Zu viele Menschen? Zum Mythos der Überbevölkerung

Theorien der „Überbevölkerung“ schieben die Schuld vom Kapitalismus auf dessen Opfer.
Oliver Giel

In der bürgerlichen Presse ist oft von „Bevölkerungsexplosion“, wenn nicht gleich von einer „Bevölkerungsbombe“ die Rede. Der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn schreibt in „Söhne und Weltmacht“ von einem "Überschuss" an Söhnen, der durch Krieg und Terror korrigiert werde. Der AfD-Politiker Höcke spricht vom „afrikanischen Ausbreitungstyp“. Der Club of Rome, ein Verein von Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Industriellen aus aller Welt, publizierte 1972 mit „Die Grenzen des Wachstums“ eine Studie, dass das Wirtschaftswachstum mit dem Wachstum der Weltbevölkerung nicht mitkomme. Allen diesen Leuten ist ein Gedanke gemeinsam: Es gäbe zu wenig Reichtum, als dass alle Menschen ein einigermaßen gutes Leben führen könnten.

 

Diese Überlegungen sind nicht neu. Der erste Theoretiker, der das Problem des Verhältnisses des Bevölkerungswachstums zum Wachstum des Reichtums in mathematische Formen fasste, war der britische Ökonom Thomas Robert Malthus. Er ging davon aus, dass die Bevölkerung exponentiell wachse, die Nahrungsmittelversorgung aber nur linear, das heißt z.B. in bestimmten Zeiträumen die Bevölkerung sich verdoppelt, dann vervierfacht, dann versechzehnfacht usw., die Nahrungsmittelproduktion sich aber nur verdoppelt, dann wieder verdoppelt usw. Dadurch werde notwendigerweise die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln unmöglich, die Löhne werden unaufhaltsam unter das Existenzminimum gedrückt. Dadurch aber steige der Anreiz für den Einzelnen, Kinder zu bekommen, um das Einkommen aufzubessern (zu Malthus‘ Zeiten war Kinderarbeit noch üblich), was die Entwicklung beschleunigt. Was Malthus hier tut, ist also nichts weiter, als Armut und Hunger zu einem Naturgesetz zu machen, während die gesellschaftlichen Bedingungen, die Armut und Hunger erzeugen, bei ihm nicht mal erwähnt werden. Karl Marx kommentiert dies in „Das Kapital“ so: „Es war natürlich weit bequemer und den Interessen der herrschenden Klassen […] viel entsprechender, diese „Übervölkerung" aus den ewigen Gesetzen der Natur als aus den nur historischen Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion zu erklären.“

 

Nun haben jene, die heute über „Überbevölkerung“ reden, natürlich nicht nach den Ursachen von Hunger und Armut gesucht, und dann zufälligerweise in der Stadtbücherei Malthus‘ Werk „Das Bevölkerungsgesetz“ gefunden. Die herrschende Klasse hat vielmehr ein materielles Interesse daran, die kapitalistische Form der Reichtumsproduktion von ihren Vorrausetzungen und Folgen zu trennen. Der Kapitalismus ist eine Art der Produktion, die nicht nach den Interessen der Produzierenden, nicht nach den Bedürfnissen der Konsumierenden, sondern allein nach dem Profit der Eigentümer*innen an den Produktionsmitteln ausgerichtet ist, da der Wert einer Ware durch das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeit bestimmt wird. Um den Profit zu vermehren, muss der Anteil unbezahlter Arbeit (Mehrwert) vermehrt werden. Verlängerung der Arbeitszeit, wie 12-Stunden-Tag, Lohnkürzungen und Entlassungen sind die Folge. Wer nicht mehr an diesem System der Reichtumsproduktion teilnehmen kann, ist für das Kapital nicht verwertbar und bildet einen Teil der „industriellen Reservearmee“ - die praktischerweise als Konkurrenz zu den arbeitenden Menschen eingesetzt werden kann.

 

In der heutigen Phase des Kapitalismus werden immer größere Teile der Menschheit zu einer „überflüssigen“, für das Kapital nicht verwertbaren Masse. Deren Regulierung, etwa in Form des Grenzregimes, gerät immer mehr in den Fokus der Außen- und Sicherheitspolitik. Auch militärische Mittel gehören mittlerweile zur Tagesordnung: Donald Trump will Flüchtlinge von der Nationalgarde an der Grenze erschießen lassen. Und hierzulande will der FPÖ-Wehrsprecher Reinhard Bösch in Nordafrika „mit militärischen Kräften einen Raum in Besitz“ nehmen.

 

Tatsächlich hat die Geschichte Malthus und alle Theorien „natürlicher“ Überbevölkerung widerlegt: Der Reichtum, gemessen etwa an der Nahrungsproduktion, wächst pro Kopf an, so dass wir bereits jetzt 14 Milliarden Menschen ernähren könnten. Warum das nicht passiert, liegt, wie Marx erklärt, an der kapitalistischen Produktion. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, die Natur, Arbeit und Reichtumsproduktion zum Zweck der Verwertung um der Verwertung willen als ihre Grundlage hat. Wir wollen eine Gesellschaft, in welcher, jene, die produzieren und konsumieren, die Produktion in ihre eigenen Hände nehmen - um die konkreten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. In einer solchen Gesellschaft ist kein Mensch „zu viel“. Eine solche Gesellschaft nennen wir: Sozialismus.

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