Das deutsche Kapital und die Flüchtlingskrise

von Claus Ludwig, Köln

Schaffen wir das – und wer ist eigentlich „wir“?

„Wir schaffen das“ – dieser Satz von Angela Merkel suggeriert, die derzeitige Fluchtbewegung wäre eine gemeinsame Herausforderung, der sich Bevölkerung und Staat gemeinsam stellen müssten. Tatsächlich haben unterschiedliche Klassen und Schichten unterschiedliche Interessen bezüglich der Zuwanderung. Ein zentraler Faktor dabei ist das Interesse des Kapitals, der ökonomisch herrschenden Klasse in diesem Land. Auf dessen Interesse basiert zunächst die Politik der etablierten Parteien von der CDU über die SPD zu den Grünen. Allerdings agieren diese Parteien nicht als reine Vollstrecker der Kapitalinteressen, sondern in einem politischen Spannungsfeld.

Anfang der 1990er Jahre brauchte das deutsche Kapital keine Zuwanderung. Gerade erst war die DDR der Bundesrepublik angeschlossen worden, günstige Arbeitskräfte waren genug bzw. zu viel vorhanden. Große Teile der ostdeutschen Industrie mussten noch „abgewickelt“ werden, die Arbeitslosigkeit stieg. Auf dieser Grundlage reagierten Kapital und Staat auf die Flüchtlingsbewegung damals mit einer Politik der Abschottung, vor allem durch die massive Einschränkung des Asylrechts.

Die bürgerlichen Parteien, allen voran die CDU, waren sich mit dem Kapital einig. Sie nutzen das Thema zudem, um von der ökonomischen und sozialen Krise im Zuge der Zerstörung der DDR-Betriebe abzulenken bzw. die Verantwortung der Herrschenden für diese Krise zu verschleiern und diese den ZuwandererInnen zuzuschieben. Etablierte Politiker und Medien entwickelten eine relativ geschlossene Propaganda vom angeblich zu vollen Boot und erzeugten ein politisches Klima, in dem die rassistischen Gewalttäter ihren Terror entfalten konnten. Ihre Grenze erreichte die bürgerliche Propaganda gegen die Flüchtlinge erst, als die Faschisten allzu dreist wurden und den Staat blamierten und als antifaschistische Gegenbewegung aus Sicht der Herrschenden überhand nahm und sich viele junge Menschen nach links politisierten.

Refugees welcomed by Daimler und Deutsche Bank?

Die Lage heute ist anders. Statt einer einheitlichen Propaganda gegen Flüchtlinge erleben wir heftige Schwankungen in den bürgerlichen Medien und den etablierten Parteien. Innerhalb weniger Wochen wurden und werden Positionen verändert. Selbst die BILD-Zeitung verstieg sich zu einer Werbekampagne mit dem Slogan „Refugees welcome“, um wenige Tage später wieder auf die gewohnte Hetze umzuschalten. Es heißt in vielen Berichten, die Stimmung „würde kippen“, hätte sich massiv geändert seit den „Willkommen“-Aktionen auf den Bahnhöfen in der ersten Septemberwoche. Es mag sein, dass sich die Stimmung in Teilen der Bevölkerung ändert. Deutlich umgeschwenkt sind allerdings zunächst viele Medien, die vom „Sommermärchen“-Modus auf Bedrohungsszenarien umgeschaltet haben und große Teile der etablierten Parteien, die statt Merkels „Wir schaffen das“ jetzt betonen, man wäre schon an die Grenzen gestoßen. Während die CSU schon Anfang September eine Position eingenommen hat, die an die frühen 1990er erinnert, schwenken auch immer mehr CDU- und SPD-Politiker auf diese Linie ein, benutzen Formulierungen, die Ängste und Vorurteile schüren.

Diese Schwankungen basieren nicht darauf, dass der Staat tatsächlich an seine Grenzen stößt, weil viel mehr Menschen kommen als erwartet. Das staatliche Versagen bei der Unterbringung ist hausgemacht, ist zu einem geringeren Teil Ergebnis von Unfähigkeit, zum größeren Teil jedoch Produkt der Verweigerung von öffentlichen Investitionen. Die Situation könnte, wenn dies gewollt wäre, schnell verbessert werden. Grundlage der Schwankungen in der Darstellung ist hingegen dass gegenüber den 1990ern veränderte Interesse des Kapitals und das Spannungsfeld zwischen diesem Klasseninteresse der ökonomisch Herrschenden und ihren politischen Vertretern in den bürgerlichen Parteien, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage und willens sind, die Kapitalinteressen 1:1 umzusetzen.

Die deutschen Konzerne gehen davon aus, dass sie aufgrund der demografischen Entwicklung für die Zukunft eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt benötigen. In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren werden jährlich ca. 500.000 Menschen mehr aus dem Arbeitsleben ausscheiden als neu eintreten. In einem Land mit einer starken Binnenmarkt-Orientierung würde sich das Problem stärker relativieren, weil gleichzeitig Nachfrage und Kaufkraft stark schrumpfen würden. Im Land des „Exportweltmeisters mit seiner extremen Weltmarktorientierung ist der schrumpfende Binnenmarkt hingegen weniger wichtig.

Ein weltweiter Kriseneinbruch würde diese Entwicklung konterkarieren und es mag sein, dass die deutschen Konzerne perspektivisch weniger Arbeitskräfte brauchen als sie heute denken. Solch ein Einbruch ist auch keineswegs unwahrscheinlich. Aber aus der Sicht des Kapitals ist das nicht die Perspektive, denn die Konzerne müssen aus der Logik des Profits heraus davon ausgehen bzw. alles dafür tun, dass sie auch aus kommenden Krise als Gewinner hervorgehen.

In einer sozialistischen Gesellschaft könnten solche demografischen Veränderungen durch eine Ausweitung der Produktivität und den Einsatz der Wirtschaft im Interesse der Menschen begegnet werden. Im Kapitalismus geht es nur um den Profit. Abgesehen davon, dass die Produktivitätsentwicklung in Deutschland trotz fortschreitender Automatisierung relativ niedrig ist, wollen die Kapitalisten nicht, dass diese dazu genutzt wird, mit weniger Arbeitskräften mehr RentnerInnen zu finanzieren, sondern dazu, ihre Gewinne zu maximieren. Insofern braucht das Kapital eine Verjüngung der Bevölkerung oder glaubt diese zu brauchen, die aus seiner Sicht nur durch Zuwanderung kommen kann.

Kommender Arbeitskräftemangel?

Der „Fachkräftemangel“ ist ein zurecht umstrittener Begriff. Heute kann man kaum von einem absoluten Fachkräftemangel sprechen, zu viele Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung sind erwerbslos. Sie werden aber vom kapitalistischen Arbeitsmarkt nicht aufgenommen, weil mit ihnen nicht genug Profit erzielt werden kann. Etwa weil sie aus Sicht des Kapitals zu alt, nicht flexibel genug, nicht belastbar genug etc. sind oder ganz einfach am falschen Ort wohnen. In unterschiedlichen Berufsgruppen und Regionen ist die Situation sehr verschieden.

Vor allem ist der heutige Mangel an Arbeitskräften in bestimmten Berufen und Regionen das Produkt der Weigerung der Herrschenden, genügend Ressourcen in die allgemeine schulische und die berufsspezifische Bildung zu investieren. Er ist das Produkt eines unterfinanzierten, auf Ausgrenzung basierenden Bildungssystems, welches dazu führt, dass ein Teil der Jugend, darunter viele junge MigrantInnen, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wird.

Das deutsche Kapital wollte den billigen und einfachen Weg gehen und nicht wirklich in die „human resources“ investieren, sondern die Bildung und Ausbildung durch andere Länder finanzieren lassen und die fertigen Arbeitskräfte dort einkaufen. Das hat allerdings nur in sehr geringem Maße funktioniert, unter Anderem, weil die Einkommen in Deutschland niedriger sind als in vergleichbaren entwickelten Ländern und auch weil Deutschland unter den gut Ausgebildeten den Ruf rassistischer Übergriffe hat.

Das Kapital – immer hoffnungsfroh, was den eigenen Erfolg im kapitalistischen Konkurrenzkampf angeht – befürchtet, dass es 2025 nicht nur Fachkräfte- sondern einen allgemeinen Arbeitskräftemangel gibt. Ob diese Erwartung so eintreten wird, ob ein Arbeitskräftemangel absolut wäre, überwiegend durch die demografische Entwicklung bestimmt oder relativ, sich also durch Investitionen in Bildung und Ausbildung und Bereitschaft, höhere Löhne zu zahlen, deutlich konterkarieren ließe, können wir heute nicht abschließend beurteilen. Sicher ist allerdings, dass der demografische Faktor weit schwerer wiegen wird als heute. Sicher ist auch, dass das Kapital weder einen größeren Anteil aus dem Profit über Steuern dem Staat zukommen lassen noch die Bezahlung verbessern möchte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe.

Auf dieser Interessenlage der Herrschenden entfaltet sich die scheinbar widersprüchliche Flüchtlingspolitik derzeit. Die ursprüngliche Idee, die Zuwanderung durch ein Green-Card-System komplett zu steuern, hat nicht funktioniert. Das Kapital hat daher die derzeitige Flüchtlingsbewegung als Chance erkannt, perspektivisch den vermuteten Arbeitskräftebedarf zu decken. Die veränderte Zusammensetzung der Geflüchteten – weniger arme und ausgegrenzte Menschen aus den Balkanländern, mehr akademisch gebildete Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak – haben dabei auch eine Rolle gespielt. Mehrere Konzernvertreter meldeten sich freudig zu Wort, dass sie die jungen Leute brauchen können und verlangten schnellere Deutsch-Kurse und die Erleichterung des Zugangs der Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt.

Merkel bezieht Position und verliert Unterstützung

Auf politischer Ebene kombinierte Angela Merkel diese ökonomischen Interessen des Kapitals mit der einfachen Erkenntnis, dass eine Abschottung Deutschlands nur mit massiver Gewalt und weiteren politischen Verwerfungen möglich ist. Die Bilder von getöteten Kindern im Mittelmeer, die brutale Abschottung Ungarns unter der Regierung Orbán, die überfüllten Lager auf Kos und Lesbos, das Wissen um die mörderischen Kriege in Syrien und Irak und das entschlossene Handeln der Flüchtlinge in Ungarn erzeugten einen Druck auf die deutsche Regierung, „humanitär“ zu handeln und die Dublin-Regelungen nicht anzuwenden.

Die Aussitzerin Angela Merkel, die häufig mögliche Kontroversen vermied, nahm damit eine klare Position ein, die vor allem in ihrer eigenen Partei auf Widerstand stieß. Entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten verteidigte sie diese Haltung zunächst offensiv. Dies könnte der Anfang vom Ende der Ära Merkel ein. Die CSU ohnehin, aber auch große Teile der CDU und die wie immer lavierende SPD positionierten sich rechts von Merkel. In den bürgerlichen Medien waren erste Abgesänge zu lesen. Nach Merkels Auftritt bei „Anne Will“, bei der sie ihre Idee verteidigte, dass die Grenzen nicht geschlossen werden sollen, schrieb die Thüringische Landeszeitung, offensichtlich befeuert von den zunehmenden rechten Demonstrationen in Thüringen und Sachsen:

„Hilflos, planlos, machtlos […] Zunehmender Realitätsverlust und überstarke Ichbezogenheit kann man der Kanzlerin ebenfalls attestieren, deren Fernsehauftritt erneut wie ein globaler Aufruf an Flüchtlinge wirkte, nach Deutschland zu kommen.“

Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Position Angela Merkels ist nicht humanitär motiviert, sie vertritt keine Position „Pro Flüchtlinge“, ist nicht „links“ von der CSU. Es ist ihre staatsmännisch-stabilisierende Interpretation der Klasseninteressen des deutschen Kapitals, die sowohl die Möglichkeit der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der ZuwandererInnen als auch stabile politische Verhältnissen umfassen.

Allerdings ist jede Ökonomie politische Ökonomie. Auch Horst Seehofer will weiterhin die Interessen des Kapitals vertreten. Ob er und andere lautstarke Asylgegner in den bürgerlichen Parteien anderer Meinung als viele Konzernvertreter sind und eine Zuwanderung im großen Maßstab nicht für nötig halten, ist schwer zu beurteilen. Sicher ist allerdings, dass CSU- und CDU-Politiker eine Schwächung ihrer Parteien fürchten, eine Abwanderung des rechten Randes hin zu AfD und anderen rechtspopulistischen bzw. faschistischen Organisationen.

Sie wissen selbst sehr gut, dass sie mit ihrer Politik in den letzten Jahren die Grundlagen für eine Stärkung der Rechten geschaffen haben, dachten aber bisher, sie hätten das unter Kontrolle. Daher nutzt die CSU stärker Elemente des rechten Populismus. Der Rechtspopulismus ist auch prokapitalistische Politik, aber er setzt darauf, eine stärkere Verankerung durch Polarisierung und durch eine scheinbar gegen das Establishment gerichtete Agitation zu erreichen. Die SPD schwankt wie immer, nutzt aber auch mehr populistische Elemente.

Die politischen Vertreter der herrschenden Klasse ringen um den richtigen Umgang mit der Flüchtlingsbewegung. Sie haben den gemeinsamen Konsens verworfen und sind zur offenen Auseinandersetzung übergegangen. Ob der Plan von Seehofer, rechte Wähler an die CSU zu binden, aufgehen wird, ist zweifelhaft. Von dieser Spaltung der Etablierten profitieren erst einmal die echten Rechtspopulisten in Form der AfD. Die „Volkspartei“ CDU gerät in Gefahr, geschwächt zu werden, die SPD hat in dieser Auseinandersetzung wenig zu gewinnen aber viel zu verlieren.

Soziale Kämpfe verändern die Debatte

Dass die Flüchtlingsdebatte gesellschaftlich eine solche Dominanz erlangt hat, hängt auch mit dem relativ niedrigen Niveau des Klassenkampfes, der sozialen Auseinandersetzungen zusammen. Nur relativ wenige Beschäftigte sind aktiv involviert in Aktionen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Es gibt aktuelle keine größere Bewegung gegen den Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Daher erleben die meisten Lohnabhängigen die „Flüchtlingskrise“ und die sich daraus ergebenden Fragen bezüglich des Zusammenlebens und der sozialen Infrastruktur nur als Zuschauer. Die Prozesse vollziehen sich ohne ihr Zutun. Zwar hat es im Rahmen von Willkommen-Initiativen sehr viel Solidarität gegeben, doch diese besteht in der Regel aus direkten Hilfsaktionen und hat wenig Zusammenhang zum Alltagsleben der hier lebenden Bevölkerung.

Nach Jahren der Ruhe in den Betrieben hat es 2015 mehrere längere Streiks gegeben, zum Beispiel bei der Bahn, der Post sowie dem Sozial- und Erziehungsdienst. Diese Kämpfe, die sich auch um die Frage drehten, inwieweit der Staat bereit ist, in die Infrastruktur zu investieren, waren von großer Bedeutung, haben Tausende in den Kampf für die eigenen Interessen einbezogen, sie wurden aber durch die Gewerkschaftsführung nicht zu politischen Kämpfen verallgemeinrt und haben der gesamtgesellschaftlichen Stimmung noch nicht den Stempel in einem Maß aufgedrückt, dass sie die Flüchtlingsdebatte beeinflussen könnten. Sie haben vor allem, wie auch die riesige Demonstration gegen TTIP und die vielen antirassistischen Demonstrationen in diesem Jahr, das Potenzial für eine Gegenbewegung von links zum Ausdruck gebracht und gezeigt, dass wir es nicht mit einem einfachen Rechtsruck, sondern einer gesellschaftlichen Polarisierung zu tun haben. Dieses Potenzial wird zur Zeit leider nicht organisiert und mobilisiert. Das nicht zuletzt auch, weil wesentliche Teile der LINKE-Führung, vor allem in Ostdeutschland, auf die Regierungssessel schielen und nicht ausreichend den Kampf gegen Rassismus mit dem Kampf gegen die Macht der Banken und Konzerne verbinden.

Käme es zu größeren Arbeitskämpfen würden diese erst einmal die mediale Omnipräsenz des Flüchtlingsthemas beenden. Nicht die Frage, „da kommen Menschen, die schaffen Problem“, sondern „wie können wir hier Gerechtigkeit erreichen“ würde stärker diskutiert. Zudem würden mehr Menschen aktiv eingreifen, ihre Interessen in die eigene Hand nehmen. Daraus würden sich Ansatzpunkte ergeben, gemeinsame Interesse von Deutschen, MigrantInnen und Flüchtlinge zu konkretisieren, zum Beispiel im Kampf für bessere Bezahlung oder eine besser Bildung für alle Kinder.

Dies würde auch die öffentliche Debatte in Politik und Medien ein Stück weit verschieben. Es ist nicht genau vorherzusagen, wann es zu solchen Kämpfen kommen wird. Die Gewerkschaften hätten die Möglichkeit anstehende Tarifrunden in kämpferischer Art und Weise zu führen und zu gesamtgesellschaftlichen Umverteilungskämpfen zu machen. Die Gewerkschaftsspitzen haben sich bisher geweigert, die zu tun. Aber die Fortsetzung neoliberaler Politik und die sich verschlechternde Weltwirtschaftslage werden früher oder später wieder zu Angriffen auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Sozialstandards führen, die Gegenwehr provozieren werden.

Ideologie des Niedergangs

Ein massives Wachstum der Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit müsste eigentlich auch fanatische Kürzungspolitiker dazu bringen, die „schwarze Null“ zurückzustellen und öffentliche Investitionen in großem Umfang anzustoßen, um den nötigen Ausbau der Infrastruktur stemmen zu können. Doch Schäuble predigt vom ausgeglichenen Haushalt als würde er selber glauben, dass es sich dabei um vernünftige Wirtschaftspolitik handelt. Alle Forderungen z.B. des IWF oder der US-Regierung, Deutschland möge mehr investieren, werden konsequent ignoriert.

Auch deutsche Kapitalisten müssten, wenn sie ernsthaft eine Integration eines Teils der Zugewanderten in den Arbeitsmarkt für sinnvoll halten, dabei in Kauf nehmen, dass die Staatsschulden und auch die Besteuerung von Profiten und Vermögen zumindest vorübergehend ansteigen. Doch von ihnen ist diesbezüglich nichts zu hören.

Wer jetzt jedoch glaubt, die bürgerlichen Politiker wären dumm, würden eine „falsche“ Politik betreiben und könnten mit etwas Nachdenken vom Neoliberalismus abkehren, der irrt. Die neoliberale Ideologie ist nicht für konjunkturelle Auf- und Abschwünge gedacht, sie ist die dominierende Ideologie einer gesamten historischen Epoche, der Epoche des in die Länge gezogenen weltweiten kapitalistischen Niedergangs. Privatisierung, Deregulierung, Unterfinanzierung des Staates, Verfall der öffentlichen Infrastruktur, Lohndumping, Sozialkürzungen dominieren diese gesamte Phase, sie sind für das Kapital die zentralen Mittel, um den Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen unten zu halten und die Profitabilität aufrecht zu halten.

Die Konzerne und ihre Politiker fürchten, dass auch nur das Lockern der neoliberalen Daumenschraube die Arbeiterklasse zu selbstbewusst werden lässt, fürchten Einbrüche der Profitabilität. Sie riskieren kurzfristig enorme politische und wirtschaftliche Verwerfungen – wie auch bei der Erpressung Griechenlands – um zu verhindern, auch nur kleine Spielräume zu eröffnen.

Die Schuldenbremse, eine einseitige und offensichtlich gefährliche Finanzpolitik, hat Verfassungsrang bekommen, der Neoliberalismus strömt durch den Blutkreislauf der Politiker aller bürgerlichen Parteien.

Man muss kein Antikapitalist sein, um auf die Idee zu kommen, angesichts eines Zuzugs von vielleicht einer Million Menschen müssten im großem Maßstab Wohnungen neu gebaut oder nicht genutzte Gebäude in Wohnungen umgewandelt werden. Man muss nur ein bisschen nachdenken, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass solch ein Projekt durch private Bauträger und Immobilienbesitzer schlicht nicht gestemmt werden kann und notwendigerweise durch den Staat erledigt werden muss. Doch bezahlbarer Wohnraum in größerem Umfang wird nicht geschaffen. Auch wenn einzelne Maßnahmen beschlossen wurden, wie zum Beispiel der Bau von 15.000 Wohnungen in Leichtbauweise durch den Berliner Senat oder es einzelne Beschlagnahmungen leerstehender Gebäude gegeben hat, gilt: Die bisher beschlossenen Maßnahmen sind einfach nicht umfangreich genug, um eine Wirkung zu entfalten.

Die Notmaßnahmen, die ergriffen werden, um das Chaos zu bändigen, werden sogar genutzt, um, ganz im Sinne der neoliberalen Ideologie, privaten Investoren die Möglichkeit zu geben, sich daran zu bereichern. Container-Vermieter, Hotelbesitzer, private Sicherheitsdienste usw. verdienen an der Flüchtlingskrise, kosten den Staat riesige Summen und tragen nicht zur Lösung organisatorischer Probleme bei, sondern vergrößern diese durch Profitgier und Inkompetenz.

Sogenannte „Wirtschaftsweise“ wie Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut vertreten Thesen, die geradezu himmelschreiend unsinnig sind. „Für die Flüchtlinge“ müsse das Rentenalter erhöht werden, behauptet Sinn. Bisher wurde uns immer erzählt, das Rentenalter müsse erhöht werden, weil „die Deutschen“ immer älter werden und zu wenige Junge nachrücken. Jetzt kommen überwiegend junge Menschen und die Antwort ist gleich geblieben? Sinn forderte auch, den Mindestlohn abzuschaffen, um die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Diese Reaktion der herrschenden Klasse und ihrer Politiker und Propagandisten auf die Fluchtbewegung führt zu einem Anstieg der politischen Spannungen und zu einer Stärkung der Basis der rassistischen Bewegungen. Diese sind ohnehin Geister, die von den bürgerlichen Parteien gerufen wurden, die inzwischen seit Jahrzehnten immer wieder aus Spaltung und Ausgrenzung setzen, MigrantInnen, Muslime oder Flüchtlinge zu Sündenböcken machen. Es existiert ein nicht unbeträchtlicher rassistischer Bodensatz, der in den letzten Jahren immer wieder Futter vom Establishment bekommen hat.

Der humanitär und moralisch motivierten „Willkommenskultur“ wird durch die Spaltungspropaganda der Boden unter den Füßen weggezogen. Teile der lohnabhängigen Bevölkerung, vor allem diejenigen mit geringen Einkommen und prekären Jobs sowie schlechten Chancen auf dem Wohnungsmarkt, fühlen sich dahin gedrängt, mit den Flüchtlingen um angeblich „knappe Ressourcen“ zu kämpfen. Es werden Ängste geschaffen, noch weniger Chancen auf eine Wohnung zu haben und die Kinder in überfüllte Kitas und noch weiter zerfallende Schulen mit sinkendem pädagogischem Niveau schicken zu müssen. Diese Knappheit entsteht durch die Weigerung des Staates zu investieren.

Teile der bürgerlichen Politiker schüren die Spaltung bewusst. Aber selbst ohne sie würde diese Spaltung durch das Handeln von Kapital, Staat und Politik vertieft. Die herrschende Klasse kann nicht anders. Sie und die kapitaltreuen Politiker um Merkel herum sind Getriebene der kapitalistischen Profitlogik. Sie würden gerne die Verwerfungen in Grenzen halten. Eine massive Schwächung des bisherigen Stabilitätsfaktors CDU, der weitere Niedergang der SPD sowie massive Stimmengewinne für die AfD und häufigere Mobilisierungen von Rassisten und antifaschistischer Bewegung sind eigentlich nicht in ihrem Interesse. Aber sie sind unfähig, nachhaltig wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen, die die Situation entspannen könnten, weil sie dazu eine deutliche Umverteilung von oben nach unten einleiten müsste.

Merkels „Wir schaffen das“ entsprach objektiv den Klasseninteressen des Kapitals nach ökonomischer Verwertbarkeit und politischer Stabilisierung. Aber diese Position ist als Hauptlinie der bürgerlichen Politik nicht auf Dauer haltbar. Sie widerspricht der eigenen Wirtschaftspolitik und der Politik der verschärften Konkurrenz und Spaltung, die seit Jahrzehnten betrieben wird.

Das Akzeptieren des CSU-Vorschlages, „Transitzonen“ an der Grenze zu Österreich einzurichten, weist darauf hin, dass Merkel einknickt. In den „Transitzonen“ werden die Flüchtlinge faktisch entrechtet und vorsortiert in diejenigen, denen ein reguläres Asylverfahren zugestanden wird und diejenigen, die kurzerhand aus dem Land geworfen werden sollen. Diese Zonen höhlen das Asylrecht weiter aus, vertiefen die Spaltung. Und – sie führen nicht dazu, dass weniger Flüchtlinge kommen. Ohne eine Abschottung der gesamten Grenze erfüllen sie ohnehin nur eine symbolische Wirkung. Aber sie sind ein symbolisches Zugeständnis an den Mob, der sich ermutigt fühlen wird, noch härtere Maßnahmen durchzuführen, um die gewünschte Abschottung zu erzielen. Das widerspricht Merkels ursprünglicher Haltung, ist aber mit den Interessen des Kapitals vereinbar.

Flüchtlinge erkämpfen sich den Weg

In den letzten Wochen hat sich auf der Grundlage der beschriebenen Parameter und Widersprüche eine Haltung der herrschenden Klasse herausgebildet, die auf ökonomischen Interessen basiert, aber die Interessen des Staates und der bürgerlichen Parteien berücksichtigt.

Die begonnene Abkehr von der „Willkommenskultur“ beruht nicht auf der schieren Zahl der Geflüchteten, sondern vielmehr auf dem Verlust der Kontrolle. Die Flüchtlinge hatten sich ihren Weg nach Mitteleuropa selbst erkämpft. Merkel hat sie entgegen der jetzt betriebenen Legendenbildung nicht eingeladen, sondern lediglich darauf verzichtet, sie gewaltsam draußen zu halten. Die Flüchtlinge haben die ungarischen Grenzanlagen belagert, umgangen und überrannt, sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Dieser Verlust der Kontrolle hat die politischen Vertreter der Herrschenden aufgeschreckt.

Die Medien sind voll davon, wie schlimm die Schlepper seien. Tatsächlich haben die Regierungen überhaupt kein Problem mit der zentralen Wirkung des Schlepperwesens. Die Notwendigkeit, mehrere Tausend Euro pro Person aufzubringen, um die europäischen Hindernisse zu überwinden, führt dazu, dass die Chancen der Gebildeten und Wohlhabenderen, es zu schaffen, gegenüber denen der Habenichtse ansteigen. Dieses Art Regulierung ist im Interesse der Herrschenden in Europa. Und gerade deswegen waren sie durch die spätsommerliche Fluchtbewegung auf der Balkan-Route alarmiert. Dort brauchte man keinen Schlepper mehr, es reichten einige Dutzend Euros, um, allerdings überteuerte, Fähren, Bus- und Zugtickets zu kaufen. Durch die Masse der Flüchtlinge wurden die besten Routen zur Grenzüberquerung schnell ausgemacht. Ungarn, Österreicher und Deutsche engagierten sich solidarisch und brachten Flüchtlinge an ihre Zielorte. Auf einmal konnte jede/r kommen, der es bis auf die griechischen Inseln geschafft hatte.

Diesen Kontrollverlust galt es auch Sicht der Herrschenden wieder wettzumachen. Die Vertreter des Kapitals und der etablierten Parteien sind sich im Detail nicht einig, nach wie vor wird gestritten. Die Grünen und Teile der CDU um Merkel scheinen am „reinsten“ die Kapitalinteressen umzusetzen und auf eine regulierte Zuwanderung abzuzielen. Die CSU, Teile der CDU und auch die SPD schielen mehr auf Wählerstimmen und knüpfen populistisch an rechten Ideen an, betonen die angeblich Überlastung. Diese Parolen sind keineswegs harmlos, sie spielen PEGIDA, AfD und anderen Rassisten in die Hände. Die etablierten Kräfte werden sich offen streiten, tiefe Gräben sind möglich. Aber es ist letztlich davon auszugehen, dass sich in der Auseinandersetzung eine gemeinsame Linie herausbildet, die dann auch Zugeständnisse an die Propaganda-Notwendigkeiten der einen oder anderen Seite beinhaltet.

Im Groben ist diese Linie bereits erkennbar. Die Kontrolle über die Zuwanderung nach Deutschland soll wieder hergestellt werden. Das Mittel der Wahl ist nicht die komplette Abschottung der deutschen Grenzen samt Wiedereinführung permanenter Grenzkontrollen. Die Herrschenden hierzulande setzen darauf, die Zuwanderung durch ein System von Hindernissen im Vorfeld zu begrenzen und zu kontrollieren.

Hindernislauf durch Europa

Die vorderste Frontlinie stellen die Flüchtlingslager in der Türkei, Libanon und Jordanien dar. Diese sollen finanziell besser ausgestattet werden, um die Unerträglichkeit der Lebensbedingungen zu mildern. Die zweite Linie ist die türkische Außengrenze. Erdoğan soll verpflichtet werden, nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Europa zu lassen. Diese Funktion als Europas Türwächter wird sich das türkische Regime teuer bezahlen lassen.

Die herrschenden Klassen Europas scheinen bereit, zum Krieg des türkischen Regimes gegen die Kurden, zur Unterdrückung von Meinungs- und Pressefreiheit und zur Festigung des autoritären Regimes zu schweigen. In der Diskussion ist sogar, dass die Türkei zu einem „sicheren Herkunftsland“ erklärt und die Asylchancen von Geflüchteten dadurch minimiert werden sollen. Besonders bizarr wird dieser Deal dadurch, dass die türkische Regierung den mörderischen Krieg in Syrien selbst mit angeheizt hat und die Terroristen von Al-Nusrah und ISIS unterstützt oder gewähren lassen hat.

Parallel zur Landroute soll eine stärker militarisierte Frontex-Mission die Überquerung des Mittelmeers erschweren. Durch mehr Kontrollen und die Zerstörung von Schleuserschiffen- und booten soll die Zahl der Überquerungen gesenkt werden. Nebeneffekt wird sein, dass die Flüchtlinge höhere Kosten und Risiken auf sich nehmen müssen, um die Überfahrt zu schaffen.

Als dritte Linie sollen Auffanglager in den EU-Frontstaaten Griechenland und Italien dienen, welche Dublin III wieder zur Wirksamkeit verhelfen sollen. Diese beiden Länder sollen mit einer Mischung aus Finanzhilfen und Druck („denkt an eure prekären Finanzen, wir können den Hahn auch zudrehen“) dazu gebracht werden, mehr Flüchtlinge zu behalten und ihre Ausreise in andere EU-Länder zu erschweren. Im Zuge dessen sollen die chaotischen Zustände wie auf den griechischen Inseln Kos und Lesbos gemildert werden, um überhaupt eine Chance zu haben, die Flüchtlinge in Griechenland zu halten. Ob dies zu einer echten Verbesserung der Lebensumstände in Griechenland führt, ist zu bezweifeln.

Als Hindernis der vierten Linie dienen die diversen Grenzen auf dem Balkan und deren unterschiedliche Systeme von Abschottung und Abschreckung, über die wir in der Zukunft gewiss nicht mehr so viel lesen werden wie im September.

Als fünfte und letzte Frontlinie soll das veränderte deutsche Asylrecht dienen. Diejenigen, die es bis nach Deutschland schaffen, sollen schneller und effektiver sortiert werden, u.a über die „Transitzonen“. Menschen mit Bleibe-Perspektive (z.B. aktuell Syrien-Flüchtlinge) sollen schneller in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt überführt werden, Menschen mit schlechten Aussichten auf Asyl (z.B. aus dem Kosovo oder Albanien) sollen durch verlängerte Kasernierung in Auffanglagern, einer Reihe von materiellen und repressiven Schikanen und beschleunigten Verfahren mit dem Vorab-Stempel „chancenlos“ (wg. der Regelung der „sicheren Herkunftsländer“) schneller zur Ausreise gedrängt oder abgeschoben werden. Durch die institutionell und propagandistisch verankerte Unterscheidung in „politische Flüchtlinge“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ sollen Abschiebungen legitimiert werden.

Wahrscheinlich wird auch die schrittweise Wiederinkraftsetzung von Dublin III eine Rolle dabei spielen, die Zuwanderung nach Deutschland zu verringern.

Im Ergebnis würde es so auf absehbare Zeit zu einer Zuwanderung von einigen Hunderttausend Menschen jährlich nach Deutschland kommen. Je nach ökonomischen Interessen könnte durch das Asylverfahren gesteuert werden, ob davon 25, 50 oder 75 Prozent bleiben dürfen.

Die herrschende Klasse in Deutschland ist bemüht, die öffentlichen Ausgaben nicht wesentlich zu erhöhen und die eigene Steuerbelastung weiter zu senken. Insofern wäre die Reduzierung der Kosten bei Unterbringung, Versorgung und Bürokratie ein gewünschter Nebeneffekt. Allerdings dürften Kapital und Staat bereit sein, einige Milliarden in den Hand zu nehmen, um a) die Hindernisse in anderen Ländern zu finanzieren und b) die Eingliederung eines Teils der Zugewanderten in die deutsche Wirtschaft zu beschleunigen, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Austerität und Verstärkung des Drucks auf Löhne und Arbeitsbedingungen.

Unwägbarkeiten von Syrien bis Mitteleuropa

Bei dieser Beschreibung der abgestuften Hindernisse handelt es sich keineswegs um einen ausgeklügelten Plan des deutschen Kapitals. Es ist die Reaktion auf eine schnell eskalierende Situation, der Versuch, aus einem Zusammenbruch der normalen kapitalistischen Verhältnisse in einigen Teilen der Welt das Beste zu machen. Es ist keineswegs gesichert, dass dies funktioniert.

Das Problem fängt schon vor der vordersten Linie an. Außenminister Steinmeier hat viel davon geredet, es gelte die „Fluchtursachen“ zu bekämpfen. Aber dazu ist die herrschende Klasse in Deutschland nicht in der Lage, weder allgemein noch konkret in Syrien (ganz abgesehen davon, dass der „Kampf gegen die Fluchtursachen“ auch zur Begründung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr herhalten wird).

Der deutsche Kapitalismus ist aufgrund seiner Erfolge eine treibende Kraft dabei, die Welt ungleicher zu machen. Die ökonomischen und sozialen Widersprüche zwischen Afrika und dem Mittleren Osten einerseits und Europa und den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern andererseits sind massiv gewachsen, ebenso die Widersprüche zwischen Nord- und Mitteleuropa und der europäischen Peripherie. Auf Grundlage des wirtschaftlichen Niedergangs entwickeln sich Konflikte, Kriege, zerfallen Staaten. Dies sind die tieferen Ursachen der Fluchtbewegungen. Und das deutsche Kapital trägt täglich dazu bei, dass die Ungleichheit wächst. Nebenbei beliefern deutsche Konzerne kriegführende Staaten und rüsten Diktaturen auf, so dass sie auch direkt an der Produktion von Elend und Flucht beteiligt sind. Selbst humanitäre Zahlungen in bisher ungekannter Höhe würden diese Entwicklung nicht konterkarieren.

Bezüglich der Entwicklung in Syrien, dem Ground Zero der aktuellen Flüchtlingskrise, hat Deutschlands herrschende Klasse wenig bis überhaupt keinen Einfluss. Frankreich und Russland haben durch ihr Eingreifen in Syrien die Lage massiv verschärft. Es ist nicht abzusehen, was im Einzelnen passieren wird. Wenn es zu einer erfolgreichen kombinierten Offensive der russischen Luftwaffe und syrischer, iranischer und Hizbollah-Bodentruppen Richtung Nordsyrien kommt, würden die Flüchtlingszahlen weiter steigen. Die von der Türkei anvisierte „Sicherheitszone“ in Nordsyrien, in die auch Flüchtlinge überführt werden sollten, wäre dann endgültig hinfällig. Eine Spaltung Syriens würde die Frage eines unabhängigen Kurdistans noch schärfer stellen und die Türkei tiefer in den Konflikt hineinziehen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu militärischen Konfrontationen zwischen russischen Fliegern auf der einen und türkischen, israelischen und alliierten Kampfflugzeugen auf der anderen Seite kommt. Als Reaktion auf die russisch-iranische Offensive werden Saudi-Arabien und Katar ihre Unterstützung für die sunnitischen Dschihadisten erneut verstärken, die sie im Rahmen der „Anti-IS-Koalition“ auf Eis gelegt haben. Schon jetzt gibt es Berichte über eine Intensivierung der Waffenlieferungen für die syrischen Dschihadisten durch Saudi-Arabien und die Golfstaaten mit Billigung der USA.

Natürlich kann auch die Erschöpfung der kämpfenden Seiten eine Rolle spielen. Russland und die USA könnten angesichts des Blicks in den Abgrund Vereinbarungen treffen, welche zu einer Entspannung in Syrien führen könnten. Allerdings ist dies konkret überhaupt nicht sichtbar. Es handelt sich zwar auch um einen Stellvertreterkrieg zwischen den Großmächten, aber es gibt viele regionale Player, die relativ unabhängig agieren und kaum in einen Deal einzubinden wären. Es gibt deutlich mehr Hinweise auf eine erneute Verschärfung der syrischen Krise als auf eine Entspannung.

Die anderen Krisenherde – Afghanistan, Irak, mehrere afrikanische Länder, Jemen – können hier nicht ausführlich behandelt werden, aber auch dort sieht es eher danach aus, als würden sich die Lebensumstände weiter verschlechtern.

Türkei weiter destabilisiert

Die zweite Haltelinie in der Türkei ist ebenso unsicher. Wenn Erdoğan die Zusicherung der EU bekommt, wegzuschauen, wenn es blutig wird, wird er sich ermutigt fühlen, die Repression zu verschärfen. Durch seine Syrien-Politik hat er die Türkei mit in das mittelöstliche Chaos hinein gezogen. Das Massaker von Ankara vom 10. Oktober 2015, der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte der Türkei, steht symbolisch für diese Entwicklung. Entweder waren es IS-Terroristen, einst von Erdoğan gehätschelt und jetzt außer Rand und Band oder es waren seine Schergen, die er von der Leine gelassen hat, um den Terror gegen die Kurden und die Linke zu intensivieren; ermuntert, weil die EU ihre Bereitschaft signalisiert hat wegzuschauen.

Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten entlang religiöser und ethnischer Linien. Es gibt viele IS-Sympathisanten des in der Türkei. Wenn noch mehr Flüchtlinge in die Türkei kommen, in ein Land, was weder Sicherheit vor Gewalt noch ausreichend Jobs bietet, dann können die Spannungen zunehmen, unabhängig von den EU-Milliarden, mit denen die Flüchtlingslager gepimpt werden sollen. Wenn ich einen notorischen Schwerverbrecher zum Polizisten in zentraler Funktion ernenne, mag das kurzfristig dazu führen, dass Ruhe und Ordnung in Verbrecherkreisen herrscht. Mittelfristig wird dies aber das Verbrechen verallgemeinern.

Das erste Opfer der EU-Abschottung könnte somit die Türkei werden, deren innere Widersprüche dadurch eskalieren. Statt ein „sicheres Herkunftsland“ zu sein, welches als Außenposten dient, könnte die Türkei zusätzlich zu den durchreisenden Menschen aus Syrien erneut Flüchtlinge in größerer Zahl produzieren, die vor Unterdrückung und Bürgerkrieg fliehen. Merkels Besuch bei Erdoğan war nicht nur zynisch und verwerflich, sie trägt damit aktiv zur weiteren Destabilisierung der Türkei bei, um einen kurzfristigen Vorteil zu erzielen. Und sie kann nicht so dumm sein, das nicht zu wissen.

Ob die Grenzregime auf dem Balkan und Dublin III weiter funktionieren, sich die nationalen Interessen der EU-Länder koordinieren lassen oder überwiegend Alleingänge vorherrschen, die dazu führen, dass es statt einem regulierten System von Hindernissen ein Hin und Her der Flüchtlingsbewegungen gibt wie bei einem Tischtennis-Match, lässt sich nicht vorhersagen.

Ob die Pläne des deutschen Kapitals, die Flüchtlingsbewegung zu regulieren und damit sowohl den vermuteten eigenen Arbeitskräftebedarf zu decken als auch die Polarisierung über diese Frage im Zaum zu halten und eine politische Destabilisierung zu verhindern, sich verwirklichen lassen, ist ebenso offen. Sowohl die außenpolitischen Faktoren als auch die innere Auseinandersetzung darüber können dies verhindern.

Die Fluchtursachen werden nicht geringer in den nächsten Jahren. Der deutsche Staat scheint nicht bereit zu nötigen Investitionen. Die bürgerlichen Parteien und Medien erklären die Flüchtlinge zum Problem. Sie kündigen Lösungen an, die sich als wirkungslos erweisen werden und den Rechten ermöglichen, weitergehende Maßnahmen zu fordern. Dazu könnten auch in Deutschland mehr wirtschaftliche Probleme kommen.

Vor diesem Hintergrund ist absehbar, dass die politische Lage instabiler wird und die gesellschaftliche Polarisierung zunehmen wird. Zunächst werden die Rechtspopulisten und Rassisten verschiedener Prägung profitieren können. Ihre Radikalisierung nach Rechts, ihr immer offener auftretender Rassismus und die zum Beispiel von Pegida-Demonstrationen ausgehende Gewalt, wird aber auch ihre Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung verkleinern und das Potenzial für Gegenbewegungen wieder erhöhen. All das wird die etablierten Parteien in stärkere Auseinandersetzungen stürzen und zu Umgruppierungen und möglicherweise neuen Formationen führen.

Die Kapitalisten mögen das mit Sorge sehen, aber können damit leben, solange die politischen Unruhen nicht die Profite minimieren, das politische Regime nicht zu Gänze instabil wird und und solange trotzdem eine gewisse Einwanderung gesichert ist.