänger des Blair-Kurses in sein Schattenkabinett aufnehmen wird. Dennoch würden sie alles daran setzen, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Die „Socialist Party“ hat Corbyn dazu aufgerufen organisiert dagegen vorzugehen und eine Konferenz für Gewerkschaften und die AnhängerInnen seiner Politik einzuberufen – egal, ob sie Mitglied der „Labour Party“ sind oder nicht! Wichtig ist es, eine Basis für sozialistische Ideen zu schaffen. Wir würden an einer solchen Konferenz teilnehmen wollen und die AnhängerInnen der „Trade Unionist and Socialist Coalition“ (TUSC; dt. „Gewerkschaftliches und sozialistisches Wahlbündnis“) aufrufen, dasselbe zu tun.

    Es ist auch möglich, dass die Partei-Rechte verdrängt wird oder von selbst austritt. Das klingt aus einigen Kommentaren wie z.B. dem von Leslie heraus. Dies würde die Situation verändern und es entstünde tatsächlich Potential für eine neue Alternative zur Austerität.

    Wenn Corbyn in den Wahlen unterliegt, bleibt die Notwendigkeit bestehen, eine solche Alternative zur Austerität für die Arbeiterklasse zu gründen. Wenn er zur Schaffung einer solchen Alternative außerhalb der „Labour Party“ aufrufen würde, dann würde das auf ein großes Echo treffen. Ein Beleg dafür sind die Reaktionen, die seine jetzige Kampagne hervorruft. Die „Socialist Party“ setzt ihre Unterstützung für und den Aufbau der TUSC fort und betrachtet diese als Schritt in Richtung des Aufbaus einer neuen Massen-Partei der Arbeiterklasse. Auf welche Weise sich diese herausentwickeln wird, ist noch nicht entschieden, aber die Wut der jungen Leute und der Menschen aus der Arbeiterklasse wird sich ihren Weg bahnen, um sich Gehör zu verschaffen und zu einer eigenen Stimme zu kommen.

    Veranstaltung von Jeremy Corbyn in Liverpool

    von Tony Mulhearn, „Socialist Party“ (Stadtverband Liverpool)

    Seit Jahrzehnten hat das „Adelphi Hotel“ nicht mehr solche Menschenmassen erlebt, die durch sein Eingangsportal geströmt wären. Es war die größte politische Veranstaltung in Liverpool seit der Zeit von 1983 bis 1987, als der sozialistische Stadtrat gegen die Angriffe von Margaret Thatcher gekämpft hat. 1.200 Menschen drängten sich im großen Saal und weitere 600 bis 700, die dort keinen Platz mehr gefunden hatten, lauschten den Reden in angrenzenden Räumlichkeiten.

    Die Zusammensetzung des Publikums führte den Versuch von Neil Kinnock (er war „Labour“-Vorsitzender, als o.g. Liverpooler Stadtrat aus der Partei ausgeschlossen und die Kürzungen der Konservativen durchgesetzt worden sind) ins Absurde, der die Legitimität von Corbyns Kandidatur in Frage stellen wollte. Kinnock hatte in der Tageszeitung „The Observer“ erklärt, dass „Militant“ (Vorläuferorganisation der heutigen „Socialist Party“) oder die Tageszeitung „The Daily Telegraph“ die „Labour Party“ mit „bösartigen“ Absichten infiltrieren und Jeremy Corbyn unterstützen würden. Das ist eine Frechheit und vollkommen falsch, wenn auch ein Standpunkt, der für seine Lordschaft nicht gerade ungewöhnlich ist.

    In der Veranstaltung drängten sich Männer, Frauen und Kinder aus allen möglichen sozialen Schichten. Bei einigen handelte es sich zwar um Polit-Veteranen. Es waren aber auch hunderte dabei, die zuvor offenkundig noch nie an einer politischen Veranstaltung teilgenommen haben oder einer politischen Partei angehören. Ein Beleg dafür war die Anzahl an unverbrauchten Leuten, die eine Reihe von Fragen zur Politik von Jeremy Corbyn gestellt haben.

    Junge Studierende, die wegen der Schulden, die ihnen drohen, außer sich sind, Menschen mit schlechten Arbeitsverträgen, AktivistInnen, die angesichts der hiesigen Bibliotheksschließungen schockiert sind, Menschen, deren Löhne so niedrig sind, dass sie von den SteuerzahlerInnen subventioniert werden müssen, Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Branche machen und darunter leiden, dass ihre Löhne seit Jahren auf Eis liegen – sie alle betrachten Jeremy Corbyn als Volkstribun, der ihre Interessen vertreten wird.

    Maßnahmen im Sinne der Arbeiterklasse

    Jeremy Corbyn stellte in seiner Rede, die eine große Bandbreite an Themen umfasste, auch die Wiederherstellung des Gesundheitssystems NHS in Aussicht, das demnach voll und ganz in öffentliches Eigentum gehöre und kostenlos sein müsse. Er sprach von der Rückverstaatlichung von Bahn und Post, einem Ende der eingefrorenen Löhne im öffentlichen Dienst, kostenloser Bildung von der Kita bis zur Hochschule, einer Aufhebung des Atomwaffenprogramms „Trident“ und der Rücknahme der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze.

    Nach Jahrzehnten der Angriffe auf die Arbeitslöhne, das „soziale Netz“ und die Gewerkschaften, die nicht gerade auf ernstzunehmenden politischen Widerstand gestoßen sind, erntete diese Rede tosenden Beifall. Die Begeisterung, Energie und die ganze Dynamik, die zu spüren war, ließ Erinnerungen an das Ausmaß der Kampagne wach werden, die in den 1980er Jahren von den StadträtInnen angeführt wurde, die als die „Liverpool 47“ bekannt geworden sind.

    Corbyn bot einen Bezugspunkt für all die, die miterleben müssen, wie die Standards nur nach unten gehen, während das Vermögen der Hedge Fonds-Manager, der Bankiers und anderer ausgewählter Geschäftemacher, die die Wirtschaftskrise zu verantworten haben und die die „Tory Party“ finanzieren, spektakuläre Ausmaße erreicht haben. Die ganze Leidenschaft, mit der die gegen die Austerität gerichteten Aussagen von Corbyn begrüßt wurden, ähnelte einem Damm, der unter dem Druck eines vor Wut kochenden Kessels zum Bersten gebracht wird. Diese Wut verspüren Millionen von Menschen aus der Arbeiterklasse.

    Das Signal war eindeutig: Wir wollen keine weitere Austerität – weder von den „Bullingdon boys“ (elitär-konservativer Männerbund; Anm. d. Übers.) noch von falschen Parlamentariern, die sich als Vertreter der Arbeiterklasse ausgeben und in Wirklichkeit aber die Ausgabendeckelung der konservativen „Tories“ akzeptieren. Jede Erwähnung des „Blairismus“ erregte beim Publikum lauten Abscheu.

    Grundlegend anders

    Ein ganz wesentlicher Aspekt der Veranstaltung war, dass sie an keiner Stelle wie eine Veranstaltung der „Labour Party“ war. Es war eine Veranstaltung, die für eine Politik stand, die ganz im Gegensatz zu der von „New Labour“ steht. Der Charakter von „Labour“ wird unterdessen vom Schatten-Finanzminster der britischen Sozialdemokraten, Chris Leslie, zusammengefasst, der – nachdem er seinen Parlamentssitz verlor – 2005 zum Vorsitzenden des „New Local Government Network“ wurde, das vom „Local Government Chronicle“ als eine „Denkfabrik à la Tony Blair“ bezeichnet wird.

    1997 wurde er zum ersten Mal ins Parlament gewählt, damals auf der Anti-Tory-Welle, von der Blair einst profitierte. Was den „Austerität light“-Ansatz von „Labour“ angeht, so kann er sozusagen auf eine einwandfreie Bilanz verweisen. Er hat erklärt, einem Kabinett unter Corbyn nicht angehören zu wollen, da eine Partei unter einem Vorsitzenden namens Corbyn „eine völlig andere politische Partei“ wäre als die, in die er einmal eingetreten sei.

    Dies ist ein Beleg für die Degenerierung der „Labour Party“ in einen Zufluchtsort für Leute, die ihre politische Karriere im Blick haben. Menschen, denen die Vertretung der Arbeiterklasse am Herzen liegt, findet man hier eigentlich nicht mehr. Der rechte Parteiflügel und seine ihm treuen Medien werden alles tun, was sie können, um die Vorstandswahlen zu sabotieren und einen Sieg Jeremy Corbyns zu verhindern.

    Was immer auch das Ergebnis sein wird: Der Prozess hat begonnen, um in den Wochen und Monaten, die vor uns liegen, eine neue Massenpartei der Arbeiterklasse aufzubauen. Unter Beibehaltung unserer unabhängigen Position werden wir als „Socialist Party“ darauf vorbereitet sein, bei dieser Aufgabe mitzuhelfen.

    Unterdessen ziehen auch britische Zeitungen die Presseerklärung der „Socialist Party“ in ihre Berichterstattung mit ein:

    The Guardian am 27. Juli

    Daily Mail am 27. Juli

    The Telegraph am 27. Juli

    The Independent am 27. Juli

     

    CWI-Sommerschulung: Aus den Revolutionen in Nordafrika die richtigen Schlüsse ziehen

    Der Kampf um Leben und Tod mit der Konterrevolution hat begonnen
    von David Johnson, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales)

    Alles begann in Tunesien im Dezember 2010. Dann war Ägypten an der Reihe und in den Folgemonaten versetzte sie die Diktatoren in der gesamten Region in helle Aufregung: Auf der ganzen Welt stand plötzlich die Idee von der Revolution auf der Tagesordnung der ArbeiterInnen und jungen Menschen. Der Prozess der Revolution ist seither nicht beendet, sondern befindet sich mit dem Prozess der Konterrevolution in einem Kampf um Leben und Tod.

    Die jüngsten Erfahrungen in der Region haben erneut gezeigt, dass der Schlüssel, mit dem die Revolution zum Erfolg zu bringen ist, in einer unabhängigen Organisation der Arbeiterklasse und einem sozialistischen Programm besteht. Hinzu kommt, dass die Kräfte der Konterrevolution zurückgehalten werden müssen. Dort, wo zur Zeit der Erhebungen des Jahres 2011 die Arbeiterorganisationen am schwächsten ausgeprägt waren, konnten religiöse Kräfte und Stammesstrukturen Boden gutmachen.

    Ein Arbeitskreis bei der europäischen CWI-Sommerschulung befasste sich mit genau diesen Entwicklungen und der Frage, wie der Revolution zum Durchbruch verholfen werden kann. Der Genosse Dali von „Al-Badil al-Ishtiraki“ (dt.: „Sozialistische Alternative“; Schwesterorganisation der SLP und Sektion des CWI in Tunesien) leitete die Diskussion ein.

    Tunesien

    Im Januar 2011 besetzte eine enorme Zahl an ArbeiterInnen und jungen Leuten Straßen und Fabriken. Der tunesische Premierminister versuchte verzweifelt, den Übergang von der diktatorischen Herrschaft unter Präsident Zine al-Abidine Ben Ali zu einer neuen kapitalistischen Regierung zu organisieren.

    Die Basis des mächtigen Gewerkschaftsbundes UGTT konnte auf eine Tradition des unabhängigen Kampfes gegen das Regime unter Ben Ali verweisen. Die UGTT-Vorstände wären in der Lage gewesen, eine Arbeiterregierung zu bilden und den Weg hin zu einem demokratischen Arbeiterstaat zu bereiten. Weil sie aber eng mit dem Regime verbunden waren, haben sie dies abgelehnt und gemeint, dass ein solches Vorgehen die Leute „nur abschrecken“ würde. Stattdessen haben sowohl die führenden Köpfe der Linken als auch der Gewerkschaften unterschiedliche Versionen des „Etappen“-Ansatzes vorgelegt. Demnach müsse man zuerst die kapitalistische Demokratie stabilisieren und dann – ab einem gewissen Zeitpunkt in der Zukunft – würde die Zeit reif sein für den Sozialismus. Der kapitalistische Staat klammerte sich an die Macht. Das bereitete den Weg für das Erstarken der Reaktion, wozu auch die Zunahme von terroristischen Anschlägen gehörte.

    Der salafistische Mordanschlag auf Chockri Belaïd und Mohamed Brahmi, zwei führende Köpfe der tunesischen Linken, im Jahr 2013 war Anlass für einen 24-stündigen und einen 48-stündigen Generalstreik und große wütende Demonstrationen. Dadurch zeigte sich die ganze Macht der Arbeiterklasse, was neue Möglichkeiten zum Sturz des Kapitalismus und zur Errichtung einer Regierung der arbeitenden Menschen und verarmten Schichten mit sich brachte. Die UGTT-Führung hätte diese Kampfbereitschaft nutzen sollen, die sich offenbarte, und zur Bildung eines demokratischen Arbeiter-Aktionskomitees aufrufen sollen. Solche Ausschüsse hatten sich ohnehin in mehreren Gegenden herausgebildet. Diese hätten miteinander vereint werden und zur Gründung einer neuen revolutionären Arbeiter-Regierung genutzt werden können.

    Ganz ähnlich verhielt es sich am Tag des Begräbnisses von Belaïd: Während die DemonstrantInnen „Wir haben die Macht!“ skandierten, lauteten die ersten Worte des wichtigsten Vertreters des linken Volksfront-Bündnisses: „Ruhe sanft, Genosse“. Das hat die Menschenmenge, die dies hörte, schwer enttäuscht. In beiden Fällen war die Regierung in der Lage, ihr Regime aufs Neue zu stabilisieren.

    Der Terrorakt vom März dieses Jahres im Museum „Bardo“ stellte einen erneuten Wendepunkt dar. Die Regierung rief zu einer Demonstration der „nationalen Einheit“ auf, die von Politikern des etablierten Parteien angeführt wurde. Die UGTT nahm zwar daran teil, führte aber keine Gewerkschaftsfahnen mit sich, sodass es den Anschein machte, als würde man den Politikern folgen, die Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse durchführen, anstatt als unabhängige Kraft aufzutreten.

    Seitdem haben große Streiks von LehrerInnen und den Beschäftigten im Gesundheitswesen gezeigt, dass die Arbeiterklasse noch nicht bezwungen worden ist. Trotz des Blutbads in der Touristenstadt Sousse, das die Regierung zum Anlass genommen hat, um weitere repressive Maßnahmen umzusetzen, ist sie weiterhin nicht in der Lage, ohne Wenn und Aber gegen die Arbeiterklasse vorzugehen.

    Die führenden Köpfe der „Volksfront“, an der auch viele der aktivsten RevolutionärInnen, junge Leute und GewerkschafterInnen beteiligt sind, haben kein klares Programm, mit dem die Bewegung vorangebracht werden könnte. Das CWI ruft dazu auf, die Selbstverteidigung gegen Terroranschläge zu organisieren, Terroristen zu isolieren und dies durch den demokratisch organisierten bewaffneten Widerstand umzusetzen, der nicht nach religiösen Gesichtspunkten bzw. Stammeszugehörigkeit strukturiert ist sondern sich stattdessen auf ein sozialistisches Programm gründet.

    Ägypten

    Im Gegensatz zur unabhängigen Tradition, auf die die UGTT zurückblicken kann, wurde der undemokratische ägyptische Gewerkschaftsbund ETUF von Anhängern des aus dem Amt gejagten Regimes von Hosni Mubarak angeführt. Obwohl die ArbeiterInnen eine wesentliche Rolle bei den Demonstrationen und Besetzungsaktionen gespielt haben, durch die Mubarak gestürzt wurde, taten sie dies nicht als organisierte gesellschaftliche Klasse. Dies ermöglichte es anderen Kräften, die Führung über die revolutionäre Bewegung zu übernehmen: Liberale, die für den Kapitalismus standen, die „Muslimbruderschaft“, die am Anfang gegen den Aufstand war, und dann die bewaffneten Kräfte, als die „Bruderschaft“ nach einem Jahr an der Macht in Ungnade gefallen war.

    Der Vorstand der ETUF wurde nicht ausgetauscht. Ihre Botschaft zum diesjährigen Ersten Mai lautete: „Die ArbeiterInnen Ägyptens lehnen es ab zu streiken und bekräftigen ihre Bereitschaft zum gesellschaftlichen Dialog mit der Regierung und den Unternehmensinhabern als Mittel, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen […]“.

    Das Regime von Präsident Abdel al-Sisi in Ägypten war in der Lage, die Konterrevolution weiter zu treiben, als dies in Tunesien der Fall gewesen ist. Die Repression ist zurück. AktivistInnen werden wieder eingesperrt und gefoltert – genau wie unter Mubarak. Streikende werden als Terroristen gebrandmarkt. Sisi hat sich die Stimmung aus Erschöpfung und Enttäuschung darüber zunutze gemacht, dass sich die Lebensbedingungen seit der Revolution nicht verbessert haben. Hinzu kommt die Angst vor dem Erstarken des islamischen Terrorismus, der man sich ebenfalls bedient, um die eigene Macht aufrechtzuerhalten.

    Das Fehlen einer massenhaften Opposition der Arbeiterklasse, das auf die führenden Köpfe der ETUF und die Fehler einiger Vorstände der neuen, unabhängigen Gewerkschaften zurückzuführen ist, hat es Sisi bis dato ermöglicht, seine Politik durchzusetzen. In den Monaten nach der Revolution ist es sehr schnell zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften gekommen. Am Anfang zählten sie kaum 50.000 Mitglieder, heute sind es rund 2,5 Millionen. Allerdings hat ihr bekanntester Vertreter, Kamal Abu Eita, den Weg in die Regierung Sisi gefunden und sich im Anschluss daran gegen Streiks ausgesprochen.

    Dennoch ist es in den letzten Monaten zu einigen Streiks gekommen und die zahlenmäßig große Arbeiterklasse wird in Zukunft wieder auf die politische Bühne zurückkehren. Die Konterrevolution von Sisi könnte durch eine unabhängige Organisation der Arbeiterklasse, zu der auch die Gewerkschaften und eine Massenpartei mit Mitgliedern in allen großen Betrieben und Arbeitervierteln zählen muss, gestoppt werden. Auf der Grundlage eines revolutionären sozialistischen Programms wäre es dadurch ebenso möglich, zum dringend nötigen sozialistischen Wandel zu kommen, um die Armut, den Mangel am Nötigsten und die Unsicherheit zu beenden.

    Internationale Auswirkungen der Revolution

    Die Diskussion im Rahmen der CWI-Summer School wurde durch verschiedene Redebeiträge erweitert. So wurden auch die Zusammenstöße zwischen BerberInnen und AraberInnen in Algerien, bei denen am 9. Juli in Ghardaia 25 Menschen ums Leben gekommen sind, erwähnt. In Marokko halten die Proteste der „Bewegung an der Route 96“ gegen die Umweltzerstörung und das Abgraben von Trinkwasser durch das Silberbergwerk „Imider“ seit 2011 immer noch an. Die lokale Bevölkerung, die aus BerberInnen besteht, hat an der Mine ein Lager besetzt, das dem Monarchen gehört. Libyen, das von der NATO bombardiert worden ist und wo die Organisation der Arbeiterklasse zur Zeit des Aufstands gegen Gaddafi am schwächsten ausgeprägt war, ist unter der Herrschaft von Warlords und ihren Stämmen zerfallen.

    Die Auswirkungen auf den gesamten Kontinent, die die Revolutionen in Nordafrika nach sich gezogen haben, fand ihren Höhepunkt im Beitrag, den die Bevölkerung von Burkina Faso leistete. Die Erklärung der tunesischen Sektion des CWI, die nach dem Blutbad von Sousse verfasst worden ist, hinterließ ihren Eindruck aus bei SozialistInnen im Sudan und anderen Ländern.

    Der Arbeitskreis hat gezeigt, dass die Analysen des CWI den Mitgliedern in der Region Zuversicht gegeben haben, die sich an die Aufgabe machen, die Kräfte aufzubauen, die nötig sind um sicherzustellen, dass künftige Möglichkeiten für die Arbeiterklasse nicht einfach vertan werden. Ein sozialistisches Tunesien würde noch größere Auswirkungen auf ganz Nordafrika und darüber hinaus haben, als der Aufstand der im Dezember 2010 seinen Anfang genommen hat.

     

    Die Neuformierung der Linken in Griechenland

    Nach der Kapitulation von Syriza: Erste Schritte zu einer neuen Partei
    Xekinima, die griechische Schwesterorganisation der SLP, setzt sich seit Jahren für eine Einheit der griechischen Linken auf Basis eines klaren sozialistischen Programms ein, unterstützte die Wahl von Syriza bei den letzten Wahlen und hat dies jedoch mit

    Wie ist die Stimmung unter griechischen ArbeiterInnen und Jugendlichen nachdem die Tsipras-Regierung dem dritten Memorandum, also Kürzungspaket, zugestimmt hat?

    Nachdem Tsipras ein Zugeständnis nach dem anderen gemacht hatte, haben wir vorausgesehen, dass er das Memorandum unterzeichnen wird. Unmittelbar danach haben wir einen Aufruf zur dringenden Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen linken Massenorganisation veröffentlicht. Eine solches Angebot von links ist unserer Meinung nach dringend nötig, um das Vakuum zu füllen, das durch den Ausverkauf des 61,5 Prozent starken Neins gegen die Forderungen der Troika im Referendum am 5. Juli durch Syriza entstanden ist.

    Es gab zwei Gründe für diesen Aufruf: Erstens um der griechischen Arbeiterklasse ein Angebot aus linker Sicht zu unterbreiten. Bleibt ein solches aus, würde dies zu massenhafter gesellschaftlicher Demoralisierung führen. Zweitens würde ein Ausbleiben dazu führen, dass sich die faschistische Goldene Morgenröte als einzige vermeintliche Anti-Memorandum-Kraft präsentieren und zu einer extremen Gefahr für demokratische Rechte und Arbeiterrechte anwachsen kann.

    Bezüglich der Frage wie die Stimmung ist, müssen wir zwischen der Stimmung der Masse der Bevölkerung und der Stimmung und dem Bewusstsein einer fortgeschrittenen Schicht von AktivistInnen unterscheiden, also von Leuten in sozialen Bewegungen, Klassenkämpfen und der Basis in Syriza. Die große Masse der Bevölkerung hat die Auswirkungen des neuen Memorandums noch nicht nachvollzogen, weil die Maßnahmen noch nicht umgesetzt wurden und die Leute dies noch nicht am eigenen Leib spüren. Deshalb gibt es bei ihnen noch eine abwartende Haltung und das Gefühl, dass Tsipras sein Bestes im Kampf gegen die Troika gegeben hat.

    Aber trotzdem geht die Unterstützung für Syriza in Umfragen bereits zurück. Einer Umfrage, die zwei Wochen nach der Unterzeichnung des Referendums erhoben wurde, hat einen Fall der Unterstützung um fast fünf Prozentpunkte ergeben. Die Breite der Bevölkerung wird das Ausmaß und die Bedeutungen der Kürzungen im September und Oktober verstehen, wenn sie damit eigene Erfahrungen in ihrem täglichen Leben machen werden.

    Zum selben Zeitpunkt befinden sich AktivistInnen und der linke Flügel von Syriza im Schockzustand. Tausende von Basismitgliedern haben niemals gedacht, dass Syriza so weit gehen würde, das Memorandum zu unterzeichnen. Sie haben zuvor ihren KollegInnen und Umfeld versichert, dass Syriza niemals etwas Ähnliches unterzeichnen würde, wie PASOK und ND in der Vergangenheit. Nach Tsipras Einknicken haben sich Tausende AktivistInnen verraten und verkauft gefühlt. Viele haben sich so sehr geschämt, dass sie sich für viele Tage nicht mehr getraut haben, das Haus zu verlassen und ihren Freunden unter die Augen zu treten. Das allein genommen ist ein Verbrechen. Tausende von Basismitgliedern haben tagelang bittere Tränen vergossen. Wir kennen unzählige Beispiele von Leuten, die nicht mehr ihr Haus verlassen haben, viele tagelang, einige auch für bis zu zwei Wochen. Das einzige, das verhindern kann, dass diese Menschen durch die Ereignisse völlig demoralisiert werden, ist, die richtigen Schlussfolgerungen aus der Niederlage zu ziehen und den nächsten Schritt zu gehen und eine neue linke breite Formation aufzubauen auf der politischen Grundlage einer frontalen Konfrontation mit der Eurozone und dem kapitalistischen System.

    Ist euer Aufruf zur Bildung einer solchen Kraft unter diesen AktivistInnen auf Zustimmung gestoßen?

    Wir haben mit anderen GenossInnen und linken Gruppen gemeinsam die Initiative ergriffen, zu einer öffentlichen Versammlung am 17. Juli in Athen aufzurufen. Wir hatten faktisch nur zwei Tage Mobilisierungszeit. Trotz dieser kurzen Zeit war es eine sehr erfolgreiche Versammlung, an der sich 250 bis 300 Menschen beteiligt haben – darunter mindestens ein Dutzend verschiedene linke Gruppen und die wichtigsten linken Strömungen aus Syriza. Die Initiative nennt sich jetzt „Versammlung 17. Juli“.

    Welches politische Programm hat die neue Initiative?

    Die radikalen Teile der griechischen Linken sind durch die Erfahrungen mit der Krise und der Politik der Troika in den letzten fünf Jahren zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen über die Notwendigkeit eines Übergangsprogramms gelangt, das mit dem kapitalistischen System und der EU bricht. Es gibt weitgehende Übereinstimmung über die folgenden fünf programmatischen Punkte:

    Erstens müssen die Schuldenzahlungen eingestellt, zweitens die Banken verstaatlicht und drittens Kapitalverkehrskontrollen und eine öffentliche Kontrolle über den Außenhandel eingeführt werden. Viertens muss Griechenland aus dem Euro austreten und eine nationale Währung einführen. Fünftens geht es darum, all jene Betriebe, die geschlossen wurden oder deren Besitzer die Wirtschaft sabotiert haben, in öffentliches Eigentum zu überführen und unter Arbeiterverwaltung zu stellen. Sechstens müssen darüber hinaus die Schlüsselindustrien ebenfalls verstaatlicht und der demokratischen Kontrolle und Verwaltung der Belegschaften und der Gesellschaft unterstellt werden, um den Produktionsprozess und die Güterverteilung der Wirtschaft als Ganzes zu demokratisieren. Schlussendlich ist es zentral – und das ist der achte und letzte Punkte, die Kämpfe der griechischen ArbeiterInnen mit den Kämpfen von ArbeiterInnen europaweit gegen Austerität und Kapitalismus zu verbinden.

    Du hast die Schlüsselindustrien der griechischen Wirtschaft angesprochen: Wieviel ist davon denn eigentlich übrig?

    Es stimmt, dass Griechenland in den letzten Jahrzehnten einen Prozess der Deindustrialisierung durchlaufen hat. Aber trotzdem ist Griechenland immer noch ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt zu dreißig Prozent auf Exporten basiert. Natürlich gibt es einen großen Tourismussektor und auch die Agrarproduktion und Bodenschätze haben eine hohe Bedeutung. Aber nichtsdestotrotz besteht tatsächlich der größte Anteil der griechischen Exporte aus der verarbeitenden Industrie. Klar haben wir nicht die selben riesigen Firmen und großen Industriebetriebe, die anderswo in Europa existieren. Aber trotz der Deindustrialisierung und der Politik der EU ist und bleibt es ein zentraler Teil der griechischen Wirtschaft. Man sollte auch nicht vergessen, dass Griechenland Mitglied der OECD ist. Im Rahmen einer demokratisch geplanten Wirtschaft gäbe es ein großes Potential.

    Inwiefern steht die „Versammlung 17. Juli“ in Zusammenhang mit Entwicklungen, die innerhalb der Syriza-Linken stattfinden?

    Wir versuchen mit der Initiative des 17. Juli eine Brücke zwischen der Syriza-Linken, großen Teilen von Antarsya, welche die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns und des Aufbaus einer neuen linken Massenformation verstehen, und anderen Kräften auf der Linken wie Xekinima und der „Initiative der Eintausend“ (in der viele verschiedene Gruppen aktiv sind) zu bauen. Es geht um gemeinsame Treffen und Diskussionen, die das Ziel haben den Boden für eine solche neue linke Massenformation zu bereiten. Zum jetzigen Zeitpunkt beginnen zudem in Syriza die Debatten im Vorfeld des Parteitags. Der linke Flügel und vor allem die linke Plattform in Syriza, hat die Führung aufgefordert, unmittelbar einen Parteitag einzuberufen. Unter dem Druck der Basis hat Tsipras nun einen solchen für September einberufen.

    Was wird auf diesem Parteitag geschehen? Ist eine Spaltung der Partei wahrscheinlich?

    Wir gehen davon aus, dass Syriza vor einer Spaltung steht. Unsere Position ist die folgende: Wenn Syriza nach der Kapitulation von Tsipras vereint bestehen bleibt und dies das Ergebnis der Kapitulation der Parteilinken gegenüber Tsipras im Namen der „Einheit der Partei“ ist, wäre das eine doppelte Niederlage Die Parteilinke Syrizas bereitet sich auf den Kampf um die Mehrheit vor. Wir unterstützen das. Wir müssen aber auch sehen, dass die Chancen dafür sehr gering sind. Wir schlagen vor, dass die Syriza-Linke den Kampf um die Mehrheit beim nächsten Parteitag mit der Forderung nach einem Auswechseln der Führung verbindet – etwas was die Parteilinke bisher noch nicht aufgeworfen hat. Sollte die Parteilinke unterliegen, was wie bereits gesagt das wahrscheinlichste Szenario ist, sind wir der Meinung, dass die Parteilinke die Partei verlassen und sich den Kräften außerhalb Syrizas anschließen sollte, die eine neue linke Partei aufbauen wollen. Eine solche hätte das Potential, unmittelbar ins Parlament einzuziehen.

    Aber bedeutet das, dass die Initiative „Versammlung 17. Juli“ die Entwicklungen innerhalb von Syriza abwarten sollte?

    Nein. Die linken Kräfte außerhalb von Syriza, die die Bedeutung der Schaffung einer neuen linken Massenkraft sehen, können die Ereignisse in Syriza nicht abwarten. Aber wir können die Position, die wir uns in Bewegungen und der Gesellschaft aufgebaut haben und die übrigens nicht gerade gering ist, dazu nutzen, die Entwicklungen innerhalb von Syriza zu beeinflussen. Wenn mindestens acht bis zehn relevante unabhängige Gruppen außerhalb Syrizas, die auch über Verbindungen zur Parteilinken verfügen, zur Gründung einer neuen linken Formation aufrufen und auf der Basis der Einheitsfrontmethode agieren, kann und wird das einen bedeutenden Effekt auf die Prozesse innerhalb von Syriza haben.

    Es gibt aber noch einen zweiten Grund, weswegen wir nicht einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten können: Es gibt bereits jetzt viele WählerInnen und UnterstützerInnen und sogar Mitglieder, die Syriza den Rücken kehren. Ihnen müssen wir dringend eine Alternative anbieten.

    Durch die Aktivitäten von Xekinima in der letzten Periode haben wir es bereits vermocht, eine ganze Reihe von solchen lokalen Initiativen in verschiedenen Städten und Regionen über das Land verteilt aufzubauen.

    Welche Erfahrungen habt ihr mit diesen lokalen linken Initiativen gesammelt?

    Sie sind auf große Zustimmung in den Nachbarschaften und Bewegungen gestoßen. Die lokalen Initiativen haben die besten AktivistInnen aus sozialen Bewegungen, Klassenkämpfen und aus allen Teilen der Linken angezogen – das gilt für Kräfte außer- und innerhalb Syrizas. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Volos, einer Stadt mit etwas weniger als 150.000 EinwohnerInnen, hat die Initiative all die Schichten angezogen, die ich eben erwähnt habe. Bei jedem öffentlichen Treffen waren jedes Mal mehr als einhundert Personen anwesend, was für eine Stadt dieser Größe ziemlich viel ist. Zum Vergleich: An einem gewöhnlichen Treffen von Syriza (ohne Tsipras als Redner und vor dem Ausverkauf) würden um die 150 bis 200 Menschen teilnehmen. Wir haben ähnliche Treffen in Athen durchgeführt in einer ganzen Reihe verschiedener Stadtteile. Bei jedem solcher Treffen in Athen waren im Durchschnitt siebzig Personen anwesend.

    Diese örtlichen Initiativen greifen politisch in die Ereignisse ein, geben Presseerklärungen heraus und erklären die Bedeutung des Aufbaus einer neuen Linken griechenlandweit auf der politisch-programmatischen Grundlage, die ich vorhin angesprochen habe. Alles in allem sind diese örtlichen Initiativen und die „Versammlung 17. Juli“ aber nicht das letzte Wort oder die schlussendliche Lösung, aber sie können ein Mittel sein, um etwas größeres in der nahen Zukunft aufzubauen.

    Ich möchte auch noch betonen, dass die Syriza-Jugend in dem ganzen Prozess eine wichtige Rolle spielen könnte. Sie hat eine Stellungnahme veröffentlicht und sich darin gegen das Memorandums ausgesprochen und war bei den Treffen der „Versammlung 17. Juli“ anwesend. Wir sollten ihre Rolle nicht unterschätzen, nicht zuletzt weil sie in der Vergangenheit eine wichtige Basis von Tsipras gebildet hat. Im Übrigen haben auch UnterstützerInnen von Alavanos, der Vorgänger von Tsipras als Syriza-Vorsitzender, an den Treffen der neuen Initiative teilgenommen.

    Du hast Teile des antikapitalistischen Bündnisses Antarsya erwähnt, die eine Offenheit gegenüber der Idee einer neuen politischen Kraft haben. Was ist die Position der Kommunistischen Partei KKE dazu?

    Unglücklicherweise ist es so, dass die KKE, die sowohl von ihrer Mitgliederzahl als auch von ihrer Stärke die Möglichkeit hätte, die Landkarte der griechischen Linken zu verändern, sich einer Beteiligung verweigert. Sie steht komplett abseits, greifen andere Linke politisch an und stellt sich selbst als die einzige wahre revolutionäre Kraft dar. Sie arbeiten auf keiner Ebene und in keiner Situation mit irgendeiner linken Organisation zusammen. Aber trotzdem hat sie noch eine wichtige Basis. Aufgrund der Tatsache, dass Mitglieder der KKE, die eine abweichende Meinung zur offiziellen Parteilinie vertreten haben, aus der KKE ausgeschlossen wurden, können wir mit der neuen Initiative zum Aufbau einer linken Massenpartei nicht die organisierten Kräfte innerhalb der KKE erreichen. Aber es ist klar, dass wir damit einen Einfluss auf die Wählerschaft der KKE haben.

    Auch Antarsya bietet keine Lösung an, da die wichtigsten Entwicklungen in der griechischen Linken um die Kräfte herum stattfinden, die entweder in Syriza sind oder um jene, die die Einheitsfrontmethode gegenüber der Basis von Syriza und der Syriza-Linken anwenden. In Wirklichkeit gibt es eine Krise innerhalb von Antarsya, weil ein großer Teil von ungefähr vierzig Prozent mit der Position übereinstimmt, dass eine neue Massenorganisation erforderlich ist. Aber die Mehrheit von Antarsya pusht die Idee, die Kräfte um die „Nein“-Komitees zu organisieren, die während des Referendums entstanden sind, um die verschiedenen Kräfte anzuziehen, die zu einem Nein aufgerufen haben. Das ist nicht falsch, aber unzureichend angesichts des dringenden Aufbaus einer neuen politischen Kraft, die das politische Vakuum ausfüllen kann.

    Inwiefern steht die Weiterentwicklung eurer Initiative und der Aufbau einer möglichen neuen politischen Formation mit der Möglichkeit von Neuwahlen in Zusammenhang?

    Wir haben nicht unbegrenzte Zeit, um die Initiative weiterzuentwickeln, weil es wahrscheinlich im Herbst zu Neuwahlen kommen wird. Eine neue linke Massenpartei müsste dann zur Wahl antreten und mit der Syriza-Linken zusammen kommen. Es ist wichtig, dass die Syriza-Linke ein Teil davon ist. Wenn Tsipras Neuwahlen ausruft, wird er versuchen sich der linken Abgeordneten der jetzigen Syriza-Fraktion zu entledigen. Er kann das durchsetzen, da die griechische Verfassung das ermöglicht. Im Falle von Neuwahlen 18 Monate nach den letzten Wahlen, werden die KandidatInnen politischer Parteien von den Vorsitzenden dieser Parteien ausgewählt. Das heißt, dass Neuwahlen den Prozess einer Spaltung Syrizas wahrscheinlich beschleunigen würden, da die linken Abgeordneten Syrizas wissen, dass sie nicht mehr für aussichtsreiche Listenplätze aufgestellt würden.

    Hat die Kapitulation von Tsipras und der Aufbau einer neuen linken Kraft Auswirkungen auf die Gefahr der Goldenen Morgenröte?

    Wie ich bereits sagte, war es nach der Kapitulation von Syriza so, dass die Goldene Morgenröte als einzige Kraft erschien, die eine Anti-Memorandum-Position einnimmt. Trotz der Tatsache, dass ihre Führung vor Gericht gestellt wurde, bleibt sie die drittstärkste Partei im Parlament.

    Der Grund dafür ist, dass – abgesehen vom Ausverkauf durch die Führung von Syriza – die Lage durch die sektiererische Politik der KKE und der Mehrheit von Antarsya verschlimmert wurde, da sich diese von der allgemeinen Stimmung in der Gesellschaft isoliert haben und dabei gescheitert sind, auf die konkreten Anforderungen der Situation zu reagieren. Wegen dieser Politik können sie das Vakuum nicht füllen, das nach dem Einknicken der Syriza-Führung entstanden ist. Das ist der Grund, warum wir jetzt diese Initiative und damit ein Zusammenkommen mit anderen Gruppen und Strömungen der Linken, die ähnlich denken, benötigen, um erfolgreich zu sein. Der Prozess kann verschiedene Stadien durchlaufen, die Formation ihren Namen ändern, verschiedene Kräfte zusammen bringen, aber am Ende muss es in der Schaffung einer neuen massenhaften radikal linken Formation mit einem sozialistischen Programm münden.

    Unser Auffassung zufolge befindet sich die Goldene Morgenröte bereits im Aufbau. Und sie werden noch stärker anwachsen, wenn sich die konkreten Maßnahmen des dritten Memorandums ab September auf das Leben der ArbeiterInnen auswirken werden.

    Gibt es Gründe nach der Niederlage trotzdem optimistisch zu bleiben?

    Was wir jetzt erlebt haben, ist keine „endgültige Niederlage“ der griechischen Arbeiterklasse in der gegenwärtigen Periode. Das Potential für Gegenwehr ist weiterhin vorhanden. Die griechische Arbeiterklasse hat bewiesen, dass sie immer wieder in den Kampf zurückkehrt, wie wir kürzlich bei den Ereignissen um das Referendum gesehen haben. Niemand hatte dieses fantastische Ergebnis von 61,5 Prozent Nein-Stimmen erwartet.

    Wenn wir in der nächsten Phase in der Lage sind, eine neue linke Massenorganisation in Griechenland aufzubauen, auf der politischen Grundlage, die ich vorher erwähnt habe – und das steht jetzt auf der Tagesordnung und hat wirkliche Erfolgsaussichten – dann können wir uns vollkommen sicher sein, dass die griechische Arbeiterklasse zurück kommen wird und ein wirklich erstaunliches Comeback hinlegen kann.

     

    Kshama Sawant führt bei den Vorwahlen in Seattle mit 50 Prozent

    Sozialistin siegt bei den Vorwahlen für den Stadtrat von Seattle
    Bericht von „Socialist Alternative“, Schwesterorganisation der SLP und UnterstützerInnen des CWI in den USA

    Eine vollauf begeisterte Menge von mehr als 200 AnhängerInnen der „Socialist Alternative“-Stadträtin Kshama Sawant ist heute Abend in den Melrose Market Studios im Viertel Capitol Hill (Seattle) zusammengekommen, um gemeinsam auf das Ergebnis der Vorwahlen für die parteilosen KandidatInnen anlässlich der Stadtratswahl von Seattle City zu warten. Darüber hinaus warteten viele tausend weitere Menschen in Seattle und dem ganzen Land erwartungsvoll darauf, was die erste Etappe im für die gesamte Linke der USA wahrscheinlich wichtigsten Wahlkampf in diesem Jahr wohl bringen würde. Schließlich geht es darum, ob Kshama ihren vor zwei Jahren gewonnenen Sitz im neunköpfigen Stadtrat von Seattle verteidigen kann. 2013 war es ihr gelungen, offen als Sozialistin kandidierend den ersten Stadtratssitz in einer US-amerikanischen Großstadt seit Jahrzehnten zu gewinnen.

    Um 20.15 Uhr wurde es dann laut, als die Nachricht eintraf, dass Kshama auf 49,9 Prozent der abgegebenen Stimmen gekommen und damit ganze 15 Prozentpunkte vor ihrer ärgsten Konkurrentin, Pamela Banks, gelandet ist. Insgesamt gab es fünf KandidatInnen.

    Dieses Ergebnis ist eine Bestätigung der Unterstützung von den „einfachen“ Leuten in Seattle für die Stadtratsarbeit von Kshama in den letzten 19 Monaten. Am bedeutsamsten war, dass sie eine ganz wesentliche Rolle dabei gespielt hat, den Mindestlohn in einer US-amerikanischen Großstadt auf 15 Dollar anzuheben. Sie nutzte ihre Position im Stadtrat, um mit der Hilfe von Gewerkschaften eine Basis-Bewegung namens „15 Now!“ aufbauen zu helfen, die sich nun über etliche Städte in den ganzen USA ausbreitet.

    Kshama hat auch die Initiative zu einer Reihe weiterer Kämpfe ergriffen und ist aktuell der Kopf einer Kampagne für die Einführung einer Mietobergrenze und den Bau qualitativ hochwertiger Wohnungen, um der umfassenden Wohnungskrise der Stadt entgegenzutreten. Vor kurzem sorgten 1.000 TeilnehmerInnen an einer von Kshama mitveranstalteten Diskussionsrunde für ein brechend volles Foyer im Rathaus von Seattle, um sich die Argumente von ihr und Stadtrat Licata in einer Debatte mit einem Bau-Lobbyisten und einem Politiker der „Republikaner“ anzuhören. Allein die Tatsache, dass es zu einer solchen Veranstaltung überhaupt kommen konnte, ist ein Indiz für den politischen Wandel, der dadurch befördert wurde, dass Kshama den Kämpfen der arbeitenden Menschen seit nicht einmal zwei Jahren im Stadtrat eine Stimme verleiht. Oder, wie Kshama es in ihrer Rede heute Abend ausdrückte: „Wenn wir kämpfen, können wir gewinnen!“.

    Unglaubliches Wahlergebnis

    Das exzellente Abschneiden von Kshama war trotz einer Atmosphäre möglich, die sich durch bestimmte Herausforderungen auszeichnete. So war der Anteil an älteren und wohlhabenderen WählerInnen größer als dies im eigentlichen Wahlkampf, der noch bevorsteht, der Fall sein wird. Die Großkonzerne haben zunehmend mehr Geld in den Wahlkampf von Kshamas GegenkandidatInnen gesteckt. Dies gilt vor allem für Pamela Banks. Sie wollen, dass das Experiment von Seattle ein Ende findet, das aus ihrer Sicht zum „Negativbeispiel“ auch für andere Städte werden könnte.

    Die Medien, die nach der Musik der Konzerne tanzen, haben hart daran gearbeitet, Kshama als „spaltende Person“ darzustellen. In Wirklichkeit hat sie den Kampagnen der Arbeiterklasse die Tür zu ihrem Büro weit aufgestoßen. Dasselbe gilt für Personen aus der LGBTQ-Community, die gegen zunehmende Angriffe auf sie kämpfen, für EinwanderInnen und andere, die gegen die Drohkulisse einer Mietsteigerung um 400 Prozent in Wohnungen kämpfen, die eigentlich für Menschen mit Niedriglöhnen bestimmt sind. Auch die AktivistInnen der „Black Lives Matter“-Bewegung, die gegen Polizeigewalt kämpfen, finden bei ihr immer ein offenes Ohr. Kshama drückte es heute Abend wie folgt aus: „Was wirklich spaltend wirkt, ist die Ungerechtigkeit!“. Es sieht so aus, als würden viele Menschen aus dem Wahlbezirk drei dieselbe Ansicht vertreten wie sie.

    Wahrscheinlich wird der Stimmanteil von Kshama in den nächsten Tagen noch etwas ansteigen, da die letzten Wahlzettel noch ausgezählt werden müssen (in Seattle wird per Post gewählt). Das Ergebnis spiegelt einen heftigen Wahlkampf wider, an dem sich 600 Freiwillige beteiligten, die 30.000 Hausbesuche durchgeführt und unglaubliche 265.000 Dollar an Spenden gesammelt haben. Kein einziger Penny kam dabei von Seiten der Konzerne.

    Dieses Ergebnis liefert Sawant ganz eindeutig eine hervorragende Ausgangslage, um in den eigentlichen Wahlkampf einsteigen zu können. Für Selbstzufriedenheit ist allerdings keine Zeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Großkonzerne ihre Angriffe noch ausweiten und enorme Summen in diesen Wahlkampf investieren werden – allein schon für negative Wahlwerbung gegen Kshama.

    Es mag unvorstellbar erscheinen, dass die Konzerne so viel Geld in den Wahlkampf um einen einzigen Sitz in einem Stadtrat stecken. Aber sie wissen einfach, was auf dem Spiel steht. Sie sehen die große Begeisterung, die die Wahlkampagne von Bernie Sanders um das Amt des US-amerikanischen Präsidenten auslöst, der die Forderung nach einem landesweiten Mindestlohn von 15 Dollar aufgegriffen hat und zu einer „politischen Revolution“ gegen die gesellschaftliche Klasse der Milliardäre aufruft. In den USA findet derzeit ein Prozess der politischen Radikalisierung statt. Kshamas Kampf um die Wiederwahl ist der Kampf aller progressiven Kräfte im ganzen Land. Spendet heute noch für ihren Wahlkampf http://kshamasawant.org/donate/ und werdet aktiv bei „Socialist Alternative“ http://www.socialistalternative.org/!

     

    Seattle: Wahlkampf für bezahlbaren Wohnraum

    Interview mit Philip Locker.

    Philip Locker ist politischer Geschäftsführer der Wiederwahl-Kampagne von Kshama Sawant und Bundessprecher von Socialist Alternative

    Kshama steht zur Wiederwahl und bekommt in Umfragen 61% Zustimmung, den höchsten Wert aller Stadtratsmitglieder in Seattle. Wie wahrscheinlich ist, dass sie wiedergewählt wird?

    Ich bin zuversichtlich, dass Kshama wiedergewählt wird. Sie hat für die Lohnabhängigen in Seattle echte Verbesserungen erreicht. Aber wir dürfen uns nicht auf den Erfolgen ausruhen. Dieser Wahlkampf wird extrem hart geführt werden, gerade weil unsere Erfolge die Möglichkeiten und den Wert von unabhängiger Politik für die Arbeiterklasse gezeigt haben.

    Die großen Konzerne und das Establishment der Demokratischen Partei sind entschlossen, dieses Beispiel zu beseitigen. Es geht also um viel.

    Unsere GegnerInnen erkennen genauso wie wir, dass die Wiederwahl Kshamas ein historischer Sieg sein wird, der zur Entstehung weiterer unabhängiger linker Kandidaturen in Seattle und landesweit beitragen wird. Wir wissen, dass es für den Bürgermeister und die Handelskammer bei dieser Wahl oberste Priorität hat, Kshama zu besiegen und natürlich agieren sie taktisch klug. Sie haben keinen offen für Konzerninteressen stehenden Gegenkandidaten aufgestellt. Stattdessen haben sie eine Kandidatin gefunden, die als langjährige Bürgerrechts- und Stadtteilaktivistin antritt. Sie gibt sich als fortschrittliche Kraft, genau wie Kshama, behauptet aber sie sei „kooperativ“ und könne daher mehr erreichen und effektiver arbeiten.

    Welche Themen sind bei dieser Wahl für ArbeiterInnen am wichtigsten?

    Das größte Problem ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Seattle ist die US-Großstadt mit den am schnellsten steigenden Mieten. Immer wieder werden Menschen durch Mieterhöhungen um 10, 20, 50 oder 100% gezwungen, umzuziehen. Wir bezeichnen solche Mieterhöhungen als „ökonomische Zwangsräumung“.

    Aktuell haben ImmobilienbesitzerInnen, Bauunternehmen und VermieterInnen das Rathaus politisch unter Kontrolle. Die Stadtverwaltung gewährt milliardenschweren Immobilienunternehmern wie Paul Allen seit Jahren Steuergeschenke und Gefälligkeiten, während für die Rechte von MieterInnen und kleinen EigenheimbesitzerInnen nichts getan wird.

    Kshama tritt mit klaren Forderungen für bezahlbaren Wohnraum an. Dazu gehören eine Mietobergrenze, eine Verpflichtung zum Bau von bezahlbarem Wohnraum und ein Ende der staatlichen Geschenke an Immobilienunternehmen. Sie unterstützt auch kleinere Reformvorschläge zur Stärkung der Rechte von MieterInnen, zum Beispiel eine Verpflichtung, MieterInnen mindestens sechs Monate vor einer geplanten Mietsteigerung um 10% oder mehr darüber zu informieren.

    Aber mittelfristig ist aus meiner Sicht Kshamas Plan für den Bau von Tausenden hochwertigen, städtischen Wohnungen am wichtigsten, die zu unterdurchschnittlichen Mieten als bezahlbare Alternative zum außer Kontrolle geratenen privaten Wohnungsmarkt angeboten werden sollen.

    Warum ruft Socialist Alternative zum Aufbau einer unabhängigen politischen Alternative zu den Demokraten auf? Ist Kshamas Wahlkampf Teil eines solchen Aufbauprozesses?

    Definitiv. Der Kampf um die Wiederwahl von Kshama ist eine entscheidende Auseinandersetzung für Alle, die in den USA unabhängige, linke Politik unterstützen. Die Mehrheit der ArbeiterInnen und Jugendlichen haben von unserem kaputten politischen System vollkommen die Nase voll. JedeR weiß, dass die Großkonzerne und Superreichen das politische System und beide Parteien, Republikaner und Demokraten, gekauft haben um ihre Interessen zu vertreten.

    In Seattle trägt die politische Vertretung der Großkonzerne den Namen Demokratische Partei. Bevor Kshama gewählt wurde, bestand der Stadtrat zu 100% aus Demokraten und dieser Stadtrat und der Bürgermeister haben jedes Jahr riesige Summen an Immobilienkonzerne verschenkt, während für ArbeiterInnen die Mieten ins unermessliche gestiegen sind und die Löhne stagnierten.

    Wir hoffen, dass das was Kshama hier in Seattle erreicht hat – indem sie sich mit den PolitikerInnen der Konzerne angelegt und gewonnen hat – im ganzen Land als Beispiel dient. Wir wollen die Wiederwahl von Kshama zum Anlass nehmen, eine landesweite Debatte unter GewerschaftsaktivistInnen zu eröffnen. Warum spenden Gewerkschaften hunderte von Millionen Dollar an die Demokratische Partei, die den Wünschen der Wall Street vollkommen ergeben ist? Warum stellen Gewerkschaften, Bürgerrechtsorganisationen, UmweltschützerInnen und fortschrittliche Kräfte nicht gemeinsam eigene, unabhängige WahlkandidatInnen auf, anstatt die eine oder andere Version der Politik des Establishments zu unterstützen?

    Welche Lehren können wir aus der Kampagne für 15$ Mindestlohn in Seattle ziehen?

    Zu oft glauben AktivistInnen, dass sie ihre Forderungen aufweichen müssten, um sich der „normalen Politik“ anzupassen. Aber wenn linke KandidatInnen entschlossen gegen das politische und wirtschaftliche Establishment antreten, werden sie damit nicht weniger attraktiv, sondern können Unterstützung aus neuen Bereichen gewinnen.

    Der Kampf für 15$ unterstreicht diesen Punkt: es gab in Seattle viel mehr Enthusiasmus und Kampfbereitschaft für eine deutliche Erhöhung, für 15$ Mindestlohn, als für die extrem begrenzten Vorschläge der Demokraten auf lokaler und nationaler Ebene. Jetzt sehen wir, dass einige LokalpolitikerInnen 15$ unterstützen, aber sie reagieren nur auf den Druck der Bewegung, die wir aufgebaut haben. So oder so lehnen Walmart und McDonald’s jede ernsthafte Lohnerhöhung vehement ab. Es ist also entscheidend, Forderungen aufzustellen die für unsere Seite am stärksten mobilisierend wirken, um den Widerstand der Konzerne zu brechen. Mit der 15$-Forderung ist das gelungen.

    Um die Dinge wirklich zu verändern, müssen wir die Mehrheit der schlecht bezahlten ArbeiterInnen, die unter enormen Schulden leidenden Studierenden und andere AktivistInnen davon überzeugen, dass es sich lohnt ihre Zeit und ihr Geld in unsere Wahlkampagne zu investieren, weil wir für entscheidende Veränderungen kämpfen, die sich wirklich auf ihr Leben auswirken werden.

     

    Irland: 57 Prozent beteiligen sich am Boykott

    Dieser Artikel erschien zuerst am 16. Juli auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net
    von Michael O’Brien, Stadtrat der „Anti Austerity Alliance“ (AAA; dt.: „Bündnis gegen Austerität“) in Dublin und Mitglied der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SLP und Sektion des CWI in Irland)

    Mutige Reaktion auf beschämendes Ergebnis

    Die Zuversicht der Aktiven gegen die Wasser-Abgabe stieg umso mehr, je länger sich das zuständige Unternehmen „Irish Water“ sowie die irische Regierung auf die Frage nach der Anzahl der Zahlungseingänge in Schweigen hüllten. Am Dienstag bestätigte sich nun, dass 57 Prozent der Haushalte sich geweigert haben, der ersten Zahlungsaufforderung nachzukommen. Das entspricht rund 860.000 von 1,52 Millionen Haushalten, die zum „Kundenstamm“ gezählt werden.

    Die Aussage von „Irish Water“, dass 43 Prozent der zahlungspflichtigen Haushalte die erste Rechnung einen Tag vor Beginn der Sommerpause des irischen Parlaments, dem „Dáil“, bezahlt hätten, ist für das Unternehmen, den Minister Alan Kelly und die gesamte Regierung eine riesengroße Blamage. Sie alle wünschen sich nichts mehr, als das Land einfach einige Monate zu verlassen! Unterdessen sind ihre über die Medien und im „Dáil“ verbreiteten Aussagen zu den aus ihrer Sicht ziemlich negativen Zahlen, nichts als hohle Versuche, das Ausmaß des Boykotts kleinzureden. Dafür ernten sie landauf, landab den wohlverdienten Spott.

    Es wurde erreicht, dass zehntausende AktivistInnen gegen die Wasser-Abgabe aktiv wurden und in einem Akt kollektiver Anstrengung hunderttausende Menschen überzeugen, sich am Boykott dieser Abgabe zu beteiligen. Wahrscheinlich haben sich die meisten Menschen, die sich an diesem Zahlungsboykott beteiligen, nie eine öffentliche Versammlung besucht oder selbst an einer Protestaktion teilgenommen. Dennoch reichte es, sie davon zu überzeugen, dass es im Land eine Kampagne gibt, die gegen die Sonderabgabe zu Felde zieht und die eine Antwort auf die gemeinsame Propaganda von „Irish Water“ und der Regierung hat.

    Die zentrale Bedeutung des Zahlungsboykotts

    Dass so viele Menschen sich an dem Boykott beteiligen, ist außerdem eine Bestätigung für die „Socialist Party“, die „Anti Austerity Alliance“ und die Kampagne „We Won’t Pay“ (dt.: „Wir werden nicht zahlen!“). Diese Parteien und Gruppen haben von Anfang an gesagt, von welch entscheidender Bedeutung eine durchorganisierte Boykott-Kampagne vor allen andere nötigen und tragfähigen Taktiken ist, die ebenfalls ins Spiel gebracht worden sind, um am Ende gegen die Wasser-Abgabe erfolgreich sein zu können. Die Formationen haben sich stark in die Debatte mit eingebracht, die innerhalb der großen Bewegung gegen die Wasser-Abgabe lief. Dabei wurde immer wieder das Argument vorgebracht, dass unsere gemeinsame Stellung umso stärker werden wird, je mehr Gruppierungen, Parteien und Gewerkschaften sich für den Boykott aussprechen. Diejenigen, die sich bislang damit zurückgehalten haben, ausdrücklich zum Zahlungsboykott aufzurufen (wie beispielsweise „Sinn Fein“ und die Gewerkschaften, die sich der Initiative „Right2water“ angeschlossen haben), sollten dies jetzt endlich ebenfalls tun.

    Angesichts des bald anstehenden zweiten Zahlungsbescheids besteht unsere Aufgabe nun darin, den Boykott dadurch auszuweiten, indem wir die Menschen, die schon der ersten Gebührenerhebung nicht nachgekommen sind, überzeugen, standhaft zu bleiben und sich auch gegenüber denen, die beim ersten Mal gezahlt haben, für den Zahlungsboykott stark zu machen. Letztere haben nämlich vielleicht nur deshalb das Geld überwiesen, weil sie Angst vor Repressalien hatten oder schlecht informiert waren. Aber auch sie sollten sich unserer Bewegung anschließen. Eine höhere Zahl an boykottierten zweiten Zahlungsbescheiden wäre auch angesischts der Tatsache, dass die Parlamentswahlen immer näher rücken, für „Irish Water“ einfach nur fatal.

    Den Druck aufrecht erhalten

    Das Gesetz, das durch den „Dáil“ gepeitscht worden ist und in dem detalliert beschrieben wird, wie „Irish Water“ die Neuregelung durchzusetzen gedenkt beziehungsweise im Falle von Zahlungsverzug reagieren wird, sollte in Verbindung mit den finanziellen Zuschüssen, die das Sozialministerium gewähren würde, wie eine letzte Botschaft aus Zuckerbrot und Peitsche wirken, um am Ende die Zahlungsmoral doch noch zu steigern. Beides hat ganz offensichtlich nicht gewirkt.

    Dieses Gesetz ist keine besonders effektive Waffe zur Bekämpfung der Taktik des Boykotts – sondern eine Blamage. Angesichts der nun verbrieften hohen Beteiligung am Boykott gegen die Wasser-Abgabe können wir davon ausgehen, dass noch mehr Politiker, die am Anfang nichts gegen diese Abgabe einzuwenden hatten, mit Versprechungen an die Öffentlichkeit treten werden, diese Abgabe wieder abzuschaffen. Damit würden sie lediglich auf den Druck reagieren, den das gesamte Polit-Establishment zu diesem Thema derzeit zu spüren bekommt.

    Allerdings dürfen wir uns davon nicht einlullen lassen. Schließlich wollen diese Politiker mit diesen Versprechungen nur in die nächste Regierung gewählt werden, verlassen können wir uns auf sie jedoch nicht. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass jede künftige Regierung – wie immer sie auch aussehen mag – von Seiten der „Troika“ und der Konzerninteressen unter immensen Druck geraten wird – nicht zuletzt auch von Denis O’Brien (reichster gebürtiger Ire mit Wohnsitz auf Malta; Erg. d. Übers.). Wenn wir es schaffen, die Beteiligung am Boykott bis zu den Parlamentswahlen und darüber hinaus hochzuhalten, dann lassen wir den Politikern damit nur wenig Raum für ihre Manöver und jeder noch so kleine Versuch, eine verhasste Abgabe wieder abzuschaffen, wird mit großer Wahrscheinlichkeit zur ernsthaften Schwächung der konservativen „Fine Gael“ sowie der vollkommen gerechtfertigten straken Schwächung der sozialdemokratischen „Labour Party“ führen, die beide bisher die Regierung stellen.

     

    Das schreckliche Blutbad im türkischen Suruç

    Nur die Einheit der ArbeiterInnen kann den Terrorismus und die Spaltung beenden
    von Paula Mitchell, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SLP und Sektion des CWI in England & Wales)

    Dieser Artikel erschien zuerst am 28. Juli auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net

    Am 20. Juli sind 32 junge Menschen, Mitglieder der „Sozialistischen Föderation der Jugendverbände“, in der südosttürkischen Stadt Suruç auf schreckliche Art und Weise umgebracht worden – wahrscheinlich von einem Selbstmordattentäter des „Islamischen Staats“. Es ist das erste Mal, dass der „Islamische Staat“ eine sozialistische Organisation innerhalb der Türkei angegriffen hat. Das Abschlachten junger Leute, deren Ziel es war, über die syrische Grenze nach Kobane zu fahren, um die vom „Islamischen Staat“ im vergangenen Jahr vollkommen zerstörte kurdische Stadt wieder aufbauen zu helfen, hat weltweit zu Abscheu und Empörung geführt.

    Doch die DemonstrantInnen, die in Istanbul und anderen türkischen Städten in Solidarität mit den ermordeten jungen Menschen auf die Straße gehen wollten, sind ihrerseits von der türkischen Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern attackiert worden.

    Die türkische Regierung und Präsident Erdoğan haben Blut an ihren Händen. Ihre Außenpolitik hat den „Islamischen Staat“ ermutigt und zu Terroranschlägen geradezu eingeladen. Der türkischen Regierung wird vorgeworfen, geheime Absprachen mit dem „Islamischen Staat“ gegen die KurdInnen in Syrien getroffen zu haben. Die Türkei hat sich mit Angriffen auf den „Islamischen Staat“ zurückgehalten und einer großen Zahl von Dschihadisten erlaubt, die Grenze zu passieren. Zu den Zielen der Türkei in Syrien zählt auch, eine Pufferzone zu errichten und die kurdischen KämpferInnen durch eigene Einheiten zu ersetzen.

    Die Wahrheit ist, dass der türkische Staat lieber einen Sieg des „Islamischen Staats“ sehen würde als einen kurdischen, weil man Angst vor den Auswirkungen auf die kurdische Bevölkerung in der Türkei hat.

    Jetzt hat es aber die Übereinkunft gegeben, die zwischen den USA und dem Iran erreicht worden ist, weshalb die türkische Regierung Angst hat, ihre Rolle in der Region zu verlieren. Dabei will sie weiterhin mit den USA kooperieren. Ferner fühlt man sich gezwungen, in Reaktion auf die Gräueltat von Suruç und die Instabilität, die durch solche Terroranschläge verursacht wird, ein gewisses Maß an Aktionen gegen den „Islamischen Staat“ durchzuführen. Am 23. und 24. Juli hat man zum ersten Mal Basislager des „Islamischen Staats“ in Syrien bombardiert. Mit diesem Vorgehen wird die Gefahr des Terrorismus und der zunehmenden Destabilisierung in der Türkei nur weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass die Türkei und die USA zu einer Vereinbarung über die Durchführung gemeinsamer Operationen gegen den „Islamischen Staat“ gekommen sind, wodurch den USA Luftschläge ermöglicht werden, die von der NATO-Airbase im türkischen İncirlik aus starten.

    Die Türkei hat eine Sondersitzung der NATO-Botschafter gefordert, um über die Sicherheitslage des Landes zu diskutieren. Außerdem wurden hunderte Personen unter dem Verdacht des Terrorismus festgenommen.

    Die türkische Regierung hat auch die Möglichkeit genutzt, um Basislager der kurdischen PKK im Irak zu bombardieren. Allem Anschein nach ist man dabei härter vorgegangen als gegen den „Islamischen Staat“. Das ist eine klare Abkehr vom zum Stillstand gekommenen „Friedensprozess“, den man ursprünglich eingeleitet hatte. Erdoğan versucht die PKK mit dem „Islamischen Staat“ gleichzusetzen. Als Belege dafür sollen die Tötung von drei Polizisten sowie ein Bombenattentat an einer Straße dienen, durch das zwei Soldaten getötet worden sind. Angeblich habe es sich hierbei um PKK-Aktionen in Reaktion auf den Anschlag von Suruç gehandelt. Auch wenn man die individuellen bewaffneten Aktionen der PKK-KämpferInnen gegen Einheiten des türkischen Staats nicht mit dem massenhaften und grausamen Abschlachten von „einfachen“ Menschen aus der Arbeiterklasse und den verarmten Schichten gleichsetzen kann, das der „Islamische Staat“ betreibt, so ist die „Socialist Party“ dennoch nicht der Ansicht, dass derlei individuelle Aktionen den Kampf der KurdInnen voranbringen können. Ein solches Vorgehen ist kontraproduktiv und liefert nur den Vorwand für weitere Aggressionen durch den türkischen Staat. Außerdem läuft man dadurch Gefahr, die Spaltung zwischen türkischen und kurdischen ArbeiterInnen zu vergrößern.

    Erdoğan hofft, dass der Westen ein Auge zudrücken oder die Angriffe auf die PKK sogar billigen wird – sozusagen als Gegenleistung für die türkische Kooperation gegen den „Islamischen Staat“. In Wirklichkeit ist die Lage für die USA, die im Bodenkampf gegen den „Islamischen Staat“ auf kurdische Kräfte in Syrien angewiesen waren, wesentlich komplizierter. Die USA haben sich bisher von den Schlägen gegen die PKK-Lager distanziert.

    Und dennoch sollte die kurdische Bevölkerung keine Hilfe von Seiten der westlichen Mächte erwarten. Die Hauptverantwortung für den Alptraum im Nahen Osten liegt beim westlichen Imperialismus. Unterjochung und Konflikte, die von westlichen und regionalem Mächten angeheizt worden sind, um die Ressourcen der Region ausplündern zu können und das eigene Ansehen aufzupolieren, gibt es schon lange. Dies und die jahrzehntelange Unterdrückung der PalästinenserInnen durch den israelischen Staat (der von den westlichen Mächten unterstützt wird) ist durch den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ und die Kriege gegen Afghanistan, den Irak und Libyen weiter verschärft worden.

    Die türkische Regierung ist durch den Wahlerfolg der pro-kurdischen HDP beim Urnengang vom Juni alarmiert worden, bei denen die regierende AKP ihre absolute Mehrheit verloren hat. Ihre größte Angst besteht darin, dass sich kurdische und türkische ArbeiterInnen in einem Aufstand der Massen zusammentun könnten, der das gesamte türkische Regime herausfordern könnte.

    Die türkische Regierung versucht, anti-kurdische Ansichten unter türkischen ArbeiterInnen anzuheizen, um die eigene Herrschaft aufrechtzuerhalten und die Bestrebungen der KurdInnen zu bekämpfen. Präsident Erdoğan könnte dieses Jahr noch Neuwahlen ausrufen, um zu versuchen wieder eine parlamentarische Mehrheit für die AKP zu bekommen.

    Wenn Arbeiterorganisationen allerdings einen Appell an die Menschen der Arbeiterklasse in der Türkei richten würden und ein Programm zur Verteidigung demokratischer Rechte und nationaler Bestrebungen aller Völker, für Arbeitsplätze und Wohnraum, für die Überführung der enormen Reichtümer der Region in öffentliches und durch die Gesellschaft kontrolliertes Eigentum, um es zum Nutzen aller einzusetzen, dann könnten diese Hürden überwunden werden.

    Auf der Grundlage eines sozialistischen Programms wäre es möglich, eine Bewegung aufzubauen, die die Menschen von Syrien über den Irak und in der gesamten Region miteinander vereint und die den „Islamischen Staat“, die korrupten regionalen Mächte und den Imperialismus im Nahen Osten zurückdrängen kann. Eine freiwillige sozialistische Föderation der Nahen Ostens würde alle Völker in die Lage versetzen, frei und demokratisch über ihr eigenes Schicksal entscheiden zu können.

     

       

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