Geschichte und politische Theorie

1918: Die Revolution, die bis heute wirkt

Schwarz-Blau ist dabei, den „revolutionären Schutt“ von 1918 zu beseitigen.
Sonja Grusch

Kaum ein Bericht kommt ohne eines der bekanntesten Bilder von 1918 aus: Während am 12. November im Parlament die Republik beschlossen wurde, versammelten sich die Massen vor dem Parlament am Ring. Auf der Ballustrade verlasen sozialdemokratische Politiker den Text der neuen Verfassung – nur wenige Meter daneben das Transparent „Hoch die sozialistische Republik“.

Zum 100. Jahrestag amtiert in Österreich eine ÖVP-FPÖ Koalition. Beide Parteien stehen in der Tradition jener, denen schon die Gründung der Republik mit ihren bürgerlich-demokratischen Rechten zu weit ging. Doch deren reaktionäres Weltbild war durch die revolutionäre Welle, die über Europa in Folgen des Völkermordens des 1. Weltkrieges hereinbrach, gewaltig in der Defensive.

Auch in Österreich gab es eine Revolution und diese, bzw. die Angst der herrschenden Klasse vor ebendieser, hatte gewaltige Veränderungen zur Folge. Es sind Veränderungen, die bis heute von zentraler Bedeutung sind: Das Ende der Monarchie, die Abschaffung des Adels und die Enteignung der Habsburger. Die Republik inklusive Verfassung und allgemeinem gleichen Wahlrecht. Die Bildung der Arbeiterkammer (als Instrument gegen die von den ArbeiterInnen selbst organisierten Räte). Unmittelbar nach der Ausrufung der Republik waren Bürgerliche und die kapitalistische Klasse auch gezwungen, einer Reihe von weitreichenden Sozialreformen zuzustimmen: 8-Stundentag, Betriebsräte, Arbeitslosenversicherung und Pensionen, Einführung eines Urlaubsanspruchs für Beschäftigte, die Anerkennung von Kollektivverträgen, Sonn- und Feiertagsruhe, Verbot von Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche, Ausbau der Kranken- und Unfallversicherung. Schon unter der Angst vor dem wachsenden Unmut während des 1. Weltkrieges kam es zu Anfängen im Mietrecht, welches dann in der 1. Republik noch verstärkt wurde. Im Bildungswesen wurde die Macht der kaiserlichen Verwaltung durch pädagogische ExpertInnen ersetzt, Mädchen bekamen erstmals Zugang zu öffentlichen höheren Schulen. Ziel war, dass alle Kinder unabhängig von Geschlecht und sozialer Lage Zugang zu optimaler Bildung erhalten sollen.

Insbesondere im Roten Wien gingen die Reformen noch viel weiter, umfassten auch Kinderbetreuung, Sexualaufklärung, Gesundheits- und Bildungswesen sowie Sport und Freizeit. Hinzu kam ein geistiges Klima, das den Mief des Konservativismus hinwegschleuderte und in Kultur, Kunst und Wissenschaft zu großartigen Leistungen führt. Acht Nobelpreise zeugen davon ebenso wie unsterbliche Werke von u.a. Kafka, Roth, Zweig, Werfel, Schnitzler, Schönberg, Lehar, Kokoschka, Loos, Schütte-Lihotzky und vielen mehr.

Für das Kapital und seine politische Vertretung war all das „revolutionärer Schutt“. Und sobald sich die Kräfteverhältnisse änderten, ging man auch daran, diesen zu beseitigen. Das geschah, indem Reformen einfach wieder zurückgenommen wurden, oder auch, indem man auf Diktatur und Faschismus setze. Zwar wurde vieles nach 1945 wieder eingeführt, doch wenn man die Liste der obigen Sozialreformen ansieht, kommt einem sehr viel aus der aktuellen politischen Debatte bekannt vor. Kaum eine Maßnahme, die damals zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse eingeführt wurde, steht heute nicht auf der Abschussliste der Regierung. Statt acht sollen wir 12 Stunden pro Tag arbeiten. Statt Kollektivverträgen soll wieder der/die Einzelne dem Unternehmen gegenüber stehen. Überhaupt sollen alle Elemente der Mitbestimmung der Beschäftigten – die ohnehin sehr beschränkt sind – abgeschafft werden. Auch das Mietrecht will die Regierung aufweichen und Versicherungen sollen wieder dem privaten Markt überlassen werden. Kurz und Strache haben die Ärmel hochgekrempelt, um den „revolutionären Schutt“ zu beseitigen. Das betrifft soziale ebenso wie demokratische Rechte – mit allen negativen Folgen für das Leben der Mehrheit in diesem Land. 100 Jahre nach 1918 geht es deswegen heute darum, die Fäden der ausgebremsten Revolution wieder aufzugreifen und diese endlich zu vollenden. Denn anders werden die Errungenschaften von 1918 auf Dauer nicht zu verteidigen sein.

Reformismus und Grenzschutz

Leon Neureiter

Häufig wird das Argument gebracht, Migration schade den ArbeiterInnen, da sie verschärfte Konkurrenz am Arbeitsmarkt bedeute. Ähnliches wird auch von deklariert Rechten vertreten. So meint FA-Gewerkschafter Michael Koschat etwa, es müsse „ein Schutzschirm über den österreichischen Arbeitsmarkt gespannt werden“. 

Weil oft unwidersprochen, hält sich so auch bei ArbeiterInnen, was bereits Marx am Beispiel der irischen Migration nach England beschrieb: »Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den standard of life herabdrückt. Dieser Antagonismus zwischen den Proletariern in England selbst wird von der Bourgeoisie künstlich geschürt und wach gehalten. Sie weiß, dass diese Spaltung das wahre Geheimnis der Erhaltung ihrer Macht ist.« (Der Generalrat an den Föderalrat der romanischen Schweiz, 1870)

Die aktuelle Debatte ist im Wesentlichen eine Fortführung der Richtungsdebatte in der frühen Sozialdemokratie. ReformistInnen forderten im späten 19. Jahrhundert ein Arbeitsverbot für Frauen und argumentierten, so könne man Lohnerhöhungen erzwingen. Als von KapitalistInnen der imperialistischen Staaten vermehrt Arbeitskräfte aus den Kolonien geholt wurden (die unter weit schlechteren Bedingungen im Vergleich zu „Einheimischen“ arbeiteten), beschlossen zahlreiche Gewerkschaften (u.a. in Nordamerika), MigrantInnen auszuschließen und aus dem Arbeitsmarkt zu verdrängen, um Billigkonkurrenz zu vermeiden. Doch sobald es zu Streiks kam, wurden ebenjene gewerkschaftlich nicht erschlossenen Schichten zum Streikbrechen eingesetzt.

Beim Amsterdamer Kongress der 2. („Sozialistischen“) Internationale 1904 wurde von ReformistInnen ein Einreiseverbot für „Arbeiter rückständiger Rassen“ aus Angst vor sozialen Verschlechterungen für „heimische“ Beschäftigte gefordert. Mangels Einigung wurde die Debatte auf den Stuttgarter Kongress 1907 verlegt. Dort setzte sich der revolutionäre Flügel um Karl Liebknecht durch. Er meinte: „Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein!“ Folglich beschloss der Kongress die Forderung nach „Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalte im Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen“.

Revolutionäre SozialistInnen betonten damals wie heute die gemeinsamen Interessen von ArbeiterInnen, egal woher sie kommen, und setzen sich für einen kollektiven Kampf ein – gleichzeitig wird eine klare Distanz zu Bürgerlichen gehalten, die Migration zur Unterwanderung sozialer Standards nutzen.


Was ist linke Migrationspolitik? Erschienen im Manifest Verlag

Texte, die den Äußerungen von Sahra Wagenknecht die prinzipielle Verteidigung der Rechte von MigrantInnen und einen Klassenstandpunkt entgegenstellen und die gemeinsamen Interessen einheimischer und migrantischer Lohnabhängiger und Erwerbsloser in den Mittelpunkt rücken.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Das war Eine Welt zu gewinnen 2018!

„Ich will Kurz und Strache weinen sehen!“

Vom 19. bis 20. Oktober fand in Wien zum zweiten Mal unser jährliches Event „Eine Welt zu gewinnen“ statt. Es gab diverse Diskussionen in verschiedenen Formaten zu brennenden politischen Themen in Österreich und international. Über 80 TeilnehmerInnen, u.a. aus den USA, Spanien, Serbien und Deutschland, aber auch AktivistInnen kämpferischer Initiativen aus ganz Österreich kamen, um sich auszutauschen, zu vernetzen und sich zu organisieren.

Freitag Abend: „International gegen Patriarchat und Kapital!“

Der Freitag brachte die erste große Podiumsdiskussion zum Thema „International gegen Patriachat und Kapital – Frauenbewegungen weltweit“. Ein Höhepunkt des Abends war die Rede unseres internationalen Gastes, Laura Garcia Calderón von der feministischen Organisation „Libres y Combativas“ in Spanien. Laura ist auch Aktivistin unserer Schwesterorganisation Izquierda Revolucionaria und der SchülerInnen- und Studierendengewerkschaft Sindicato de Estudiantes. Sie berichtete von den beeindruckenden Kämpfen von Frauen in Spanien, unter anderem vom großen feministischen Streik am 8. März. Sie sprach auch über den nächsten geplanten feministischen Streik am 14. November. Ihre Ausführungen waren nicht nur spannend, sondern auch für die österreichische Debatte hilfreich. Denn am Podium saßen auch Christian Berger, Sprecher des Frauen*volksbegehrens und Martina Gergits für die sozialistisch-feministische Plattform „Nicht Mit Mir“. Diskutiert wurde, wie die Unterstützung für die progressiven Forderungen des Volksbegehrens, die sich in fast 500.000 Unterschriften ausdrückte, nun für den Kampf um diese Forderungen genutzt werden kann. Denn wenn es nach der Regierung geht, verschwinden diese Unterschriften und die Forderungen möglichst schnell in der Schublade. Deswegen argumentierte Martina dafür, sich ein Vorbild am spanischen Beispiel zu nehmen: Die aktivistischen Strukturen, die sich rund um das Frauen*volksbegehren gegründet haben, können ausgebaut und demokratisiert werden. Gemeinsam kann auf große Mobilisierungen, wie etwa den 8. März hingearbeitet werden. Doch auch bis dahin gibt es genügend zu tun: Etwa, sich den radikalen AbtreibungsgegnerInnen am 24.11. in den Weg stellen – was auch die Hauptkampagne von „Nicht mit mir“ in den kommenden Wochen sein wird. Martina lieferte auch das inoffizielle Motto von „Eine Welt zu gewinnen“, als sie meinte: „Ich will Kurz und Strache weinen sehen!“

Samstag Vormittag: Streiken im Sozialbereich, revolutionäre Frauen 1918 und marxistische Krisentheorie heute

Der Samstag brachte neun verschiedene Arbeitskreise zu aktuell wichtigen Themen. Immer drei liefen parallel, so dass man sich Vormittag, Mittag und Nachmittag jeweils für einen entscheiden konnte. Am Vormittag diskutierten wir etwa darüber, wie wir im Sozialbereich bei den anstehenden KV-Verhandlungen an die Streiks vom letzten Jahr anknüpfen können. SozialarbeiterInnen berichteten aus ihren Betrieben und AktivistInnen der Kampagne „Sozial aber nicht blöd“ erzählten von den Erfolgen in der Vernetzung kämpferischer KollegInnen.

Gleichzeitig beleuchtete ein Arbeitskreis die Rolle von Frauen in den revolutionären Ereignissen 1918: Frauen waren schon während des Krieges der kämpferischste Teil der ArbeiterInnenklasse – was die Führung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in Angst versetzte. Denn im Gegensatz zu den Bolschewiki, die mit „Zhenotdel“ einen eigenen revolutionären Frauenflügel gründeten, um die Revolution voranzutreiben, versuchte die österreichische Sozialdemokratie, die „wild gewordenen“ Frauen wieder zu „zähmen“: Sie sollten für das allgemeine Wahlrecht und das Frauenwahlrecht agitieren, aber nicht für die soziale Revolution. Trotzdem wurden viele Frauen revolutionär aktiv, auch wenn ihre Geschichte oft vergessen wird.

Der dritte Arbeitskreis am Vormittag widmete sich dem marxistischen Blick auf die kapitalistischen Krisen – 10 Jahre nach dem Lehman-Crash hat sich der Kapitalismus nicht nur noch immer nicht erholt, gerade der „Wiederaufbau“ hat die Bedingungen für den nächsten Zusammenbruch gelegt. Egal, was bürgerliche PolitikerInnen oder Zentralbanken versuchen: Jeder Versuch, den Kapitalismus innerhalb seiner eigenen Grenzen „krisenfrei“ zu machen, muss scheitern. Die Alternative kann nicht sein, am System herumzudoktoren, sondern es durch eine sozialistische Demokratie zu ersetzen.

Samstag Mittag: Faschismus damals & heute, 1968 und sozialistische Perspektiven zu Bildung

Nach einem schmackhaften Mittagessen ging es in die zweite Runde der Arbeitskreise. Während den Pausen gab es natürlich auch reichlich Gelegenheit, sich mit Info-Material und Lektüre einzudecken: Nicht nur gab es einen Tisch mit SLP-Broschüren, Flyern und Zeitungen, sondern auch dieses Jahr war wieder die linke Buchhandlung Librería Utopía mit einem reichlich gedeckten Büchertisch vertreten und - was für besonders viel Freude bei Bücherwürmern sorgte - der sozialistische "Manifest"-Verlag unserer deutschen Schwesterorganisation SAV kam mit einer Lieferung brandneuer Bücher, die man zu einem einmaligen "Eine Welt zu gewinnen"-Rabatt erstehen konnte. Wieder gab es drei Diskussionen zur Auswahl.

Zum Einen wurde vor dem Hintergrund des Gedenkjahres 1938-2018 über die heutige Gefahr von Rechts diskutiert: Kann der Faschismus wiederkommen? Es wurden Parallelen, aber auch entscheidende Unterschiede zur Situation in den 1930er Jahren herausgearbeitet. So stützen sich zum Beispiel die rechtspopulistischen Kräfte, die nun in den Regierungen sind, trotz aller autoritärer Politik (noch) nicht auf eigene paramilitärische Organisationen, deren Ziel die komplette Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung wäre. Nicht jede Form autoritärer Politik, ja nicht einmal der Diktatur ist gleichbedeutend mit Faschismus – denn dieser basiert neben der brutalen Repression auch auf konstanter gewaltsamer Mobilisierung seiner Basis. Trotzdem – oder gerade deswegen – müssen wir wachsam die aktuellen Entwicklungen weiterverfolgen und uns rechtsextremen Kräften in den Weg stellen, wo immer sie versuchen, Land zu gewinnen.

Ein weiterer Arbeitskreis beschäftigte sich, anlässlich des 50. Jahrestags von 1968 mit dem Verhältnis von Frauenbefreiung und antikapitalistischem Kampf. Rund um 1968 entwickelten sich mächtige Streik- und Antikriegsbewegungen, aber auch eine neue Welle an Frauenbewegungen. Mit dem Slogan „Das Private ist politisch“ griffen sie Formen der Frauenunterdrückung auf, die die etabliertern linken Parteien – seien sie sozialdemokratisch oder stalinistisch geprägt – ignorierten: Der Kampf um die Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung muss nicht nur auf der „Ebene der Produktion“ (durch Streiks in Fabriken usw.) geführt werden – sondern auch auf der „Ebene der Reproduktion“ (rund um die Frage des Haushalts, der Kindererziehung usw.) Die Ignoranz der etablierten ArbeiterInnenparteien für diese Probleme führte dazu, dass sich die linke Frauenbewegung jenseits der ArbeiterInnenbewegung entwickelte – zum Schaden beider. Heute kämpfen SozialistInnen für eine sozialistisch-feministische Bewegung, die sowohl auf der Ebene der Produktion, z.B. durch Kampf für gleiche Rechte und Löhne, als auch auf der Ebene der Reproduktion, z.B. durch den Kampf für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, für kostenlose und flächendeckende Kinderbetreuung sowie für eine Vergesellschaftung der Hausarbeit.

Der dritte Arbeitskreis beschäftigte sich mit den Angriffen der Regierung auf das Bildungssystem und dem Widerstand dagegen. SchülerInnen und LehrerInnen aus verschiedenen Schultypen diskutierten miteinander, ebenso wie Lehramtsstudierende und betroffene Eltern. Gerade im so zersplitterten Bildungsbereich war es wichtig, dass hier Perspektiven aus NMS, AHS, Polytechnischen Schulen, HTL, Uni und PH zusammengeführt wurden. Klar ist: Die Spaltungen im Bildungsbereich müssen überwunden werden – und das geht nur, wenn die Forderungen der einzelnen Gruppen und die spezifischen Interessen wahrgenommen werden und in einem gemeinsamen Kampf vereint werden. Voller Motivation wurde auch diskutiert, wie wir die aktuellen Donnerstagsdemonstrationen und andere Mobilisierungen nutzen können, um durch das „Aktionsbündnis Bildung“ auch im Bildungsbereich wieder in Bewegung zu kommen.

Samstag Nachmittag: Klimakrise, Katalonien und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch

Nach einer Kaffeepause ging es nun in die dritte Runde. Obwohl wir schon jede Menge diskutiert und voneinander gelernt hatten, waren die letzten Arbeitskreise besonders gut besucht und wurden intensiv für Debatten genutzt.

Das galt vor allem für den Arbeitskreis „Eine Welt zu verlieren?“, in dem wir uns mit den Ursachen, Folgen und Antworten auf die Klimakrise auseinandersetzten. Alleine diesen Arbeitskreis besuchten über 20 TeilnehmerInnen. Mit dabei war Lucia Steinwender, Aktivistin von „System Change, not Climate Change“. Sie stellte die Aktivitäten und Schwerpunkte der Initiative vor und sprach auch über die Mobilisierungen im Hambacher Forst und zu den Großprotesten von „Ende Gelände“. Gerade vor dem Hintergrund des neuen IPCC-Berichts, laut dem bis 2030 radikale Maßnahmen gesetzt werden müssen, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels noch abzuwenden, gewann die Diskussion darüber, wie wir effektive Bewegungen zum Schutz von Mensch und Umwelt aufbauen können, an Relevanz. Wir diskutierten die Unfähigkeit des Kapitalismus, Klima und Umwel nachhaltig zu schützen: In diesem Wirtschaftssystem muss alles so kurzfristig wie möglich so viel Profit wie möglich abwerfen, da ist für Nachhaltigkeit schlicht kein Platz – außer in Image-Kampagnen, in denen sich Großkonzerne als „grün“ darstellen. Die Lügen des „green capitalism“ wurden in der Diskussion ebenso auseinandergenommen wie der scheinbare Widerspruch Jobs Vs. Klima: es ist ein fataler Fehler der Gewerkschaftsbewegung, wenn sie sich mit den Energiekonzernen verbündet, um „Arbeitsplätze zu sichern“. Ja, Arbeitsplätze dürfen nicht abgebaut werden – aber das erreichen wir nicht, indem wir uns vor die Karren der Konzerne spannen lassen, sondern nur im gemeinsamen Kampf für eine Übernahme aller ArbeiterInnen in den Bereich erneuerbarer Energien. Das bedeutet natürlich auch, dass die Klimakiller für den Umstieg zahlen sollen, und nicht die ArbeiterInnen. Doch auch die Umweltbewegung muss solche Forderungen aufstellen, um die betroffenen ArbeiterInnen als BündnispartnerInnen gewinnen zu können. Zu oft trifft man immer noch in umwelt-aktivistischen Kreisen auf Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen von ArbeiterInnen, was wieder nur zu einer schädlichen Spaltung beiträgt. AktivistInnen unserer deutschen Schwesterorganisation SAV bringen diese sozialistischen Perspektiven sowohl im Hambacher Forst als auch bei „Ende Gelände“ ein – und auch in Österreich braucht es eine Umweltbewegung mit sozialistischen Ideen.

Fast ebenso gut besucht war der Arbeitskreis, in dem unser spanischer Gast Laura Garcia Calderón über die Krise des spanischen Staates und den Kampf der katalonischen Bevölkerung berichtete. In der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung drückt sich vor allem der Kampf gegen Kürzungsdiktat, Armut und die undemokratische spanische Verfassung aus. Und genau deswegen haben die Bürgerlich-Konservativen rund um Puigdemont solche Angst vor ebenjener Bewegung, an deren Spitze sie zunächst gespült wurden. Immer klarer wird, dass die bürgerlichen katalanischen Parteien und die katalanischen KapitalistInnen kein Interesse an echtem sozialen und demokratischem Wandel im Rahmen einer katalonischen Unabhängigkeit haben – denn das würde ihre Profite bedrohen. Mittlerweile schlagen sie sich sogar aktiv auf die Seite der spanischen Staatsgewalt, um die Bewegung zu unterdrücken. Nur, wenn die Bewegung mit der bürgerlichen Führung bricht und sozialistische Maßnahmen erkämpft, kann eine echte Unabhängigkeit garantiert werden – und darüber hinaus ein hoffnungsvolles Beispiel für ArbeiterInnen im Rest des spanischen Staates gegeben werden, wie erfolgreich gegen Armut, Ausbeutung und Unterdrückung gekämpft werden kann. Auf so einer Basis kann ein gemeinsamer Kampf für eine freiwillige, sozialistische Föderation auf der iberischen Halbinsel geführt werden.

Der dritte Arbeitskreis am Nachmittag führte die Diskussionen von der Podiumsdiskussion am Vortag in die Praxis über: Wir diskutierten darüber, wie wir in den nächsten Wochen mit „Nicht mit mir“ sozialistisch-feministische Initiativen setzen und gegen den Aufmarsch der religiösen FanatikerInnen am 24.11. mobilisieren können. Das erste Mobi-Material in Form hübscher Flyer gab es bereits, was für noch mehr Motivation sorgte. Die Idee kam auf, auf den Donnerstags-Demos einen sozialistisch-feministischen Block zu gestalten. Außerdem wurden mehrere Mobilisierungsveranstaltungen in verschiedenen Städten geplant.

Samstag Abend: FPÖVP wegstreiken!

Den Abschluss markierte die Podiumsveranstaltung „1 Jahr nach den Wahlen – wie der Widerstand gegen Schwarz-Blau erfolgreich sein kann“. Mehr als 50 TeilnehmerInnen kamen, um über aktuelle Perspektiven des Widerstands zu diskutieren. Die Donnerstags-Demos sind eine gute Initiative, wurde festgehalten, doch die Erfahrung der letzten Donnerstags-Demos zeigt, dass es mehr braucht als viele Leute auf der Straße. Ein besonderer Fokus wurde deswegen in der Diskussion auf die betriebliche Ebene gelegt: Wenn wir die Regierung zurückschlagen und stürzen wollen, müssen wir sie dort treffen, wo es weh tut: bei den Profiten ihrer GeldgeberInnen. Am Podium saßen Peter Redl, Betriebsrat im UKH Lorenz Böhler und Mit-Initiator der AUVA-Proteste, und Irene Mötzl, SLP-Aktivistin und Betriebsrätin im Sozialbereich. Peter erzählte vom inspirierenden Beispiel der AUVA-Beschäftigten, die durch die Bereitschaft zum Streik die Regierung zum Zurückweichen zwangen. Irene berichtete von der Arbeit der Initiative „ÖGB aufrütteln“, in der sich aktive BetriebsrätInnen, Gewerkschaftsmitglieder und KollegInnen organisieren. Viele TeilnehmerInnen fragten nach Mitteln und Wegen, in ihrem Betrieb ebenfalls kämpferische Initiativen setzen zu können. So entwickelte sich eine fruchtbare Diskussion, die auch dadurch bereichert wurde, dass so verschiedene Berufsfelder wie Pflege, Eisenbahn, Flüchtlingsbetreuung oder Metallindustrie repräsentiert waren.

Nach einem langen Tag voller Debatten ging es dann abends in die wohlverdiente Party, wo nicht nur der Erfolg von „Eine Welt zu gewinnen“, sondern auch gleich zwei Geburtstage gefeiert wurden. Alles in allem ein großartiges und motivierendes Wochenende, das schon Vorfreude aufs nächste Jahr gemacht hat!

 

 

 

 

 

 

 

Mehr zum Thema: 

„WAS IST LINKE MIGRATIONSPOLITIK?“ - eine sozialistische Textsammlung zum Thema Flucht vom Manifest-Verlag

Kein Thema hat die öffentliche Debatte in den letzten Jahren so dominiert, wie die Frage der Migration. Rechtspopulisten nutzten die Zunahme der Zahl Geflüchteter für rassistische Hetze, die Regierungen verschärfen laufend das Asylrecht. Zusammen mit bürgerlichen Medien erweckten diese Kräfte den Eindruck, der Zuzug von Geflüchteten und ArbeitsmigrantInnen bedrohe die sozialen Standards und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Politik des „teile und herrsche“ dient zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse und ist gleichzeitig ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver – denn die wirklich drängenden Probleme wie Niedriglöhne, explodierende Mieten, Kriegsgefahr, etc. werden nicht von Geflüchteten und MigrantInnen verursacht, sondern von den Herren (und ein paar Damen) in den Chefetagen der Konzerne und ihren Verbündeten auf den Regierungsbänken. Aber das Thema erregt die Gemüter und stellt eine Herausforderung für die Linke und die ArbeiterInnenbewegung dar. Auch SPÖ und Grüne sind verantwortlich für Abschiebungen und die Gewerkschaft schweigt zum Thema weitgehend.

In dieser Broschüre sind Texte von u.a. deutschen SozialistInnen zusammengefasst, die im Zuge der Debatte in der Partei Die Linke rund um die migrationspolitischen Äußerungen Sahra Wagenknechts entbrannt ist. Sie zeichnen sich durch eine prinzipielle Verteidigung der Rechte von MigrantInnen und einen Klassenstandpunkt aus, der die gemeinsamen Interessen einheimischer und migrantischer Lohnabhängiger und Erwerbsloser in den Mittelpunkt rückt. Davon leiten sie Argumentationen und ein sozialistisches Programm ab.

 

Was ist linke Migrationspolitik?

Manifest Verlag

51 Seiten um 3.-

slp

ISBN 978-3-96156-041-7

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Wie wird der Faschismus geschlagen? Textsammlung zu Faschismus und Einheitsfronttaktik von Leo Trotzki.

Zeitgleich mit dem Aufstieg des Faschismus in Europa musste die ArbeiterInnenbewegung eine Kampfstrategie gegen ihn finden. Dafür war es notwendig, ihn zu analysieren: Die Gründe für sein Entstehen, seinen Klassencharakter, sein Verhältnis zu anderen Klassen, seine Ziele und Methoden zu begreifen. Steve Hollasky leitet die Textsammlung des Manifest Verlages ein. Es folgen: Porträt des Nationalsozialismus, Bonapartismus und Faschismus, Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?, Gespräch mit einem sozialdemokratischen Arbeiter sowie Der einzige Weg.

Trotzki zeigt auf, wie gerade aus der instabilen Weimarer Republik der Faschismus aufsteigen konnte. Die Texte beschäftigen sich auch mit der Notwendigkeit einer „Einheitsfront“ von KPD und SPD. Trotzki orientierte sich dabei nicht an der Führung, sondern der Basis der SPD und trat für Aktions- und Kampfbündnisse ein. Die KPD-Führung stolperte stattdessen von einem Fehler zum nächsten und so konnte die Spaltung in der ArbeiterInnenbewegung nicht überwunden, sondern nur vertieft werden.

Trotzkis Texte sind nicht nur von historischem Interesse. Auch wenn FaschistInnen heute längst nicht so stark sind, ist die marxistische Methode im Kampf gegen Rechts unerlässlich: Gesellschaftliche Veränderungen nicht in starren Schemata, sondern als konkrete, lebendige Widersprüche zu begreifen, Entwicklungstendenzen festzumachen und politische Vorschläge für die ArbeiterInnenbewegung abzuleiten, um erfolgreich zu sein.

 

Manifest Verlag 138 Seiten um €8,90, ISBN 978-3-96156-046-2

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Italien: Aufstieg und Fall der Rifondazione Comunista

Ausschnitt aus dem Buch „Die Linke international“
Von Christine Thomas, Resistenze Internazionali (Schwesterorganisation der SLP in Italien)

Die Geburt der Rifondazione Comunista (PRC oder RC) im Jahr 1991 geht auf den zwanzigsten Parteitag der PCI (Kommunistische Partei Italiens) zurück. Die einst mit zwei Millionen Mitgliedern größte „kommunistische“ Partei Westeuropas stimmte infolge des Zusammenbruchs des Stalinismus in der Sowjetunion für die Entledigung ihrer kommunistischen Vergangenheit. Symbolisch änderte sie ihren Namen in PDS (Partito Democratico della Sinistra). Obwohl die PCI schon lange zuvor einen pro-kapitalistischen, reformistischen Weg eingeschlagen hatte, bedeutete dieser Akt einen wichtigen qualitativen Schritt in ihrem Übergang zu einer kapitalistischen Partei. Die RC ging als linke Abspaltung aus ihr hervor. Ein Viertel der PCI-Mitglieder waren nicht bereit, den „Kommunismus“ hinter sich zu lassen. Innerhalb weniger Monate sammelten sich um die 150.000 Mitglieder unter ihrem Banner – einschließlich vieler ArbeiterInnen und Jugendlicher von außerhalb der PCI.

Die Geburt der RC, die eine klassenkämpferische, antistalinistische und kommunistische Partei hätte werden können, war von enormer internationaler Bedeutung. Hier gab es eine von ihrer Größe her beträchtliche Arbeiterpartei, welche offen bereit war, die Ideen des Kommunismus bzw. Sozialismus in einer Zeit zu verteidigen, in der diese Ideen infolge des Zusammenbruchs des Stalinismus von massiven ideologischen Angriffen der internationalen Bourgeoisie bedroht waren. In ganz Westeuropa ließen ehemalige Arbeiterparteien den Sozialismus bzw. Kommunismus hinter sich, akzeptierten den kapitalistischen Markt und „verbürgerlichten“. Die RC hingegen ragte als kompromisslos antikapitalistische Partei heraus und wurde deshalb zum Anziehungspol und Bezugspunkt für tausende ArbeiterInnen und Jugendliche – sowohl innerhalb als auch außerhalb Italiens.

Das große Potenzial wird verspielt

Indem sie die besten KlassenkämpferInnen in sich vereinigte, besaß die RC das Potenzial, sich zu einer revolutionären Massenpartei der ArbeiterInnen zu entwickeln. Diese wäre in der Lage gewesen, die Arbeiterklasse zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu führen. In den frühen 1990er Jahren befanden sich das politische System und der italienische Staat in Aufruhr. Die Magistratur enthüllte einen tiefgehenden Korruptionsskandal, welcher den ganzen Staatsapparat durchdrang und tausende Politiker und Unternehmer belastete. Der Einschlag des sogenannten Tangentopoli-Skandals (dt: “Stadt der Schmiergeldzahlungen” – bezogen auf Mailand; Anm. d. Ü.) war so heftig, dass er die bedeutendste kapitalistische Partei Democrazia Christiana (DC) zerschmetterte. Die PSI (Partito Socialista Italiano) zerfiel ebenso wie viele kleine Parteien. Nicht eine politische Partei ging unbeschadet aus dieser Krise hervor.

Die daraus folgende Stimmung gegen das korrumpierte politische System führte zum Sieg von Silvio Berlusconi bei den Parlamentswahlen 1994. Mit seiner neu gegründeten Forza Italia (Vorwärts Italien) präsentierte er sich als frisches Gesicht: ein Self-Made-Unternehmer (damals der reichste in Italien) von außerhalb des politischen Establishments, der in der Lage wäre, Italien so erfolgreich zu machen wie er selbst. Seine Regierung überlebte lediglich neun Monate. Im „heißen Herbst“ 1994 traten Millionen von ArbeiterInnen in den Streik. Millionen ArbeiterInnen, RenterInnen und Jugendliche zogen auf die Piazzas gegen Berlusconis geplante Rentenreform.

Die RC hatte sich bereits als kämpferische Partei in den Auseinandersetzungen gegen vorangegangene Angriffe der Regierungen Amato und Ciampi etabliert. Dabei ging es um Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Privatisierungen, Erhöhung des Rentenalters und die Abschaffung der scala mobile (dt: Lohngleitklausel; Anm. d. Ü.), welche die Löhne der ArbeiterInnen der Inflation anpasste. Mit klarer, revolutionärer Politik und Taktik hätte die RC aus der riesigen Bewegung gegen die erste Berlusconi-Regierung als Massenarbeiterpartei hervorgehen und die Machtfrage stellen können. Laut Parteisatzung war die RC von den Werten des Marxismus inspiriert und stand für die Abschaffung des Kapitalismus und die Umwandlung der Gesellschaft. Doch obwohl das Programm der RC auf dem Papier revolutionär erschien, hatte die Führung keine Vorstellung, wie dafür Massenunterstützung unter den ArbeiterInnen zu gewinnen war. Die Mehrheit der RC-Führung sah die Massenstreiks lediglich als gegen die Rentenreform und Kürzungen gerichtet und nicht als einen Kampf, der geeignet war, die Arbeitermassen für die Idee des revolutionären Wandels zu gewinnen. Die RC forderte Berlusconi zum Rücktritt auf, aber stellte kein konkretes Programm auf, um die Streikbewegung voranzubringen – verbunden mit der Forderung nach einer Arbeiterregierung. Stattdessen agierte sie als Cheerleader des Streiks. Sie unterstützte unkritisch die Gewerkschaftsführung auch dann, als diese einen geplanten zweiten Generalstreik absagte.

Das grundlegende Problem der RC-FührerInnen war, dass sie nicht wirklich mit dem „Etappen“-Ansatz, also der Zusammenarbeit mit „progressiven“ kapitalistischen Parteien, brachen, welchem die PCI 1944 nach der Wende von Salerno folgte. Dieser wurde durch den „historischen Kompromiss“ mit den Christdemokraten in den 1970ern bekräftigt. Dieses Erbe bedeutete, dass die RC kein einheitliches, sozialistisches Programm vertrat, sondern die Trennung von „Maximal-“ und „Minimalforderungen“ beibehielt. Somit verfolgten sie auch weiterhin die Position des „kleineren Übels“, insbesondere bei der Unterstützung mehrerer Vorhaben der L‘Ulivo (Der Olivenbaum) genannten Koalitionsregierungen in den späten 1990ern und später dann als Teil der Prodi-Regierung 2006.

Eine entscheidende Möglichkeit, die Partei in eine Massenkraft zu verwandeln, wurde vertan. Dennoch profitierte die RC von ihrer Opposition gegen die erste Berlusconi-Regierung bei den Wahlen 1996. Auf nationaler Ebene wuchs sie auf 8,4 Prozent an und in einigen Gegenden kletterte sie noch höher – zum Beispiel von 8,8 Prozent auf 24,7 Prozent in Florenz. Ihre Wahlergebnisse stiegen seit ihrer Gründung. In Turin, Industriestadt im Nordwesten Italiens und Heimat des riesigen Auto-Konzerns Fiat in Mirafiori, erzielte die Partei bei den Kommunalwahlen 1993 mehr Stimmen als die große PDS (15 Prozent gegenüber 10,5 Prozent). Und dennoch: Bei den Parlamentswahlen im April 2008 wurden die Wahlerfolge der Partei wieder ausradiert. Die RC wurde vernichtet – sie erhielt ganze drei Prozent der Stimmen als Teil des Bündnis Sinistra Arcobaleno (Regenbogenlinke) und verlor alle ihrer 66 Abgeordneten und Senatoren. In Turin bekam sie lediglich vier Prozent der Stimmen und somit weniger als die rechtspopulistische Lega Nord. Laut Il Manifesto, einer unabhängigen linken Zeitung, waren von den 15.000 ArbeiterInnen in Mirafiori lediglich neun eingetragene Mitglieder der PRC vor der Wahl.

Gleichgewicht der Kräfte

Das Erdbeben der Parlamentswahlen im April 2008 kann vor allem durch die zwei vorangegangen Jahre (2006-2008) erklärt werden, in welchen die RC an der kapitalistischen Regierung von Romano Prodi beteiligt war. Der Prozess, auf Teilnahmen an bürgerlichen Regierungen zu orientieren, begann jedoch viel früher. Vor dem Sieg von Berlusconi 1994 befürwortete die Mehrheit der RC-Führung eine Politik der „progressiven“ politischen Allianz mit der PDS im Namen der „Einheit der Linken“. „Isolation“ sollte dadurch verhindert und die „Rechten gestoppt“ werden. Die PDS selbst bewegte sich rasant nach rechts, unterstützte offen Privatisierungen und die neoliberale Agenda der kapitalistischen Klasse. Nichtsdestotrotz unterstützten viele ArbeiterInnen weiterhin die Partei. Das Ziel der RC hätte darin bestehen müssen, die ArbeiterInnen durch Aktions- und Kampfeinheit an konkreten Beispielen wie der Rentenreform für sich zu gewinnen. Zeitweise hätten taktische Wahlbündnisse durchaus eine gerechtfertigte Rolle in diesem Prozess spielen können, um ArbeiterInnen von der PDS herüberzugewinnen. Gleichzeitig hätte die politische Unabhängigkeit und Autonomie der RC gewahrt werden müssen. Das war jedoch nicht das Ziel der Führungsmehrheit der RC. Während diese immer noch revolutionär über die „Abschaffung des Kapitalismus“ sprach, wollten sie Massenaktionen durch Allianzen von oben mit „progressiven“ kapitalistischen Parteien ersetzen.

In den Parlamentswahlen 1996 trat die RC zwar unabhängig an, doch ist sie Wahlabkommen mit Prodis Ulivo-Bündnis eingegangen, welches kapitalistische Parteien mit einschloss. Als Ulivo die Wahlen gewann, trat die RC nicht der Koalitionsregierung bei. Sie erklärte, dass sie sich gegen jede Maßnahme gegen die Arbeiterklasse stellen würde, aber stimmte nicht dafür, die Regierung zu verhindern. Mit 35 Abgeordneten hielt die RC faktisch das Gleichgewicht der Kräfte.

Zu Beginn der Prodi-Regierung war das nicht notwendigerweise eine falsche Herangehensweise. Berlusconi konnte man gerade erst loswerden und die Massen der ArbeiterInnen waren sich noch nicht über den Klassencharakter des Ulivo im Klaren. Sie dachten, man könnte ihn durch Druck dazu bringen, in ihrem Interesse zu handeln. Hätte die RC sofort den Zusammenbruch der Regierung und damit die Rückkehr Berlusconis verursacht, wäre das nicht verstanden worden. Es hätte dem Ansehen der Partei unter ArbeiterInnen und Jugendlichen geschadet. Jedoch warnte die RC-Führung im Voraus nicht ausreichend vor der kapitalistischen Natur der Regierung und der neoliberalen Maßnahmen, die jene vorbereitete. So zeigte sie Illusionen in die Regierung und untergrub ihre Unterstützung.

Das Hauptziel Prodis war die Vorbereitung des italienischen Kapitalismus für den Euro-Beitritt. Um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, strich die Regierung die sozialen Ausgaben zusammen, führte eine Euro-Steuer ein und vollzog einige der größten Privatisierungen in Europa. Sie setzte ebenso das „Treu-Paket“ um, welche „prekäre“ Arbeitsverhältnisse etablierte (Niedriglohnjobs mit befristeten Verträgen und wenigen Rechten). Die RC-Führung scheiterte nicht nur damit, die ArbeiterInnen auf diesen Ansturm vorzubereiten – sie unterstützte die Politik im Parlament trotz Verbalopposition.

Sobald die wirkliche Natur der Regierung klarer wurde, weitete sich der wachsende Unmut über die Prodi-Regierung aus und führte zu sinkender Unterstützung für die RC und Unruhen in der Partei. Das war der Hintergrund, vor dem die RC 1998 schlussendlich der Regierung die Unterstützung versagte und die Prodi-Administration zu Fall brachte. Doch diesen Bruch hatte die RC nicht vorbereitet. 1997 beispielsweise entzog sie bereits einem Kürzungshaushalt der Regierung die Unterstützung. Eine Woche später machte sie eine Kehrtwende und stimmte ihn doch durch, nachdem Prodi einige kleine Zugeständnisse erlaubte. Das rief riesige Verwirrung unter der PRC-Basis und den UnterstützerInnen hervor. Als die RC schließlich im Folgejahr tatsächlich der Regierung die Unterstützung entzog, ging es um einen Haushalt, der sehr viel weniger heftig ausfiel, als der „Blut und Tränen“-Haushalt, den sie noch 1996 unterstützt hatte.

Aufgrund ihres Versagens, Ereignisse vorherzusehen und die Arbeiterklasse vorzubereiten und zu mobilisieren, aufgrund ihres widersprüchlichen Auftretens und vor allem aufgrund ihrer Unterstützung für kapitalistische Politik verlor die RC massiv an Unterstützung unter jenen, die sie mit Prodis Attacken verbanden. Gleichzeitig musste sich die Partei vorwerfen lassen, dass sie Berlusconi den Weg zurück ebnete. Die Mehrheit der RC-Führung hat offensichtlich nichts aus dieser Erfahrung gelernt. 2006 trat die Partei wieder einer kapitalistischen Regierung bei, wieder unter der Führung Prodis. Sie verschlimmerte ihre früheren Fehler und setzte in der Tat ihre Existenz aufs Spiel.

Gesteigerte Klassenkämpfe

Die Entwicklung der RC verlief dabei jedoch nicht geradlinig Richtung Abgrund. Das Ergebnis ihrer Unterstützung für die Ulivo-Regierung waren sinkende Wähler- und Mitgliederzahlen. Hinzu kam eine Rechtsabspaltung unter der Führung des ehemaligen Vorsitzenden Armando Cossuta, welcher die Prodi-Regierung weiterhin unterstützte. Die neu gegründete PdCI (Partito dei Comunisti Italiani) nahm 10 Prozent der Mitglieder und 65 Prozent der Abgeordneten mit.

In dieser Situation versuchte die Führungsmehrheit um Fausto Bertinotti die soziale Basis der RC mit einem “Linksschwenk” wieder zu stärken. Bertinotti war ein respektierter, charismatischer Gewerkschaftsführer. Er galt als ehrlicher Klassenkämpfer, trat der RC 1994 bei und wurde schließlich ihr Generalsekretär (obwohl er sich ursprünglich gegen die RC-Gründung eingesetzt hatte). Seine beeindruckenden Reden nahmen häufig Bezug auf Marxismus und Revolution – in der Praxis blieb er jedoch Reformist. In den frühen 2000er Jahren borgte er öfters einzelne Floskeln bei Leo Trotzkis Kritik am Stalinismus während er gleichzeitig die RC in der Tagespolitik nach rechts führte. Bertinotti blieb ebenfalls der Tradition der Nachkriegs-PCI-Führer treu und lehnte Wahlbündnisse mit kapitalistischen Parteien nicht ab. Im Gegenteil ging die Partei in Kommunalregierungen mit der PDS und setzte dort Kürzungen mit um.

Auf nationaler Ebene war die Partei allerdings in der Opposition als sich die objektive Situation dramatisch zu ändern begann. Berlusconi wurde 2001 (aufgrund der Desillusionierung mit der Ulivo-Regierung) wiedergewählt. Das löste eine Welle von Generalstreiks aus, um Artikel 18 des Arbeitsrechts – Schutz der ArbeiterInnen vor willkürlichen Entlassungen – zu verteidigen und die Angriffe auf die Renten abzuwehren. 2001 wurden die Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua brutal von der Polizei attackiert. 2002 beteiligten sich zwölf Millionen ArbeiterInnen an einem Generalstreik und drei Millionen an einer Demonstration in Rom. Die Anti-Globalisierungs-Bewegung und die Bewegungen gegen die Kriege in Afghanistan und Irak mobilisierten ebenfalls hunderttausende Jugendliche und ArbeiterInnen. In jener Situation – geprägt von verstärkten Klassenkämpfen und sozialen Bewegungen – wäre es für die RC möglich gewesen, eine Massenkraft zu werden und an die Macht zu kommen. Doch das war nie das Ziel der Mehrheit der Führung. Für Bertinotti und Co. waren die Bewegungen gegen Krieg und Globalisierung sowie die Streiks der ArbeiterInnen nur eine Möglichkeit, ihre Reihen wieder aufzufüllen und an Wahlunterstützung zu gewinnen. Sie strebten nach einer stärkeren Position in zukünftigen Regierungskoalitionen mit “progressiven” kapitalistischen Parteien.

Die RC stürzte sich ins Getümmel der “Bewegung der Bewegungen” ohne die Schwächen und Unzulänglichkeiten dieser zu benennen. Verständlicherweise waren viele der jungen Menschen in der Antiglobalisierungsbewegung gegen politische Parteien. Statt geduldig zu erklären, warum eine unabhängige Partei der ArbeiterInnen und Jugendlichen unerlässlich war, um gemeinsam Verbesserungen und “eine andere Welt” zu erkämpfen, wurde die RC zur Apologetin der Bewegung. Sie versagte vollkommen, das Bewusstsein und Verständnis der tausenden Jugendlichen und ArbeiterInnen zu heben, auf die sie in den Kämpfen traf. Wieder einmal schlug sie keine Strategie vor, um die Streiks und Kämpfe auszuweiten. Für die Mehrheit der Führung wurde die Idee des Klassenkampfs und die zentrale Bedeutung der Arbeiterklasse abgelöst durch vage Bezüge auf “die Bewegungen” und “Gewaltfreiheit”.

Dennoch wurde die Partei zwischen 2001 und 2003 zum Anziehungspunkt, insbesondere unter Jugendlichen. Das Wachstum fiel aber deutlich hinter das Potenzial der Situation zurück. Zusätzlich scheiterte die Partei daran, die neu gewonnen Mitglieder zu halten. Jedes Jahr verließen Zehntausende die Partei bei einem konstanten Mitgliederschwund von durchschnittlich 30 Prozent per annum.

Drängen bei der Koalitionsfrage

Auf dem Parteitag in Venedig 2005 stimmten 60 gegen 40 Prozent der Delegierten für eine Resolution, welche eine zukünftige Regierungsbeteiligung an einer kapitalistischen Regierung unterstützte. Diese Entscheidung rief enorme Unzufriedenheit hervor. Viele Mitglieder erinnerten sich an die Schäden, die die Unterstützung für den Ulivo der Partei gebracht hatte. Die vielen Argumente dafür waren mittlerweile bekannt. Es war jetzt nötig, sich “gegen Berlusconi zusammenzuschließen” und die “Isolierung” oder sogar den “Zusammenbruch” der RC zu verhindern.

Ähnliche Argumente wurden und werden zukünftig eine Rolle spielen, um an anderer Stelle den Druck auf neue Arbeiterorganisationen zu erhöhen, in Koalitionen mit kapitalistischen Parteien zu gehen. Die negativen Erfahrungen der RC sollten dabei starke Argumente gegen den Eintritt in kapitalistische Regierungen darstellen.

Ohne Zweifel gab es 2006 bei den Wahlen einen starken Wunsch unter ArbeiterInnen, sich zusammenzuschließen um Berlusconi zu schlagen. Das hätte durch ein zeitlich befristetes Wahlabkommen beantwortet werden können. Doch gleichzeitig hätte die RC ihr unabhängiges politisches Programm beibehalten müssen. Sie hätte außerhalb der kapitalistischen Prodi-Regierung bleiben, die ArbeiterInnen vor den bevorstehenden Angriffen dieser Regierung gegen sie warnen und die Jugend und ArbeiterInnen für den Kampf dagegen und für ihre Interessen organisieren müssen. Nichts davon ist geschehen.

Nach dem Sieg von Prodis “Unione” im April 2006 wurde Bertinotti Sprecher des Unterhauses und Paulo Ferrero Minister für Wohlfahrt und Soziales. Die Mehrheit der RC meinte, durch den Eintritt in die Regierung wäre es möglich, mehr Einfluss auf jene zu haben und sie “nach links zu drücken”. Es wurde sehr schnell klar, dass stattdessen die Arbeitgeberorganisation Confindustria den Haupteinfluss darstellen würde – nicht die RC. Durch den Eintritt in die Regierung wurde dafür die RC von den ArbeiterInnen und Jugendlichen als mitverantwortlich für höhere Steuern, Angriffe auf Renten und Soziales, für prekäre Beschäftigung, niedrige Löhne, steigende Preise und eine Außenpolitik im Interesse des US-Imperialismus angesehen.

Die Führung argumentierte weiterhin, dass die RC gleichzeitig sowohl Regierungs- als auch Widerstandspartei war. Doch der Verbleib in der Regierung hatte absoluten Vorrang. Als Antwort auf jene, die die RC zum Rückzug aus der Regierung aufforderten, erklärte die Parteispitze, dass dies das Ende der RC wäre, weil damit ihr Einfluss verloren ginge. Verhasst war die Idee, dass die Partei und ihr Einfluss durch Massenkämpfe aufgebaut werden könnte. Selbstverständlich sprachen sich Vertreter der RC gegen Prodis Maßnahmen aus, teilweise erschienen sie sogar auf Demonstrationen. Doch in den Augen der ArbeiterInnen und Jugendlichen waren sie dafür verantwortlich, dass die gegen sie gerichteten Maßnahmen im Parlament durchgestimmt wurden.

In den Kommunalwahlen im Mai 2007 verlor die Partei zwei Drittel ihrer Stimmen – ein eindeutiges Zeichen, dass die Regierungsbeteiligung die Wahlunterstützung gravierend untergrub. Am 9. Juni wurden zwei konkurrierende Anti-Kriegs-Proteste gegen George Bushs Italien-Besuch in Rom abgehalten. Während sich 150.000 Menschen am von der Anti-Kriegs-Bewegung No Dal Molin (gegen eine US-Basis am Flughafen Dal Molin) und der Basisgewerkschaften – insbesondere der Cobas (Confederazione del Comitati di Base) – organisierten Protest beteiligten, floppte die zeitgleiche Veranstaltung der PRC und anderen “linken” Parteien der Prodi-Regierung. Nur eine Hand voll Menschen tauchten auf. Die RC war dabei, jegliche Glaubwürdigkeit unter den Schichten zu verlieren, die sie einst als eine entschlossene, kämpferische, antikapitalistische Partei gesehen hatten.

Schlussendlich zeigte das katastrophale Ergebnis der Parlamentswahlen von 2008 den restlosen Bankrott der Führungsmehrheit und ihrer Politik. Eine Taktik, die doch die Rechten schlagen sollte, ebnete einem dritten Berlusconi-Sieg den Weg, ließ eine Verdopplung der Unterstützung für die rechtspopulistische Lega Nord zu – die Wählerwanderungen von der RC selbst verzeichnete – und bedeutete die Wahl eines “post-faschistischen” Bürgermeisters in Rom. Eine Taktik, die den Zusammenbruch der RC verhindern sollte, beschleunigte ihren Niedergang, sobald sich die RC mit den Angriffen der Prodi-Regierung gegen die Arbeiterklasse die Hände schmutzig machte.

Die Lehren ziehen

Das Desaster, welches die RC als erste nachstalinistische, neue Arbeiterpartei ereilte, zeigt anschaulich, dass das Überleben neuer Arbeiterorganisationen nicht garantiert ist. Sie können aufsteigen und sogar Massenunterstützung erlangen, doch wenn die Führung eine falsche Politik verfolgt, können sie schnell wieder zusammenbrechen, ihre soziale Basis und jede Bedeutung verlieren. Der Zusammenbruch der RC ist ein Rückschlag für die Arbeiterklasse in Italien und international. Die Auswirkungen waren weit über die italienischen Grenzen hinaus zu spüren. Ihr Schicksal sollte mahnendes Beispiel für andere Formationen sein.

Obwohl es die RC formal noch gibt, sind ihre Wahlerfolge Geschichte, steckt sie in einer finanziellen Krise und stellt sie nicht länger einen Orientierungspunkt für ArbeiterInnen und Jugendliche auf der Wahlebene da. Ohne klassenkämpferische Massenpartei stehen die ArbeiterInnen Italiens in einer Zeit da, in der sich die ökonomische und soziale Krise wieder zuspitzt. Zusammen mit dem Bankrott der Führungen der großen Gewerkschaften kann man damit erklären, warum in Italien keine massenhaften Streiks und sozialen Bewegungen stattfanden – anders als in vielen anderen südeuropäischen Ländern infolge der Weltwirtschaftskrise von 2008. Das Versagen der RC wurde genutzt, um den Kommunismus bzw. Sozialismus zu diskreditieren und die Möglichkeit, neue Arbeiterparteien aufzubauen, zu untergraben.

Doch sogar Niederlagen können eine positive Seite haben, wenn die Gründe dafür verstanden und nicht wiederholt werden. Wie in vielen anderen europäischen Ländern steht die Arbeiterklasse Italiens vor der Aufgabe, eine neue Arbeiterpartei aufzubauen, die in der Lage ist, Massenunterstützung zu gewinnen. Das Land durchlebt eine langwierige und tiefe Wirtschaftskrise – das Wirtschaftswachstum ist das niedrigste in ganz Europa. Selbst die herrschende Klasse fürchtet, dass die Wut der ArbeiterInnen ohne eine parlamentarische, politische Vertretung auf den Straßen und Betrieben explodieren wird.

Die ersten Anzeichen, dass sich die brodelnde Frustration in Arbeitskämpfe verwandelt, konnte man im Transport- und Kommunikationssektor und der Gig-Economy feststellen. Es sind zersplitterte und hauptsächlich Abwehrkämpfe, doch sie sind Vorboten der zukünftigen ökonomischen und gesellschaftlichen Kämpfe, die die Basis für die wirkliche “kommunistische Wiedergründung” sein werden, das heißt für den Aufbau einer kämpferischen, antikapitalistischen Massenarbeiterpartei, einer Partei, die Klassenkollaboration ablehnt und mit einem sozialistischen Programm bewaffnet ist, welches die täglichen Kämpfe der Arbeiterklasse mit der Aufgabe der revolutionären Veränderung der Gesellschaft verbindet.

Es gibt zweifelsohne viele AktivistInnen, die müde sind; die nach der Niederlage der RC kein Vertrauen in den Aufbau einer neuen Alternative setzen. Doch es gibt andere, die bereit sind zu kämpfen. Jene, die gewillt sind zu kämpfen und eine revolutionäre Alternative in Italien aufzubauen, müssen ihre Kräfte auf die ArbeiterInnen, Jugendlichen und frischen Schichten orientieren, die in die nächsten Kämpfe ziehen werden. Das wird nicht einfach und unkompliziert. Die Lehren aus dem Aufstieg und Fall der RC zu ziehen, wird ein wesentlicher Teil dieses Prozesses sein.

Exkurs: Die Opposition innerhalb der PRC

Die Rolle, die Oppositionsgruppen innerhalb der RC von ihrem Aufstieg und bis zu ihrem Niedergang gespielt haben, sind äußerst lehrreich. Bei ihrer Gründung war die RC eine sehr demokratische Partei, in welcher es allen politischen Strömungen erlaubt war, ihre eigenen Ideen vorzustellen – intern als auch öffentlich. Programmatische “Bereiche” bekamen finanzielle Unterstützung durch die Partei und bis in die späten 1990er Jahre wurden ihnen Sitze in nationalen Gremien durch eine Form der proportionalen Repräsentation zugewiesen.

Zwei der größten Oppositionsgruppen der trotzkistischen Tradition waren Progetto Comunista, heute organisiert als PCL (Partito Comunista dei Lavoratori), und die italienische Sektion des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale, Bandiera Rossa/Sinistra Critica. Hätten diese Organisationen eine korrekte Politik und Taktik angewandt, als sie noch in der RC waren, wären sie heute in einer starken Position, den Aufbau einer wirklichen, klassenkämpferischen, antikapitalistischen Arbeiterpartei zu beeinflussen. Begründet durch ihre Fehler war der Oppositionskampf innerhalb der RC leider geschwächt. Sie haben heute nicht die Kräfte, das Programm oder die Taktik, die ihnen eine Schlüsselrolle im Aufbau einer neuen Arbeitermassenpartei erlauben würde. Als sie zu den Wahlen im April 2008 (separat) angetreten sind, bekamen sie zusammengenommen lediglich ein Prozent der Stimmen.

Die Art und Weise, wie sie die RC verlassen haben, ist ein Indikator für ihre falsche Herangehensweise. Die Kräfte der Vierten Internationale verließen die Partei 2007, als ihr Senator Franco Turigliatto ausgeschlossen wurde. Er hatte zuvor gegen die Außenpolitik der Regierung gestimmt, inklusive der Truppenfinanzierung in Afghanistan. Sinistra Criticas Entscheidung, die Partei zu verlassen, war ausschließlich auf subjektive Anliegen der eigenen Organisation und nicht auf die objektive Situation, das Bewusstsein der ArbeiterInnen oder den Klassenkampf zurückzuführen. Ihr Senator wurde ausgeschlossen, also waren alle “Turigliatti” und mussten aus Solidarität austreten. Das bedeutete, dass Sinistra Critica die RC verließ, ohne einen wirklichen Kampf gegen den Ausschluss zu führen. Es geschah zudem zu einer Zeit, in der eine bittere und wichtige Schlacht um die Zukunft der Partei geführt wurde.

Warum sie die RC verlassen hat, konnte nicht voll nachvollzogen werden. Die Truppenfinanzierung in Afghanistan war eine wichtige Frage, doch wurde sie von der Mehrheit der ArbeiterInnen nicht priorisiert. In einer Umfrage aus der Zeit gaben lediglich sechs Prozent der Menschen an, dass das für sie ein Hauptthema war. Weitaus wichtiger waren wirtschaftliche Sorgen um die Themen Löhne, Arbeitsplätze und Renten.

Innerhalb der RC schwankte Sinistra Critica/Bandiera Rossa von Opposition zu opportunistischer Unterstützung für die Führungsmehrheit und wieder zurück zur Opposition. Auf dem vierten Parteitag (März 1999) – nachdem die RC der ersten Prodi-Regierung die Unterstützung entzog – wurde sie unkritischer Teil der Bertinotti-Mehrheit. Während der Anti-Globalisierungs-Bewegung veröffentlichte sie ganze Reden von Bertinotti ohne politische Kritik. Nicht gerade überraschend konnte sich Sinistra Critica an der Basis nicht groß aufbauen und verließ die Partei mit wenigen hundert Mitgliedern. Seitdem hat sie sich in zwei Gruppen gespalten, welche die Notwendigkeit einer revolutionären Partei ablehnen.

Im Gegensatz zu Sinistra Critica stand Progetto konsequent gegen die Führungsmehrheit – und zwar in jeder Frage. Doch ihre Kritik wurde nicht von einem konkreten alternativen Programm begleitet, welches das Bewusstsein der Arbeiterklasse berücksichtigte. Während der ersten Berlusconi-Regierung riefen sie zum Beispiel zum unbefristeten Streik auf. Doch sie antworteten nicht auf die Frage, die sich die ArbeiterInnen darauf offensichtlich stellten: “Wenn Berlusconi geht, was wird ihn ersetzen?” Sie stellten dem nicht die Alternative einer Arbeiterregierung entgegen.

Einen ähnlichen Fehler machten sie auf dem Parteitag 1998, als sie einen Oppositionsantrag für das Ende der Unterstützung der Prodi-Regierung einbrachten. Der Antrag berücksichtigte nicht die Stimmung der Mehrheit der ArbeiterInnen, welche zu dieser Zeit eine Rückkehr der Rechten fürchteten und die Regierung nicht stürzen sehen wollten. Stattdessen hätte man fordern können, dass die PRC zunächst weiterhin die Regierung an der Macht hält, aber jede Maßnahme gegen die Arbeiterklasse kritisiert und selbige dagegen mobilisiert. Da sie das Denken der ArbeiterInnen nicht in Betracht zogen, gaben sie Bertinotti eine mächtige Waffe gegen die Opposition. Der Progretto-Antrag bekam 16 Prozent der Stimmen. Bei einer korrekten Position hätte er sehr viel mehr bekommen können.

Die Unfähigkeit, bei der Aufstellung von Programm und Taktik das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu berücksichtigen, bestätigte sich aufs Neue, als sie die Partei verließen. Die größere Progretto-Gruppe (sie hatten sich bereits zuvor gespalten) beschloss 2006, die Partei zu verlassen – gerade als die Prodi-Regierung an die Macht kam. Sie hatte ihren Austritt nicht politisch vorbereitet und den ArbeiterInnen vorher ihren Schritt erklärt. Zudem war der Zeitpunkt des Austritts so gewählt, dass er nicht nachvollzogen werden konnte. Obwohl es keine riesigen Illusionen in die Prodi-Regierung gab, waren sich viele ArbeiterInnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht des Klassencharakters der Regierung bewusst. Ihr Bewusstsein änderte sich rapide als die Regierung anfing, neoliberale Politik umzusetzen. Doch Progretto hatte bereits den Fehler gemacht, die eigene Taktik auf das eigene Bewusstsein zu gründen und nicht auf das der Arbeiterklasse. Jetzt ist Progretto zur PCL geworden. Mit ein paar hundert Mitgliedern beansprucht sie, selbst die neue Arbeiterpartei zu sein.

Weder Sinistra Critica/Bandiera Rossa noch Progretto agierten als einheitliche, organisierte, revolutionäre Oppositionsgruppen mit klarem Programm und klarer Taktik, welche in der Lage gewesen wären, die Basis der PRC für sich zu gewinnen und unter der Arbeiterklasse und Jugend eine Massenbasis aufzubauen. Ihr Versagen hat zur Schwächung der Arbeiterklasse Italiens beigetragen. Diese strebt hingegen danach, ihre eigene unabhängige politische Vertretung wiederaufzubauen.

Das Buch „Die Linke international“ ist im Manifest-Verlag erschienen und enthält Beiträge zu linken Parteien und Bewegungen in verschiedenen Ländern Europas,, Nord- und Südamerikas.

Erste Ministerin der Weltgeschichte

Über Leben und Werk von Alexandra Kollontai
Steve Hollasky, Dresden

Als Alexandra Kollontai am 9. März 1952 verstarb, nahm die Weltöffentlichkeit keinerlei Notiz von ihrem Tod. In der UdSSR weigerte sich die gesamte Presse, einen Nachruf auf Kollontai zu verfassen.

Im Grunde war das kein Wunder, war die gesamte sowjetische Presselandschaft durch die politische Konterrevolution Stalins in den zwanziger Jahren doch gleichgeschaltet worden. Trotz ihrer Anpassung an den Stalinismus war Kollontai längst keine Person mehr, an die man sich erinnern sollte, also sparte man sich jeden Kommentar.

Dabei ist Kollontais Leben eng verbunden mit der Revolution in Russland und der internationalen ArbeiterInnenbewegung, die Kollontai so häufig kritisiert hatte, weil sie sich für das Leben der Arbeiterinnen viel zu wenig interessieren würde, so Kollontais Wahrnehmung und weil sie zu wenig für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern kämpfen würde. „Ohne Sozialismus keine Gleichstellung der Frau und ohne Gleichstellung der Frau kein Sozialismus“, so ihr ebenso oft wiederholter wie einprägsamer Merksatz.

Kollontais Leben war nicht ohne Widersprüche: Sie entstammte der russischen Upperclass und stellte sich auf die Seite der Unterdrückten; sie konnte sich zwischen Menschewiki und Bolschewiki lange nicht entscheiden, aber brannte von aktionistischer Ungeduld; sie war lange eine aufrechte Revolutionärin und reihte sich dennoch in Stalins Parteiflügel ein.

Umgeben von Dienstboten

Kollontai hätte es in ihrem Leben wesentlich leichter haben können. Ihr Vater war ein Militär im Generalsrang und entsprechend wuchs sie in einem Herrenhaus in St. Petersburg heran. Umgeben von Dienstboten, Köchen und Kindermädchen erblickte sie im März 1872 das Licht der Welt. Während sie in schönen Kleidern behütet im Garten spielte, rafften Hunger, Krankheiten und Verwahrlosung ungezählte Kinder aus Arbeiter- und Bauernhaushalten dahin, ohne dass davon überhaupt Notiz genommen wurde. Kollontais Schulbildung war exzellent; während dessen konnten 75 Prozent der russischen Bevölkerung bestenfalls den eigenen Namen schreiben.

Renommierte Privatlehrer unterwiesen das wissbegierige Mädchen in Literatur und Mathematik. Neben ihrer Muttersprache lernte Kollontai Finnisch, Englisch, Französisch – die Sprache der europäischen Herrenhäuser war ein Muss in jener Klasse, der Kollontai entstammte – und Deutsch. Wie es sich für Familien wie jener von Alexandra Kollontai gehörte, hielten die Eltern bereits Ausschau nach einem adligen Gatten für ihre junge Tochter.

Nur wenig deutete daraufhin, dass ihr Leben anders verlaufen sollte, als von allen erwartet und verlangt. Vielleicht nervten die junge Frau auch die ellenlangen Verhaltensvorschriften, denen sie sich auf all den Bällen und in den Theaterbesuchen zu unterwerfen hatte, die man für sie organisiert hatte, einfach zu dem Zweck einen „guten“ Ehemann zu finden, was auch immer in diesem Zusammenhang „gut“ bedeuten sollte. Entgegen diesen Erwartungen suchte sie sich selbst ihren Geliebten aus, der überhaupt nicht den Ansprüchen ihrer Eltern genügte:

Wladimir Kollontai war polnischer Abstammung, im zaristischen Russland war das schon Grund genug für Ablehnung und Hass. Noch dazu war Wladimir Kollontai auch noch weitgehend mittellos – ganz anders als die junge Frau aus gutem Hause, deren Eltern die Hände über den Köpfen zusammenschlugen, ob der Partnerwahl ihrer geliebten Alexandra. Sie ließen nichts unversucht, um die nicht ebenbürtige Beziehung der beiden zu beenden, doch Alexandra setzte sich durch. Schon 1893 läuteten die Hochzeitsglocken und ein Jahr später brachte Alexandra Kollontai ihren Sohn Michail zur Welt.

Unerträglichkeit der herrschenden Verhältnisse

Wann und wo Kollontai mit marxistischen Ideen erstmals in Berührung kam ist vielfach diskutiert worden. Häufig wird das Gymnasium in St. Petersburg, wo sie nach Jahren des Hausunterrichts ihren Abschluss machte, genannt. Sicher ist das nicht. Eines jedoch ist unumstritten. Kollontai zeichnete in ihrem ganzen Leben ein ehrliches Mitgefühl mit Armen und Unterdrückten aus. Menschliches Leid empfand sie als eigene Verletzung. Unter den Ungerechtigkeiten, die der Kapitalismus tagtäglich produziert, kann das schon reichen, um auf ewig mit den existierenden Machtverhältnissen zu brechen.

Kollontai selbst beschrieb häufig den Besuch einer estnischen Textilfabrik 1896 als eine Art von Erweckungserlebnis. Was sie dort erlebte, hatte die wohl behütete Alexandra Kollontai noch nie aus der Nähe gesehen.

Die Industrie in Russland wuchs in jenen Jahren rasant. Mit ihr wuchsen Russlands Städte und in ihnen wuchsen ebenso schnell die Klassenunterschiede heran. Nur fünf Prozent der russischen Bevölkerung waren ArbeiterInnen, aber sie produzierten die Hälfte des Nationaleinkommens des Riesenreiches. Die Besitzer der an sich hochmodernen Fabriken waren meistens Ausländer. Eine russische Kapitalistenklasse gab es in dem Sinne des Wortes, bis auf wenige Ausnahmen, nicht. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren erschreckend, ganz egal, ob die Besitzer Russen waren – wie Putilow oder, was weitaus häufiger der Fall war, Engländer oder Franzosen. Noch immer war die russische ArbeiterInnenbewegung schwach, illegal und wurde brutal durch den Staatsapparat des Zaren verfolgt. Für viele KapitalistInnen war dies der Grund, in Russland zu produzieren. Sie flohen quasi vor den in ihren Ländern erstarkenden ArbeiterInnenorganisationen ins noch immer absolutistische Russland.

Nichts und niemand konnte sich gegen die erbärmlichen Bedingungen zur Wehr setzen, unter denen die FabrikarbeiterInnen dahinvegetierten. Sogar Familien schliefen vielfach in modrigen Sälen, auf stinkenden Pritschen, von der Arbeit ausgelaugt, unterernährt und oft krank. Viren und Bakterien hatten leichtes Spiel mit den bedauernswerten Menschen, die dort leben mussten.

Kollontai wollte sehen

Niemand hatte Kollontai gezwungen, diese Schlafstätten zu besuchen. Die meisten Menschen ihres Standes vermieden derartige Begegnungen, schon aus Furcht sich mit Seuchen zu infizieren. Kollontai hingegen wollte ihre Augen nicht verschließen. Und was sie sah, erschütterte sie.

Kleine Kinder tapsten verwahrlost die engen Gassen zwischen den Betten entlang. Als sie sich einem mitleiderregenden Jungen widmete, der wie ihr eigener Sohn etwa drei Jahre alt war und still auf seiner Pritsche lag, stellte sie schockiert fest, dass der kleine Junge längst gestorben war. Niemand schien das auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Kollontai verstand, anders als ihre StandesgenossInnen, dass diese Zustände nicht im mangelnden Mitgefühl plumper und dumpfer Menschen begründet waren, sondern dass die sozialen Verhältnisse Bedingungen schufen, unter denen der Tod auch eines Kindes kaum noch von Interesse ist, weil jede und jeder täglich um sein eigenes Überleben kämpfen musste.

Für Kollontai war dies der Stein, der die Lawine ins Rollen brachte. Sie war nicht bereit diese Situation weiter zu dulden!

Sie verließ ihren Mann und immatrikulierte sich an der Universität in Zürich. Das Studium war jedoch zweitrangig für sie. Längst hatte sie Kontakt zur marxistischen ArbeiterInnenbewegung aufgenommen. Sie las die Klassiker und zeitgenössische Literatur, trat der SDAPR bei und diskutierte mit Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und Luise Kautsky. Die westeuropäische Sozialdemokratie wurde von Kollontai wiederholt mit harten Worten attackiert: Sie interessiere sich einfach zu wenig für das Los der Arbeiterinnen.

Nicht selten von ihrem Sohn begleitet, reiste sie von Frauenkongress zu Frauenkongress durch halb Europa, hielt Reden und publizierte mit zunehmendem Erfolg in der sozialistischen Presse Westeuropas.

Kollontai und Lenin

Es soll 1905 gewesen sein, als Kollontai erstmals Lenin begegnete. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die junge Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAPR) bereits in Flügelkämpfen zerlegt. Lenin war einer der Hauptprotagonisten und führte den revolutionären Flügel der SDAPR an. Kollontai war durchaus begeistert von Lenins Charisma und seiner Fähigkeit, Probleme tiefgehend zu durchdringen. Dennoch gehörte sie in den nächsten Jahren zu den WarnerInnen vor Lenin, weil sie seine Aktivitäten als spalterisch ansah.

Wenn sie auch selten inhaltlich Stellung bezog zum Streit zwischen den zwei Hauptfraktionen innerhalb der SDAPR, bezog sie letzten Endes auf diese Weise dennoch Stellung in dieser Auseinandersetzung.

Dabei war der Streit in der russischen Sozialdemokratie alles anderes als unwichtig, oder nebensächlich und keineswegs nur persönlich motiviert, wie damals so mancher sozialdemokratischer Funktionär im Westen vorschnell urteilte. Die Leninsche Strömung, die Bolschewiki, setzten auf eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft; die Menschewiki hingegen, verfolgten einen reformistischen Ansatz. In jenem Jahr als Kollontai Lenin traf, 1905, wurden beide Positionen in der Praxis getestet. In Russland war Revolution: ArbeiterInnen bildeten Räte, Leo Trotzki leitete den Petersburger Sowjet, Einheiten der Armee liefen zur Revolution über und der Zar musste unter dem Druck der Massen auf den Straßen ein Zugeständnis nach dem anderen einräumen: Ein Parlament, die Duma sollte gewählt werden, ArbeiterInnenorganisationen wurden legalisiert und eine Verfassung mit Grundrechten versprochen. Die Menschewiki verlangten, dass das Proletariat gemeinsam mit der – de facto nicht existenten – kapitalistischen Klasse eine reformistische Transformation des Zarenreichs hin zu einer parlamentarischen Demokratie vornehmen sollte. Im Grunde sollten sich die ArbeiterInnen in ihren Forderungen selbst begrenzen. Diese Strategie war schon deshalb undurchführbar, weil sich die wenigen KapitalistInnen Russlands, im Gefühl der eigenen Schwäche, eher an den zaristischen Staatsapparat anlehnten, als mit den ArbeiterInnen, deren potentielle Stärke sie fürchteten, gemeinsam gegen den Absolutismus des Zaren zu kämpfen.

Lenin propagierte damals die „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“, da er wusste, dass nur diese beiden Klassen ein Interesse an echten Veränderungen in Russland hatten.

Kollontai beschäftigten diese Fragen nur am Rande. Das war schon insofern eigentümlich, als gerade Arbeiterinnen in Russland über diese Probleme nachdachten und darüber stritten. Kollontais politische Vorbehalte gegenüber Lenins Positionen versperrten ihr lange Zeit den Weg zum revolutionären Flügel der SDAPR.

Kollontais Weg zu den Bolschewiki

Der argentinische revolutionär Ernesto Che Guevara sagte einmal, er lerne empirisch – durch Erfahrung also. Scheinbar war es bei Alexandra Kollontai genauso. Und je mehr sie als Kämpferin agierte, desto mehr näherte sie sich den Positionen der Bolschewiki an.

Sie war 1908 anlässlich eines Frauenkongresses nach Russland zurückgekehrt. Ihre Rede war derart mutig und revolutionär, dass die im Saal anwesende Geheimpolizei „Ochrana“ sie noch an Ort und Stelle in Haft nehmen wollte. In letzter Minute konnte sich Kollontai der Verhaftung durch Flucht entziehen. Eine Flucht, die sie durch halb Europa führen sollte. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, hielt sich Kollontai gerade in Deutschland auf. Nun saß sie im kaiserlichen Deutschen Reich fest und weigerte sich – wie Lenin, der gerade im Schweizer Exil war – die Meldungen zu glauben, die da über sie hereinbrachen: Die Reichstagsfraktion der SPD trug den Kriegskurs der eigenen Regierung mit. Kein Ausscheren, kein Widerstand mehr, obwohl noch ein paar Wochen zuvor Hunderttausende gegen den drohenden Krieg demonstriert hatte, keine Streiks. Die Führung der SPD marschierte mit und die II. Internationale zerfiel.

Während die Führungen der sozialdemokratischen Parteien – abgesehen von den serbischen und russischen GenossInnen – den Kriegskurs verteidigten und während auch Anarchisten wie Erich Mühsam entschieden für den Krieg trommelten, reihte sich Alexandra Kollontai ins Lager der KriegsgegnerInnen ein. Sie organisierte in Deutschland Antikriegstreffen für Arbeiterinnen. Schnell geriet sie damit ins Visier der Polizei, die – obwohl der Krieg nun lief und man gegen Russland hetzte – mit den zaristischen Behörden zusammenarbeitete und Kollontai nach Russland abschieben wollte, wo ihr Haft und Verbannung drohten. Die Herrschenden arbeiteten selbst in Kriegszeiten gemeinsam gegen die Unterdrückten!

Die persönliche Intervention Karl Liebknechts ermöglichte jedoch Kollontais Ausreise nach Dänemark, von wo sie mit der Zwischenstation Schweden nach Norwegen ging. Dort arbeitete sie unermüdlich an dem Versuch, eine Opposition gegen den Kriegskurs der Führungen der sozialdemokratischen Parteien aufzubauen.

Noch in Norwegen wurde sie – wie noch häufiger in ihrem Leben – ein Opfer der Gerüchteküche. Sie verliebte sich in Alexander Schljapnikow, einen Vertrauten Lenins, der zu dieser Zeit in Norwegen weilte. Gleichzeitig beschäftigte sich Kollontai mit Lenins Positionen zum Krieg. Als sie öffentlich erklärte, dass dessen Idee den Weltkrieg in einen „Weltbürgerkrieg“ umzuwandeln – die Waffen, die sich in der Hand der Massenheere des Krieges befanden, gegen die Herrschenden zu kehren – von ihr geteilt wurde, waren die Schockwellen, die sie innerhalb des gemäßigten Flügels der Sozialdemokratie hinterließ, groß. Und als fiele ihren Gegnern nichts Besseres ein, war die Erklärung, die man allerorten vernahm, ihre Affäre mit Schljapnikow. Dass sich eine Frau aus anderen Gründen für bestimmte politische Positionen entschied, schien einem großen Teil der kriegsbefürwortenden sozialdemokratischen Funktionäre einfach nicht glaubwürdig.

Revolution

Nach der Februarevolution stürzte sich Kollontai sofort in den Kampf: Sie eilte nach Petrograd und zog Reden haltend von Stadtteil zu Stadtteil und von Betrieb zu Betrieb. Lenins Ankunft aus dem Exil nahm sie als Einschnitt wahr. Sofort ergriff sie Partei für seine „Aprilthesen“, die den Sturz der provisorischen Regierung proklamierten; ebenso wie die Machtergreifung durch die ArbeiterInnen- und Bäuerinnen- und Bauernräten.; Landverteilung an arme Bauernfamilien und ArbeiterInnenkontrolle in den Betrieben. Im Grunde wandte Lenin Trotzkis Theorie der „permanenten Revolution“ an, die proklamierte, dass die Schwäche der Kapitalistenklasse Russlands eine bürgerliche Revolution unter deren Führung unmöglich mache und daher die ArbeiterInnenklasse diese Aufgaben zu übernehmen habe. Diese könne aber bei der Etablierung einer kapitalistischen Gesellschaft nicht stehen bleiben, sondern müsse die Revolution in Permanenz zur sozialistischen weiterentwickeln.

Für Kollontai waren diese Ansichten nun unumstritten. Nun gehörte sie zu den ungeduldigen Teilen der Bolschewiki. Selbst als Lenin und Trotzki im Juli 1917 die aufstandsbereiten Massen der russischen Hauptstadt bremsten, aus der berechtigten Furcht heraus, die Erhebung komme zu früh, wollte Kollontai davon  nichts hören. Als Lenin vom Balkon der Villa Kscheschinskaja, dem Hauptquartier der Bolschewiki aus, den dahin geströmten Massen zurief, der Zeitpunkt zur Erhebung sei noch nicht gekommen, war sie wie viele um sie herum schwer enttäuscht. Sie forderte die Massen auf, dennoch zu handeln. Doch der Zeitpunkt war zu früh. Die Erhebung wurde besiegt, Lenin musste fliehen, Trotzki wurde in die Peter- und Pauls-Festung verschleppt. Auch Kollontai geriet in Haft. Erst der Sieg der Bolschewiki gegen den Putschversuch des zaristischen Generals Kornilow ermöglichte ihre Befreiung.

Rat der Volkskommissare

Nach dem siegreichen Aufstand im Oktober 1917 holte Lenin Kollontai – allen Differenzen zum Trotz – in die erste Sowjetregierung. Im „Rat der Volkskommissare“ war sie zuständig für soziale Wohlfahrt. Kollontai war damit weltweit die erste Frau auf einem Ministerposten. Damit hatte sie nicht nur zahlreiche völlig neue Aufgaben zu bewältigen, sie konnte auch erstmals ihre Ansichten Realität werden lassen. Die Verbesserungen für Frauen im Zuge der russischen Revolution – unter der Leitung von Kollontai –  waren gewaltig.

Öffentliche Küchen wurden eingerichtet, Kindererziehung sollte öffentliche Aufgabe werden. Erstmals wurden in großen Stil reformpädagogische Ansätze erprobt. Ein Schritt, auf den sich die Bildungsministerien der westlichen Welt bis heute nicht einigen konnten. Obwohl ihre Ziele selbst innerhalb der Bolschewiki häufig als viel zu weitgehend wahrgenommen wurden, unterstützte Lenin ihre Aktivitäten immer wieder. Und natürlich hieß es im Lager der Revolutionsgegner und des gemäßigten Flügels der ArbeiterInnenbewegung wieder, Kollontai sei Lenins Geliebte.

Sie, die in Wahrheit längst mit Dybenkow, dem 17 Jahre jüngeren Kommandeur der Kronstädter Matrosen liiert war, interessierte das Getuschel wenig. Sie setzte mit Lenins Hilfe die Vereinfachung des Scheidungsrechts durch, beschlagnahmte mit Hilfe der Roten Matrosen Klöster und quartierte ledige Mütter und Waisenkinder dort ein.

Als sie im Januar 1918 gemeinsam mit Dybenkow alles stehen und liegen ließ, um auf der Krim zu heiraten, machte schnell der Ruf von Desertation die Runde. Nicht wenige verlangten für Kollontai und Dybenkow entsprechende Parteistrafen. Lenin intervenierte und glättete die Wogen. Kollontai und Dybenkow entstanden keinerlei Nachteile. Mit nicht wenig spitzer Ironie „verurteilte“ Lenin beide in einem Gespräch hinter verschlossenen Türen zu gegenseitiger fünfjähriger Treue.

Sexualmoral

Doch auch Lenin gingen Kollontais Ansichten häufig zu weit: Beispielsweise als sie vom Rat der Volkskommissare forderte, gesetzliche Grundlagen für das Zusammenleben in Kommunen zu schaffen, in denen Kinder gemeinsam aufgezogen und freie Liebe praktiziert wurde. Für Kollontai waren solche Überlegungen integraler Bestandteil ihrer Suche nach den Formen des Zuammenlebens in der befreiten Gesellschaft. Liebe und Sexualität würden sich, so ihre feste Überzeugung verändern: „Jede geschichtliche (und daher ökonomische Epoche in der Entwicklung der Gesellschaft hat ihr eigenes Eheideal und ihre eigene Sexualmoral […] Unterschiedliche wirtschaftliche Systeme haben unterschiedliche Moralkodizes. […]  Je fester die Grundsätze des Privateigentums etabliert sind, desto strikter ist der Moralkodex.“

Was Kollontai dem bürgerlichen Eheideal entgegen hielt, liest sich auch heute noch – in einer Zeit, in der selbsternannte Moralwächter von Rechtsaußen am liebsten jede Errungenschaft der Frauenbewegung infrage stellen wollen – unglaublich modern. Die Über- und Unterordnungen, die Abhängigkeiten wollte Kollontai überwinden. Menschliche Beziehungen sollten nach ihrem Willen drei Grundlagen haben: „1. Gleichheit in den Beziehungen … 2. beiderseitige Anerkennung der Rechte des anderen, der Tatsache, dass niemand des Anderen Herz und Seele besitzt (jenes Gefühl des Eigentums, das sich in der bürgerlichen Kultur entwickelt hat), 3. genossenschaftliche Sensibilität, das Vermögen, sich in die Vorgänge der Seele des vertrauten und geliebten Menschen hineinzuversetzen und sie zu verstehen (die bürgerliche Kultur forderte diese Feinfühligkeit in der Liebe nur von der Frau).“

Trotzdem soll Lenin wenig begeistert gewesen sein. Die Konterrevolution griff der Sowjetmacht mit ihrer mächtigen Hand erbarmungslos an die Gurgel. Das und die Tatsache, dass sich Kollontais Pläne ausschweifend anhörten, machte Lenin skeptisch. Allerdings zeichnete die Sowjetmacht damals aus, dass sie auch Dinge ermöglichte, die nicht unbedingt den Ansichten der führenden Personen in den Bolschweiki, den Linken Sozialrevolutionären oder dem Rat der Volkskommissare entsprachen.

Lenin und Trotzki waren sich durchaus darüber im Klaren, dass der Sowjetstaat auch Labor für das zukünftige Zusammenleben sein müsse. Die Kommunehäuser wurden ins Leben gerufen.

Dennoch kam es zwischen Kollontai und Lenin zum Zerwürfnis. Im März 1918 legte die erste Ministerin der Welt ihre Ämter aus Protest gegen den Friedensschluss von Brest-Litowsk nieder. Wie der linke Flügel der Bolschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre, verlangte sie einen – damals völlig aussichtslosen „revolutionären Volkskrieg“ gegen die deutsche Kaiserliche Armee.

Noch einmal würden Lenin und Kollontai eng zusammenarbeiten. Als Vorsitzende der Frauenabteilung im Zentralkomitee der Bolschewiki setzte sie mit ihm gemeinsam ein Gesetz zur Straffreiheit von Abtreibungen durch, welches selbst innerhalb der Führungsebenen der Partei hoch umstritten war. Nur ein Jahr später jedoch, auf dem Parteitag der Bolschewiki 1921 warf sie ausgerechnet Lenin und Trotzki – die die Bürokratisierung von Partei und Staat bekämpften – vor, sie würden genau diese Entwicklung betreiben. Nun war der Bruch endgültig.

Unterwerfung unter Stalin

Kollontais Leben bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhundert hinein war ein steter Akt der Rebellion gegen ihr vorgesetzte Autoritäten: Ihre Familie, die russische Gesellschaft, die Führung der II. Internationale. Sie verspürte keine Scheu alles zu kritisieren und sich auch innerhalb der Bolschewiki heftige Auseinandersetzungen zu liefern. Selbst Lenin griff sie – in diesem Falle nicht selten ungerechtfertigt, aber dennoch mutig und entschlossen – an. Als Stalins Aufstieg nach Lenins Tod die Errungenschaften der Oktoberrevolution auf allen Gebieten infrage stellte, schloss sie sich zunächst der „Arbeiter-opposition“ an. Sie verfasste, zu diesem Zeitpunkt als Botschafterin im Ausland tätig, programmatische Schriften für diese Fraktion innerhalb der Bolschewiki.

Doch im Laufe des Jahres 1927, als sich die Bürokratie in Stalins Gefolge durchsetzte, als jene von demokratischen Kontrollmechanismen gänzlich unberührte Schicht, privilegierter Funktionäre die Macht über Partei und Staat endgültig an sich riss; als Revolutionäre wie Karl Radek oder Leo Trotzki in die Verbannung geschickt wurden und Stalins Hauptgegner innerhalb der Partei, die „Linke Opposition“ zerschlagen wurde, senkte Kollontai ihr bislang so stolzes Haupt vor dieser neuen Autorität.

Sie kritisierte und bekämpfte Stalin weder, als der das Scheidungsrecht wieder wesentlich erschwerte und das Abtreibungsrecht abschaffte. Auch dann nicht, als er alle reformpädagogischen Konzepte aus den Bildungs- und Erzeiehungseinrichtungen verbannte und dort ein rauer Ton von Gehorsam und Unterwerfung Einzug hielt. Kollontai schaute weg, als die Frauenabteilung im Zentralkomitee der Bolschewiki durch Stalin aufgelöst wurde und als zahlreiche Freundinnen und Freunde im Gulag endeten. Auch die Auflösung der Kommunehäuser kommentierte Kollontai nicht.

Sie frisierte ihre Lebenserinnerungen so häufig, dass es HistorikerInnen nach ihrem Tod schwer fiel die ursprüngliche Fassung herzustellen. Damit nahm sie sich jede Möglichkeit ihre eigenen Ansichten zur politischen Konterrevolution Stalins wenigstens nach ihrem Tod der Nachwelt darzustellen. Ihre angeblichen Erinnerungen strotzen vor Fälschungen und bewusst formulierten Ungenauigkeiten. Doch am vielleicht Erschreckendsten ist, dass sie selbst als Dybenkow, der Mann mit dem sie einst in Richtung Krim „durchbrannte“, von Stalin ermordet wurde, schwieg. Zu diesem Zeitpunkt hatten beide sich bereits getrennt, waren jedoch weiterhin sehr eng befreundet.

So sah Kollontai untätig zu, als in den letzten 25 Jahren ihres Lebens Stalins Bürokraten ihr Lebenswerk fast komplett zerstörten. Dass sie den Maßnahmen Stalins innerlich voll zustimmte, ist nicht wahrscheinlich. Doch sie protestierte, anders als Leo Trotzki oder auch Clara Zetkin – nie öffentlich gegen Stalins Repressionen.

Das dahinterstehende Motiv liegt im Dunkeln: War es die Angst vor dem Verlust ihrer eigenen Privilegien? Furcht vor Stalins Henkern? Wollte sie dem Ansehen des ersten Staates, der den Kapitalismus überwunden hatte, nicht schaden? Was auch immer Kollontai dazu veranlasste Stalin nie in die Parade zu fahren, es stellt ihr gesamtes Lebenswerk zur Disposition.

Was bleibt?

Doch die Kollontai der 30er und 40er Jahre war nicht die ganze Alexandra Kollontai. Kennt man ihr Leben, so bleibt sie auch eine entschlossene Kämpferin für die Sache der Unterdrückten, für Frauenrechte und für eine entschiedene Verbesserung der Bildung. Man darf auch nicht vergessen, dass Alexandra Kollontai nicht die einzige Bolschewistin war, die vor Stalin kapitulierte; Radek, Sinowjew, Kamenjew, Bucharin – und viele mehr hielten dem Druck Stalins und den Verlockungen der Privilegien nicht stand. Sie alle bezahlten diesen persönlichen Kurs am Ende mit dem Leben und mit der Zerstörung der Werte und Ideen, für die sie ein Leben lang gekämpft hatten.

Dennoch werden die Ideen Kollontais über das Zusammenleben in der Familie, über die Gleichstellung von Frau und Mann, über Pädagogik ein Teil des revolutionären Erbes der ArbeiterInnenbewegung bleiben. Ihr entschlossenes Eintreten für die Interessen der Arbeiterinnen muss heute wie damals Auftrag für uns alle sein.

Dass der Sowjetstaat unmittelbar nach 1917 ihren Versuchen so viel Raum gab, zeigt ebenso wie das Verhalten Lenins Kollontai gegenüber, dass so manches Märchen der bürgerlichen Geschichtsschreibung über die toleranzlose Härte von Lenin und Trotzki eben nur ein Märchen ist. Entscheidungen trafen nicht eine Handvoll abgehobener „Führer“, sondern die ehemaligen Unterdrückten, die sich in Sowjets organisiert hatten. Dass zahlreiche Maßnahmen für ein erneuertes Zusammenleben von Menschen zustande kamen war diesem Umstand zu verdanken; dass so mancher Versuch im Ansatz stecken bleiben musste, war den widrigen Umständen geschuldet, unter denen die Revolution voranzuschreiten hatte: In einem unterentwickelten Land; bedroht von konterrevolutionären Armeen aus dem In- und Ausland. Dass es den Bolschewiki in ihrer Mehrheit sehr ernst war mit einer Veränderung des Geschlechterverhältnisses zeigt nicht zuletzt auch die Rolle, die Alexandra Kollontai in diesen Ereignissen gespielt hat.

Franz Kafka: Schriftsteller und Revolutionär

Aktivistin der SLP

Am 3. Juli 2018 jährt sich der Geburtstag Franz Kafkas zum 125. Mal. Der in Südböhmen (heutiges Tschechien) geborene Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie zählt bis heute zu einem der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und der deutschen Literatur. So bekannt seine literarischen Werke auch immer noch sind, über seine politische Haltung und sein politisches Engagement ist kaum etwas bekannt. Bereits als Jugendlicher kam er mit sozialistischen Ideen in Berührung und trug fortan an eine Rote Nelke am Knopfloch, ein Symbol der Arbeiterinnenbewegung - dies trotz des Schulverweises seines Schulfreundes Ruldolf Illowy, der wegen „sozialistischer Umtriebe“ von der gemeinsamen Schule verwiesen wurde.

Kafka kam im Zuge seiner Beamtentätigkeit in einer halbstaatlichen Versicherungsanstalt mit der Not der ArbeiterInnenschaft in Berührung, und setzte sich für arbeitsrechtliche Verbesserungen ein. In einem Brief an seine Freundin Milena Jesenská 1920, bekundete er seine Bewunderung für die Bolschewiki und ihre Rolle in der Russischen Revolution, vor allem ihren internationalistischen revolutionären Anspruch lobte er. Trotz dieser Sympathiebekundungen gegenüber der Bolschewiki, ist kein näherer Kontakt zwischen ihm und der tschechischen Kommunistischen Partei bekannt.

Allerdings sind Kontakte zu tschechischen libertären SozialistInnen dokumentiert. Er nahm an einigen Aktivitäten der anarchistisch gefärbten Gruppierung „Klub mladych“ (Jugendclub) teil, die sich als libertäre, antimilitaristische und antiklerikale Organisation sah, und half mit, Geld für Gefängnis-Kaution von AktivistInnen aufzutreiben. 

Der marxistische Soziologe Michael Löwy schreibt über Kafkas Werke folgendes: „Ein libertär inspirierter Antiautoritarismus durchzieht Kafkas Romanwerk in einer Bewegung der »Depersonalisierung« und zunehmenden Vergegenständlichung: Von der persönlichen väterlichen Autorität bis zur anonymen administrativen Autorität. Es handelt sich nicht um irgendeine politische Doktrin, sondern um einen geistigen Zustand und eine kritische Sensibilität“. Unter anderem gerade wegen der Thematisierung von totalitären Bürokratieapparaten waren Franz Kafkas Werke in vielen stalinistischen Ländern verboten, unter anderem im stalinistischen Tschechien.

 

„Wien, Mai 68 - Eine heiße Viertelstunde“ von Fritz Keller ist aktuell

1968 – aus Sicht von jemandem, der dabei war. Wer über die österreichischen Ereignisse 1968 genauer Bescheid wissen will, ist mit Fritz Kellers Buch gut beraten. Es beginnt mit einer Erklärung der damaligen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und geht genauer auf die verschiedenen Aspekte von 68 in Österreich ein. Wichtige Punkte sind: Die Auswirkungen der internationalen Entwicklungen, etwa in Paris, in Deutschland, Griechenland oder dem Iran. Auch das Verhältnis der 68er Bewegung zu den etablierten Parteien und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung wie der SPÖ, der KPÖ und deren Jugendorganisationen werden beleuchtet. Außerdem geht es um die verschiedenen Versuche des Bündnisses mit kämpfenden IndustriearbeiterInnen, etwa bei den Wiener Neustädter Raxwerken oder bei Elin in Wien. Die Auswirkungen der staatlichen Repression durch brutale Polizeieinsätze und Gefängnisstrafen machen einen wichtigen Teil des Buches aus. Sie zeigen auch, dass es 1968 vielen AktivistInnen um eine tatsächliche revolutionäre Veränderung ging. Dazu stellten sich viele „68er“ wichtige Fragen wie: „Wie politisch ist das Private?“, „Wie erreichen wir breite Schichten der ArbeiterInnenklasse?“, „Wie können traditionelle Organisationsformen der ArbeiterInnenbewegung mit neuen Sponti-Methoden verbunden werden?“, „Wie ist das Verhältnis zwischen Feminismus und ArbeiterInnenbewegung?“. Viele dieser Fragen sind heute wieder bzw. noch topaktuell, auch deswegen ist das Buch absolut lesenswert.

Wien, Mai 68 - Eine heiße Viertelstunde von Fritz Keller,  Madelbaumverlag,  ISBN: 978385476-255-3

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Marx aktuell: Imperialismus: Der heutige Kapitalismus ist gefährlich

Alec Jakolic

Der Kapitalismus verändert sich laufend, so auch Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts. MarxistInnen wie auch bürgerliche ÖkonomInnen analysierten die neuen Phänomene. Es gab immer weniger „freie Konkurrenz“ und riesige Monopole bestimmten das gesamte Wirtschaftsleben. Banken waren nicht mehr nur Zahlungsvermittler, sondern bestimmten zunehmend, was im Betrieb geschah bzw. übernahmen vollends die Kontrolle. Der Kapitalismus ist zum Wachsen verurteilt, im Produktionsbereich wie auch im Finanzsektor, und wenn der Markt im eigenen Land nicht reicht, wird Kapital exportiert, um weitere Bereiche außerhalb des Heimatlandes unter seine Kontrolle zu bringen. Warum nur Waren auf einem Markt verkaufen, wenn man gleich den Marktplatz kaufen kann? Dies führte zum Wettstreit um die Eroberung neuer Einflusssphären. In seinem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (1916/17) definiert Lenin folgende Punkte: „1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‘Finanzkapitals’; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied zum Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter den kapitalistischen Großmächten ist beendet.”

Lenin schrieb seine Theorien vor dem Hintergrund des 1. Weltkrieges. Dieser war für die KapitalistInnen zur Notwendigkeit geworden. Nachdem die Welt mit dem Ende des Kolonialismus aufgeteilt war, stellte sich die Frage der Eroberung fremder Einflusssphären dringender denn je. Der 1. Weltkrieg war ein imperialistischer Krieg zur gewaltsamen Neuaufteilung der Welt unter den wichtigsten europäischen Mächten.

Doch wie schaut Imperialismus heute aus? Am Beispiel der Voestalpine erkennt man, dass die Firma ihre Rohstoffbeschaffung zu 100% über Voest-Tochterfirmen regelt, in Brasilien wie in Texas; andere Arbeitsstoffe, wie Gase werden auch am Standort in Linz hergestellt. Beliefert werden diverse Autofabriken von Japan bis in die USA, Daimler, Opel, aber auch Firmen wie OMV, Turmöl, Avanti, in Form von Platten für Pipelines. Die Voest ist mittels Aktien, aber auch einer eigenen Versicherungsgesellschaft auch am Finanzmarkt tätig. Und sie hat Einfluss auf die Politik von Landes- und Bundesregierungen, die in ihrem Sinne agieren.

Alle Elemente des Imperialismus sind auch heute noch am Werken, die Monopolisierung ist seit 100 Jahren weiter fortgeschritten. Und die Widersprüche und Konflikte zwischen den einzelnen imperialistischen Staaten haben nicht abgenommen, sondern sind die Garantie dafür, dass die Kriegsgefahr nicht ab- sondern zunimmt. Wenn nur acht Menschen mehr besitzen als die halbe Welt, dann ist das absurd, denn jeder Reichtum ist Reichtum aus unserer Arbeit. Kapitalismus bedeutet Imperialismus und das bedeutet permanente Kriegsgefahr. Zeit, dass wir uns nehmen, was wir erarbeitet haben - vorwärts zu einer friedlichen und sozialistischen Gesellschaft!

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

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