Internationales

Wahl in Griechenland: Das Volk bleibt zu Hause

von Lucy Redler

Wer Wahlkampf in Griechenland machte, traf auf Resignation und Desinteresse. Dass diese Wahlen doch eh nichts ändern würden oder die Parteien alle gleich seien, war bei vielen Menschen die vorherrschende Stimmung.

45 Prozent der Griechinnen und Griechen nahmen erst gar nicht an der Wahl am 20. September teil, die Beteiligung lag mit 55 Prozent auf einem historischen Tiefstand (in einem Land, in dem offiziell Wahlpflicht herrscht). Alle Parteien, die zuvor im Parlament waren, verloren absolut an Stimmen. 330.000 Menschen, die im Januar Syriza gewählt hatten, machten ihr Kreuz diesmal nicht mehr bei Syriza. Ihr bisheriger Koalitionspartner ANEL verlor 100.000 Stimmen. Die konservative Nea Dimokratia verzeichnete 200.000 Stimmen weniger. Pasok (und auch Pasok, Dimar und Kidiso zusammengerechnet) verlor ebenfalls in absoluten Zahlen.

Die Hauptbotschaft dieses Ergebnisses ist: Wenn Hunderttausende den Memorandumsparteien den Rücken zukehren, gibt es keine Akzeptanz der Sparpolitik.

Und doch geht Syriza auf der Basis von Demoralisierung, einer Kleineren-Übel-Logik und mangels einer ausreichend attraktiven politischen Alternative von links als offizieller Wahlsieger aus den Wahlen hervor. Wie war das möglich?

Nachdem Syriza im Januar Hoffnung verbreitet und ein Ende der Sparpolitik versprochen hatte, beugte sich die Spitze um Tsipras ohne demokratisches Mandat der Partei den Sparmaßnahmen des dritten Memorandums der Troika. Sie segnete damit die Kürzung der Mindestrenten um 100 Euro, das größte Privatisierungsprogramm der Geschichte, den Zwang zu Massenentlassungen und andere soziale Grausamkeiten ab. Der Charakter von Syriza hat sich damit fundamental geändert: von einer linken, reformistischen Partei zu einer Partei, die vor der Troika und dem griechischem Kapital kapituliert hat und nun neoliberale Politik umsetzt. Nichtsdestotrotz stellt Tsipras all das als Erfolg der Linken in Europa dar: „Wir kämpfen für den großartigen Erfolg der Linken in Griechenland und die Aufrechterhaltung der Hoffnung in ganz Europa.“ Die Syriza-Jugend sieht das offenbar anders und spaltete sich von der Partei ab, Dutzende Abgeordnete verließen die Fraktion, Scharen von Basis-Mitglieder kehrten Syriza in den letzten Wochen den Rücken.

Aus der Sorge, im Herbst – wenn die neuen Sparmaßnahmen spürbar werden – in der Bevölkerung rapide an Unterstützung zu verlieren, rief Tsipras Neuwahlen aus – auch aus dem Kalkül, sich der Parteilinken um Lafazanis zu entledigen und dieser kaum Zeit zu geben, eine politische Alternative zu Tsipras Kurs aufzubauen. Dieses Kalkül ging auf, wenngleich Tsipras das Ziel einer Alleinregierung verfehlte. Er wird wohl erneut mit ANEL eine Koalition bilden und möglicherweise weitere bürgerliche Kräfte wie Pasok oder To Potami in eine Regierung oder Tolerierung einbeziehen.

Drei Faktoren für die erneute Wahl von Tsipras

Warum Syriza die Wahl gewonnen hat, hat im Wesentlichen drei Gründe:

Erstens gaben viele Menschen Tsipras erneut ihre Stimme, weil dieser als kleineres Übel zu ND und Pasok angesehen wird. Letztere gelten als VertreterInnen des alten korrupten politischen Systems. Die passive Unterstützung für Tsipras Kurs beruht auf der Vorstellung, dass er immerhin versucht habe gegen die Troika zu kämpfen und dass man ihm eine zweite Chance geben müsse. Die Propaganda, dass es keine Alternative gegeben habe, wird von einer breiten Schicht offenbar noch akzeptiert. Das ist jedoch nicht mit Begeisterung, Enthusiasmus und aktiver Unterstützung für Tsipras zu verwechseln. Diese Wahlen sind eine Momentaufnahme und die Stimmung kann sich sehr schnell ändern, wenn die Sparmaßnahmen in den nächsten Monaten spürbar werden. Nikos Anastasiadis von der griechischen Schwesterorganisation der SLP, Xekinima, kommentiert dies wie folgt: „Die Politik der Memoranden hat bereits Parteien zerstört, die viel stärker und besser strukturiert waren als Syriza. Die Einführung der neuen Maßnahmen wird bald den Betrug offenlegen, es wird zu sozialer Zerstörung kommen. Die Idee sozialer Kämpfe und der Notwendigkeit einer neuen Linken wird dann wieder stärkere Unterstützung erfahren. Viele von denjenigen, die Syriza als kleineres Übel gewählt haben, werden bald mit der harten Wirklichkeit konfrontiert.“

Zweitens ging die Hälfte der Griechinnen und Griechen gar nicht zur Wahl, enthielt sich aus Frustration der Stimme und ermöglichte damit einen prozentualen Erfolg Syrizas. Im Vergleich zu den Wahlen im Januar verweigerten nahezu eine Million mehr Menschen die Stimmabgabe. Viele von ihnen haben der Wahl wahrscheinlich deshalb keine Bedeutung beigemessen, weil das dritte Memorandum bereits feststeht. Das bedeutet aber nicht, dass ein Teil dieser Menschen nicht für linke Politik in Zukunft erreicht werden kann.

Und drittens gab es offenbar für viele keine überzeugende linke Alternative zum Kurs von Tsipras. Letzteres hat viel mit der Demoralisierung in Griechenland zu tun. Es liegt auch in der Kürze der Zeit begründet, die die „Volkseinheit“ hatte, sich aufzubauen und an den Angriffen der bürgerlichen Medien. Es gibt aber auch politische Schwächen der „Volkseinheit“, die eine Rolle gespielt haben, wie griechische GenossInnen berichten. Die „Volkseinheit“ hat offenbar nicht als bewegungsorientiertes und breites Projekt der gesamten Linken links von Syriza überzeugt, geschweige denn Menschen begeistert. Nikos Anastasiadis erklärt, dass es nicht ausreicht, wenn eine linke Kraft zu Wahlen antritt, deren Führung dauerhaft eine linke Politik vertreten hat. Damit es zu einer Identifizierung kommt und Leute für eine neue linke Kraft kämpfen, sei weitaus mehr nötig. All das wird in der griechischen Linken in nächster Zeit zu bilanzieren und auch für die deutsche Linke von Interesse sein.

Von TINA zu TINO

Erst einmal ist es sehr bitter dass aus dem TINA-Kurs von Tsipras (There is no alternative) nun TINO (There is no opposition) wurde. Dass es keinen breiteren Wahlantritt links von Syriza gab, hängt auch mit dem sektiererischen Kurs der Kommunistischen Partei KKE und der Mehrheit von Antarsya zusammen, die sich einer Einheitsfront verweigern. Dass die KKE angesichts des Rechtsrucks von Syriza noch nicht mal prozentual zulegen konnte, spricht Bände. Als erfolgversprechende politische Opposition fällt sie leider aus.

Das einzige halbwegs positive Ergebnis am Wahlabend ist, dass auch die neofaschistische Goldene Morgenröte 10.000 Stimmen verloren hat und nur aufgrund der politischen Schwäche anderer Parteien zur drittstärksten Kraft im Parlament wurde. Doch auch hier ist keinesfalls Entwarnung angesagt und die Nazis können erneut zulegen, wenn es nicht gelingt, eine breite Massenbewegung gegen die anstehenden Sparpläne zu organisieren.

 

Wahlen in Griechenland: „OXI“ zu den Memorandum-Parteien!

Revolutionäre Massenorganisation der Linken nötig für den Ausweg aus der kapitalistischen Krise
Stellungnahme von Xekinima (griechische Schwesterorganisation der SLP)

Für die Wahlen am 20. September ruft Xekinima dazu auf, gegen diejenigen Parteien zu stimmen, die für das neueste „Memorandum“ stehen, das mit der „Troika“ aus EU, EZB und IWF abgeschlossen wurde (dabei handelt es sich um Syriza, ND, PASOK, To Potami und ANEL), sowie gegen die Nazipartei „Goldene Morgenröte“. Xekinima ruft zu einer kritischen Stimme für die „Volkseinheit“ (gr. Laiki Enotita, kurz LAE) auf.

Die Wahlen finden vor einem widersprüchlichen und schwierigen Hintergrund statt. In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht berechtigterweise große Enttäuschung. All jene, die an Syriza geglaubt haben und hofften, dass eine Linksregierung Maßnahmen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung und gegen die in den Memoranden festgeschriebene Austeritätspolitik umsetzen würde; all jene, die für das „Nein“ beim Referendum gekämpft haben, das eine machtvolle Antwort auf die Erpressung der Troika, der EU und ihrer Vertreter vor Ort bedeutete; all jene, die Teil der Bewegungen der letzten Zeit waren und dachten, dass der Zusammenbruch der alten Memorandumsparteien ND und PASOK eine bessere Zukunft bedeuten würde … sie alle versuchen ihre Wunden zu heilen, die durch die Kapitulation der Regierung von Alexis Tsipras vor der Troika entstanden sind, und sie versuchen, ihre Enttäuschung und Verwirrung zu überwinden und wieder nach vorne zu schauen.

Welcher Ausweg?

Heute geht es wieder um die ganzen „alten“ Fragen: Wie können sich diejenigen, die in den letzten Jahren gegen die Memoranden gekämpft haben, Ausdruck verschaffen? Wie können die Leute repräsentiert werden, die im Referendum mit „Nein“ gestimmt haben? Wie können die weit verbreitete Enttäuschung und der Vertrauensverlust überwunden werden? Wie können diejenigen, die weiter kämpfen und einen Ausweg aus der Krise finden wollen, politisch und auf Wahlebene repräsentiert werden?

Die meisten arbeitenden Menschen verstehen – das hat die Geschichte der vergangenen Wahlen gezeigt – dass von den alten Memorandumsparteien PASOK und ND nichts Neues erwartet werden kann. Dasselbe gilt für Parteien wie To Potami, die in allen entscheidenden Momenten (Referendum, Memoranden usw.) gezeigt hat, dass sie ein und dasselbe ist wie die alten Parteien des Establishments. Andererseits gibt es in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, dass Syriza eine weitere Chance gegeben werden sollte, um zu verhindern, dass ND und die anderen etablierten Parteien wieder an die Regierung zurückkehren.

Das Ende Syrizas als linker Partei

Fakt ist, dass die Syriza, die es vor dem Referendum gab, nicht mehr existiert. Das drückt sich nicht nur in den Tausenden Austritten linker Basismitglieder aus oder darin, dass die Partei keinerlei Forderungen der arbeitenden Klassen und der sozialen Bewegungen mehr vertritt. Auch der Umstand, dass führende Figuren eine „Regierung der nationalen Einheit“ mit den Feinden von gestern in Betracht ziehen, ist gar nicht so zentral. Der wichtigste Grund, der die Entwicklung Syrizas von einer linken Partei zu einer Partei des Establishments deutlich macht, ist das offene Bekenntnis, alle Maßnahmen des letzten Memorandums umzusetzen, koste es was es wolle.

Schließlich ist der Grund dafür, dass die Neuwahlen so eilig (und in Übereinstimmung mit Syrizas gestrigen „Feinden“ in der EU) einberufen wurden, dass die Masse der Bevölkerung bislang gar keine Zeit hatte, das volle Ausmaß und die Bedeutung der Maßnahmen, die das dritte Memorandum vorschreibt, zu verstehen. Um eine Vorstellung davon zu geben, was nach den Wahlen ansteht: Im letzten Monat wurde die Mindestrente von 490 auf 390 Euro gekürzt.

Wählt LAE!

Momentan ist die beste Möglichkeit für Linke, sich bei den kommenden Wahlen Ausdruck zu verschaffen, die „Volkseinheit“ (LAE) zu wählen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellt LAE den besten Ausdruck des Widerstands gegen Tsipras’ Führung und gegen die Kapitulation Syrizas vor der Troika dar. LAE zeigt, dass sich große Teile der Parteimitglieder gegen Tsipras’ Entscheidung wehren, die Wahlversprechen und das Programm von Syriza auf den Müll zu werfen. Das zeigt, dass Syriza nicht das Eigentum von Tsipras und seiner (ungewählten) Clique ist. Und es zeigt, dass Tausende Basismitglieder der Führung den Rücken kehren und neue Wege nach vorne suchen.

Die Abgeordneten von LAE haben im Parlament ihre Position zum historischen Sieg des „Neins“ beim Referendum und zum Wahlprogramm von Syriza aufrechterhalten. LAE genießt derzeit die Unterstützung von nennenswerten Teilen der Syriza-Basis (von der Linken Plattform, Teilen der Syriza-Jugend, einem Teil der Tendenz „53“ usw.), wenn sie auch nicht vollständig mit LAE übereinstimmen. Diese Kräfte beziehen sich auf LAE als einer Möglichkeit, sich gegen die Tsipras-Führung zu stellen. Neben diversen linken Strömungen und Gruppierungen innerhalb Syrizas unterstützen relevante Organisationen der radikalen Linken LAE.

Andererseits war LAE bisher nicht in der Lage, Begeisterung in den linksorientierten Massen der Bevölkerung oder der Gesellschaft insgesamt hervorzurufen. Dafür gibt es viele Gründe. Der erste ist ein objektiver: Die generelle Enttäuschung und der Vertrauensverlust, hervorgerufen durch Syrizas Kapitulation gegenüber der Troika. Es gibt auch einige subjektive [also durch LAE selbst verschuldete] Gründe. Das Gesamtbild von LAE wirft Fragen und Zweifel auf: Beispielsweise war die LAE-Führung lange Zeit ein fester Teil der Syriza-Führung; es gibt keine neuen Gesichter, die das Bild der neuen Partei in der Öffentlichkeit prägen; es gibt Zweifel bezüglich der inneren Demokratie von LAE; es mangelt an Klarheit und Konsistenz in den öffentlichen Äußerungen verschiedener LAE-RepräsentantInnen usw. Und schließlich erweckt LAE nicht den Eindruck von Offenheit dafür, dass sich andere Organisationen außerhalb der alten Syriza-Linken zumindest im Rahmen eines Wahlbündnisses einbringen können, was sich auch in den Kandidatenlisten widerspiegelt. All diese Faktoren rufen ernsthafte Zweifel und Zurückhaltung unter großen Teilen der möglichen Wählerbasis der neuen Partei hervor.

Trotz all dieser Schwierigkeiten mit LAE sollten wir nicht aus den Augen verlieren, was wirklich auf dem Spiel steht: Bei den kommenden Wahlen stellt LAE das zentrale Vehikel zum Ausdruck der Opposition seitens der Arbeiterklasse, der Jugend und breiter Schichten der arbeitenden Bevölkerung gegen die Kapitulation von Tsipras und der Syriza-Führung dar.

Defizite und Schwächen der restlichen Linken

Angesichts der Gesamtsituation werden viele linke AktivistInnen bei diesen Wahlen die Kommunistische Partei (KKE) und Antarsya (Antikapitalistische Linke) wählen. Das ist vollkommen nachvollziehbar. Aber wir sollten deutlich machen, dass weder die KKE noch Antarsya in den letzten Jahren der tiefsten Krise des modernen Griechenlands fähig waren, Lösungen und einen Ausweg aus der Agonie der griechischen Gesellschaft aufzuzeigen.

Die Schuld dafür trägt nicht die griechische Gesellschaft – es liegt an den Unzulänglichkeiten von KKE und Antarsya selbst. Es ist kein Zufall, dass die Wahlunterstützung der KKE heute viel geringer ist als vor dem ersten Memorandum im Jahr 2010. Gleichzeitig durchlebt Antarsya eine neue interne Krise und eine große Spaltung – statt davon zu profitieren, dass Syriza gerade explodiert und in alle Richtungen auseinanderfliegt.

Einer der größten Fehler dieser beiden linken Formationen hat mit ihrer Einstellung zur Einheitsfrontmethode zu tun – sie zeigen nicht die geringste Bereitschaft, mit anderen linken Kräften zusammenzuarbeiten. Einheitsfrontpolitik würde bedeuten, in Fragen, über die Einigkeit herrscht und die die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse und der sozialen Bewegungen betreffen, mit jeder Partei zusammenzuarbeiten, selbstverständlich unter Beibehaltung der ideologischen, politischen und organisatorischen Unabhängigkeit.

Heute erhalten diese Parteien die Quittung für ihre Fehler. Wir hoffen, dass sie in Zukunft fähig sein werden, ihre Haltung zu korrigieren, damit sie nicht vollständig und dauerhaft von den Prozessen abgeschnitten sein werden, die innerhalb der Linken und der breiten Gesellschaft stattfinden.

Was für eine Linke brauchen wir?

Neben all dem Genannten besteht aus Sicht von Xekinima die zentrale Aufgabe im Aufbau einer linken Massenkraft, die bereit dazu ist, die entschiedene Konfrontation mit den Gläubigern und der EU einzugehen, die die Schuldenzahlungen verweigert und sich daran macht, das Bankensystem zu verstaatlichen – im vollen Bewusstsein dessen, dass diese Politik den Konflikt mit der EU und den Austritt aus der Eurozone bedeuten wird. Die Wiedereinführung einer nationalen Währung ist keine „Tragödie“ – höchstens für die herrschende Klasse. Im Gegenteil; sie kann die Grundlage für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft sein, aber nur unter einer entscheidenden Bedingung: Sie muss einhergehen mit der Verstaatlichung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft unter Arbeiterkontrolle und -verwaltung, damit die Wirtschaft im Dienste der Interessen und Bedürfnisse der Mehrheit der Gesellschaft demokratisch geplant werden kann, statt riesige Profite für eine Handvoll Reeder, Bankiers und Industrielle zu produzieren.

Diese Linke sollte außerdem internationalistisch sein, also die Notwendigkeit von gemeinsam koordinierten Kämpfen mit der Arbeiterklasse in Europa und weltweit anerkennen. Gleichzeitig braucht diese Linke innere Demokratie, denn ohne volle innere Demokratie hat die Linke keine Zukunft. Hoffentlich werden dies größere Teile der Linken einsehen, denn leider hat die griechische Linke in ihrer Geschichte diesbezüglich große Schwächen aufzuweisen.

All das Genannte zeigt, wie eine revolutionäre Linke der Massen aufgebaut werden kann. Ohne eine solche revolutionäre Linke werden die arbeitenden Massen Griechenlands niemals aus dem Teufelskreis entkommen, in den uns die Krise des kapitalistischen Systems getrieben hat.

Das Potenzial für den Aufbau einer solchen Linken Massenbewegung besteht heute. Es gibt eine „kritische Masse“ innerhalb und außerhalb der „Volkseinheit“ (LAE). In Bündnissen wie der „Initiative des 17. Juli“, in den linken Netzwerken, die Syriza verlassen haben (z. B. die ehemalige Tendenz „53“, der Jugendverband usw.), aber auch unter den Tausenden von parteilosen AktivistInnen in den sozialen Bewegungen oder in unabhängigen linken Initiativen, die sich nicht unbedingt von LAE angezogen fühlen.

Eine der entscheidenden Aufgaben der nächsten Periode ist es, all diese Kräfte in einer wirklich vereinten und demokratischen Front zusammenzubringen, auf der Grundlage eines klaren, klassenbasierten, internationalistischen politischen Programms, bereit für den Bruch mit der EU und der Macht des Kapitals – das würde den Weg für eine alternative, sozialistische Gesellschaft eröffnen.

Ohne Zweifel ist die griechische Gesellschaft bereit dafür, auch wenn sie derzeit eine Phase des politischen Rückzugs durchmacht. Die Arbeitenden und Armen Griechenlands haben das in den letzten Jahren mit ihren historischen Kämpfen gegen die Memoranden bewiesen. Die griechischen ArbeiterInnen haben das mit dem gewaltigen Ergebnis beim Referendum vom 5. Juli gezeigt, als 61,3 Prozent mit „Nein“ stimmten – ein „Nein“, dass durch ganz Europa und die Welt gehallt ist, mit der Botschaft an die Gläubiger und die herrschenden Klassen: „Nein, wir haben keine Angst vor euch!“ Und die griechische Bevölkerung wird ihre Kraft zu Widerstand und Kampf auch in der jetzt beginnenden Periode an den Tag legen, mit neuen Kämpfen gegen das dritte Memorandum, welches diesmal auch die Unterschrift von Syriza trägt.

 

Mehr zum Thema: 

Großbritannien: Corbyn-Sieg!

von Socialist Party (CWI in England & Wales)

Dieser Artikel erschien zuerst am 12. September 2015 auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net

Popularität von Anti-Kürzungs-Ideen bestätigt – Jetzt beginnt der Kampf zur Schaffung einer Anti-Kürzungs-Partei

Dies ist ein historischer Moment. Nichts wird wieder so sein wie vorher. Jahrzehntelang bedeutete Politik in Westminster nichts als rechte Politik zugunsten der Großkonzerne.

Eine Handvoll linker Labour-Abgeordneter wie Jeremy Corbyn stimmten gegen Kürzungen, Krieg und das Untergraben der Demokratie, aber ihre isolierten Stimmen wurden weitgehend überdröhnt.

Jetzt wurde mit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden mit 59,5% der Stimmen der Kürzungskonsens zerschlagen. Die Hoffnungen von Millionen wurden geweckt, die eine Gesellschaft der 99% und nicht des 1% wollen.

Die Wahl von Corbyn ist jedoch nur der Beginn. Während der ganzen Wahl haben die Rechten, die die Labour Party und die kapitalistischen Medien beherrschen, alles in ihrer Macht getan, um den Sieg von Corbyn aufzuhalten.

Zehntausende Menschen wurden von der Stimmabgabe bei der Wahl zum Vorsitzenden ausgeschlossen, überwiegend Corbyn-UnterstützerInnen.

Aber nichts hat funktioniert, im Gegenteil haben die Angriffe von Blair, Brown, Mandelson und dem Rest auf Corbyn nur dessen Unterstützung vergrößert.

Hunderttausende haben, zutiefst desillusioniert von den Establishment-PolitikerInnen, die Gelegenheit genutzt, die entstand, weil Corbyn auf dem Stimmzettel für die Wahl zum Labour-Vorsitzenden war, um eine politische Stimme für ihre Anti-Kürzungs-Ansichten zu schaffen.

Selbst die Ultra-Blairistin Liz Kendall musste zugeben, dass Corbyn „große Mengen von Leuten mobilisiert und begeistert habe auf eine Weise, die wir seit Jahrzehnten nicht gesehen haben.“ Angesichts dieser Begeisterung wurde die Labour-Rechte zurückgedrängt.

Es ist ausgeschlossen, dass die Labour-Rechte die Niederlage akzeptieren und einfach zulassen wird, dass die Labour Party von Corbyn und seinen UnterstützerInnen nach links verschoben wird.

Rechtliche Schritte oder unmittelbare Versuche, einen Putsch gegen Corbyn zu machen, können nicht völlig ausgeschlossen werden, sind aber angesichts des Ausmaßes seines Sieges nicht wahrscheinlich.

Es ist jedoch klar, dass die Labour-Rechte versuchen wird, Corbyn am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen und zu untergraben mit dem Ziel, ihn so schnell wie möglich zu entfernen.

Dabei werden sie die volle Unterstützung des kapitalistischen Establishments haben. Thatcher betrachtete Blair und New Labour als ihren größten Erfolg.

Labour wurde verwandelt in eine Partei, bei der sie sich darauf verlassen konnten, dass sie im Interesse der Ein Prozent handle. Jetzt wird es eine riesige Kampagne geben, die das in den Schatten stellen wird, was während dem Wahlkampf geschah, um erneut sicherzustellen, dass die Stimme der Mehrheit – der Arbeiterklasse – erneut innerhalb der Labour Party ausgelöscht wird.

Wie kann der Angriff von rechts zurückgeschlagen werden?

Jeremy Corbyn wird nicht in der Lage sein, den Angriff zurückzuschlagen, wenn er innerhalb der Beschränkungen der vom rechten Flügel beherrschten Labour-Party-Maschine bleibt.

Es gibt nur neun Mitglieder der sozialistischen Abgeordnetengruppe, bei der er Mitglied ist. Um zu gewinnen, muss er auf der Bewegung gegen die Kürzungspolitik aufbauen, die in seinem Wahlkampf eine Stimme fand.

Ein großer Teil seiner Unterstützung kam von „außen“ – neuen Mitgliedern und registrierten UnterstützerInnen, die von der Hoffnung auf etwas Unterschiedliches angezogen wurden.

Dies ist eine neue Partei im Bildungsprozess. Viele von ihnen sind eine neue Generation von jungen Menschen, zusammen mit zurückkehrenden früheren Mitgliedern.

Als Ausgangspunkt würden wir Jeremy Corbyn dringend ermutigen, eine riesige Konferenz all jener zu organisieren, die für ihn gestimmt haben, plus der vielen Gewerkschaften – einschließlich nicht an Labour angeschlossener Gewerkschaften wie der RMT, PCS und FBU – die ein kämpferisches Anti-Kürzungs-Programm unterstützen.

Die Socialist Party würde an so einer Konferenz teilnehmen und alle anderen Anti-Kürzungs-AktivistInnen ermutigen, das gleiche zu machen.

Teil der Umgestaltung von Labour in eine prokapitalistische Partei war die völlige Zerstörung der Demokratie, die es vorher gab. „Gemäßigte“ Labour-Vertreter blöken schon, dass die Linke unter Corbyns Führung „die Schalthebel der Macht in der Partei übernehmen würde“.

Was sie damit meinen ist, „dem Jahresparteitag und dem Bundesvorstand mehr Kontrolle und der Labour-Parlamentsfraktion weniger Einfluss zu geben“ („The Independent“ 11. September 2015).

Mit anderen Worten die Wiederherstellung von etwas Parteidemokratie, wie es sie in der Vergangenheit gab! Sie greifen auch hysterisch jeden Versuch an, dass die Wahlkreisgliederungen über die Wiederaufstellung von Abgeordneten entscheiden können.

Aber das Recht, über die Wiederaufstellung von Abgeordneten zu entscheiden, bedeutet nur das demokratische Recht der Parteimitglieder, einen Abgeordneten ersetzen zu können, der gegen die Parteipolitik stimmte.

Das sollte unstrittig sein. Es ist jedoch keine Überraschung, dass es Labour-Abgeordnete aufbringt, die für Sozialkürzungen, Sparpolitik und Krieg stimmten.

Jeremy Corbyn sollte für die Einführung jeder der demokratischen Maßnahmen stimmen, die den rechten Flügel von Labour so erschrecken, einschließlich der Wiederherstellung der kollektiven Stimme der organisierten Arbeiterklasse innerhalb der Partei durch die Gewerkschaften.

Gleichzeitig sollte die Partei geöffnet werden. Alle, die in der Vergangenheit hinausgedrängt oder ausgeschlossen wurden, weil sie gegen Kürzungen und für sozialistische Ideen kämpften, sollten zur Rückkehr eingeladen werden.

Die Corbyn-Kampane hat die Idee aufgeworfen, soziale Medien und virtuelle Demokratie zur Durchführung politischer Beratungen durchzuführen.

Solche Methoden können eine nützliche ergänzende Rolle spielen, aber der Sieg über die großkonzernfreundlichen Elemente, die die Labour-Maschine beherrschen, wird aktive Massenbeteiligung erfordern.

Sozialistische Ideen populär

Die kapitalistischen Medien bestehen unisono darauf, dass eine Corbyn-geführte Labour Party unwählbar sei. Sie werden ihr Bestes tun, das zu bewirken, aber es ist nicht wahr! Im Gegenteil besagt die jüngste Umfrage von Lord Ashcroft, dass 52% der Menschen zustimmen, dass „eine radikale sozialistische Alternative eine gute Sache wäre“.

Die Bevölkerung ist weit links von den Establishment-PolitikerInnen. Zum Beispiel unterstützen 68%, 67% und 66% Wiederverstaatlichung der Energieunternehmen, der Königlichen Post beziehungsweise der Bahngesellschaften.

Die letzte Parlamentswahl hat schon die Popularität von Anti-Kürzungs-Ideen gezeigt. Während die „Kürzungen light“-Labour-Party in Schottland fast vernichtet wurde, konnte die SNP, obwohl sie Kürzungspolitik in Schottland umsetzt, alles abräumen, indem sie versprach in Westminster die Kürzungspolitik abzulehnen.

Währenddessen konnte Labour in England und Wales, trotz dem Hass auf die konservativ-liberaldemokratische Regierung, nur die Unterstützung von einer Million der über vier Millionen Stimmen zurückgewinnen, die sie seit 1997 verlor.

Desillusionierte Labour-WählerInnen wählten in der überwältigenden Mehrheit der Fälle nicht die Tories, sondern stimmten für Parteien, die sie als Protest gegen das Establishment sahen – oder blieben zu Hause und wählten überhaupt nicht.

Jeremy Corbyns Rufe nach Verstaatlichung der Bahn- und Energieunternehmen, einem Mindestlohn von 10 Pfund pro Stunde, freier Bildung, dem Bau von Gemeindewohnungen und der Abschaffung der Antigewerkschaftsgesetze haben schon Millionen begeistert.

Trotzdem ist das Programm, das Jeremy Corbyns Kampagne in ihrem schriftlichen Programm präsentiert hat, tatsächlich ziemlich begrenzt.

Er stellt die populäre Idee einer „quantitativen Lockerung für die Bevölkerung“ auf, hat aber nicht alle Schlussfolgerungen gezogen, was notwendig wäre, um so eine Politik umzusetzen.

Er fordert zum Beispiel nur eine „sinnvolle Regulierung des Bankensektors“ statt die Verstaatlichung der Banken unter demokratischer Kontrolle.

Teil des Aufbaus einer erfolgreichen Bewegung gegen Kürzungspolitik wäre eine demokratische Diskussion, wie diese auf Dauer besiegt werden kann.

In so einer Diskussion würde die Socialist Party argumentieren, dass das die Verstaatlichung der großen Firmen und Banken, die die Wirtschaft beherrschen – unter demokratischer Kontrolle durch die Arbeiterklasse – erfordern würde.

Nur auf diese Weise wäre es möglich, den Aufbau einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft zu beginnen, die geplant wird, um die Bedürfnisse der Mehrheit zu befriedigen, statt, wie gegenwärtig, eine Gesellschaft zu haben, die durch die Maximierung der Profite des 1% angetrieben wird.

Für Gemeinderäte, die die Kürzungen bekämpfen

Gemeinderäte werden ein zentrales Schlachtfeld im Kampf für die Schaffung einer Partei gegen die Kürzungspolitik sein. Jeremy Corbyn hat zu Recht einen Aufruf gemacht, dass Gemeinderäte zusammenstehen und sich weigern sollen, die Regierungskürzungen umzusetzen.

Über 450 Gemeinderäte haben unterschrieben, dass sie Jeremy Corbyn unterstützen. Das ist bedeutsam, aber es sind kaum 6 Prozent der Gesamtzahl der Labour-Gemeinderäte.

Leider wird die Mehrheit der Labour-KandidatInnen bei den Kommunalwahlen nächstes Jahr immer noch für Kürzungspolitik sein.

Kommunale Dienstleistungen wurden schon um 39 Prozent gekürzt. Wir können nicht akzeptieren, dass Labour-Gemeinderäte weiterhin mehr zusammenstreichen.

Die Erfahrung von Syriza in Griechenland, wo die Führung einer Anti-Kürzungs-Partei vor dem Druck des Großkapitals kapitulierte und jetzt Kürzungspolitik umsetzt, zeigt, dass der Sieg über die Kürzungspolitik einen entschlossenen Kampf erfordert.

Zu akzeptieren, dass Kürzungspolitik befürwortende Labour-Gemeinderäte weiterhin Arbeitsplätze und Dienstleistungen zusammenstreichen, würde den Boden für die Niederlage der Bewegung bereiten, die mit Jeremy Corbyns Wahl begonnen hat.

Die Socialist Party ist Teil der Trade Unionist and Socialist Coalition (Gewerkschaftliche und Sozialistische Koalition) die von Bob Crow, dem verstorbenen Generalsekretär der Transportarbeitergewerkschaft (der RMT) mit gegründet wurde, um Anti-Kürzungs-KandidatInnen zu den Wahlen aufzustellen.

Die TUSC wird bei den Kommunalwahlen nächstes Jahr helfen, indem sie Labour-KandidatInnen unterstützt, die sich klar verpflichten, gegen Kürzungen zu stimmen und sie wird zugleich gegen die kandidieren, die sagen, sie werden fortfahren, kommunale Dienstleistungen zusammenzukürzen.

Für eine Massenpartei der Arbeiterklasse

Jeremy Corbyns Sieg hat das Selbstvertrauen all jener gehoben, die Kürzungspolitik ablehnen und hat dem Establishment schon einen Schlag versetzt.

Aber wenn es die Rechte schafft, ihn zu isolieren und zu untergraben, besteht die Gefahr, dass die, die zu Corbyns Kampagne hingezogen wurden, desillusioniert werden und weggehen.

Wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt entfernt wird, ist es entscheidend, dass alle Folgerungen gezogen würden bezüglich der Gangbarkeit von Labour als Instrument, um den Kampf gegen Kürzungspolitik fortzusetzen.

Wir brauchen dringend eine Massenpartei für die Arbeiterklasse, die die Speerspitze eines Kampfs gegen die Kürzungspolitik sein kann. Der Weg dahin ist nicht schnurgerade.

Aber der Sieg von Jeremy Corbyn und vor allem die Mobilisierung von Hunderttausenden jungen Menschen und ArbeiterInnen gegen Kürzungspolitik, die diesen Sieg sichergestellt haben, sind ein wichtiger Schritt vorwärts.

 

Flüchtlings- und Regierungskrise in Ungarn

Der Notstand heißt Kapitalismus!
Tilman M. Ruster

Flüchtlinge haben Angst vor Ungarn. Wer dort den Boden der EU betritt und um Asyl ansucht (wozu das Abkommen von Dublin III zwingt), muss mit Schrecklichem rechnen: Flüchtlinge werden in Käfigen gehalten, fernab von ausreichender medizinischer Versorgung, Rechtsbeistand oder auch nur hinreichender Verpflegung. Flüchtlinge berichten von Prügelorgien gegen sie und oft werden ihre letzten Reserven an Geld oder ihre Handys von den „Sicherheitskräften“ gestohlen. Das ist schon seit Jahren so. Und doch wird seit Jahren im Rahmen von Dublin III nach Ungarn abgeschoben. Auch die Lage in den Flüchtlingslagern in Süditalien, Spanien oder Griechenland ist schon lange katastrophal, Ungarn ist also keine Ausnahme, sondern die Folge des EU-Flüchtlingsregimes.

Was derzeit passiert, ist dennoch eine Steigerung dieser Grausamkeiten: Entlang der serbisch-ungarischen Grenze (also einer EU-Außengrenze) werden Flüchtlinge interniert. Auf dem freien Feld, ohne Dach über dem Kopf, ohne selbst einfachste sanitäre Anlagen oder irgendeine Verpflegung werden Flüchtlinge festgehalten. Alles, was der ungarische Staat zur Verfügung stellt, sind Polizisten mit Kampfhunden, die mittels massiver Gewalt versuchen, einen Weiterzug der Flüchtlinge zu verhindern. Was es an Nahrung, Medizin, Zelten und anderem Allernötigsten gibt, kommt von freiwilligen HelferInnen und NGOs, denen die Arbeit zum Teil noch durch die Sicherheitskräfte erschwert wird. Das Elend der Auffanglager, die bis zum arabischen Frühling für die EU von Diktatoren entlang der nordafrikanischen Küste unterhalten wurden, findet jetzt innerhalb der Grenzen der EU statt. Wer aus der Hölle des syrisch-irakischen Bürgerkriegs, vor den Taliban und dem Militär in Afghanistan oder Pakistan oder dem Elend und den Konflikten Afrikas geflohen ist wird der Hölle des EU-Grenzregimes ausgesetzt. (für einen Augenzeuginnenbericht aus Röszke siehe http://www.slp.at/artikel/r%C3%B6szke-%E2%80%93-ein-feld-ein-weg-und-%C3... )

Es wird schlimmer

Seit dem 15.09. gilt in Ungarn der Notstand. Premier Orbàn rief ihn aus um „die Grenzen zu schützen“. Mit dem Notstand kommt ein Maßnahmenpaket das es in sich hat: Militär kommt an die Grenze, die Gewalt gegen die Flüchtenden wird also nochmal auf eine neue Stufe gestellt. Zu diesem Zweck werden derzeit auch weitere Soldaten angeworben. Der (zum Glück) bisher völlig durchlässig errichtete Grenzzaun gegen Serbien soll so seine Aufgabe erfüllen. Zusätzlich soll entlang der Grenzen zu Rumänien und Kroatien, also zwei EU-Mitgliedsstaaten, ein Streifen exterritorialen Landes gezogen werden, also Land in dem das löchrige EU Recht auf Freizügigkeit nicht gilt. Bis hier ein ähnlicher Zaun gezogen wird, ist vermutlich nur eine Frage der Zeit. In diesem Streifen und in einem 60m breiten Streifen entlang der serbischen Grenze sollen ankommende Flüchtlinge festgehalten werden. Was sich wohl in dieser praktisch rechtsfreien Zone abspielen wird lässt sich mit dem Wort Horror nicht mehr erfassen.

Und die EU? Als Orbàn von einem Gipfel zum Flüchtlingsthema in Brüssel zurückkehrte erklärte er, dass Schulz&Co all das wohl nicht gut fänden, aber auch keine Alternative hätten. Für Orbàn gibt es ohnehin keine Flüchtlingskrise, sondern einen Ansturm von EinwanderInnen auf den Reichtum Europas. Das schließt er daraus, dass die Ankommenden sich nicht mit der „Sicherheit“ in den Lagern in Italien, Griechenland und eben Ungarn zufrieden gäben, sondern in die reicheren Länder Mitteleuropas weiterzögen. Auch sonst zieht Orbàn jedes Register in der Angstmache gegen Flüchtlinge. Nicht nur Krankheiten und Islamistische Gefahr gingen von ihnen aus, auch könnten sie „Ungarn okkupieren - etwas, dass es in unserer Geschichte schon mal gab - oder sie könnten den Kommunismus einführen", sagte er in einem Interview. Geschickt verbindet er die Hetze gegen Flüchtlinge auch mit der Hetze gegen Roma: Ungarn könne eigentlich überhaupt niemanden aufnehmen, da es mit den Roma schon genug „belastet“ wäre.

Orbàn auf dem „Antikapitalismus-Ticket“

Orbàns Propaganda beruht auf der Idee einer belagerten Festung Ungarn. Seine Wahl und Wiederwahl verdankt er neben klassischem Rassismus seinem Widerstand gegen EU und Troika. 2008 beanspruchte die sozialdemokratische Vorgängerregierung noch vor Griechenland und anderen ein Rettungspaket gegen die internationale Finanzkrise, die das in weiten Teilen auf Kredite in fremden Währungen angewiesene Ungarn hart getroffen hatte. Der Preis dafür war die Diktatur der Troika, die sich, wie anderswo, gleich an die Zerschlagung des ohnehin schon schwachen Sozialstaats machte. Mit starker Rhetorik gegen die Troika und die (zu Recht) verhasste sozialdemokratische Partei gewann Orbàns Fidész die Wahlen. Tatsächlich schmiss er die Troika raus, aber nur um ihre Politik selber umzusetzen. Allerdings war er dabei sehr geschickt: Neben Entlassungen im öffentlichen Dienst, neuen Massensteuern usw. belastete er auch die Banken und Konzerne. Dabei ging er aber nur gegen internationale, ausländische Konzerne vor, die besonders den Bankensektor beherrschten (österreichische Banken halten z.B. ca. 60% Marktanteil). Als einziges europäisches Land führte Ungarn z.B. eine Finanztransaktionssteuer ein und zwang die Banken die verheerenden Fremdwährungskredite, die unter anderem zu über 100.000 Zwangsräumungen führten, zu ihren Ungunsten in Forint-Kredite umzuwandeln. Obwohl es letztlich auch ihm darum geht, den Kapitalismus in Ungarn zu retten, schmückte sich Orbàn mit dem Image eines Kämpfers gegen Banken&Konzerne.

Internationales Kapital zieht sich aus Ungarn zurück, was bleibt ist die ungarische Bourgeoisie, die sich um die Regierungspartei Fidèsz sammelt. Denn Fidèsz verteilt heute die großen Aufträge und einträglichen Posten. Das Korruption hierbei eine enorme Rolle spielt wird zwar immer wieder aufgedeckt, weil die Opposition aufgrund eigener Skandale und fidésztreuer Justiz hier kaum nachbohren kann, ändert sich daran aber nichts. Letztlich führt die Regierung hier auch nur die Tradition ihrer Vorgängerinnen fort.

Solange Ungarn seine internationalen Kredite bedient, nehmen EU und IWF all das bis auf weiteres hin. Gelegentliche Rügen an Ungarn von dieser Seite bestärken nur Orbàns Propaganda von der belagerten Festung, in der sich Ungarn umzingelt von einer Art „internationalen Verschwörung gegen das Ungarntum“ befände. Antisemitische Untertöne sind hier kein Zufall.

Das Troika-Programm hausgemacht

Auch wenn die Hiebe gegen das internationale Kapital der Regierung immer wieder mal kleine soziale Zuckerl (z.B. eine Gaspreissenkung) erlauben ist das Elend in der ungarischen Bevölkerung enorm. Seit 2008 haben 600.000 UngarInnen auf der Suche nach Arbeitsplätzen das Land Richtung Mitteleuropa verlassen. „Flucht“ in Hoffnung auf ein besseres Leben ist also auch unter UngarInnen ein wichtiges Thema.

Trotz der Abwanderung ist seit 2008 die Zahl der Menschen unterhalb der UN-Armutsgrenze von 2,8 um 500.000 auf 3,3 Millionen gestiegen. Im Budget für 2015 wurde der Sozialhaushalt noch einmal um 25% gekürzt: Neue Hürden wurden aufgestellt um den Zugang zur Sozialhilfe enorm zu erschweren und der Monatssatz auf max. 73€ pro erwachsener Person beschränkt. Das bedeutet, dass es Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, besonders schwer haben: für immer mehr Kinder ist die Schulspeisung die einzige Mahlzeit am Tag, am Wochenende ist es noch schlimmer. Arbeitslose können zu Zwangsarbeit heran gezogen werden, wenn sie weiterhin Geld bekommen wollen. Wenn die „Arbeitsstelle“ zu weit vom Wohnort entfernt ist werden die ArbeiterInnen in Containern untergebracht. Der Mindestlohn, von dem immer mehr UngarInnen leben müssen, liegt vor Steuer bei ca. 330€. Dabei sind die Preise oft nicht geringer als z.B. in Österreich, zumal der ungarische Forint von heftiger Inflation betroffen ist.

Jeden Angriff auf den Sozialstaat begründet Orbàn mit den angeblich „faulen“ Roma, die davon abgehalten werden müssten, das Sozialsystem zu missbrauchen. Das diese Hetze immer schlechter funktioniert zeigt eine Zunahme an Klassenkämpfen in der letzten Zeit. In der Chemieindustrie (traditionell eine der Stützen der ungarischen Wirtschaft), bei den EisenbahnerInnen und derzeit besonders konkret unter den SozialarbeiterInnen rumort es. Zehntausende gingen in der als „Winterrosenrevolution“ bekannt gewordenen Bewegung gegen Kürzungen im Bildungsbereich auf die Straße und zuletzt gab es heftige und teilweise erfolgreiche Proteste gegen die Erhebung einer Internetsteuer. Bei allen Protesten zeigt sich eine enorme Wut der ganzen Bevölkerung, die sich oft solidarisch anschließt, auch wenn der konkrete Anlass sie direkt nicht unbedingt betrifft. Unter den aktuellen Bedingungen ist schon einfachste Hilfe für Flüchtlinge eine Akt des Widerstands gegen die Regierung, der gefährliche Folgen für die HelferInnen haben kann. Trotzdem sind auch in Ungarn tausende aktiv dabei, Lebensmittel, Kleidung und Medizin an die Brennpunkte zu bringen. Dabei setzen sie sich der Gewalt von Polizei&Neofaschisten aus. Erst am 13.09. zog auch eine antirassistische Demonstration mit über 10.000 Menschen vor das Parlament. Auch das ist das Gesicht Ungarns, nicht nur die schrecklichen Bilder aus den Flüchtlingslagern.

Wirklich zuverlässige UnterstützerInnen hat die Regierung kaum. Als soziale Basis ist die eher kleine ungarische KapitalistInnenklasse kaum geeignet. Die Regierung versucht sich über eine Klientelsystem (z.B. Vergabe von Jobs im öffentlichen Dienst, Vergabe von Tabakverkaufslizenzen nach einer staatlichen Monopolisierung, öffentliche Aufträge...) eine Basis zu schaffen, dieses System ist aber sicher nicht stark genug um Fidèsz die Macht zu erhalten.

Was stützt die Regierung?

Letztlich beruht Orbàns Macht auf drei Säulen: Dem Aufbau einer autoritären Herrschaft, einem Ausspielen verschiedener Imperialismen auf internationaler Ebene und vor Allem der bisherigen Unfähigkeit der Opposition, eine echte Alternative aufzubauen und effektiven Widerstand zu organisieren.

In bürgerlichen Medien ist viel von der Einschränkung der Pressefreiheit in Ungarn zu lesen. Hinzu kommt die Verfassungs- und Wahlrechtsreform, sowie die Gleichschaltung aller öffentlichen Bereiche wie z.B. im Kulturbereich, die Fidèsz alle Machtpositionen zuspielt. Am Entscheidendsten ist aber der Kampf der Regierung gegen die Gewerkschaften und erkämpfte Rechte der ArbeiterInnenbewegung: Jeder Streik muss zuvor von einem fidèsztreuen Gericht zugelassen werden, was praktisch nie der Fall ist. Die ohnehin stark eingeschränkten ArbeitnehmerInnenrechte sind extrem schwer zu verteidigen, was zu einer in weiten Teilen unangefochtenen Willkür der Arbeitgeber geführt hat. Diverse Formen atypischer Beschäftigung untergraben den ohnehin schon extrem geringen Mindestlohn. Gewerkschaftsbeiträge zahlen in Ungarn zwar die Arbeitgeber, das Risiko eben das vom Chef/ der Chefin zu verlangen gehen aber immer weniger ArbeiterInnen ein. In der Folge verlieren die Gewerkschaften an Mitgliedern, zumal sie im Bereich des öffentlichen Dienstes und der Sicherheitsbranche ihre Rechte ohnehin völlig eingebüßt haben.

Mit dem Notstand im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise wird es wohl noch schlimmer. Einige Gesetze eignen sich besonders zur Aushöhlung von Rechten: Das Militär durfte in Ungarn bisher nicht im Inland eingesetzt werden, dank einer passenden Verfassungsänderung jetzt schon. Gut möglich, dass Soldaten künftig auch gegen soziale Bewegungen eingesetzt werden, zumal die Polizei dank Gehalts- und Pensionskürzungen ein immer unzuverlässigerer Partner der Regierung wird.

Gesetze gegen die Unterstützung von Flüchtlingen mit dem Vermerk „Fluchthilfe“ sind bewusst so formuliert, dass schon das Weitergeben einer Wasserflasche mit jahrelangen Haftstrafen belegt werden kann. Dieser Tabubruch im Gesetz öffnet das Tor für weitere Repression gegen alle Formen von Organisation von Widerstand.

Wenn Orbàn mit antidemokratischen Gesetzen mal wieder EU-Recht bricht oder (für die Herrschenden viel schlimmer) die KapitalistInnen anderer EU-Mitglieder vom ungarischen Markt ausschließt, dann verbindet er es immer mit einer Drohung gegen Brüssel: „Ihr seid nicht alternativlos“. Infrastrukturkredite aus China, Atomtechnologie aus Russland und in letzter Zeit eine immer engere Zusammenarbeit mit der Türkei sollen die Herrschenden in der EU unter Druck setzen, sich Mühe dabei zu geben, Ungarn in ihrer Einflusssphäre zu halten. Alle Verfahren gegen Ungarn werden daher eingestellt und weiter Millionen z.B. an Agrarförderung gewährt. Internationale Konflikte zwischen den imperialistischen Staaten helfen Orbàn noch diesen Balanceakt hinzubekommen. Auf Dauer kann dieses Spiel aber nicht funktionieren; die ungarische Regierung bleibt auch außenpolitisch instabil.

Mit der Flüchtlingskrise wird aber auch Orbàns Nutzen für die EU nochmal deutlicher. Wenn sich Merkel heute als „Mutter der Flüchtlinge“ feiern lässt könnte das nicht verlogener sein: Sie ist eine ArchitektInnen des EU-Grenzregimes, in dem die Staaten am Rande der EU die Rolle der „Brutalos“ zugedacht ist. Bei aller Empörung über „die Ungarn“, wie sie in vielen österreichischen und deutschen Medien zu finden ist, muss bedacht werden, dass Orbàn und seine Amtskollegen in den Staaten mit EU-Außengrenze nur Vollstrecker von Dublin III sind. Wenn Merkel die Grenzen kurz geöffnet hat, dann nicht um Dublin III abzuschaffen, sondern um es vor dem Zusammenbruch zu retten. Der Kursschwenk und die Abriegelung der deutsch-österreichischen Grenze bestätigt das nur. Die ständige Gewalt gegen Flüchtlinge in Ungarn soll sie davon abschrecken, überhaupt nach Europa zu kommen, nur wer wirtschaftlich „verwertbar“ ist soll durchgelassen werden. Wenn Orbàn das Militär an die Grenze schickt, ist das EU-Politik.

Der wichtigste Grund, warum das Kartenhaus Orbàn noch nicht in sich zusammengefallen ist, ist die mangelnde Alternative gegen ihn. Selbst jetzt, da die Flüchtlingskrise die Unfähigkeit der Regierung zeigt (Millionen Euro für einen durchlässigen Grenzzaun, humanitäre Katastrophe bis in die Budapeszter Innenstadt...), wo der Verteidigungsminister und mehrere Staatssekretäre zurückgetreten sind, ist die Regierung in den Wahlumfragen auf Platz 1. WählerInnen verliert Fidèsz fast nur an die NichtwählerInnen und die faschistische Jobbik.

Letztere betreibt die Hetze von Fidèsz einfach konsequenter: Jobbik organisiert Milizen gegen Flüchtlinge und ihre HelferInnen, die sich aus der eigentlich verbotenen, aber geduldeten Gardà rekrutieren. Die organisiert ca. 60.000 gewaltbereite Neofaschisten. „Jobbik handelt wo Fidèsz nur redet“ dachten sich bei der letzten Wahl ca. 19% der WählerInnen. Aus antisemitischen Andeutungen der Orbàn Regierung wird bei Jobbik die „Verschwörung der Fremdherzigen“, womit „die Juden“ gemeint sind. Wo Fidèsz gegen Roma hetzt organisiert Jobbik gewalttätige, pogromartige Aktionen.

Ca. 40% der Wahlberechtigten wählen gar nicht. Grund dafür ist das Fehlen einer geeigneten Alternative. Was als hoffnungsvolles Linksprojekt, unter anderem aus Gewerkschaftskreisen, zur letzten Wahl begann, wurde zu „Egütt (Gemeinsam)“, einer Wahlallianz unter der Führung des ehemaligen Premiers, der 2008 gegen Orbàn verloren hatte. Gordon Bajnai, der sein Geld zeitweise als Manager eines Heuschreckenkonzerns verdiente, war es, der einst die Troika ins Land holte. Sein „Wahlversprechen“ war es, genau das wieder zu tun. Bei den Wahlen 2014 sollten sich die UngarInnen also zwischen den Kürzungen und dem Demokratieabbau Orbàns und der Troika entscheiden. Die größte Gruppe entschied sich also zum Nichtwählen, die zweitgrößte für Fidész, gefolgt von den Faschisten der Jobbik.

Was tun?

Die katastrophale Lage der Flüchtlinge und das wachsende Elend der UngarInnen schreien nach einer Lösung. Völlig logisch ist, das ein Teil der Lösung der Sturz der Regierung sein muss.

Daraus entstehen zwei Fragen: Erstens: Wie? und zweitens: Was dann?

Orbàn ist der Vertreter der ungarischen Bourgeoisie. Seine Aufgabe ist es, eben diese zu schützen - und zwar sowohl davor, vollständig abhängig vom Imperialismus einer anderen Macht zu werden, als auch davor, von den ungarischen ArbeiterInnen&Jugendlichen gestürzt zu werden.

Es gilt, in Ungarn die ArbeiterInnenbewegung wieder aufzurichten. Die Gewerkschaften haben, von verbalen Protesten einmal abgesehen, alle Kürzungen und alle Angriffe auf demokratische Rechte hingenommen. CWI-AktivistInnen in Ungarn fordern in ihrem Material einen 24h Generalstreik, um die ArbeiterInnenbewegung wieder organisiert auf die Bühne des Widerstands zu bringen. Es braucht nicht viel die sehr instabile Regierung zu stürzen, denn im Land gibt es kaum Kräfte, die sie entschlossen stützen und international ist sie zunehmend isoliert.

Was es aber braucht ist eine Bewegung, die bereit ist mit dem Kapitalismus zu brechen. Griechenland zeigt: Die Troika ist keine Alternative zu Orbàn, tatsächlich gibt es keine Alternative im Kapitalismus. Um das kapitalistische Wirtschaftssystem zu erhalten, versucht Orbàn alle Schulden an internationale Banken zurückzahlen, die die bürgerlichen Regierungen seit 1990 gemacht haben. Das bedeutet das bisherige Elend noch weiter zu verschlimmern. Bajnai&Co versuchen dasselbe, glauben aber „wirtschaftlichen Aufschwung“ eher zu erreichen, indem sie Ungarn in eine Kolonie Deutschlands, Österreichs und der Starken in der EU verwandeln.

Ungarn braucht eine sozialistische Wirtschaft! Eine Wirtschaft, die nicht die Profitinteressen irgendwelcher KapitalistInnen, egal ob ungarische oder ausländische, stillt, sondern sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert. Das ist nur gesichert, wenn die ArbeiterInnen selber und demokratisch entscheiden, wie die Wirtschaft aufgebaut werden soll.

Um ein entsprechendes Programm zu entwerfen und die Proteste zu organisieren, braucht es auch in Ungarn eine neue ArbeiterInnenpartei. Eine solche Partei könnte in der Bewegung rund um einen 24h Generalstreik ihren Anfang finden, wenn die Forderung in die zahlreichen Initiativen z.B. rund um die Fragen von Flüchtlingshilfe, Pressefreiheit, Internetsteuer, Widerstand gegen Zwangsräumungen...hinein getragen würde.

Schon jetzt werden die Interessen der Flüchtlinge gegen die Interessen der ansässigen Bevölkerung ausgespielt. Dabei sind viele Probleme, wie das Problem, eine leistbare Wohnung, einen Arbeitsplatz etc. zu finden gemeinsame Probleme. Statt sich gegeneinander ausspielen zu lassen braucht es einen gemeinsamen Kampf! Dazu gehören auch die ca. 200.000 Roma, die zum allergrößten Teil die ärmste Bevölkerungsschicht ausmachen.

Die bürgerlichen Regierungen sind unfähig, die Fluchtursachen zu beseitigen. Dafür wäre es z.B. notwendig Waffenexporte zu stoppen, KapitalistInnen, die Öl vom IS kaufen, zu bestrafen, Konzerne daran zu hindern, die afrikanischen Ressourcen zu plündern und die ArbeiterInnen der betroffenen Länder brutalst auszubeuten und vieles, sehr vieles mehr. Kurz: Sie müssten sich gegen eben jene KapitalistInnen wenden deren Interessen sie immer schon vertreten haben. Kapitalismus bedeutet Krieg und Elend; Kapitalismus ist die Fluchtursache der Millionen, die auf dem Weg nach Europa sind. Ihn gilt es zu beseitigen, wenn all die großartige Hilfsbereitschaft von zehntausenden Freiwilligen HelferInnen in Ungarn, Österreich, Deutschland und anderswo nicht Symptombekämpfung bleiben soll.

Mehr zum Thema: 

Landesweite Attacken auf Büros der pro-kurdischen HDP, Diskussionsveranstaltung 15.09.2015

Dieser Artikel erschien zuerst am 9. September auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net

Für den Aufbau einer massenhaften vereinigten Bewegung der ArbeiterInnen zur Beendigung des Krieges!

von Sosyalist Alternatif (Schwesterorganisation der SLP in der Türkei)

Nach ernsthaften Stimmenverlusten bei den Wahlen am 7. Juni, hat Präsident Erdoğan einen brutalen Krieg gegen das kurdische Volk ausgerufen. Dies ist der so genannte „Plan B“ von Erdoğan und seiner regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Ihr Ziel ist es, bei Neuwahlen Anfang November eine Alleinregierung zu stellen, indem sie anti-kurdische Stimmungen anheizen. Dabei soll der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) ein Schlag versetzt und Erdoğans autoritäre Macht gestärkt werden. Der Präsident selbst hat seine Ambitionen deutlich klargemacht als er erklärte: „Nichts von dem wäre passiert, wenn wir 400 Sitze im Parlament gewonnen hätten“.

Inzwischen verschlechtert sich die Situation vor Ort täglich. Am 8. September wurden 126 Parteibüros der HDP über das ganze Land verteilt von Banden angegriffen, abgebrannt oder durchwühlt. Die meisten dieser Leute verfügen über Verbindungen zur ultrarechten Partei MHP („Graue Wölfe“), anderen Nationalisten und zur regierenden AKP. Viele einfache KurdInnen und kurdische AktivistInnen waren Angriffen ausgesetzt, die zu einer regelrechten Lynchkampagne ausarteten. Die türkische Polizei, die in den letzten Monaten im großen Stil dazu verwendet wurde, gegen die Aktivitäten der Linken repressiv vorzugehen, hat kaum etwas gegen die Angreifer unternommen.

Diese Angriffe spiegeln den fortlaufenden Krieg wider, den das türkische Regime im kurdischen Südosten entfacht hat. Sie sind das direkte Resultat der provokativen Aussagen und des unverhohlenen Kriegstrommelschlagens von Erdoğans regierender Clique und seiner brutalen Angriffe auf die kurdischen Gebiete. Hunderte von GuerillakämpferInnen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) wurden getötet, mit ihnen eine wachsende Zahl von ZivilistInnen. Viele junge Wehrpflichtige aus der Arbeiterklasse, die nichts von diesem Krieg haben, starben dabei ebenfalls . Erdoğan und die AKP sind letztlich dabei, mit dem Blut des kurdischen und türkischen Volkes, an der Steigerung ihres eigenen Prestige und der Erfüllung ihrer Machtinteressen zu arbeiten. Dabei riskieren sie das Abdriften des Landes in einen neuen Bürgerkrieg.

Diese Aussicht wird von der überwältigenden Mehrheit sowohl der kurdischen als auch türkischen Bevölkerung abgelehnt. Aber nur eine massenhafte, organisierte und vereinigte Bewegung der türkischen und kurdischen ArbeiterInnen und Jugend kann das fortlaufende Blutvergießen stoppen. Leider spielen die Vergeltungsschläge der PKK in Erdoğans Hände. Sie erschweren die Schaffung einer solchen vereinten Massenbewegung und tragen dazu bei, einen Teil der türkischen Bevölkerung in die Arme von rechten, chauvinistischen und reaktionären Kräften zu treiben. Die HDP muss dringend an der Seite von Gewerkschaften und linken Organisationen Schritte ergreifen, auf den Krieg in großer Art zu reagieren. Sie muss an die Arbeiterklasse, die Armen und die Jugend über ethnische Grenzen hinweg appellieren. Es muss zu Massenprotesten und Streiks aufgerufen werden: gegen den AKP-geführten Krieg, gegen rassistische Angriffe, gegen Polizeigewalt und Terrorismus in all seinen Erscheinungsformen. Multiethnische und demokratisch geführte Initiativen sollten gestartet werden, um die Communities vor zukünftigen Angriffen zu schützen. Die folgende Erklärung, wurde am 6. September von Sosyalist Alternativ (CWI Türkei) veröffentlicht, also zwei Tage vor den landesweiten Angriffen durch rechte Kräfte. (Die Redaktion von socialistworld.net)

Fast jede/r weiß, dass der Plan B Erdoğans, den er vor den Wahlen am 7. Juni verkündete, entfesselt wurde. Erdoğan will durch die Ausnutzung der derzeitigen chaotischen Atmosphäre bei den Neuwahlen am 1. November die Niederlage der AKP vergessen machen.

Als ersten Schritt machte Erdoğan Neuwahlen sicher, indem er die Möglichkeit einer Koalition der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) mit anderen bürgerlichen Parteien verunmöglichte. Parallel dazu löste er die militärischen und politischen Operationen gegen die PKK aus. Mehr als 100 Distrikte (alle in der kurdischen Region) wurden zu „Sicherheitszonen“ erklärt. In vielen Städten, wie Varto, Yuksekova, Cizre u. a., werden immer noch Ausgangssperren verhängt. Mehr als 150 Soldaten, PolizistInnen, GuerillakämpferInnen und ZivilistInnen verloren schon ihr Leben. Tausende wurden verhaftet. Hunderte davon befinden sich immer noch in den Gefängnissen und warten auf ihre Gerichtsverhandlungen. Evakuierungen von Dörfern in den Gebieten halten an. Doch es wird nicht eingegriffen, um die sich ausbreitenden Flächenbrände zu bekämpfen, die durch Flächenbombardements der Luftwaffe ausbrachen – Regierungskräfte hielten sogar die Feuerwehrleute bewusst davon ab, ihre Arbeit zu tun. In den Stadtzentren der betreffenden Gebiete sah man Straßenkämpfe, die denen in Syrien ähneln.

Das Scheitern einer Regierungsbildung und die Beerdigungen von Soldaten aus der Westtürkei, die in den bewaffneten Kämpfen starben, stärken das „Das liegt daran, dass wir kein Präsidialsystem haben“-Argument, welches Erdoğan und seine UnterstützerInnen den Massen vortragen, die nun einem neuen inneren Krieg in die Augen sehen. Das Ziel der AKP und Erdoğans ist durch Anheizen des türkischen Nationalismus, Massenunterstützung zu erhalten. Mittel dafür sind zum einen Soldatenbegräbnisse und zum anderen die Schwächung der HDP auf der Wahlebene sowie ihre politische Diskreditierung.

Erdoğan hat zwei Jahre der Abrüstung und des Friedensverhandlungen durch eine scharfe 180 Grad-Wendung im letzten März beendet. Nur ein paar Tage bevor die Verhandlungen auf Befehl Erdoğans beendet wurden, wurde ein Konsens über die „Roadmap“ erklärt, sowohl von der Regierung als auch vom „Pressesprecher“ des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Das war am 28. Februar, im Domabahçe-Palast. Nach diesem Treffen stellte Erdoğan sofort zufrieden fest, dass es jetzt „keine kurdische Frage mehr“ in der Türkei gäbe. Es ist sehr gut bekannt, dass der Grund für diesen Geistesblitz darin zu suchen war, dass Meinungsumfragen gerade darauf hindeuteten, dass es eine Wegbewegung kurdischer WählerInnen von der AKP hin zur pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) geben würde.

Die AKP benutzte die „friedliche Lösung“ der kurdischen Frage während der 13 Jahre andauernden AKP-Regierungszeit, um die kritischen Phasen der lokalen und landesweiten Wahlen zu bestehen. Sie machte dies, indem sie mit kleinen Zugeständnissen an die KurdInnen deren demokratische Forderungen zu zähmen suchte. Die Wahl vom 7. Juni war die letzte Hürde die Erdoğan nehmen musste, bevor er die Umwandlung des Landes in ein Präsidialsystem komfortabel einleiten konnte, die ihm autokratische Befugnisse gegeben hätte. Aber massenhafte Opposition entwickelte sich, besonders in den letzten drei Jahren, gegen die korrupte, unterdrückerische und antidemokratische Regierung. Dies verhinderte die Umsetzung von Erdoğans gewünschter Strategie. Dass die AKP die zweitstärkste Partei in den kurdischen Städten war, war über die 13 Jahre ihrer Herrschaft ein stützender Faktor für sie. Aber die anti-kurdische Haltung der AKP, besonders gegen Rojava, hat sie entlarvt und hat Illusionen unter ihren kurdischen UnterstützerInnen zerstört.

Am 20. Juli wurden 33 junge Leute in Suruç von IS-Leuten massakriert, wenn auch der IS sich nie offiziell dazu bekannt hat. Die jüngsten Entwicklungen haben den Verdacht geschürt, dass dieses Massaker der Startpunkt von Erdoğans Plan B war. Die AKP-Übergangsregierung (bis zur Neuwahl) hat sofort eine Militäroperation gegen die PKK, den IS und eine kleine linke terroristische Gruppe namens DHKP/C gestartet. Hunderte wurden inhaftiert. Die provisorische AKP-Regierung hat erfolgreich die Wahrnehmung geschaffen, dass die Türkei zur Zielscheibe von Terroristen geworden sei und dass sein Ziel sei, alle terroristischen Organisationen auszulöschen. Doch nach einer oder zwei scheinbar großen Luftschlägen gegen IS-Kräfte, richteten sich alle Bombardements gegen die Gebiete der PKK.

Die militärischen Angriffe der PKK treiben die Arbeiterklasse in die Hände der rechten Nationalisten

In Ceylanpınar, nahe Kobane, wurden zwei Tage nach dem Massaker in Suruç zwei Polizisten in ihrem Bett getötet. Die PKK hat diese Angriffe ausgeführt, aber ihre Beteiligung später bestritten. Doch es war zu spät. Darauffolgend übte die PKK einen Selbstmordanschlag mit einem Auto aus, nach Art der Vorgehensweise islamistischer terroristischer Organisationen, wie IS oder Al Quaida. Manche KommentatorInnen merken an, dass die PKK die terroristischen Methoden des IS kopiert. Jeden Tag gibt es neue Berichte über Tote auf Grund der folgenden Auseinandersetzungen. Die Medien zeigen die Situation in den kurdischen Städten mit einer einseitigen Perspektive und geben ihnen wenig Beachtung. Aber es gibt viele Berichte über Beerdigungen von Soldaten und Polizisten, mit dem Ziel, die Emotionen der ZuschauerInnen zu nutzen. Wenn die Medien über zivile Tote berichten, verschweigen sie wer die Angreifer waren. So entsteht der falsche und einseitige Eindruck, dass die PKK für alle zivilen Toten verantwortlich sei. Dies schafft wachsende Wut auf die PKK und diese Wut richtet sich auch gegen allen gewöhnlichen KurdInnen.

Die Wut auf die AKP wächst ebenfalls und wurde auch sichtbar bei den jüngsten Beerdigungen von Armee- und Polizeiangehörigen. Aber diese Wut wird auch von ultrarechten Nationalisten ausgenutzt, die den Krieg gegen das kurdische Volk unterstützen. Diese NationalistInnen kritisieren die AKP, aber nicht wegen der Beendigung der Friedensverhandlungen, sondern wegen der Konzessionen, die sie gegenüber den KurdInnen gemacht hat und dafür, nicht hart genug gegen sie vorzugehen. Alle sprechen über die nahende Gefahr des Bürgerkrieges.

Wir sprechen dabei von einem Bürgerkrieg, der dem in Jugoslawien nahe kommen könnte, also einhergehend mit ethnischem Abschlachten zwischen der türkischen und kurdischen Arbeiterklasse. Diese Art von Schlächterei kann nur durch Einheit der Arbeiterklasse abgewendet werden. Jedoch unterminiert die Taktik der PKK solch eine Einheit. Obwohl sie jüngst erklärt hat, dass diese Art von Angriffen nicht akzeptabel seien, halten gewöhnliche Menschen diese Beteuerungen nicht für überzeugend.

Der beste Weg, die fortlaufenden Angriffe der türkischen Streitkräfte aufzuhalten, liegt im Aufbau einer vereinten Massenbewegung aus beiden Nationalitäten. Durch das Versäumnis der PKK, solch einen gemeinsamen Kampf einzufordern und durch die Fortsetzung ihrer gezielten Tötungen, müssen ihre Appelle an die türkische Arbeiterklasse und an die Armen in der Türkei, den Wehrdienst zu verweigern, auf taube Ohren stoßen.

Sosyalist Alternatif unterstützt bedingungslos die demokratischen Forderungen der KurdInnen. Dies beinhaltet das Recht auf Lostrennung. Doch egal ob sie Lostrennung oder ein Verbleiben im türkischen Staatsverband bevorzugen – einzige Verbündete im Kampf ist die türkische Arbeiterklasse. Es gibt nur einen Weg, diese Allianz zu schaffen: nämlich die politische Gewinnung der türkischen Arbeiterklasse. Zwei Jahre ohne Konflikte haben den Weg dafür bereitet. Die Gezi-Bewegung war ein Beispiel für diese Allianz; der sensationelle Wahlsieg der HDP war ein weiteres Beispiel. Was jetzt zu tun ist, ist den Kampf auf dieser Basis zu organisieren. „Die Reichen werden weder Soldaten noch Märtyrer werden“ wurde von einem Soldaten gesagt, während er der Mutter eines anderen Soldaten, die ihren Sohn verloren hatte, auf einem Gefallenenbegräbnis Trost spendete. Dieses Klassenverständnis existiert in großen Teilen der Gesellschaft, selbst wenn es in dieser Phase noch in einem intuitiven Stadium verbleibt. Der kurdische Befreiungskampf muss mit dem Kampf der türkischen Arbeiterklasse vereint werden. Ein Handeln nach dieser Linie in der Türkei kann ein Lichtstrahl werden, der aus der gegenwärtige herrschenden Düsternis in Nahost hinausführt.

Wir sagen:

• Nein zum AKP-geführten Krieg – sofortige Beendigung aller militärischen Operationen!

• Nein zu rassistischen Angriffen auf die KurdInnen – die wirklichen Feinde sind die, die das Land regieren!

• Die PKK sollte sofort alle ihre Angriffe beenden!

• Bauen wir eine Massenbewegung gegen die Krieg von Unten auf, in der demokratische und soziale Forderungen der Arbeiterklasse vereinigt werden

• Nein zur Schaffung einer imperialistischen Pufferzone durch die Türkei und die USA!

• Stopp der Unterstützung dschihadistischer Gruppen durch die Türkei!

• Beginnt den gemeinsamen Kampf der türkischen und kurdischen Arbeiterklasse gegen dschihadistische Angriffe und gegen die kriegstreiberische AKP-Regierung!

• Kampf für eine demokratische und sozialistische Föderation des Nahen Ostens, auf einer freiwilligen Basis. Gegen Unterdrückung und Kapitalismus!

 

Großbritannien: “Jeremy Corbyn hat Begeisterung ausgelöst”

Warum die britische Gesellschaft weit links von der Regierung steht und der Kampf um den Labour-Vorsitz nur ein erster Schritt sein kann. Eine Gespräch mit Dave Nellist. 
Dave Nellist ist Vorsitzender der TUSC (Trade Unionist and Socialist Coalition), die vor fünf Jahren von der Verkehrsarbeitergewerkschaft RMT, der Socialist Party und anderen SozialistInnen gegründet wurde. Er wurde 1983 als marxistischer Labour-Abgeordneter ins Parlament gewählt – das gleiche Jahr wie Jeremy Corbyn – und die beiden arbeiteten innerhalb der “Socialist Campaign Group” zusammen. Dave wurde 1992 aus Labour ausgeschlossen, als der Rechtsruck der Partei begann. Er war 14 Jahre Abgeordneter für die Socialist Party im Stadtrat von Coventry.

War der Wahlsieg der Konservativen Ausdruck eines Rechtsrucks in der britischen Gesellschaft?

Nicht wirklich. Der Gesamtstimmenanteil der “Rechtsparteien”, also Tories, Liberaldemokraten und UKIP, fiel im Vergleich zu 2010 von 62 auf 57 Prozent, während die Parteien, die im weitesten Sinne “links” stehen – Labour, die Schottische Nationalpartei und die Grünen – von 32 auf 39 Prozent zulegten. Aber die Eigenheiten des Mehrheitswahlrechts ohne jegliches Element von Sitzverteilung nach Stimmenanteilen, sowie der Zusammenbruch von Labour in Schottland, gab den Konservativen eine Mehrheit im Parlament mit den Stimmen von weniger als 24 Prozent der Wahlberechtigten.

Außerdem haben Meinungsumfragen gezeigt, dass es Mehrheiten von zwei Drittel und mehr für Forderungen gibt, die deutlich links von den Positionen der vier großen Parteien stehen – beispielsweise die Wiederverstaatlichung der Bahn, der Post und der Energieversorger. Also gibt es keinen Rechtsruck in der politischen Meinung in Großbritannien.

Drückt also die positive Resonanz auf Jeremy Corbyns Kandidatur für den Vorsitz der Labour Party eher die wirkliche Stimmung aus? Was sagst Du zu seiner Kampagne?

Ich war überrascht, dass Jeremy Corbyn genügend Nominierungen von Labour-Parlamentsabgeordneten bekam, um überhaupt kandidieren zu dürfen. Schließlich kamen fast die Hälfte seiner Nominierungen von Abgeordneten, die ihn nicht wählen wollten, die aber darauf gehofft hatten, dass er den anderen KandidatInnen Stimmen wegnehmen würde. Wenig überrascht hat mich die Resonanz im ganzen Land von ehemaligen Labour-WählerInnen aus der Arbeiterklasse, die desillusioniert waren von der Bilanz der Labour-Partei an der Regierung und von ihrer aktuellen Haltung, die bestenfalls eine “gemäßigte” Kürzungspolitik ist. Mit Jeremy Corbyn hatten sie einen der wenigen Abgeordneten, die sich gegen Kürzungen aussprechen, die für kostenlose Bildung, die Rücknahme gewerkschaftsfeindlicher Gesetze usw. stehen. Und für die jungen Leute, die sich erstmals politisch engagieren, die keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Parteien sehen, stellt Jeremy die Hoffnung dar, dass Labour eine Stimme sein kann zur Verteidigung derer, die unter prekärer Arbeitsverhältnisse leiden, mit niedrigem Einkommen und flexibilisierten Arbeitsverträgen und nicht genug verdienen, um für ein eigenes Zuhause oder eine Familie planen zu können.

Wofür steht Corbyn?

Jeremy hat sicherlich bei vielen für Begeisterung gesorgt mit seiner Forderung nach einer Abschaffung der Studiengebühren (aktuell kostet ein dreijähriges Studium dank Studiengebühren und Lebenskosten 50.000 Pfund), mit seinem Versprechen, die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze abzuschaffen, dem Ruf nach einem höheren Mindestlohn, nach höheren Steuern für Reiche und nach der Wiederverstaatlichung von Bahn und Energieunternehmen.

Aber sein eigentliches Wahlkampfprogramm ist ziemlich beschränkt. So würden viele SozialistInnen argumentieren, dass gerade angesichts der ganzen Spekulationen, die vor sieben Jahren die aktuelle Wirtschaftskrise auslösten, das Bankensystem verstaatlicht und unter demokratische öffentliche Verwaltung gestellt werden sollte. Die Finanzreserven der Banken sollten dem Gemeinwohl dienen und nicht den Profiten der Millionäre und Milliardäre. Doch Jeremy fordert nur eine „bedeutsame Regulierung des Bankensektors” – aber keine Abkehr vom Privateigentum an den Banken.

Hat er eine Chance, zu gewinnen? Was würde passieren, wenn er gewinnt?

Ich glaube dass es jetzt wahrscheinlich ist, dass er gewinnen wird. Ein Wettanbieter hat schon jetzt Gewinne ausgezahlt an die, die auf seinen Sieg gewettet hatten (obwohl die Wahl noch bis zum 10. September geht)! Je deutlicher dieser Ausgang sich abzeichnet, umso größer wird die Panik bei den Rechten in der Labour Party und bei vielen Zeitungen, die sie unterstützen. Die aktuelle Labour-Führung schließt gerade Tausende aus, die sich zur Teilnahme an der Wahl angemeldet hatten, in der Hoffnung, dass sie damit einen Erdrutschsieg verhindern kann. Davon betroffen war sogar Marc Serwotka, der Generalsekretär der siebtgrößten Gewerkschaft des Landes. Aber ein Sieg für Jeremy Corbyn wäre nur die erste Etappe.

Weniger als zehn Prozent der Labour-Abgeordneten nominierten Corbyn und nur rund sechs Prozent der 7000 Kommunalabgeordneten haben ihn unterstützt. Die Verwandlung von Labour in eine durch und durch kapitalistische Partei war ein ideologischer und organisatorischer Prozess über zwanzig bis dreißig Jahre. Jeremy Corbyns erfolgreiche Kampagne, in der sich 400.000 Leute zur Teilnahme an der Wahl angemeldet haben, gegenüber 200.000 Mitgliedern der Labour Party davor, ist der Startschuss für eine Kampfansage an die Ideologie der Großunternehmer, die bisher in der Labour Party dominierte, vor allem nachdem Tony Blair vor zwanzig Jahren zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Aber es hat auch organisatorische Veränderungen gegeben, die Macht und Einfluss der organisierten Arbeiterklasse in der Labour Party reduziert haben, zugunsten der unternehmensfreundlichen Interessen in und um die Parteiführung.

Wenn Jeremy Corbyn seine Versprechen für sozialistische Problemlösungen einhalten will, muss sich die Linke organisieren um die Partei im Prinzip neu zu begründen und um viele der Abgeordneten im Parlament und auf kommunaler Ebene zu ersetzen, die sich weigern würden, seine radikale Anti-Kürzungspolitik umzusetzen.

Du bist Mitglied der Socialist Party und Vorsitzender von TUSC. Was schlägt TUSC in dieser Situation vor?

TUSC ist eine föderales Wahlbündnis, an dem sich die Verkehrsarbeitergewerkschaft RMT, die Socialist Party und andere SozialistInnen beteiligen. Wir werden die für den 12. September erwarteten Ergebnisse der Labour-Wahl bei unserer Konferenz am 26. September diskutieren.

Wenn eine Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn bereit wäre, Labours Bekenntnis zum Sozialismus wieder einzuführen, das vor zwanzig Jahren unter Tony Blair durch eine Aussage für Märkte und Wettbewerb ersetzt wurde; wenn er bereit wäre, Labour-geführte Kommunen anzuweisen, mit den Kürzungen aufzuhören; wenn er die föderale Rolle der Gewerkschaften in der Labour Party wiedereinführen würde und die Entscheidungsprozesse demokratisieren würde, damit diese von unten nach oben laufen – dann glaube ich, dass TUSC gerne ein Teil dieser Debatte sein würde, wie man Menschen und Organisationen aus der Arbeiterklasse eine echte sozialistische Stimme geben kann.

Sollten Labour-geführte Kommunen jedoch einfach weiter machen mit der Implementierung der Kürzungspolitik der Tories (Finanzminister George Osborne wird wahrscheinlich in den kommenden Wochen weitere Kürzungen kommunaler Dienstleistungen in Höhe von zehnMilliarden Pfund ankündigen, die in der laufenden Legislaturperiode umgesetzt werden sollen), dann erwarte ich, dass TUSC bei den Wahlen 2016 weiterhin mit Anti-Kürzungs-Kandidaturen antreten wird.

Jeremy Corbyns Kampagne hat Hunderttausende begeistert. Wenn man sie in einer organisierten Form mit den tausenden von sozialistischen und gewerkschaftlichen AktivistInnen außerhalb von Labour, unter anderem in der TUSC, zusammenführen könnte, dann könnte eine neue Partei inGroßbritannien schnell wachsen, vor allem wenn sie in den Organisationen und in den Wohnvierteln der Arbeiterklasse verwurzelt wäre. Aber dies hängt alles davon ab, ob es gelingt, die Kontrolle der Rechten über Labour zu beenden und den Augiasstall (Dreckstall, A.d.Ü.), zu dem die Partei geworden ist, auszumisten.

 

 

Erdoğans Krieg stoppen

Gemeinsam gegen IS, Krieg und Kapitalismus
von Claus Ludwig, Köln

Die Angriffe der türkischen Armee auf die KurdInnen und die Absage Erdo˘gans an Verhandlungen mit der PKK haben die Lage in der Türkei eskaliert. Der türkische Staat hat die IS-Mörderbanden gewähren lassen und unterstützt. Doch die kurdische Bewegung ist im Kampf gegen den IS stärker geworden. Jetzt geht Erdo˘gan gegen die KurdInnen vor und will gleichzeitig den IS enger an die Leine nehmen. Dieser Ritt auf der Rasierklinge könnte dazu führen, dass das NATO-Land Türkei weiter in das blutige mittelöstliche Chaos hinein schlittert.

von Claus Ludwig, Köln

Erdoğan hat den Terroranschlag von Suruç genutzt, um gegen die PKK in die Offenisve zu gehen. In den Tagen nach Suruç wurden Festnahmen von IS-Anhängern im türkischen TV gezeigt, doch schnell wurde deutlich, dass sich die Repression mit voller Wucht gegen die kurdische Bewegung und die türkische Linke richtet

Erdoğan will die HDP als „Terroristenfreunde“ darstellen, um bei möglichen Neuwahlen im November die absolute Mehrheit zu holen, welche seine AKP im Juli verpasst hat. Gleichzeitig verfolgt er erneut seinen Plan, das Assad-Regime zu stürzen und die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu zerschlagen.

Erneut verraten

Erdoğan hat für seinen Krieg gegen die KurdInnen das „OK“ von US-Präsident Obama, der NATO und der deutschen Regierung bekommen. Türkei und USA hatten sich zuvor darauf geeinigt, eine „Pufferzone“ in Syrien einzurichten, um sowohl gegen die kurdische Selbstverwaltung als auch gegen den IS und das Assad-Regime vorgehen zu können.

Die westlichen Regierungen haben angeblich eine „Anti-IS-Koalition“ geschmiedet. Aber sie erlauben dem Erdoğan-Regime, diejenigen zu bombardieren, die am härtesten gegen den IS gekämpft und seinen Vormarsch gestoppt haben.

Selbst in bürgerlichen Zeitungen ist die Rede davon, dass die KurdInnen vom Westen verraten werden. Als die US-Luftwaffe im Herbst 2014 die Stellungen des IS vor Kobanê in Rojava (Syrisch-Kurdistan) bombardierte, gab es eine Zusammenarbeit der YPG/YPJ (Selbstverteidigungseinheiten und Frauenselbstverteidigungseinheiten in Rojava) mit dem US-Militär, und SprecherInnen von PYD (PKK-Schwesterorganisation in Rojava) und YPG sprachen von „gemeinsamen Zielen“ in der Region. Doch der Westen nutzte den heldenhaften Einsatz der KämpferInnen von YPG/YPJ, um Schläge gegen den IS auszuteilen, und gibt jetzt diese KämpferInnen zum Abschuss frei.

Die KurdInnen wurden in der Vergangenheit immer wieder von angeblichen „Verbündeten“ verraten; vom Iran, den USA, von Syriens Diktator Assad und kurdischen Politikern wie Barzani und Talabani. Die wirklichen potenziellen Verbündeten der KurdInnen sind aber die unterdrückten und ausgebeuteten Massen in der Türkei, Syrien, dem Irak und dem Iran. Das wichtigste politische Kapital der kurdischen Bewegung ist dabei ihr Eintreten gegen jede Form von nationaler und religiöser Unterdrückung und die Verteidigung der demokratischen Rechte aller Bevölkerungsgruppen.

Daher sind die Stellungnahme des PYD-Vorsitzenden Salih Muslim, man könne sich vorstellen, dass sich die YPG „unter den richtigen Bedingungen der syrischen Armee anschließe“ und die Äußerung von Idriss Nassan, PYD-Vertreter aus Kobanê, man könne sich mit Assad verbünden, wenn sich dieser zu „einer demokratischen Zukunft verpflichte“, extrem gefährlich für die kurdische Bewegung. Das Assad-Regime terrorisiert vor allem die sunnitische Zivilbevölkerung mit Bombenangriffen. Es ist nicht möglich, soziale Emanzipation und multi-ethnische Solidarität zu erreichen, wenn man gleichzeitig mit Kräften kooperiert, die in der Region die sektiererische Kriegsführung verschärfen und durch ihre Vorgehensweise verfolgte sunnitische AraberInnen in die Hände des „Islamischen Staats“ treiben.

In der prekären Lage, in der sich Rojava befindet, kann es nötig sein, selbst mit Feinden militärische Absprachen zu treffen. Aber es ist immer schädlich zu verbreiten oder gar selbst zu glauben, man könne mit dem Imperialismus oder Fraktionen der regionalen Despoten politische Allianzen bilden.

Der Westen und der „Islamische Staat“

Der IS ist das Kind des zerstörerischen Krieges im Irak und der Unterdrückung der sunnitischen Bevölkerung durch die US-Besatzungstruppen und die Maliki-Regierung, sowie der US-amerikanischen, saudischen, türkischen und katarischen Einmischung in Syrien, bei der islamistische Terroristen zum Sturz des Assad-Regimes bewaffnet wurden.

Die imperialistische Kreatur IS ist schon längst außer Kontrolle und der Westen will den „Islamischen Staat“ eindämmen und zurückdrängen. Doch im Zweifelsfall ist Obama und Merkel die Übereinkunft mit ihrem Verbündeten Türkei wichtiger.

Wer PKK und YPG bombardiert, der hilft dem IS. Das wissen Obama und Merkel, aber sie akzeptieren es als kleineres Übel für ihre imperialistischen Interessen und den Versuch, die Kontrolle nicht gänzlich zu verlieren. Es wird kein Ende des Mordens im Mittleren Osten geben, ohne den Kapitalismus abzuschaffen. Ob westliche Imperialisten, regionale Despoten oder religiös-sektiererische Banden: sie alle können keinen dauerhaften Frieden schaffen geschweige denn die Region wirtschaftlich und sozial entwickeln.

Um den Teufelskreis der sektiererischen Vergeltung zu durchbrechen, braucht die Region eine starke multi-ethnische Arbeiterbewegung, welche die Einheit der Armen und der Arbeiterklasse über nationale und religiöse Grenzen hinweg glaubhaft vertritt. Ziel muss der Bruch mit Kapitalismus und feudalen Strukturen und der Aufbau einer sozialistischen Demokratie, einer freiwilligen Föderation sozialistischer Länder, sein.

Eine linke Bewegung im Mittleren Osten muss für Ziele kämpfen, die alle unterdrückten Völker und Ausgebeuteten nachvollziehen können. Demokratie allein reicht nicht; die soziale Frage und damit die Eigentumsfrage müssen aufgeworfen werden.

Welche Antwort auf Erdogan?

Die türkischen Militärschläge sollen die PKK zu gewalttätigen Reaktionen drängen und damit den Vorwurf des „Terrorismus“ scheinbar bestätigen. Erdoğan selbst lässt eine Provokation auf die andere folgen. In Varto, Provinz Muş, schleiften türkische Soldaten die nackte und misshandelte Leiche der PKK-Kämpferin Ekin Van durch die Straßen. Bei der Erstürmung des Büros der Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen in Ankara wurden verwundete YPG-KämpferInnen, die dort gepflegt wurden, festgenommen, nach Syrien verbracht und an die Al-Nusra-Front – ihre potenziellen Mörder – übergeben.

In dieser gefährlichen Situation muss die Linke in der Türkei und Kurdistan aber Geduld aufbringen. Militärische Vergeltung, vor allem Anschläge, die einfache türkische Wehrpflichtige treffen, können vom Regime genutzt werden, um den Bürgerkrieg hinauf zu beschwören und die Spaltung zwischen TürkInnen und KurdInnen zu vertiefen.

Die PKK sollte alles unterlassen, was diese Spaltung erleichtern kann. Die kurdische Bewegung sollte ihre Energien darauf richten, die Gräben zu überwinden, und den Dialog mit der türkischen Arbeiterklasse suchen. Die Verbindungen, die seit den Gezi-Protesten entstanden sind, müssen aufrecht erhalten und ausgebaut werden.

Die Anschläge auf Militär und Polizei, die es bisher gegeben hat, waren nicht hilfreich. Es ist verständlich, dass die kurdische Bewegung angesichts der Gewalt und der Ungeheuerlichkeit des Massakers von Suruç nicht untätig bleiben will. Natürlich müssen HPG (Volksverteidigungskräfte – der bewaffnete Arm der PKK) und YPG/YPJ auch die eigenen KämpferInnen schützen. Doch die Reaktion der linken kurdischen Bewegung sollte darauf ausgerichtet sein, die politische Unterstützung unter den Massen auszubauen, anstatt mit Vergeltungsaktionen in die gestellte Falle zu laufen. Der HDP-Vorsitzende Demirtaş hat zu Recht die PKK-KämpferInnen zur Zurückhaltung aufgerufen.

Der Wahlerfolg der HDP basierte darauf, dass der Kampf für die Rechte der KurdInnen mit dem Eintreten für demokratische Rechte, gegen die Kriegsgefahr und mit den sozialen Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung verbunden wurde. Mit dieser Botschaft gelang es der HDP, für Teile der türkischen Arbeiterklasse und Mittelschichten wählbar zu werden.

Die Angst vor Islamisierung und Krieg wächst, Erdoğan hat keine Mehrheit. Bis zum Ende August, darauf deuten Meinungsumfragen hin, ist das Kalkül der AKP nicht aufgegangen. AKP und MHP haben eher leicht verloren, CHP und HDP hingegen etwas zugelegt. Das zeigt, dass bisher auch weite Teile der türkischen Bevölkerung nicht auf Erdoğans Strategie der Spannung anspringen, sondern die Verantwortung für den Import von Terror und Krieg bei der Regierung sehen. Für die türkische und kurdische Linke gilt es, an dieser Stimmung anzuknüpfen.

„Grundlage für Bürgerkrieg besteht“

Interview mit Nihat Boyraz von der Gruppe „Sosyalist Alternatif”

Solidarität: Wie diskutiert die Bevölkerung in Ankara die aktuelle Situation – werden eher „die Kurden“ oder die Regierung für die Eskalation verantwortlich gemacht?

Nihat: Fast alle sind sicher, dass es um die Machtpläne von Erdoğan geht. Er sagte schon vor der Wahlniederlage am 7. Juni, dass er einen „Plan B“ habe. Viele sagen, dass er für seinen Machterhalt das Land in ein Pulverfass verwandle. Auf der anderen Seite wächst auch die Wut wegen der Anschläge der PKK. Die Ereignisse werden durch die Medien einseitig dargestellt, so dass die Westtürkei von den Informationen aus dem Osten des Landes abgeschnitten ist. Gleichzeitig nutzen die Nationalisten die Situation, um gegen die friedliche Lösung der kurdischen Frage zu agieren. Es kann sich daher so entwickeln, dass am Ende doch Erdoğan davon profitiert.

Wie schätzt du die Aktionen der YDG-H (Stadtguerilla der PKK) ein, in kurdischen Städten die „Selbstverwaltung“ zu erklären und die Orte vorübergehend militärisch zu kontrollieren?

Das sind einerseits eher symbolische Aktionen, andererseits sollte man es als Probe betrachten für den Fall, dass sich die Situation komplett in die Richtung der militärischen Konfrontation entwickelt. Ein Massenaufstand wie wir ihn im letztem Jahr erlebt haben, als der IS Kobanê angriff, ist bisher nicht zustande gekommen. Trotzdem zeigen die bewaffneten Aktionen der YDG-H, dass die PKK in der Lage ist, auch in den Städten zu agieren.

Was sind jetzt die dringlichsten Aufgaben für die türkische Linke? Welche Initiativen können ergriffen werden, um die Spaltung von TürkInnen und KurdInnen zu verhindern?

Die Lage ist ziemlich ernst. Die Grundlagen für einen Bürgerkrieg bestehen seit Jahren. Wenn die Gewalt außer Kontrolle gerät, kann sich die Lage schnell in diese Richtung entwickeln. Die Linke hat unter diesen Umständen wenig Einfluss. Einerseits, weil sie keine Massenkraft darstellt. Andererseits sind die Repressionen gegen Linke in den letzten Wochen besonders verschärft worden. Gleich nach den Wahlen wurde ein breiter „Friedensblock“ gegründet. Bis jetzt konnte dieser aber nur eine Kundgebung in Istanbul organisieren. Das reicht nicht. Wir brauchen dringend eine Bewegung, die ernsten Druck sowohl auf die Regierung macht, als auch von der PKK einfordert, die Anschläge einzustellen.

Viele Linke in der Türkei sprechen sich allgemein, mit moralischen Argumenten, gegen den Krieg aus – als handle es sich um ein Problem in einem fremden Land, als wären wir nicht selbst betroffen. Es reicht nicht, dass die Linke sagt, was nicht gut ist. Wir brauchen ein konkretes Aktionsprogramm gegen den Kurs der AKP, das Forderungen gegen den Krieg mit demokratischen und sozialen Forderungen verbindet.

Der Erfolg der HDP war vor allem ein wichtiger Schritt in Richtung der Einheit der türkischen und kurdischen ArbeiterInnen und der armen Bevölkerung. In zwei Monaten haben wir die Neuwahlen. Die arithmetische Schlüsselstellung der HDP besteht nach wie vor. Wenn sich mehr Kräfte der Linken und der Arbeiterbewegung einem Wahlbündnis um die HDP herum anschließen würden, könnte dieses sogar noch erfolgreicher als im Juli sein.

 

Australien: Erfolgreicher Kampf gegen Prestigeprojekt

Ein Interview mit Anthony Main über den erfolgreichen Widerstand gegen das größte Infrastrukturprojekt der Welt im australischen Melbourne,

Anthony, Du hast aktiv am Kampf gegen den Ost-West-Tunnel in Melbourne teilgenommen und darüber gerade das Buch „Beating the big End of Town“ veröffentlicht. Klingt sehr weit weg, doch auch hier gibt es Megaprojekte wie in Stuttgart – der komplette Neubau eines Bahnhofs mit Verlegung unter die Erde. Statt für marode Schulen und Wohnungsmangel werden hier mehrere Milliarden Euro verpulvert. Worum ging es in Melbourne und was warum wart Ihr gegen den Tunnel?

Das Projekt war ein Mauttunnel, der von Ost nach West unter der nördlichen Vorstadt verlaufen sollte. Die Regierung erzählte uns, dass er das Verkehrsaufkommen reduzieren und Arbeitsplätze schaffen sollte. Aber die Fakten sprachen eine andere Sprache. Als wir es uns genauer anschauten, wurde deutlich, dass es ein Projekt im Interesse der großen Logistikfirmen, Bauunternehmen und Banken war. Die normale Bevölkerung sollte dafür auf verschiedenen Wegen zahlen. In Form einer Maut, um den Tunnel nutzen zu dürfen. Aber auch die Regierung würde das Projekt finanziell unterstützen und Milliarden über Milliarden in Subventionen für die Firmen stecken, die den Tunnel bauen und betreiben sollten. Das war ein schrecklicher Gedanke. Hunderte Häuser hätten weichen müssen, um Platz für den Tunnel zu schaffen, ein historische Park wäre zerstört und Nachbarschaften auseinander gerissen worden. Aus all diesen Gründen entschieden wir uns, eine Kampagne dagegen zu starten.

Wie hoch war das finanzielle Volumen dieses Projekts?

Ich glaube, es entsprach in etwa zwölf Milliarden Euro. Es waren 18 Milliarden australische Dollar allein für die Bauphase. Und das bedeutete offensichtlich Milliarden von Profiten für die Firmen, die die Genehmigung bekamen, die Straße über einen Zeitraum von dreißig Jahren zu betreiben. Als es vorgeschlagen wurde, galt es als das größte Infrastrukturprogramm auf der Welt.

Also der Bau selbst wurde durch öffentliche Investitionen getragen?

Es war eine öffentlich-private Partnerschaft, also gab es Geld von der Staatsregierung, von der Regierung des Bundesstaates und aus dem privaten Sektor. Aber es war eine ziemlich einzigartige Vereinbarung. Sie haben es Verfügbarkeitsmodell genannt. Unabhängig davon, wie viele Autos den Tunnel benutzen würden, garantierte die Regierung eine Zahlung an private Unternehmen in Höhe von 300 oder 400 Millionen Dollar jedes Quartal! Dabei gibt es überall Finanzierungsbedarf, insbesondere im öffentlichen Personennahverkehr, der eine bessere Alternative zu privaten Maut-Straßen ist. In Wirklichkeit schafft dies mehr Arbeitsplätze und ist viel besser für die Umwelt.

Wie sieht es mit Arbeitsbedingungen aus? Wenn die Regierung sagt, dass das Projekt mehr Jobs schaffen wird, welcher Art wären sie gewesen? Befristete Arbeitsplätze?

Es ist offensichtlich, dass sie versucht haben, so zu argumentieren, da es eine zunehmende Arbeitslosigkeit in Australien gibt. Es herrscht Angst vor Unterbeschäftigung, Gelegenheitsarbeiten und prekärer Arbeit. Und natürlich haben die Leute Angst um ihre Arbeitsplätze. Wir haben gesagt, dass das gleiche Geld in öffentlichen Transportprojekten drei Mal so viele Jobs schaffen könnte, was auch einige Wissenschaftler bestätigten. Die Stellen in dem Projekt waren ausschließlich auf die Zeit während der Arbeiten befristet. Wenn der Tunnel einmal gebaut ist, gibt es nicht mehr viel zu tun. Vielleicht ein wenig Reinigung und das Auswechseln von Lampen, während im Nahverkehr beispielsweise Servicekräfte behalten werden. Es gibt viel mehr Arbeit in diesem Bereich. Wir haben für diese Alternative argumentiert.

Welche Haltung haben die Gewerkschaften zu dem Bauprojekt eingenommen?

Leider sah es in diesem konkreten Fall so aus, dass die meisten Gewerkschaften das Projekt unterstützt haben. Wir glauben, dass sie eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Baubranche hatten. Dort wollen sie vor allem neue Jobs für ihre Mitglieder schaffen. Aus der Sicht der gesamten Arbeiterklasse wird das SteuerzahlerInnen und arbeitende Menschen Milliarden von Dollar über Jahrzehnte kosten und weniger Beschäftigung schaffen. Es war ein wenig enttäuschend, dass die Gewerkschaften dies nicht wirklich verstanden. Es gab einige, die es formal ablehnten, aber leider nicht sehr aktiv in der Kampagne waren.

Wie ist die Lage der arbeitenden Bevölkerung in Melbourne?

Die politische Situation in Australien ist sehr ruhig. Australien hat – was in der entwickelten Welt einzigartig ist – einen ununterbrochenen wirtschaftlichen Boom über die letzten 25 Jahre erlebt. Die wirtschaftliche Situation hier wurde vor allem durch die ökonomische Entwicklung in China befördert. Der tragende Bereich der australischen Wirtschaft ist der Bergbau und Export von Rohstoffen nach China. Aber diese Situation beginnt, sich zu verändern. Chinas Wachstum verlangsamt sich und das hat bereits einen Einfluss auf die australische Wirtschaft. Ein Teil, worum es bei diesem Projekt ging, war, dass die Regierung und große Firmen nach anderen Bereichen gesucht haben, wo sie Profite investieren können. Als der Bergbau ins Stocken geriet, forcierten viele Staaten in Australien Straßenprojekte. Ich denke, dass das eine neue Gewinnquelle für sie in den kommenden Jahren sein wird. Dieses Projekt war sehr eng mit den Wirtschaftsplänen der Regierung und großen Firmen verbunden.

Das klingt ganz nach Stuttgart 21. Es wird eine größere Fläche in der Stadt frei gegeben, um neue Bürogebäude und Einkaufscenter zu bauen mit denen sich eine Menge Profit machen lässt.

Ich glaube, die Gemeinsamkeit all dieser Projekte auf der ganzen Welt ist, dass sie von Profitinteressen voran getrieben werden. Sie werden nicht für die einfachen Menschen gebaut. Für Gewöhnlich sind es keine gesellschaftlich sinnvollen Projekte: es geht nur darum, dass Konzerne daran verdienen. Sie machen sich keine Gedanken über die Lebensumstände der Menschen. Sie kümmern sich nicht um die finanziellen Auswirkungen für SteuerzahlerInnen.

Wofür stand die Kampagne noch?

Zuallererst haben wir natürlich gesagt, dass wir gegen dieses Projekt sind. Wir sagten, dass das Geld statt dessen in den öffentlichen Nahverkehr investiert werden sollte, weil wir in Australien eine Situation haben, in der die Bevölkerung wächst. Aber der Dienstleistungsbereich ist nicht in der Lage, damit Schritt zu halten. Der Nahverkehr in Melbourne platzt aus allen Nähten. Das wäre besser für die Umwelt und würde Arbeitsplätze schaffen. Wir bekamen sehr positive Rückmeldungen von den normalen Leuten in Melbourne. So sehr, dass die Regierung eine riesige Propagandakampagne startete, bei der Millionen von Dollar für Werbung, Anzeigen und viele andere Sachen ausgegeben wurden. Aber die Leute verstanden, was wir ihnen sagten und wir bekamen Resonanz dafür, dass wir ein Alternativprojekt vorstellten. Letztendlich vertrauten die Menschen der Regierung nicht, gerade weil das Projekt im Interesse der Konzerne war. Die Regierenden entschieden, die Planung geheim zu halten, was viele skeptisch machte und bezüglich ihrer Absichten verunsicherte. Und das funktionierte schließlich für die Regierung nicht, weil sie dieses Projekt im Wahlkampf nutzen wollte und sagte, dass die Wahlen als Referendum darüber gesehen werden sollten. Sie haben die Wahlen verloren, sie wurden aus dem Amt geworfen und die oppositionelle Labour-Partei kam an die Macht und war durch den Druck der Kampagne gezwungen, das Projekt zu verwerfen. So haben wir am Ende gewonnen.

Wie war der Kampf in den Stadtteilen und im Allgemeinen organisiert?

Es gibt verschiedenen Aspekte des Kampfes. Wir organisierten viele Straßenproteste und Demonstrationen, aber die Hauptsache, die den meisten Druck auf die Regierung erzeugte, war die direkte Aktionskampagne, die wir in den umliegenden Vierteln starteten. Diese direkten Aktionen zielten auf die Vorarbeiten ab. Sie mussten viele Testbohrungen machen, um den Grund zu erforschen und Gesteinsproben unter der Vorstadt zu nehmen, um heraus zu finden, wie sie den Tunnel unter der Stadt bohren können. Das war unser Ziel. Wir stellten Posten auf, um die Pläne der Regierung und deren Vertragspartner zu behindern. Das übte viel Druck aus, da sie einen sehr engen Zeitplan hatten. Und auf der Grundlage von Arbeitsverzögerung durch direkte Aktion, wurde das Problem auf eine politische Ebene gehoben. Es war die Hauptschlagzeile in den Nachrichten über Monate hinweg in Melbourne und Australien.

In Stuttgart gab es brutalste Polizeieinsätze gegen Blockaden. Wie war die Situation bei Euch?

Es gab auch bei uns eine gewaltige Polizeipräsenz. Am Anfang waren sie ein wenig unsicher, wie sie mit uns umgehen sollten, weil wir normale AnwohnerInnen aus der Gegend mobilisierten und sie zögerten sehr, hart vor zu gehen. Das änderte sich jedoch, als der Zeitplan immer mehr drängte. Es waren hunderte von Einheiten eingesetzt, um die Ketten zu durchbrechen. Es gibt eine Schätzung, nach der sie fünf Millionen Dollar für Polizeiressourcen ausgaben und hunderttausende mehr für private Security und andere Sachen, um den Blockadeposten beizukommen. Wir waren jedoch zumindest in der Lage, den Prozess zu verzögern. Das zwang sie zuerst dazu, die Vorarbeiten einzustellen und dann ganz abzusagen. Außerdem rückten die Wahlen näher, die für November 2014 angesetzt waren und sie wollten natürlich das Projekt vorher gestartet haben.

Also würdest Du sagen, dass der entscheidende Faktor, um diesen Kampf zu gewinnen die Organisierung der AnwohnerInnen war? Oder welche anderen Faktoren gab es?

Es war entscheidend, dass wir die Leute organisiert haben, die direkt betroffen waren. Menschen, die ihr Zuhause verlieren würden. Menschen, deren Viertel ruiniert werden würde. Aber unser allgemeines Programm sagte, dass Millionen von Menschen in den Vorstädten betroffen wären. Für die nicht direkt Betroffenen, hatten wir einen Forderungskatalog für mehr Nahverkehr und Arbeit. So waren wir in der Lage, die öffentliche Meinung zu ändern, trotz Millionen von Regierungsgeldern, die in die Propagandakampagne gesteckt wurden. Umfragen ergaben, dass die Mehrheit der einfachen Bevölkerung Investitionen in den öffentlichen Verkehr sehen wollte im Gegensatz zu mehr privater Mautstraßen.

Was kommt jetzt, nachdem der Kampf gewonnen ist? Wird möglicherweise eine andere Regierung in der Zukunft dieses Projekt wieder aufleben lassen?

Das ist auf jeden Fall möglich. Aber wir haben gesehen, dass solche Projekte verhindert werden können, wenn sich normale Leute zusammen tun. Konzerninteressen können zurückgeschlagen werden. Die Hauptsache ist, dass wir unsere Energie jetzt in eine Kampagne für öffentlichen Personennahverkehr und Alternativen stecken. Auf der Strecke, auf der der Tunnel gebaut werden sollte, schlagen wir zum Beispiel vor, eine Eisenbahnstrecke zu bauen, um für eine Entlastung von tausenden von Autos von der Strecke von Osten nach Westen quer durch Melbourne zu schaffen, was effektiver wäre als der Tunnel.

Was war Deine Rolle in der Kampagne?

Dieses bestimmte Projekt wurde seit etwa 2008 groß angekündigt. Und wir haben schon damals dagegen mobilisiert. Wegen der globalen Finanzkrise bekamen sie damals kein Geld von privaten Investoren. Also wurde es erst einmal zurückgestellt. Es kam jedoch schnell wieder auf die Agenda im Jahr 2013. Zu diesem Zeitpunkt begannen wir gegen die Vorarbeiten zu mobilisieren. Meine Aufgabe war die Koordinierung der direkten Aktionen und der Posten in den Vierteln. Dadurch wurde ich oft als Sprecher der Kampagne angesehen.

Warum hast Du zu dieser Auseinandersetzung ein Buch geschrieben?

Überall auf der Welt gewinnen die großen Unternehmen, sie bauen diese Riesenprojekte zu Lasten der normalen Bevölkerung, ruinieren Stadtteile, profitieren davon und bekommen Subventionierungen von kapitalistischen Regierungen. Oft verlieren wir. Aber wenn wir gewinnen, ist es das wert, aufgeschrieben zu werden. Es ist wichtig herauszuarbeiten, was während der Kampagne passiert ist, um die Lehren daraus zu ziehen. Und es soll helfen, um es mit anderen Bewegungen nicht nur in Australien, sondern überall zu teilen.

Das Interview führte René Kiesel.

Das Buch „Beating the big End of Town“ kann für 8 Euro plus Versandkosten unter info@sav-online.debestellt werden.

 

Griechenland: Was will die "Volkseinheit"?

Interview mit Andros Payiatsos, Sprecher von Xekinima

Nach dem 43 Syriza-Abgeordnete Mitte August dem dritten Reformpaket ihre Zustimmung verweigerten, verlor Tsipras die eigene Mehrheit und trat zurück. Sein Kalkül: mit Neuwahlen seine Unterstützung auszubauen, da zum jetzigen Zeitpunkt viele GriechInnen die Regierung noch stützen, weil die Einführung der Kürzungsmaßnahmen erst im Herbst spürbar wird. Unmittelbar nach der Ankündigung haben sich 25 Abgeordnete, die meisten von ihnen der Parteilinken „Linke Plattform“ zugehörig, von Syriza abgespalten und die „Volkseinheit“ („Laiki Enotita“) gebildet. Diese wird auch von Xekinima, Schwesterorganisation der SAV, unterstützt.

Was fordert die „Volkseinheit“?

Die „Volkseinheit“ ist Ausdruck des derzeitigen Stands des sich rasch entwickelnden Klassenbewusstseins in Griechenland. In den letzten drei bis vier Jahren gab es einen massiven Anstieg der Unterstützung für Syriza von damals drei bis vier Prozent auf 36 Prozent. Nach dem Ausverkauf durch die Führung von Syriza kam es zur Spaltung der Partei, vor allem viele von der Basis haben der Partei den Rücken gekehrt. Als neue Formation ist die „Volkseinheit“ entstanden, die links von SYRIZA steht.

Ihre Kernaussage ist die Ablehnung des Ausverkaufs des Wahlprogramms von Syriza und der Prinzipien der Linken, um in der Eurozone zu bleiben. Die Haltung zur Eurozone ist ein zentraler Punkt der Gründung der „Volkseinheit“. Ihre Haltung ist klar und deutlich: wir brauchen ein Programm im Interesse der arbeitenden Bevölkerung. Wenn das dazu führt, dass wir den Euro verlassen müssen, müssen wir das ohne zu zögern tun. Die „Volkseinheit“ steht für den Bruch mit der Eurozone. Sie ist aber keine nationalistische Formation, die alles um den Programmpunkt „Zurück zur Drachme“ gruppiert. Das Programm, das derzeit von der Basis der „Volkseinheit“ diskutiert wird, ist stark antikapitalistisch: Für die Streichung der Schulden, die unmittelbare Verstaatlichung des Bankensystems und die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum. Sie werfen außerdem die Forderung von Arbeiterkontrolle und -verwaltung in Wirtschaft und Gesellschaft auf und greifen die Idee einer geplanten Wirtschaft auf, um die Wirtschaft mit besonderer Betonung auf die Landwirtschaft und Rohstoffe und die verarbeitende Industrie zu entwickeln. Statt die Wirtschaft, wie in der Vergangenheit, vor allem auf Dienstleistungen und Tourismus auszurichten, soll sie der „Volkseinheit“ zufolge wieder stärker auf die Erzeugung von realen Produkten gerichtet werden. Das Programm ist noch nicht fertig gestellt, wird aber gerade von den Organisationen, die die „Volkseinheit“ gegründet haben, diskutiert.

Welche Organisationen gehören denn zu den Gründern?

Die „Volkseinheit“ wurde ursprünglich von den Kräften um die Linke Plattform (innerhalb von Syriza) und von vier weiteren Kräften aus der Initiative der 1000 inklusive Xekinima gegründet. Ebenfalls unterstützt wird die „Volkseinheit“ von zwei früheren Abspaltungen der KKE, der Sozialistischen Linken Dikki und zwei Gruppierungen von Antarsya, die aber bisher nicht die Mehrheit von Antarsya darstellen.

Nach bisherigem Diskussionsstand ist klar, dass das Programm viel fortschrittlicher und klarer als die bisherigen Programme von Syriza, wie beispielsweise das Programm von Thessaloniki, sein wird. Es ist auch nicht, wie viele Programme von Syriza, zweideutig oder kann verschiedenartig interpretiert werden, es ist sehr eindeutig.

Die Forderungen des Programms können nicht in der Eurozone durchgesetzt werden. Die Rückkehr zu einer nationalen Währung ist kein Zweck an sich, aber wird als Mittel gesehen, um ein Programm anzuwenden, das die Wirtschaft aus der Krise bringen und diese im Interesse der Arbeiterklasse ausrichtet.

Wie groß ist das Potential der „Volkseinheit“ bei den Neuwahlen im September?

Umfragen legen nahe, dass sie eine sehr wichtige Kraft wird und zwischen sieben und acht Prozent erreichen kann. Dafür gibt es keine Garantie, aber es entspricht ihrem Potential, eventuell kann das sogar übertroffen werden. Der Zuspruch für sie spiegelt sich im selben Maße gesunkenen Umfragewert für Syriza wider. Wichtig ist aber vor allem auch, dass viele nicht zur Wahl gehen werden. Wahrscheinlich werden die NichtwählerInnen die größte Partei stellen. Der Grund dafür ist, dass es eine massenhafte Demoralisierung gibt.

Hat der Wahlantritt der „Volkseinheit“ eine dämpfende Wirkung auf die Wahlchancen der Goldenen Morgenröte?

Ich denke ja. Es ist sehr wichtig, dass sich die „Volkseinheit“ entwickelt hat und zu den Wahlen antritt. Wenn dies nicht der Fall wäre, würde die Goldene Morgenröte sicher von dem Ausverkauf, den Syriza begangen hat, profitieren. Wir gehen trotzdem davon aus, dass die Goldene Morgenröte bei den Wahlen etwas zulegen wird, aber der Zugewinn wird viel kleiner sein, als er ohne den Antritt der „Volkseinheit“ der Fall gewesen wäre.

Wird es Ortsgruppen der „Volkseinheit“ geben?

Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Ortsgruppen, die „Volkseinheit“ ist ein Bündnis verschiedener Organisationen ohne Individualmitgliedschaft. Es ist ja eine sehr neue Formation. Xekinima schlägt vor, dass Ortsgruppen gegründet werden und auch individuelle Mitgliedschaften möglich sind, damit sich möglichst viele Menschen einbringen können.

Xekinima beteiligt sich an der „Volkseinheit“, baut aber auch die „Initiative 17. Juli“ weiter auf. Warum?

Ja, das stimmt. Die „Initiative des 17. Juli“ gab es schon vor der Gründung der „Volkseinheit“ und wurde als Appell zur Gründung einer neuen linken Kraft entwickelt. Aufgrund dieses Appells und eines sehr radikalen Programms hat die „Initiative des 17. Juli“ verschiedene Kräfte angezogen. In der Zwischenzeit hat sich dann die „Volkseinheit“ gebildet, aber die meisten Kräfte die bei der „Initiative des 17. Juli“ mitmachen, sind nicht bereit, sich der „Volkseinheit“ anzuschließen. Sie haben unterschiedliche politische Hintergründe, sind bereit die „Volkseinheit“ bei Wahlen zu unterstützen, aber werden ihr nicht beitreten.

Derzeit gibt es massenhafte Austritte aus Syriza, von denen aber nicht alle in die „Volkseinheit“ eintreten. Der Kern der „Volkseinheit“ besteht aus der Linken Plattform, die früher Teil der Kommunistischen Partei war. Die Linke in Griechenland ist breiter, nicht alle identifizieren sich mit diesem Teil der griechischen Linken, der keine starke Tradition von innerparteilicher Demokratie und Einbindung in sozialen Bewegungen hat.

Es gibt zwei weitere Faktoren, warum einige, die Syriza verlassen, zögern der „Volkseinheit“ beizutreten: Erstens gibt es eine massenhafte Demoralisierung und einen allgemeinen Vertrauensverlust in linke Formationen nach Tsipras’ Ausverkauf. Zweitens waren einige der führenden Mitglieder der „Volkseinheit“ bis vor kurzem Minister der Syriza-Regierung, was zu Zweifeln bei einigen AktivistInnen führt.

Xekinima beteiligt sich an der„Volkseinheit“ und macht Vorschläge, wie die Volkseinheit, die bisher eine Allianz verschiedener Organisationen ist, demokratisch aufgebaut werden kann, ohne dass eine Gruppe dominiert und wie es freie demokratische Diskussionen und auch Einzelmitgliedschaften in der Zukunft geben kann.Das sind wichtige Bedingungen, damit die „Volkseinheit“ erfolgreich sein kann. Sie muss auf die Bewegungen der Arbeiterklasse orientieren, um weitere Kämpfe zu befördern und soziale Kämpfe um ihr Programm herum zu entwickeln. Wir behalten Xekinima als revolutionäre Organisation bei und setzen uns dafür ein, dass aus der „Volkseinheit“ heraus eine massenhafte revolutionäre Kraft entsteht.

In Deutschland haben sich Vertreter der LINKEN wie Gysi, Riexinger und Kipping an die Seite von Tsipras gestellt. Was denkst du ist die Aufgabe von Parteien wie der LINKEN?

Tsipras unter diesen Umständen zu unterstützen ist ein fürchterlicher Fehler. Er hat die Seiten gewechselt. Die herrschende Klasse Griechenlands ist neuerdings versessen auf Tsipras. Die Massenmedien, die von der herrschenden Klasse (Schiffseigentümer, Bänker, Großkapital) kontrolliert werden, stehen voll hinter Tsipras und greifen die „Volkseinheit“ an.

ND, Pasok and To Potami sagen, dass sie offen dafür sind, eine „Regierung der nationalen Einheit“ mit Tsipras zu bilden. Tsipras wird den Weg bis zum Ende gehen, er führt Maßnahmen ein, die ND sich nie getraut hätte einzuführen, wie das größte Privatisierungsprogramm in der Geschichte des Landes. Bereits jetzt wurden durch die Regierung unter Tsipras die Mindestrenten von 490 Euro auf 360 Euro abgesenkt. ND hat sich das nicht getraut. Tsipras hat zudem unterschrieben, dass jedes einzelne Gesetz von der Troika abgenickt werden muss. Das heißt, dass Tsipras an das dritte Memorandum gebunden ist und keine freie Handhabe hat, etwas zu tun, was gegen den Willen der Troika verstößt. Von einigen wird nun das Ergebnis zum Primärüberschuss genutzt, um das Memorandum zu rechtfertigen. Auch das ist Betrug, weil die Primärüberschüsse zwar für die nächsten zwei Jahre geringer sein dürfen, aber ab dem dritten Jahr mit 3,5 Prozent wieder ungefähr so hoch sein muss, wie der Wert von vier Prozent, dem ND im zweitem Memorandum zugestimmt hatte.

Die griechische Bevölkerung wird trotzdem weiter kämpfen. Die griechischen Massen können diesen Kampf aber nicht allein führen. Sie brauchen die Unterstützung von ArbeiterInnen in Europa und international. Die Erfahrungen in Griechenland beinhalten auch wertvolle Lehren für die Linke international. Auch in Bezug auf die Frage, welches Programm nötig ist, um das Land aus der Krise zu führen. Nur ein sozialistisches Programm kann Griechenland und in Wirklichkeit Menschen in ganz Europa und auf dem Planeten vor der Barbarei des kapitalistischen Systems retten.

Mit Andros Payiatsos sprach Lucy Redler von der SAV (deutsche Schwesterorganisation der SLP).

Glossar:

Antarsya: „Antikapitalistische Linke Zusammenarbeit für den Umsturz“, Bündnis der radikalen Linken außerhalb von Syriza

Dikki: Sozialistische Linke, linke Abspaltung von Pasok (seit 1995), unterstützt heute die „Volkseinheit“

Initiative der 1000: im November 2012 gegründete Initiative von 1000 Unterzeichnenden, um die Einheit der griechischen Linken zu befördern und sich für eine Regierung der Linken auf Grundlage eines Bruchs mit dem kapitalistischen System einzusetzen

Initiative des 17. Juli: Die Initiative Versammlung 17. Juli wurde in Athen wenige Tage nach der Zustimmung Tsipras’ zum dritten Memorandum einberufen, um einen Appell für den Aufbau einer neuen linken Kraft zu starten. Xekinima ist an dieser Initiative beteiligt. Am ersten Treffen nahmen 250 Menschen teil.

KKE: kommunistische Partei Griechenland, stalinistisch und stark sektiererisch

ND: Nea Dimokratia, konservative bürgerliche Partei, vor Syriza an der Regierung in Koalition mit Pasok

Pasok: sozialdemokratische Partei Griechenlands, in den achtziger Jahren starke sozialistische Partei, heute bürgerliche Partei, die massiv an Unterstützung eingebüßt hat; zuvor in einer Regierung mit ND und Zustimmung zu der bisherigen Kürzungspolitik

To Potami: Der Fluss, liberal-bürgerliche Partei, gegründet 2014

 

Gesellschaftlicher und politischer Aufruhr in Irland

SozialistInnen spielen in einer sich rasch verändernden Situation eine Schlüsselrolle
von Eddie McCabe, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Irland)

Im Folgenden setzen wir unsere Serie an Berichten von der CWI-Sommer Schule fort, die Ende Juli in Belgien stattgefunden hat. Diesmal gibt es einen Bericht von der Diskussion des Arbeitskreises zur Lage in Irland und der bedeutenden Rolle, die das CWI bei diesen Ereignissen spielt.

Der Arbeitskreis zu Irland bei der CWI-Summer School 2015 wurde von Kevin McLoughlin von der „Socialist Party“ in Irland eingeleitet. Er begann damit zu erklären, wie sich die politische und gesellschaftliche Lage in Irland heute ganz anders darstellt als noch vor einigen Jahren. Nachdem die Anti-Austeritätsbewegung eine Reihe von Rückschlägen einzustecken hatte, läuteten die Kommunalwahlen vom Sommer 2014 die Wende ein. 2013 war es noch zum Kollaps und der Niederlage der Boykott-Bewegung gegen die Grundsteuer gekommen, und die GewerkschaftsführerInnen hatten mit der Unterzeichnung der „Haddington Road“-Vereinbarung, das sie mit der Arbeitgeberseite und der Regierung abgeschlossen hatten und mit dem die Austerität im Grunde abgesegnet worden ist, einen erneuten Verrat begangen.

Ende 2014 zeichnete sich dann aber eine eindeutige Veränderung der Lage ab. Die „Anti Austerity Alliance“ (AAA; dt.: „Anti-Austeritätsbündnis“), die von der „Socialist Party“ und vielen AktivistInnen aus der Arbeiterklasse (die auch schon an den Kampagnen gegen die Haushalts- und die Grundsteuer teilgenommen haben) initiiert wurde, wurde gegründet und schaffte bei den Kommunalwahlen einen bedeutsamen Durchbruch. Man errang 14 Stadtratssitze in Dublin, Cork und Limerick und im Anschluss wurden noch zwei als historisch zu bezeichnende Nachwahlen in Dublin gewonnen, wodurch die beiden „Socialist Party“-Mitglieder Ruth Coppinger und Paul Murphy Joe Higgins ins irische Parlament nachfolgten.

Die Entschlossenheit, mit der die „Socialist Party“ und die AAA ihren Ansatz vertraten, wurde von Kevin dadurch verdeutlicht, dass er beschrieb, wie die erste der o.g. Nachwahlen gewonnen werden konnte. Dies geschah im Wahlkreis Dublin West, der als Hochburg zu bezeichnen ist, und in dem Joe Higgins seit Anfang der 1990er Jahre der gewählte Vertreter im Parlament ist. Einige KommentatorInnen hatten uns im Vorfeld sogar als FavoritInnen bezeichnet. Landesweit befand sich allerdings die Partei „Sinn Féin“ (SF) im Aufwind, weshalb ein intensiver Verteidigungskampf geführt werden musste, um sich diese Partei vom Leibe zu halten.

Die zweite Nachwahl fand dann in Dublin South-West statt. Das ist wahrscheinlich der stärkste Wahlbezirk, den SF landesweit für sich in Anspruch nehmen kann. In Verbindung mit dem scheinbaren Anstieg auf Landesebene gingen die meisten KommentatorInnen davon aus, dass SF dort nicht zu bezwingen sei. Womit sie nicht gerechnet hatten, war die Offensive des heftigen, von Anfang bis Ende durchgezogenen Wahlkampf um unseren Genossen Paul Murphy, der auf Grundlage des Aufschwungs der Bewegung gegen die Wasser-Abgabe geführt wurde. Das hatte SF absolut nicht auf der Rechnung.

Am Tag, an dem Paul Murphy mit einer klaren Aussage für den Boykott gewählt worden ist, so berichtete Kevin, fand in Dublin eine Demonstration für die Abschaffung der Wasser-Abgabe statt, an der 100.000 Menschen teilgenommen haben. Aus Angst vor dieser Kombination aus radikalen Ideen und der Unzufriedenheit der Massen haben das Establishment und die Medien versucht, unsere GenossInnen und unseren Wahlkampf mit dem mittlerweile berüchtigten Vorfall bei einem Protest im Dubliner Vorort Jobstown zu beschädigen. Bei diesem „Jobstown protest“ war die stellvertretende Premierministerin vom 700 aufgebrachten AnwohnerInnen einige Stunden lang an der Weiterfahrt gehindert worden.

Über Tage hinweg konnte man den herablassenden Anschuldigungen in den Medien nicht entkommen, die ihre Wirkung anfangs durchaus nicht verfehlten. Doch die standfeste Haltung der drei AAA-Abgeordneten, die den Protest kompromisslos verteidigt haben, waren für das Establishment ein weiterer Schock. Ruth Coppingers Antworten, die sie in einer der meistgehörten Radiosendungen des Landes gab, waren wie eine messerscharfe Retourkutsche vom Klassenstandpunkt aus. So stellte sie zum Beispiel die Frage, was die Ministerin denn erwarte, wenn sie in einer Gegend angetanzt kommt, die von der Arbeiterklasse bewohnt und die von der Austerität verwüstet worden ist – etwa „Blumengirlanden“?

Diese Kampagnen, mit denen die Proteste verteufelt werden sollten, dienten dazu, die Bewegung gegen die Wasser-Abgabe zusammenzuschweißen und machten die AAA zu einem kämpferischen Flügel. Vor allem die Abgeordneten der AAA waren herausragend. Sie wurden zu den führenden VerfechterInnen eines Massenboykotts, und konterten die Einschüchterungskampagne und jede Wendung der Regierung, die diese in den betreffenden Monaten hingelegt hat. Gerade erst sind vom federführenden Unternehmen „Irish Water“ die Zahlen veröffentlicht worden, wonach sich sagenhafte 57 Prozent der Haushalte am Boykott gegen die Zahlungsaufforderung beteiligen. Kevin wendete ein, dass – selbst wenn einige derer, die bisher nicht bezahlt haben, bei der zweiten Zahlungsaufforderung in Zukunft zahlen werden – andere von der Zahl von 57 Prozent bestärkt sein werden, um sich ihrerseits dem Boykott anzuschließen.

Wenn die Zahlen der Nicht-ZahlerInnen auf hohem Niveau bleiben, dann bedeutet das das Ende der Wasser-Abgabe, und es wäre ein schwerer Schlag für die Regierung und gegen die Agenda der Austerität des gesamten Polit-Establishments.

Das Referendum über die gleichgeschlechtliche Ehe

Eine weitere Massenbewegung, die sich in den letzten Monaten herauskristallisiert hat, war der atemberaubende Erfolg der „Ja“-Kampagne beim Referendum zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Bezeichnenderweise war der Anteil der „Ja“-Stimmen in den am meisten sozial benachteiligten Bezirken des Landes am höchsten. In beiden Fällen, bei der Bewegung gegen die Wasser-Abgabe wie auch für die gleichgeschlechtliche Ehe, ist die Arbeiterklasse in den urbanen Gebieten einen Schritt vorangegangen und hat den Ereignissen ihren Stempel aufgedrückt.

Möglichkeiten für die „Anti-Austerity Alliance“ (AAA)

Diese veränderte Situation hat die Aktivitäten erleichtert, zu denen wir zuvor nicht in der Lage gewesen wären. Dazu zählt auch der Protest gegen die Wasser-Abgabe, an der 5.000 Menschen in Dublin West und 10.000 in Limerick teilgenommen haben. Im ganzen Land ist es vor Ort zu Versammlungen auf der Straße gekommen. Im Nordosten von Dublin hat die AAA in zwei Wochen 17 Straßenversammlungen organisiert, um dort für den Boykott zu mobilisieren. 800 Personen haben daran teilgenommen.

Auch wenn die Bewegung in den letzten Monaten nicht so aktiv gewesen ist wie Ende 2014, so hat die AAA ihre Basis dennoch ausweiten können und wird in zusätzlichen Bezirken mit eigenen KandidatInnen antreten; so z.B. in Cork East, Cork South Central, Athlone und Waterford.

Kevin berichtete von dem Beispiel einer Umfrage, an der 2.500 Personen teilgenommen haben, die sich an Protesten gegen die Wasser-Abgabe beteiligt hatten. Bei dieser Umfrage sagten 54 Prozent, dass diese Proteste die ersten waren, an denen sie sich in ihrem Leben beteiligt hätten. 81 Prozent der Befragten hätten nun demnach vor, ihre Stimme den Anti-Establishment-KandidatInnen zu geben, 23,9 Prozent würden „Sinn Fein“ wählen, 27,5 Prozent für unabhängige Linke stimmen und 31,7 Prozent für die AAA oder das Bündnis „People Before Profit“. Kevin betonte wie bedeutsam die Tatsache ist, dass diejenigen, die aktiv geworden sind, eher für kämpferische linke KandidatInnen stimmen als für SF. Interessanterweise haben 79,6 Prozent der Befragten ausgesagt, dass Bedarf nach einer neuen Partei für die „einfachen“ Leute bestehe.

In den schwer gebeutelten Wohnvierteln der Arbeiterklasse, die von anderen als „Unterschicht“ oder „No-Go“-Gebiete bezeichnet werden, war die Bewegung gegen die Wasser-Abgabe am aktivsten. Diese Wohnquartiere sind vom kapitalistischen Establishment schon vor Jahren im Stich gelassen worden. Dort herrscht hohe Erwerbslosigkeit, es leben dort hauptsächlich gewerbliche ArbeiterInnen und die Bildungsabschlüsse sind eher niedrig. Diese Bedingungen können zum Nährboden für ein starkes Gemeinschaftsgefühl werden, das – wenn es erst einmal aktiviert ist – im Allgemeinen sehr ernsthaften Chaarakter hat.

Um dies zu illustrieren, kam Kevin noch einmal auf das Beispiel Jobstown zurück, das zur Gemeinde Tallaght gehört. Plötzlich waren dort 700 Personen zusammengekommen, um die Karosse der stellvertretenden Premierministerin zu blockieren, als die Nachricht die Runde machte, dass sie vor Ort sei. Diese Wohngebiete der Arbeiterklasse haben außerdem traditionell eine gegen das Establishment gerichtete Einstellung entwickelt, so zum Beispiel mit hohen „Nein“-Anteilen bei den diversen abstimmungen über die EU-Verträge. In Jobstown selbst haben beeindruckende 88 Prozent für die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt, was zeigt, wie die Arbeiterklasse zur führenden Kraft für den Wandel werden kann – ganz egal, um welche Fragestellung es dabei geht.

Ein wesentliches Merkmal hinsichtlich des Aktionsgrads zum Thema gleichgeschlechtliche Ehe oder bei der Bewegung gegen die Wasser-Abgabe war, dass die Hauptakteure in den Wohnvierteln vor allem Frauen waren. Auch junge Leute haben beim Referendum eine entscheidende Rolle gespielt. Schätzungsweise 50.000 bis 60.000 vor allem junge Menschen, die in den letzten Jahren emigriert sind, kamen zur Abstimmung zurück nach Irland. Viele von ihnen nahmen dafür gar eine Anreise aus Australien oder Nordamerika auf sich.

Was die politischen Perspektiven angeht, stellte Kevin heraus, dass SF im letzten Jahr bei den Umfragen stagniert. Die konservative „Fine Gael“ (FG) hat in den Umfragen Einbußen hinnehmen müssen und in den letzten beiden Erhebungen sind die Werte für die Unabhängigen und andere (darunter auch die AAA und weitere antikapitalistische Linke) nach oben gegangen. Sowohl für die liberale Partei „Fianna Fail“ (FF) als auch für die Sozialdemokraten von „Labour“ scheint es unmöglich, sich von dem Ausverkauf und der Austerität zu erholen, die von ihnen durchgeführt worden sind.

Kevin stellte zwei mögliche Perspektiven für die Zeit nach den Parlamentswahlen in Aussicht, die spätestens im März nächsten Jahres, vielleicht aber schon Ende dieses Jahres stattfinden werden. Zuerst sei eine Regierung möglich, an der sämtliche großen Parteien des Establishments, FF, FG und vielleicht auch „Labour“ beteiligt sind. Die zweite Variante ist eine Regierung aus SF, FF, „Labour“ und einiger Unabhängiger. In diesem Kontext könnte es im Zeitraum von heute bis zum Wahltag im Wesentlichen auf eine Entscheidung zwischen FG und SF hinauslaufen. Dies könnte potentiell zu einem Schwenk hin zu SF führen. Wenn es für SF gut läuft, dann könnte die AAA unter Druck kommen. Wir sollten aber in der Lage sein zu kämpfen, um den bisherigen Grad an Unterstützung zu halten.

„Sinn Fein“ ist in vielerlei Hinsicht anders als „Syriza“ oder „Podemos“, wie Kevin erklärte. Die Tatsache, dass die Partei in Nordirland auch die austerität eingeführt und ihre beträchtliche Zahl an Abgeordneten im „Dail“ (Parlament der Republik Irland) nicht genutzt hat, um sich für den Boykott der Wasser-Abgabe auszusprechen, ist den Menschen aus der Arbeiterklasse nicht entgangen. Das gilt auch für die, die zu jenem Zeitpunkt zur Wahl von SF geneigt haben.

„Sinn Fein“ auf dem Weg zur Regierungspartei?
Wenn SF nicht in die Regierung kommt, dann wird es zu einer potentiell explosiven Situation mit einer starken Klassen-Polarisierung kommen. Die Wahrheit ist, dass die Parteien des Establishments 2007 einen Stimmenanteil von 87 Prozent hatten. 2011 waren es noch 75 Prozent. Aktuell kommen sie in Umfragen nur noch auf einen bemerkenswert niedrigen Wert von weniger als 50 Prozent. Wenn FG und FF zusammengehen, um eine Koalitionsregierung zu bilden, dann fühlen sich die Menschen durch die Bildung einer solchen rechtsöastigen Koalition geprellt. Dies gilt vor allem deshalb, weil es in der Gesellschaft eine klare Tendenz nach links gibt, was die Wahrscheinlichkeit mit sich bringt, dass die Basis-Bewegungen fortgeführt werden.

In einer solchen Umgebung besteht sowohl für SF als auch die Linke das Potential, weiter wachsen zu können. In diesem Zusammenhang wird es auch weiterhin Raum für die AAA geben; vor allem, weil SF sich nicht aktiv am Kampf um bestimmte Themen (wie z.B. die Wasser-Abgabe) beteiligt.

Kevin hob darauf ab, dass die Wahrscheinlichkeit für SF groß ist, Teil der nächsten Regierung zu sein. Dies gilt vor allem dann, wenn sie als stärkste oder zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervorzugehen vermag. Dies könnte zu einer Situation führen, die der in Schottland mit der „Scottish National Party“ ähnelt. Trotz der Tatsache, dass es um eine Partei geht, die ebenfalls Austeritätsmaßnahmen umsetzt, ist sie in der Lage, für einen bestimmten Zeitraum ein ausreichendes Maß an Unterstützung zu bekommen.

Selbst wenn SF in eine Koalition mit FF eintritt, so hätte diese Regierungskonstellation voraussichtlich genug Raum, um eine zeitlang ihre Manöver ausüben zu können. Mit der Zeit wird sich das aber unweigerlich wieder ändern, weil eine solche Regierung – die auf kapitalistischer Grundlage operiert – gezwungen sein wird, weitere Austeritätsmaßnahmen durchzuführen. Und das würde das Image von SF, dass die Partei bei Menschen aus der Arbeiterklasse hat, grundlegend verändern.

Diese Realitäten bedeuten im Einklang mit dem gewaltigen Aktionsgrad und der Politisierung unter breiten Schichten der Arbeiterklasse und junger Leute, die diese in den Bewegungen gegen die Wasser-Abgabe wie auch für die gleichgeschlechtliche Ehe zum Ausdruck gebracht haben, dass es für die Linke in den kommenden Monaten und Jahren enormes Potential gibt.

CWI-Mitglieder aus Irland und von anderen Sektionen unserer Internationale machten in der sich anschließenden Diskussion wichtige Beiträge. Sandra Fay, eine Lehrerin, die aus Jobstown kommt und dort arbeitet und die der AAA an dem Tag beigetreten ist, an dem Joan Burton, die stellvertretende Ministerpräsidentin ihren unrühmlichen Besuch dort abstattete, erklärte, wie die AAA sie weiter politisiert habe. Das hat am Ende dazu geführt, dass sie vor kurzem auch in die „Socialist Party“ eingetreten ist.

Cillian Gillespie äußerte sich zum Thema der kolonialen Beziehung zwischen EU und den Ländern der Peripherie wie Griechenland oder Irland. Er erklärte, dass das Programm der „Troika“ in Irland von Ende 2010 bis Anfang 2013 eine spürbare Atmosphäre aus nationaler Unterdrückung und Demütigung geschaffen hat. In Irland, das tatsächlich einmal Kolonie war und wo die nationale Frage immer noch nicht gelöst ist, kamen auch auf den Demonstrationen gegen die Wasser-Abgabe unweigerlich nationalistische Gefühle auf, und es wurden viele irische Fahnen gezeigt. Dies sei für eine Situation, in der die Wut der Arbeiterklasse hochkocht, zwar symptomatisch. Aufgrund des Umstands, dass sich der Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft im nächsten Jahr zum hundertsten Mal jährt, so meinte Cillian, sei es auch wahrscheinlich, dass SF versucht, diese nationalistischen Gefühle zu ihren Gunsten auszunutzen und somit vom Aufbau einer Alternative für die Arbeiterklasse abzulenken. Cillian berichtete, dass die „Socialist Party“ ein Buch über die Erhebung von 1916 herausgeben wird, mit dem für eine sozialistische Lösung der nationalen Frage geworben werden soll.

Unser langjähriges Parlamentsmitglied Joe Higgins sprach über die außergewöhnliche Entwicklung in Irland und den Wandel auf gesellschaftlicher und auf politischer Ebene. Er erklärte, dass es erst 30 Jahre her ist, dass das Referendum über den 8. Verfassungszusatz durchgekommen ist (wodurch Abtreibung per Verfassungs verboten wurde) und Kondome nur auf Rezept zu haben waren. Zum Referendum, mit dem die Scheidung der Ehe legal wurde, kam es erst 1995, und es kam nur mit sehr knapper Mehrheit durch. Joe stellte dies dem überwältigenden „Ja“ bei der Abstimmung über die gleichgeschlechtliche Ehe gegenüber, bei dem sich mehr als 60 Prozent dafür aussprachen, und der Tatsache, dass eine erhebliche Mehrheit der Bevölkerung in einer Umfrage nach der anderen die Aufhebung des o.g. 8. Verfassungszusatzes sowie mehr Rechte beim Thema Abtreibung befürwortet.

Joe erklärte, dass die Parteien der Austerität vor 30 Jahren zusammen noch auf 90 Prozent der Stimmen gekommen sind und in den aktuellen Umfragen heute bei knapp 40 Prozent liegen. Er beschrieb den raschen Wandel im Bewusstsein der Arbeiterklasse im vergangenen Jahr. Das sogenannte „Rettungspaket“ der „Troika“ war für die Moral der „einfachen Leute“ ein schwerer Schlag. Die Medien äußerten sich zwar lange verächtlich über die „kämpferischen Iren“ im Gegensatz zu den Massen in Griechenland. Im letzten Jahr ist der Riese jedoch aufgewacht. Die Regierung streut die Nachricht, wonach es sich bei der Wasser-Abgabe um die letzte der Austeritätsmaßnahmen handeln würde und bittet die Menschen, „Ruhe zu bewahren“ und dies einfach zu akzeptieren. Doch die Arbeiterklasse reagiet darauf mit einem eindeutigen: „Haut ab!“.

Die heutige Bewegung besteht zwar ebenfalls aus den drei wesentlichen Bestandteilen namens Mobilisierung, Boykott und politischer Druck, wie schon der erfolgreiche Kampf der Bewegung gegen die Wasser-Abgabe in den 1990er Jahren, die ebenfalls von der „Socialist Party“angeführt worden ist. Diesmal ist die Bewegung allerdings wesentlich breiter aufgestellt. Joe wies außerdem darauf hin, dass es für eine kleine Partei wie unsere noch nie möglich war, zwei Nachwahlen für sich zu entscheiden. Doch auch dies war nur möglich und ist ein Beleg für die bessere Ausgangslage, zu der es im Laufe des letzten Jahres gekommen ist, und das sich ändernde Klassen-Bewusstsein.

 

     

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