Mi 04.11.2015
Die Financial Times frohlockte: „Es gibt einen neuen Eintrag im kubanischen Verzeichnis der wichtigen Jahrestage. Neben Fidel Castros Bewegung des 26. Juli und dem Triumph der Revolution am 1. Januar steht nun der 17. Dezember 2014“ (Financial Times, 15.06.2015).
Aber die Financial Times verwechselt Revolution und Konterrevolution. Am 17. Dezember 2014 verkündeten US-Präsident Obama und Raúl Castro eine Reihe historischer Abkommen zur Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen: die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern, eine Lockerung der Reisebeschränkungen, sowie die ersten vorsichtigen Schritte in Richtung einer Lockerung des Handelsembargos, welches die USA seit der Revolution 1959/60 aufrecht erhalten haben. Inzwischen hat die USA ihre Botschaft in Havanna wiedereröffnet.
Diese Entwicklungen sind eine entscheidende Wende in der Politik des US-Imperialismus gegenüber Kuba. Sie bedeuten zugleich einen weiteren qualitativen Schritt des kubanischen Regimes in Richtung der Wiedereinführung des Kapitalismus. Letztere ist seit einigen Jahren im Gange.
Obama sagte bei der Bekanntgabe dieser Maßnahmen, dass „man nicht [mehr als] fünfzig Jahre lang die gleichen Dinge tun und plötzlich unterschiedliche Resultate erwarten kann.“ Die europäischen herrschenden Klassen – sowie die kanadische und die meisten lateinamerikanischen – verfolgten einen anderen Ansatz, den Obama nunmehr ebenfalls übernommen hat.
Raúl Castro sagte bei der Bekanntgabe, dass Obama der Friedensnobelpreis verliehen werden solle! Ein „Friedenspreis“ für einen US-Präsidenten, der mehr Drohnenangriffe ausgeführt hat als George Bush!
Seit der kubanischen Revolution 1959/60 hat der US-Imperialismus ein strenges Embargo verhängt und durchgesetzt. Außerdem unternahm er zahlreiche Versuche, das kubanische Regime zu stürzen und den Kapitalismus wiedereinzuführen, und schreckten dabei sogar vor einer bewaffneten Invasion nicht zurück (1961). Aber trotz der verheerenden Konsequenzen des Embargos, welches die kubanische Wirtschaft insgesamt circa eine Billion US-Dollar gekostet hat, ist diese Politik gescheitert – denn die tiefen sozialen Wurzeln, die die Revolution geschlagen hatte, haben jahrzehntelang eine große Unterstützung durch die KubanerInnen bedeutet. Das US-Handelsembargo war übrigens auch ein Versuch, die ExilkubanerInnen in Miami, die während der Revolution geflohen waren, politisch für sich zu gewinnen.
Der US-Imperialismus schlägt jetzt eine andere politische Richtung ein und beginnt, das Embargo zu lüften. Für einen isolierten Arbeiterstaat kann es die Bedrohung einer Wiedereinführung des Kapitalismus nicht nur durch eine militärische Intervention gegeben sein – sie kann auch in der Form von „billigen Waren im Güterzug des Imperialismus“ kommen, wie Trotzki auf die ehemalige UdSSR bezogen warnte. Das Ziel des US-Imperialismus bleibt das gleiche, aber sie hoffen nun, es auf einem anderen Weg zu erreichen: sie versuchen, die kubanische Wirtschaft mit Waren und Investitionen zu überfluten, um letztendlich den Kapitalismus vollständig wiedereinzuführen und Kubas Ressourcen wieder selbst auszubeuten. Wenn ihnen dies gelingt, wird es auch Kubas Rolle, als Referenz für eine Alternative zum Kapitalismus zu gelten, beenden – sowohl in Lateinamerika als auch in anderen Teilen der Welt.
Dieser Richtungswechsel der imperialistischen US-Politik wurde durch eine Veränderung der Zusammensetzung der exilkubanischen Community angestoßen. Deren jüngere Generation setzt nicht mehr auf einen sofortigen Sturz des Regimes auf der Insel, sondern nach manchen Umfragen sind 52 Prozent der in den USA lebenden KubanerInnen nun für ein Ende des Embargos. Teile der Kapitalistenklasse, darunter der Zuckerboss Alfy Fanjul, sprechen sich offen für die Aufhebung aus – der Grund ist zweifellos die Aussicht auf neue Märkte und Rohstoffe, die sie in einem kapitalistischen Kuba ausbeuten könnten.
Kuba ist in einer verheerenden wirtschaftlichen Lage. Viele KubanerInnen sind auf die Gelder, die ihnen Familienangehörige aus den USA schicken, angewiesen. Dies betrifft geschätzte 62 Prozent aller Haushalte auf der Insel. Einige Wirtschaftsanalysten gehen sogar davon aus, dass bis zu 90 Prozent aller Konsumgüter mit diesen Geldern bezahlt werden!
Diese düstere ökonomische Lage bedeutet seit langem ein soziales Desaster für die Massen. Die riesigen sozialen Fortschritte, die durch die Revolution und den Sturz des Kapitalismus gemacht wurden, werden immer weiter ausgehöhlt. Der Zusammenbruch der ehemaligen UdSSR und ihrer Unterstützungsleistungen traf die kubanische Wirtschaft extrem schwer. Doch unglaublicherweise war das Regime in der Lage, die geplante Wirtschaft und das bürokratische System durch die 1990er Jahre hindurch (die „Spezialperiode“) und bis ins frühe 21. Jahrhundert aufrechtzuerhalten – der Hauptgrund war abermals die anhaltende Sympathie und Unterstützung der KubanerInnen für die Revolution und die weit verbreitete Feindseligkeit gegenüber dem US-Imperialismus. Dabei beträgt das Reallohnniveau heute nur noch 28 Prozent des Niveaus vor dem Kollaps der ehemaligen UdSSR!
Das kubanische Regime und die Planwirtschaft konnten sich also während dieser Periode auf den Beinen halten, obwohl damals eine Flutwelle des entfesselten Kapitalismus über die Weltmärkte schwappte. Auf der politischen Ebene nutzte die Bürokratie das US-Embargo, um die Abneigung gegenüber dem US-Imperialismus aufrechtzuerhalten. Als Hugo Chavéz in Venezuela an die Macht kam, verschafften seine billigen Erdöllieferungen dem kubanischen Regime ein bisschen Luft. Die Unterstützung Venezuelas summiert sich jährlich auf circa 1,5 Milliarden US-Dollar, während das kubanische Bruttoinlandsprodukt bei circa achtzig Milliarden US-Dollar liegt.
Aber obwohl die wirtschaftliche und soziale Krise vom Embargo und der Isolierung verursacht wurde, wurde sie doch auch durch das Fehlen wirklicher Arbeiterkontrolle und -demokratie und durch die daraus folgende bürokratische Misswirtschaft und Korruption vertieft.
Die revolutionären Erschütterungen zu Beginn des Jahrhunderts in Venezuela, Bolivien und Ecuador eröffneten Kuba die Aussicht, aus seiner Isolation ausbrechen zu können. Eine wirkliche Arbeiterdemokratie hätte diese Gelegenheit ergriffen und die notwendigen Schritte unternommen, um eine sozialistische Föderation dieser Länder zu schaffen. Diese hätte wirtschaftliche Zusammenarbeit und Planung zwischen ihnen erlaubt und hätte anfangen können, der Arbeiterklasse in ganz Lateinamerika eine Alternative zum Kapitalismus aufzuzeigen.
Leider waren weder das kubanische bürokratische Regime noch die reformistischen Führungen um Morales, Chavéz und Correa bereit, diesen Schritt zu gehen. Letztere blieben – trotz anfänglicher Reformen und einzelner Maßnahmen, die die Interessen der herrschenden Klasse und des Imperialismus etwas gefährdeten – im Kapitalismus gefangen. Das kubanische Regime andererseits hat eine Serie kleinerer Schritte unternommen und damit den Prozess der Wiedereinführung des Kapitalismus begonnen. Die neuesten Entwicklungen bedeuten einen bedrohlichen Anstieg der Gefahr der Konterrevolution.
Zwar wird die Lockerung der Reisebeschränkungen willkommen sein, aber andere der neuen Maßnahmen sind eine Bedrohung der übrig gebliebenen Erfolge der Revolution. Diese wurden in der Vergangenheit schon stark ausgehöhlt, aber jetzt sind sämtliche Überbleibsel ernsthaft bedroht. Die neue Arbeitsgesetzgebung ist ein scharfer Angriff auf die Rechte der ArbeiterInnen. Das Renteneintrittsalter wurde schon 2008 um fünf Jahre erhöht. Die Einführung des „dualen“ Währungssystems, in dem manche ArbeiterInnen in Dollar und die anderen in Peso bezahlt werden, verschärfte die Ungleichheit enorm. Das Regime schuf den „konvertiblen Peso“ CUC, der 1:1 an den Dollar gekoppelt ist und im Tourismussektor benutzt wird; außerdem müssen importierte Güter in dieser Währung bezahlt werden. Kubanische Produkte hingegen werden im normalen Peso abgerechnet, der nur etwa 1/25 des CUC-Wertes hat. Die Regierung hat angekündigt, diese Parallelwährung wieder abzuschaffen, aber das ist bisher nicht geschehen.
Unter diesen Bedingungen war ein Erstarken des Schwarzmarktes folgerichtig bzw. unvermeidbar. Die Regierung hatte sich zum Ziel gesetzt, mehr als eine Million ArbeiterInnen aus dem Staatssektor zu entfernen und die Gründung tausender kleiner und mittlerer Unternehmen, „Cuentapropistas“ [„auf eigene Rechnung“] zu erlauben – dafür wurden bisher über 500.000 Lizenzen ausgegeben. Die meisten von ihnen sind aber kleine Geschäfte wie Restaurants, die hauptsächlich in Privatwohnungen oder -häusern operieren.
Die Anzahl der Beschäftigten im Privatsektor stieg seit 2007 von circa 140.000 auf 400.000. Das ist zwar eine bedeutende Menge, aber immer noch die klare Minderheit der über fünf Millionen kubanischer ArbeiterInnen.
Ein Brückenkopf für die Wiedereinführung des Kapitalismus wurde im Tourismussektor errichtet, der bisher das Zentrum der ausländischen Direktinvestitionen europäischer, kanadischer, brasilianischer und seit neuestem chinesischer Unternehmen ist. Die Prostitution, die nach der Revolution überwunden worden war, ist auf Havannas Straßen zurückgekehrt, insbesondere in den touristischen Stadtvierteln.
Sonderwirtschaftszonen wurden eröffnet, zum Beispiel der Bau einer neuen Hafenanlage in der Mariel-Bucht, die von kapitalistischen Investoren aus Brasilien und Singapur finanziert wird. Sie schielen schon auf das mögliche Ende des US-Handelsembargos, die Verbreiterung des Panamakanals sowie die Eröffnung des neuen zweiten Kanals durch Nikaragua. In der Sonderwirtschaftszone werden den Investoren Verträge auf fünfzig Jahre gegeben anstatt wie sonst auf 25 Jahre, und sie können 100 Prozent des Eigentums behalten. Sie sind von Arbeits- oder kommunalen Steuern befreit und müssen zehn Jahre lang nicht die Gewinnsteuer in Höhe von 12 Prozent bezahlen.
Aber trotz dieser Entwicklungen sind Verhandlungen mit dem Staat oder den staatlichen Betrieben für die ausländischen Investoren obligatorisch. Das kubanische Regime benutzt weiterhin manchmal sozialistische Rhetorik, um die anhaltende Unterstützung insbesondere der älteren Generation für die Revolution zu nutzen, bezieht sich aber immer öfter auf José Martí, den Führer der Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonisatoren.
Die jüngere Generation, die es nach den neuen Freiheiten wie Internetnutzung und Reisemöglichkeiten dürstet, hat nicht die Erfolge, sondern den Abbau der Revolution, die wirtschaftliche und soziale Krise und den lähmenden Würgegriff der Bürokratie erlebt.
Anfangs mögen die „billigen Waren, die im Güterzug des Imperialismus“ ankommen, attraktiv erscheinen, bevor die Realität des Lebens in einer kapitalistischen Gesellschaft deutlich wird.
Diese Entwicklungen bedeuten also eindeutig einen bedeutenden Rückschritt, nämlich in Richtung der Wiedereinführung des Kapitalismus. Der Prozess ist in einigen Bereichen der Wirtschaft schon weit fortgeschritten, ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Schritte auf den „freien Markt“ werden nur unter staatlicher Kontrolle, Zustimmung und Überwachung erlaubt, und der Staat hat weiterhin effektive Kontrollinstrumente in der Hand, um die Entwicklung gegebenenfalls umkehren zu können. Ausländische Investoren müssen weiterhin direkt mit der Regierung verhandeln oder sich an die Staatsbetriebe wenden. Die Schlüsselsektoren der Wirtschaft sind bisher nicht privatisiert oder an ausländische Kapitalisten verkauft worden.
Wie der Herausgeber des staatlichen kubanischen Kulturmagazins „Temas“, Rafael Hernandez, gesagt hat: „Jede von Raúls wirtschaftlichen Reformen dreht sich um Dezentralisierung, was gut ist, weil Kuba sie benötigt. Das Problem ist nur… sie findet nicht statt“ (Financial Times, 15. Juni 2015).
Sogar der US-amerikanische Kapitalismus geht vorsichtig vor, obwohl er begierig ist, die in der Revolution verlorenen Betriebe und Vermögen wieder in seinen Besitz zu bringen. Ein Investor sagte: „Es ist sinnvoll, klein anzufangen, zu lernen, wie das System funktioniert, und dann weiterzusehen.“
Für SozialistInnen und für die Arbeiterklasse bedeuten die Schritte in Richtung der Wiedereinführung des Kapitalismus konkrete Rückschritte, die den Abbau der Fortschritte im Lebensstandard der kubanischen Massen nach der erfolgreichen Revolution weiter treiben. Zudem wird die herrschende Klasse, insbesondere in Lateinamerika, versuchen, die Idee des Sozialismus als einer Alternative zum Kapitalismus abermals zu diskreditieren.
Aber dies wird nicht die gleiche Wirkung haben wie die ideologische Offensive gegen die Idee des Sozialismus, die die herrschende Klasse nach dem Kollaps der stalinistischen Regime in der ehemaligen UdSSR und Osteuropa führten. Eine neue Phase kapitalistischer Krisen und von weltweiten Kämpfen der ArbeiterInnen hat begonnen. Die Arbeiterklasse und die Massen haben 25 Jahre der „Überlegenheit der freien Märkte“ durchgemacht und beginnen, direkt dagegen zu kämpfen. In Brasilien, Argentinien, Chile und anderen Ländern hat eine neue Etappe von Kämpfen begonnen.
Die Aufhebung des Embargos würde eine Niederlage für die vergangene Politik des US-Imperialismus und dessen Versuche, das kubanische Regime zu stürzen, bedeuten. Es wird Kuba mehr Möglichkeiten geben, auf dem Weltmarkt Handel zu treiben. Jedoch wird es ohne eine wirkliche Arbeiterdemokratie auch die Gefahr einer Beschleunigung der Wiedereinführung des Kapitalismus geben. Ein staatliches, demokratisch von der Arbeiterklasse kontrolliertes Monopol auf den Außenhandel ist unverzichtbar, um diese steigende Gefahr im Zaun zu halten. SozialistInnen begrüßen die erweiterte Reisefreiheit.
Der Übergang zu einer vollen Wiedereinführung des Kapitalismus wird aber kein kontinuierlicher Prozess ohne Unterbrechungen sein. Teile des Regimes scheinen in eine andere Richtung gehen zu wollen. Wichtig ist dabei Maiela Castro, die Tochter von Raúl, und ihre deutliche Aussage nach der offiziellen Bekanntgabe des Deals mit der USA: „Die Bevölkerung von Kuba will keine Rückkehr zum Kapitalismus.“
Es gibt viele Hindernisse, die für eine Aufhebung des Handelsembargos noch aus dem Weg geräumt werden müssten. Dazu zählt auch der Widerstand des rechten Flügels der Republikaner im US-Kongress und die Frage der Wiedergutmachungsforderungen in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar von ehemaligen BesitzerInnen von in der Revolution verstaatlichter Firmen an den kubanischen Staat. Dagegen steht zum Beispiel das, was Fidel Castro an seinem 89. Geburtstag sagte, nämlich dass „zahlreiche Millionen Dollar“ an Schadenersatz von den USA an Kuba gezahlt werden müssten, um die Kosten des Embargos wiedergutzumachen.
Unter den Bedingungen neuer kapitalistischer Krisen können Bewegungen in Richtung einer Wiedereinführung des Kapitalismus in Schach gehalten werden, und eine gemischte oder hybride Situation könnte eine Weile bestehen bleiben. Anfänglich könnten sogar (die Reste) solcher Revolutionsgewinne wie das gute Gesundheits- und Bildungssystem aufrecht erhalten werden, und das trotz der seit Jahren andauernden Unterfinanzierung. Die Hindernisse sind bedeutend und ein gewisses Niveau an Widerstand durch die KubanerInnen ist wahrscheinlich, sobald die Realität eines wiedereingeführten Kapitalismus klar zu werden beginnt. Teile der Bevölkerung fürchten bereits heute, die Gewinne der Revolution vollständig zu verlieren und dass Kuba zu einem zweiten Puerto Rico werden könnte.
Die Notwendigkeit des Widerstands gegen die sich beschleunigende Wiedereinführung des Kapitalismus und für eine wirkliche Arbeiterdemokratie und eine verstaatlichte geplante Wirtschaft ist dringender als jemals zuvor. Solch eine Bewegung könnte an die Arbeiterklasse und die Jugend in ganz Lateinamerika appellieren und sich mit diesen verbinden, um ihre zunehmenden Kämpfe zur Verteidigung ihrer Interessen zu unterstützen und dabei eine echte sozialistische Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln, die die Lektionen der kubanischen Revolution gründlich gelernt hat.