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Wer ist dieser Bob Dylan?

Zum 80. Geburtstag von Robert Allen Zimmermann
Albert Kropf

Es gibt nur wenige Musiker*innen, die sich mit der Bekanntheit und dem Erfolg Bob Dylans messen können. Nicht umsonst. Seit 60 Jahren wandelt die Gestalt des Bob Dylan durch die Unterhaltungsindustrie, lässt sich mit seinen vielen Facetten und Wendungen kaum in ein Schema pressen. Und ist doch einmal eines gefunden, geht er sofort persönlich daran es zu demontieren. Und das nicht immer zur Freude seiner vielen Fans. Alles begann unmittelbar nach seiner Ankunft in New York 1961. Genauer gesagt im damals etwas heruntergekommenen Künstler*innenviertel Greenwich Village. Wegen der günstigen Mieten und guter Auftrittsmöglichkeiten entwickelte sich dort eine eigene Szene unterschiedlicher Künstler*innen und Kaffeehausliterat*innen. Sie fiel sowohl auf einen politisch wie auch wirtschaftlich fruchtbaren Boden und trat in die Fußstapfen der noch Jazz lastigen Beatniks der 1950er Jahre. Die Kommunist*innenjagd der McCarthy Zeit unter Präsident Eisenhower ging zu Ende. Der wirtschaftliche Nachkriegsaufschwung begann zunehmend und wegen des “Sputnikschocks” neben der Mittelschicht auch Teile der Arbeiter*innen-Klasse zu erreichen. Eine Aufbruchsstimmung, die bis heute oft fälschlich dem gerade erst gewählten jungen Präsidenten John F. Kennedy zugeschrieben wird.

Am Anfang stehen Woody Guthrie und Pete Seeger

In diese Melange taucht Dylan nun ein. Neben literarischem und allgemein künstlerischem Interesse ist sein Steckenpferd aber die Folk-Musik. Die große, damals noch lebende Ikone des linken, gewerkschaftlichen Folk ist Woody Guthrie. In dieser Musikrichtung werden die bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts bestehende Tradition der Arbeitslieder, mit der der herumziehenden Wanderarbeiter*innen, den „Hobos“, oft armen und mittellosen Farmerfamilien mit Elementen irischer Volksmusik verbunden. Folk ist an und für sich einfach zu spielen, benötigt keine teuren Instrumente und hatte somit seit jeher eine sehr niedrige Einstiegshürde und daher große Verbreitung in Nordamerika. Anfang der 1960er Jahre ist Folk durch die neueren Entwicklungen der Popmusik mit unterschiedlichen Jazz-Stilen, den aufkommenden Blues, Country und natürlich Rock’n Roll immer stärker in eine Nische geraten. Erlebtaber dort Anfang der 1960er Jahren gerade unter jungen Intellektuellen einen neuen Frühling. Woody Guthrie liegt schon seit Jahren an einer schweren Krankheit leidend in der Nähe New Yorks in einer Nervenheilanstalt. Es ist also ein anderer, der die diese neue Welle des Folk mitträgt und auch prägt, der knapp 40-jährige Pete Seeger. Allerdings mit teilweise deutlich politischerem, sozialistischem und antirassistischerem Anspruch. Beide haben großen Einfluss auf den jungen Dylan. Den alten Guthrie wird er im Krankenhaus besuchen, mit dem jüngeren Seeger gemeinsam auftreten, spielen und schließlich wird Seeger ihn auch bei seinem ersten Plattenvertrag unterstützen. Mit beiden wird er auf unterschiedliche Art bald brechen. Mit dem beginnenden Erfolg kam die schleichende Abkehr vom linken Folk. In diese Zeit fällt auch seine Beziehung mit der zu dem Zeitpunkt wesentlich bekannteren Joan Baez, das neue Traumpaar des Folk. Allerdings nicht für lange. Die breitere Masse, der er nun bekannt wird, nimmt ihn aber als gesellschaftskritischen Musiker wahr. In Wirklichkeit hat er sich schon angepasst und war aus einer wesentlich linkeren Subkultur gestartet. So sympathisiert er zwar noch öffentlich mit Protestbewegungen, ist aber im Gegensatz zu Pete Seeger und später auch teilweise Baez kein aktiver Teil davon. Mitte der 1960er vollzog Dylan dann die scharfe Wendung mit dem Wechsel von der akustischen zur E-Gitarre. Heute schwer vorstellbar, aber damals bedeutete das für die sehr traditionsbewusste Folk-Gemeine einen ungeheuerlichen Stilbruch. Sie warfen ihm Opportunismus und Verrat vor. Aus heutiger Perspektive ist der Dylan nachher deutlich weniger politisch, mehr im Mainstream zu Hause.

Auf nach Nashville

Was auch immer die Gründe gewesen sein mögen, die “elektrische Wende” hat für ihn den Weg in den Mainstream und dem Bruch mit dem traditionellen Folk massiv erleichtert. Fast nebenbei legte Dylan damit auch den Grundstein für ein neues Genre – dem Folk-Rock. Viele junge Musiker*innen, wie “The Byrds” oder seine eigene Begleitband “The Band” folgen ihm auf seinem neuen musikalischen Weg und werden selbst erfolgreich. Dylan ist ein Trendsetter. Einen Motorradunfall nutzt Dylan für eine fast zweijährige Auszeit. Anschließend folgte ein kurzer, zwei Alben dauernder Flirt mit der rückständigen Country-Musik Metropole Nashville. Dylan ging just dorthin, als die „Outlaw“ Bewegung sich dem Diktat nach plattem, weißen Country widersetze, die Stadt verließ und ihre neuen Zelte andernorts aufgeschlagen hatte. Zur Outlaw Bewegung zählten damals schon Größen wie Waylon Jennings, Willie Nelson, Kris Kristofferson oder Merle Haggard. Dylan hätte zu ihnen zwar besser gepasst, trotzdem ging er nach Nashville. Die Trennung der amerikanischen Musik-Stile in Blues, Country und Rock’n Roll etc. erfolgte erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Zuerst fand das alles unter einem gemeinsamen Dach statt. Johnny Cash galt sowohl als Country als auch Rock’n Roll Star und war bei der gleichen Plattenfirma, wie der junge Elvis. Die spätere Ausdifferenzierung war weniger ein musikalisches Produkt, sondern massiv von der Unterhaltungsindustrie betrieben. So konnte jede Nische ausgeprägt, bedient und besetzt werden. Für die Country Musik bedeutete das ein rückständiges Western-Image, mit oft rassistischen und sexistischen Ansätzen. Nashville-Country und der Folk Dylans, schlossen sich gegenseitig aus. Country Größen wie Johnny Cash waren zwar auch in Nashville, konnten sich aber aufgrund ihrer Popularität vielschichtiger aufstellen. Allerdings stürzten viele von ihnen inklusive Cash mit der neokonservativen Wende in den 1970er Jahren in die dumpfe Country-Schiene ab. Später ist die ganze Outlaw-Country Musik genauso kommerzialisiert, wie die Musik gegen die sie eigentlich angetreten waren. Dauerhafte Oasen lassen sich eben (leider) in einer durch und durch kapitalistisch organisierten Welt nicht dauerhaft aufrechterhalten. Trotzdem hat sich bis heute eine breite“Schnittmenge” zwischen von Folk und fortschrittlicher Country-Musik erhalten, die weniger im Western-Klischee als aus der Lebens- und Arbeitsrealität der “normalen” Menschen schöpft.

Von Hurricane zum christlichen Fundamentalismus

Dylan war mit seinen Liedern in den alternativen und sozialen Bewegungen seit der 1960er Jahren präsent. Er hat sie so zwar mitgeprägt hat, sich aber nie am Aufbau beteiligt. Im Gegenteil, er hat sich zeitlebens eine kritische, intellektuelle und später zunehmend zynische, arrogante Distanz zu ihnen bewahrt. Oftmals entstand der Eindruck, er habe sie am Beginn aktiv mitangezogen, sie vielleicht sogar losgetreten, um sie letztlich brüsk zur Seite zu schieben und dann teilnahmslos beim Scheitern, Verfall oder des Versinkens in der Bedeutungslosigkeit zuzusehen. Für die Outlaws trifft das nicht zu, ihre politische Stoßrichtung greift er nicht auf, ihnen fällt Dylan mit seinem Nashville-Trip in den Rücken. Nach weiteren Rückzügen ins Privatleben gelingt Dylan schließlich ein fulminantes Live-Comeback mit der „Rolling Thunder Revue“ Mitte der 1970er Jahre und den zuvor erschienenen Alben, obwohl er eigentlich gar nicht wirklich weg war. Mit „Hurricane“ hatte Dylan dazu auch das Genre der Protest-und politischen Lieder auf eine neue Ebene gehoben. Mit dem Song tritt er eine Bewegung zur Freilassung des schwarzen Boxers Ruben Carter los, der unschuldig aufgrund eines rassistischen Urteils in den USA zu dreimal Lebenslänglich verknackt wurde. Alle Welt spricht von Hurricane und Dylan lässt das Thema los, lässt es für sich fallen. Das „Urteil“ gegen Ruben Carter wird erst 1985 aufgehoben, auf Initiative und Kampagne anderer. Es scheint fast so, als er sei er nicht bereit die Konsequenzen seiner Musik tragen zu wollen.

Alle, die glaubten, Hurricane wäre die Rückkehr Dylans zu seinen politischen Wurzeln, hatten sich zu früh gefreut. „Seine Bobness“, wie ihn treue Fans nennen, wandte sich kurz darauf ganz offensichtlich der christlichen Mythologie zu, ließ sich taufen und erschwerte das Leben vieler seiner Fans mit drei Missions-Alben, die hart am Ertragbaren kratzten. Wenig überraschend sackten die Verkaufszahlen ein, der „Messias der Rockgeneration“ – so der Titel der noch 1978 erschienenen Biografie – wurde zu einem Risikofaktor für seine Plattenfirma. Was er zuvor z.B. bei der schwarzen Bürger*innenrechts-, der Antikriegs-und Studierndenbewegung nicht tat, tut er nun: Er will mit seiner Musik offen Menschen für eine Sache gewinnen, dem Christentum. Und das in einer Zeit, wo das erzkonservative, rückschrittliche und reaktionäre Christentum der USA mit Ronald Reagans Präsidentschaft nach oben schwimmt. Hier wo eine Abgrenzung zum christlichen Fundamentalismus angesagt gewesen wäre, schweigt Dylan. Es folgt nicht nur der musikalische Niedergang, sondern auch der als „moralische“ Autorität vieler Fans. Nach dem Album „Infidels“ (1983) verkündete er jetzt ein echter Popstar zu werden. Für die schon leidenserprobten Dylan-Fans brechen weiter schwere Zeiten an. Alben mit an und für sich guten und endlich wieder weltlichen Songstrukturen wurden maßgeblich von ihm selbst unpassend „poppig“ überproduziert. Statt des Saltos zum Popstar kommt es zum fürchterlichen Bauchfleck. Die Kritik schreibt vom „Disco-Dylan“, viel tiefer geht es kaum. Doch, Dylans Auftritt 1985 beim Live-Aid Konzert zu Gunsten der Bekämpfung der Hungersnot in Äthiopien. Live übers Fernsehen in alle Ecken der Welt übertragen und bis heute dokumentiert, wird Dylan vom US-amerikanischen Kino-Star Jack Nicholson als „die amerikanische Stimme der Freiheit“ angekündigt. Unterstützt wird er von den beiden Rolling Stones Legenden Keith Richards und Ron Woods. Ein grandioses Setting, aber ganz offenbar haben sich die drei hinter der Bühne zu sehr am Rauschkraut und der Schnapsbar bedient. Der Auftritt wird zur Katastrophe und versinnbildlicht die Krise Dylans. Es sind die sich treu gebliebenen, linken Hippie-Veteranen von „The Grateful Dead“ um Jerry Garcia und Bob Weir die Dylan jetzt auffangen. Für viele Fans kommt nun endlich – mit zwanzig Jahren Verspätung – zusammen, was immer schon zusammengehört hat. Aber es funkt nicht wirklich, die Liebe scheint bei Dylan schnell vorüber. Die vor allem politische Entwicklung der letzten 20 Jahre ist zu gegensätzlich. Bei den Konzerten wirkt Dylan apathisch, abwesend und was jetzt für Dylan Fans auch nichts Neues war, lustlos. Er ist das totale Gegenteil zu den „Rampenschweinen“ von Grateful Dead, die jedes Konzert zu einem Erlebnis der Fans machen. Das daraus entstandene Album trägt denvielsagenden Titel „Dylan and the Dead“ – auf Deutsch: Dylan und die Toten bzw. Dylan und der Tot. Aber tot ist Dylan noch lange nicht, ein neuerlicher Haken und Dylan dockt bei der Supergroup „Traveling Wilburies“ an. Neben ihm sind dort die Musikerlegenden George Harrison (Beatles, Plastic Ono Band), Jeff Lynne (Electric Light Orchester), Roy Orbison (Pretty Woman) und Tom Petty (& the Heartbreakes) aktiv. Obwohl sich Dylan gut einbringt und -fügt, gehört er eigentlich nicht in diese, letztlich doch sehr kommerzielle Schiene, ist eben kein Pop, Rock oder Country Star, sondern Dylan.

Modern Times am Ende der Geschichte

Totgesagte leben länger und so startete er 1989 mit dem überraschend starken, weltlichen und politischeren aber etwas dunklerem Album „Oh Mercy“ wieder durch. Wie ein Seismograph Erschütterungen derErde aufzeichnet, reagiert Dylan auf gesellschaftliche Veränderungen: die Protestbewegung in den 1960er Jahren, die Rockmusik, die zuerst kommerzielle und dann neokonservative Wende der 1970er Jahre, der Wiederaufstieg des weißen Christentums in der USA, der Pop der 80er Jahre, die Supergroups usw. Und nun 1989 im Jahr des großen Umbruchs mit dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten, tritt Dylan nicht in den Chor des Siegs des ungehemmten Kapitalismus ein. Er veröffentlicht nach 15 Jahren wieder ein gesellschaftskritisches Album. Das überraschte viele, die ihn schon abgeschrieben hatten. Das Folgealbum zu „Oh Mercy“ war nochmals ein kurzer Rückfall, aber mit „Good As I Been To You“ und „World Gone Wrong“ folgten zwei akustische Blues und Folk lastige Alben Anfang der 1990er Jahre und da war er wieder. Bob Dylan hatte sich wieder, wie schon so oft, neu erfunden. Mit “Modern Times” 2006 präsentiert er sich wieder als politischer, kritischer, wenn auch manchmal zynischer Stichwortgeber. Das ganze Album istvoller Zitate, teils auch auf sich selbst. Produziert wird es von Jack Frost. Wie passend, das Album veröffentlicht in einer Zeit zunehmender sozialer Kälte, wird von “Väterchen Frost” (=Jack Frost) produziert. Natürlich kein Zufall und hinter dem Namen verbirgt sich Dylan selbst. Auch Cover und Titel sind eine gelungene Anspielung auf Charlie Chaplins großartige Persiflage der kapitalistischen Fließbandarbeit im Zeitalter des Stummfilms der 1930er Jahre. Dylan bringt damit das Thema Arbeit und industrielle Produktion in das von der postmodernen Beliebigkeit entleerte 21. Jahrhundert. Ein neuer Höhepunkt.Der Dylan seitdem, war anfangs düsterer, noch zynischer und verlor zunehmend wieder seinen politischen Anspruch. Dazu passend wandte er sich musikalisch seit „Shadows In The Night“ 2015 mehr und mehr der US-amerikanischen Unterhaltungsmusik, der Frank Sinatra Zeit, zu. Wieder eine schwer verdaubare Wendung für viele Dylan-Fans. Seit 30 Jahren befindet er sich mit der „Never Ending Tour“ bis heute auf Tournee. Viele Städte hat er seitdem schon mehrfach besucht, immer anders und doch immer gleich: schlecht gelaunt, raunzend, wortkarg, etwas lustlos und ohne Zugabe. Eigentlich beeindruckend, dass jemand, der so wenig Leidenschaft und Freude auf der Bühne zeigt,noch immer problemlos die großen Konzerthallen füllt...

Mit Riesenschritten zur Kommerzialisierung

Dylan bleibt sich auch im 21. Jahrhundert selbst treu: Nach der musikalischen Wiederauferstehung kommt ein neuer “Stresstest”. Dylan wendet sich der Werbung zu, ein absolutes „No Go“ vergangener Jahrzehnte. Noch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hat Dylan auf Werbeanfragen scherzhaft geantwortet, dass er nur als Modell für Frauenunterwäsche zur Verfügung stünde. Was knapp ein Vierteljahrhundert ein Scherz blieb, wurde 2004 bittere Realität. Nicht nur, dass Dylans „Love Sick“ in einer sexistischen Werbung für Reizwäsche zu hören war, er mimt auch gleich den stillen Beobachter im Hintergrund. Damit aber noch nicht genug, er wird in den folgenden Jahren zum „Wiederholungstäter“, tritt in patriotischangehauchten Werbespots der US-amerikanischen Automobilindustrie auf. Für ihn gilt nicht einmal das Argument, dass er das Geld gebraucht hätte. Dylan lebt zurückgezogen, ist kein „Protzer“ und ist im Gegensatz zu vielen anderen Musiker*innen im Besitz der Rechte an allen seinen Songs und Werken. Geldnot kann es nicht sein, das muss eigentlich reichlich fließen. Dazu passend verscheppert er2016 sein umfassendes Privatarchiv für geschätzte 20 Millionen Dollar an die Universität Tulsa. Zumindest liegt esnun am selben Ort wie das Archiv von Woody Guthrie, den der junge Dylan so verehrte. Umso überraschender war die im Frühjahr 2020 mit „Rough and Rowdy Ways“ vollzogene Wende vom Sinatra-Sound der letzten drei Alben zurück zu Folk und Blues. Überhaupt gibt sich Dylan darin wieder politischer, kritisiert die um sich greifende Korruption, den Rassismus und schließlich den Verfall der USA und des amerikanischen Traums. Und was kommt dann? Dann verkauft er Ende 2020, wie um sein Image wirklich restlos nachhaltig zu schädigen, seine sämtlichen Songrechte um knapp 400 Millionen Dollar an den Unterhaltungskonzern Universal.

Die ewige Kunstfigur

Dabei ist es nicht einmal fix, ob es diesen Bob Dylan, der 2016 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, überhaupt gibt. Bob Dylan ist eigentlich eine Kunstfigur, die um 1959 herum von Robert Allen Zimmermann erschaffen wurde. Der wurde am 24. Mai 1941 in Dulluth, Minnesota in eine jüdische Mittelklasse-Familie geboren. Selbst um die Entstehung des Namens streute er bis heute unterschiedliche, sich teils widersprechende Gerüchte. Dylan ist für ihn zumindest die ersten Jahre mehr als ein Künstlername, eher eine Kunstfigur. Immer wieder spricht Dylan über Dylan in Interviews nicht in der Ich-Form, sondern der dritten Person. Ganz angelehnt an weiteres Vorbild, den französischen Dichter und Lebemann Jean Arthur Rimbaud, der über sich schrieb: „Ich ist ein anderer“. Dylan spielt bis heute damit und somit auch mit uns. Dabei ist Dylan nur einer von vielen Namen, die er im Lauf der Jahrzehnte für die unterschiedlichsten Dinge verwenden wird. Wie wir schon gesehen haben, auf manchen Alben ist er gleich mit mehreren vertreten. Einen Namen verwendet er allerdings so gut wie nie: seinen echten, Robert Allen Zimmermann. Inwieweit also die reale mit der künstlichen Person irgendwann verschmolzen ist, ist für uns nicht einzuschätzen. Wahrscheinlich weiß das nicht einmal er selbst. Vielleicht ist es auch umgekehrt und es gibt nur mehr Bob Dylan und keinen Robert Zimmermann mehr. In seiner 2004 erschienenen Autobiographie „Chronicles“ schreibt er dazu passend, dass Bobby Zimmermann 1964 bei einem Motorradrennen ums Leben gekommen sei: „Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmermann mehr. Das war sein Ende.“ Sein Motorradunfall war 1966 und nicht bei einem Rennen. Biographie und Fiktion verschmelzen. Seine unterschiedlichen Lebensabschnittspartnerinnen bezeichnet er in seinem Buch konsequent und durchgehend immer nur als “seine Frau”, als hätte es nur eine Partnerin gegeben. Insgesamt ist es weniger eine Autobiographie, sondern mehr ein Roman über das Leben eines Bob Dylan. Es ist eben Dylans „Bob Dylan“ aus dem Jahr 2004. Fragezeichen ziehen sich überhaupt wie ein roter Faden durch die Geschichte “Bob Dylan”. Zum größten Teil hat er sie selbst gesetzt. Immer und immer wieder, ein kleiner versteckter Hinweis hier, einer dort.Ist es wirklich so gewesen? Manchmal schleicht sich der Verdacht ein, Dylan könnte eine reine Kunstfigur sein. Bob Zimmermann amüsiert sich dann dabei uns zuzusehen, allem in Bob Dylans Leben einen Sinn zu geben, wo es aber vielleicht gar keinen gibt. Ist Bob Dylan vielleicht wirklich nureine Kunstfigur, wie Borat für Sacha Baron Cohen eine ist? Nein, das sicher nicht. Dafür ist sein Fallen, sein Leiden, seine Tragik zu groß und zu echt. Und dafür nimmt er sich dann doch viel zu ernst! Es gibt eben keinen einheitlichen Bob Dylan, sondern immer nur den des Moments. Eigentlich können wir nicht einmal die Frage beantworten, ob Bob Dylan 2021 wirklich 80 Jahre alt wurde, oder ob es nicht “nur” Robert Allen Zimmermanns Geburtstag war. Am Ende des Tages bleibt das aber egal.

Was bleibt ist ein Leben des Scheiterns an von ihm an sich selbst gesteckten Ansprüchen, was Dylan – ob Kunstfigur oder nicht – wiederum zutiefst menschlich macht. Die Geschichte Bob Dylans ist aber auch die Geschichte von zigtausenden Menschen, die seit den beginnenden 1960er Jahren durch seine Musik begonnen haben, die herrschenden Verhältnisse kritischer zu sehen und einige letztlich zu politischen Aktivist*innen geworden sind. Ein Schritt, den er selbst nicht nur nie bereit war selbst zu gehen, sondern als zunehmend arroganter, alter Mannoffen ablehnt. Aus einem linken Blickwinkel ist es aber auch ein Leben der nicht genutzten Möglichkeiten. Ein Bob Dylan hätte mit seinen Fähigkeiten und seiner Bekanntheit an der Spitze der sozialen Protestbewegungen die Kraft besessen, die Welt mit aus den Angeln zu heben. Stattdessen angelt der alte Dylan lieber nach dem großen Geld und verklopfte sein musikalisches Lebenswerk an die Unterhaltungsindustrie. Es reicht eben nicht nur gute, politische Lieder zu schreiben, um die Welt nachhaltig zu verändern. Dazu braucht es politische und soziale Bewegungen der betroffenen Menschen und keine Stellvertreter*innen in der Politik, Gewerkschaften oder eben auch Musikindustrie, zu der Bob Dylan heute gehört.

Filmbesprechung: Seaspiracy von Ali Tabrizi

von Heather O’Callaghan, Socialist Party (ISA in Irland)

In der neuen Netflix-Dokumentation Seaspiracy setzt sich der britische Filmemacher Ali Tabrizi mit der Verschmutzung der Meere und der Nachhaltigkeit auseinander und begibt sich auf eine weltweite Reise, um die Frage zu beantworten, warum die Verschmutzung der Meere so schlimm geworden ist und wohl immer schlimmer wird. Und was noch wichtiger ist: Er fragt, was wir, die Weltbevölkerung, tun können, um die Ozeane zu retten.

Der Dokumentarfilm beginnt mit Tabrizis Hintergrundgeschichte über seine Liebe zum Leben im Meer, die er auf das Anschauen der Dokumentationen von Sylvia Earle, David Attenborough und Jacques Cousteau zurückführt. Nach etwa fünf Minuten werden die idyllischen Szenen von farbenfrohen, lebendigen Ozeanen jedoch mit erschreckenden Ausmaßen von Plastikverschmutzung in den Meeren kontrastiert. Die Schuld an diesem gefährlichen Schlamassel wird den normalen Menschen und dem Hausmüll zugeschoben. Doch das kratzt nur an der Oberfläche des Problems, wie der Film bald herausstellt.

Tatsächlich rührt das Problem nicht von den Menschen her, die an den Stränden Müll hinterlassen, und die Lösung besteht nicht darin, dass andere einfach Tausende von Müllsäcken sammeln, wenn sie unterwegs sind, und auch nicht darin, einfach mit der Verwendung von Einwegplastik wie Strohhalmen aufzuhören. 46 % der Plastikverschmutzung im Meer besteht aus Plastikfischernetzen, was zeigt, dass das Problem zum Großteil mit der systemischen Profitmacherei der großen Fischtrawler zusammenhängt.

Der Film lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die grausame Realität der weltweiten Fischereiindustrie, die genug Inhalt für eine ganze Dokumentationsreihe bieten würde. Er konzentriert sich zunächst auf die barbarischen Waljagden in Japan und zeigt erschütternde und entsetzliche Szenen von Walen, Delfinen und Haien, die unnötig abgeschlachtet werden – als halbherzige und lächerliche Ausrede wird angeführt, dass die Fischer*innen mit ihnen um Fische konkurrieren. Mit ein wenig Recherche lässt sich diese Behauptung schnell entlarven. Die Fischer*innen konkurrieren nicht mit den Delfinen, sondern untereinander. Der Grund für den sinkenden Fischbestand sind nicht andere Tiere, sondern die Überfischung.

Außerdem ist die Unterhaltungsindustrie der Freizeitparks einer der größten Geld- und Auftraggeber für den Fang von jungen Delfinen und Walen für ihre Shows – da sie leichter zu trainieren und zu Showtieren zu formen sind – die bis zu 100.000 Dollar pro voll trainiertem Delfin einbringen. Die ekelerregenden Praktiken der Meeresparks sind keine Überraschung, besonders für alle, die vor einigen Jahren den Dokumentarfilm Blackfish gesehen haben. Dieser zeigte, dass für jeden gefangenen Delfin etwa 12 getötet werden.

Tabrizi weist auch auf den Markt für Haifischflossen in Asien hin, insbesondere in China, wo Haifischflossensuppe als Statussymbol gefragt ist und mehr als 100 Dollar pro Schale kostet. Die ökologischen Auswirkungen der Jagd auf Haie, bis hin zu ihrer Ausrottung, für die Suppe der Reichen sind gravierend – die Gesundheit der Fischbestände und Korallenriffe verschlechtert sich und die Ozeane werden zu Sümpfen. Zwischen 11.000 und 33.000 Haie werden pro Stunde getötet, wobei die Hälfte davon als Beifang (unbeabsichtigter Fang) von kommerziellen Fischereischiffen getötet wird. Das entspricht 50 Millionen Haien pro Jahr. Hunderttausende, wenn nicht Millionen, weiterer Meereslebewesen werden absichtlich oder unabsichtlich gefangen und getötet. Dies alles geschieht, um eine bestimmte Fischart zu fangen, die lächerlicherweise mit dem „blauen Häkchen“ des MSC gekennzeichnet und verkauft wird, was anzeigen soll, dass das Produkt mit „nachhaltigen Fangmethoden“ gefangen wurde.

Neben den Grausamkeiten, die die Fischereiindustrie den Tieren zufügt, deckt die Dokumentation auch das gewaltige multinationale organisierte Verbrechen auf, das auf See stattfindet. Von unabhängigen Beobachter*innen für nachhaltige Fischerei von Umweltorganisationen, die erschossen werden oder auf mysteriöse Weise verschwinden, über Drogen- und Menschenhandel bis hin zu Sklaverei an Bord von Fischereibooten. All das wird von Regierungen auf der ganzen Welt subventioniert.

Während Seaspiracy die Korruption der Fischereiindustrie recht gut aufdeckt, ist die überwältigende Botschaft des Dokumentarfilms im Grunde; reduziert euren Verbrauch von Einwegplastik und hört auf, Fisch zu essen. Das mag zwar ein vernünftiger Rat sein, den die Menschen befolgen sollten, wenn es möglich ist (obwohl es für viele Gemeinschaften, die seit Generationen auf Fisch als Nahrungsquelle angewiesen sind, vielleicht nicht möglich ist), aber die grundlegende Erkenntnis aus dem Film sollte nicht da stehen bleiben. Wenn man die Menschenrechtsverletzungen, die Tierquälerei und die massenhafte Verschmutzung durch die Fischereiindustrie in Betracht zieht, ist der Hauptschuldige für den schlechten Zustand der Ozeane und der Umwelt der Kapitalismus.

Dieses System kümmert sich nur um die Anhäufung von Profiten und ist für Nahrungsmittelknappheiten und Umweltzerstörung, einschließlich des Klimawandels, verantwortlich. Auch legt es keinen Wert auf das Leben von Menschen oder Tieren. Die wichtigste Lehre aus dieser Dokumentation sollte sein, dass es keine Verschwörung gibt, sondern nur ein kapitalistisches Marktsystem, das abgeschafft werden muss. Zu diesem Zweck müssen wir uns alle für eine nachhaltige sozialistische Zukunft organisieren, die den Profit nicht über jedes Lebewesen auf der Erde stellt.

 

Artikel im Original lesen auf Englisch lesen: https://socialistparty.ie/2021/04/review-seaspiracy-directed-by-ali-tabrizi/

 

 

Wer lernt was im Lockdown?

Moritz Bauer

Immer wieder wird behauptet, Schüler*innen würden durch die Lockdowns etwas verlieren: Fehlzeiten würden künftige Gehälter verringern, die Matura sei „weniger wert“ und in Deutschland wird sogar diskutiert, ob gleich alle wiederholen. Doch das geht an den eigentlichen Problemen vorbei.
Natürlich sind es vor allem Arbeiter*innen-Familien, die unter Corona leiden. Fehlende Geräte, kein ruhiger Arbeitsplatz und Eltern, die man nicht schnell um Hilfe fragen kann, machen Bildung einmal mehr zur Klassenfrage. Die Angst, den Anschluss zu verlieren ist groß.
Die Zukunftssorgen, die Jugendliche auch in psychische Probleme stürzen, nehmen zu: Laut einer Studie der Uni Krems stieg die Zahl der depressiven Symptome bei den 18-24jährigen während der Lockdowns von 30% auf 50%, für Jüngere ist eine ähnliche Tendenz anzunehmen. Das ist eine weitere negative Folge eines beschränkten Bildes von Bildung: Reduziert auf Lehrpläne, deren Inhalt auf Knopfdruck abgerufen werden soll. Dabei haben Schüler*innen in der Pandemie neue große Herausforderungen bewältigt! Während unklar war, wie es weitergeht, wurde einiges erwartet: PC-Programme durchschauen, den Überblick über Aufgaben behalten und diese selbstorganisiert erledigen. Auch den Crashkurs in Virologie mussten sich wohl die Meisten privat organisieren.
Die Pandemie zeigt einmal mehr, dass Prüfungen nur Momentaufnahmen sind und wenig über Fähigkeiten & Interessen aussagen – dennoch wird überall versucht, (Abschluss)Prüfungen trotz Lockdown „normal“ durchzuführen.
Doch Bildung ist mehr als Prüfungen und Lehrpläne, die Wirtschaftsinteressen und Kategorisierung von Jugendlichen dienen. Eine Diskussion über unser Bildungssystem ist längst überfällig. Aus der Arbeiter*innenbewegung gibt es dazu seit über 100 Jahren Ansätze, von Arbeiter*innen-Bildungsverbänden, in denen gemeinsam gelernt und diskutiert wurde, über Reformen bis hin zur Kritik am kapitalistischen (Bildungs-)System an sich. Auch während Corona wurden bestehende Möglichkeiten deutlich: Hochschulzugang für alle ist spätestens seit Live-Streams und Videos machbar, Solidarität bringt mehr als Konkurrenz und die Milliarden für Banken & Konzerne zeigen einmal mehr, dass genug Geld für gute Bildung für alle da ist.

 

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Marxismus & Religion

Marxismus und Religion

2020 ist im Manifest-Verlag die Textsammlung „Marxismus und Religion“ erschienen. Die einzelnen Beiträge schildern, warum Religion zwar die Entscheidung des Individuums ist, aber nie unpolitisch sein kann. Islam, Christentum und Kirche werden aus marxistischer Sicht beleuchtet. Hoch interessant und es stellt sich die Frage, sind Staat und Kirche wirklich getrennt oder arbeiten sie nicht auch heute noch eng zusammen. Allerdings hätten sich die älteren Texte zur besseren Verständlichkeit verdient, überarbeitet bzw. mit Fußnoten in die 2020er geholt zu werden. Wenn also von reaktionären US-Präsidenten geredet wird, ist nicht Donald Trump, sondern George Bush Jun. gemeint. Dazu hätte auch gehört, das teilweise bis zu 20 Jahre alte Zahlenmaterial zur Entwicklung und Verteilung von Religionsbekenntnissen zu aktualisieren. 

Satire

Wie sehr die Interessen kapitalstarker Lobbies die Regierungsmaßnahmen dominieren, brachte für den Bereich Freizeit, Kultur & Sport das Rabenhof-Theater in Wien satirisch auf den Punkt. Man gründete das „Ski-Resort Erdberger Alpen, Seilbahnen Rabenhof“. Für alle, die Erdberg nicht kennen: Dieser Bezirk ist von einem Skiort so weit entfernt wie die ÖVP von einer Kraft gegen Korruption. Satire ist gut, koordinierter Protest besser!

SLP-Tipp

Nicht erst seit der Covid-Pandemie verbringen viele Menschen viel Zeit im Internet. Man kann diese durchaus sinnvoll nutzen. Unsere Empfehlung: Entdecken sie das Werk des Schriftstellers und Polit-Aktivisten Jura Soyfer! Auf youtube gibt es viele Einträge, sei es in Form der Musik der „Schmetterlinge“ oder Texten wie „So starb eine Partei“; z.B. die Lesung im Republikanischen Club „Jura Soyfer und der 12. Februar 1934“.

Militarismus

… und Antimilitarismus: Diese Text- und Redensammlung von Liebknecht und Lenin aus den Jahren 1904-18 ist angesichts wachsender imperialistischer Widersprüche und steigender Verteidigungsbudgets hochaktuell. Liebknecht, der Mitbegründer der KPD, wendet sich u.a. an die Jugend und erklärt, wie Klassengesellschaft und Krieg zusammenhängen. Beide wenden sich gegen jeden „nationalen Schulterschluss“. Zu bestellen bei slp@slp.at

Marxismus und Religion
2020 ist im Manifest-Verlag die Textsammlung „Marxismus und Religion“ erschienen. Die einzelnen Beiträge schildern, warum Religion zwar die Entscheidung des Individuums ist, aber nie unpolitisch sein kann. Islam, Christentum und Kirche werden aus marxistischer Sicht beleuchtet. Hoch interessant und es stellt sich die Frage, sind Staat und Kirche wirklich getrennt oder arbeiten sie nicht auch heute noch eng zusammen. Allerdings hätten sich die älteren Texte zur besseren Verständlichkeit verdient, überarbeitet bzw. mit Fußnoten in die 2020er geholt zu werden. Wenn also von reaktionären US-Präsidenten geredet wird, ist nicht Donald Trump, sondern George Bush Jun. gemeint. Dazu hätte auch gehört, das teilweise bis zu 20 Jahre alte Zahlenmaterial zur Entwicklung und Verteilung von Religionsbekenntnissen zu aktualisieren. 

 

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Modern Monetary Theory oder Marxismus?

von Tony Gong (Socialist Alternative, ISA in den USA)

Die globale Wirtschaftskrise hat die Notwendigkeit für Sozialausgaben deutlicher denn je hervortreten lassen. Arbeiter*innen, Schüler*innen und Jugendliche in den USA demonstrieren für Medicare for All (M4A), dem Schuldenerlass für Studierende und einen Green New Deal (GND). Doch wann immer diese Vorschläge zur Sprache kommen, fragen Konzern-Demokrat*innen und Republikaner*innen: "Wer soll das bezahlen?" Diese Frage, obwohl unaufrichtig, verdient eine ehrliche Antwort von Sozialist*innen.

Die Modern Monetary Theory (MMT) - eine Denkschule, die sich auf der Linken zunehmender Beliebtheit erfreut - besagt, dass Sozialausgaben vollständig durch Geldpolitik (d.h. "Gelddrucken") finanziert werden können, ohne dass eine Inflation zu befürchten sei. Die MMT-Befürworter*innen verweisen auf die Milliarden an staatlichen Konjunkturausgaben für die COVID-19-Hilfe als Beweis dafür, dass der kapitalistische Staat Arbeitsplätze und Sozialprogramme vollständig finanzieren kann. Es ist bezeichnend, dass die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) ist der Meinung ist, dass MMT „unbedingt“ ein „größerer Teil unserer Debatte“ sein müsse, und es ist bezeichnend, dass Bernie Sanders die MMT-Verfechterin und Ökonomin Stephanie Kelton als leitende Wirtschaftsberaterin in seinen beiden Präsidentschaftskampagnen hatte.

Aber der Kapitalismus hat nie langfristige Vollbeschäftigung erreicht, und Gewinne für arbeitende Menschen sind nie dauerhaft und immer umkehrbar. Kapitalist*innen haben schon immer mit Arbeitslosigkeit gedroht, um die Löhne zu drücken und die Arbeiter*innen bei der Stange zu halten. Die Bosse wehren sich mit Händen und Füßen gegen Sozialausgaben, um den Anteil des Reichtums, der an die arbeitenden Menschen geht, zu senken und die Arbeiter*innen davon abzuhalten, das Selbstvertrauen zu entwickeln, für mehr Gewinne zu kämpfen. Wird MMT wirklich in der Lage sein, sowohl das kapitalistische System aufrechtzuerhalten als auch die Übel zu heilen, die es erzeugt?

Unglücklicherweise behindert die Abhängigkeit der MMT vom Kapitalismus sie bei jedem Schritt. Die MMT-Vertreter*innen haben keinen Blick für die Arbeiter*innenklasse, die die einzige Kraft ist, die den Kampf für ernsthafte Veränderungen anführen kann, um den Green New Deal und Medicare for All zu gewinnen. Stattdessen glauben sie, dass diese Programme durch technokratische Kompromisse mit dem Großkapital gewonnen werden können, was diese Programme verwässern und die Bewegung schwächen würde. Als bürgerliche Theorie sieht die MMT Sozialausgaben letztlich als Mittel, um die US-Wirtschaft aus der aktuellen Depression herauszuziehen und nicht als eigenständiges Ziel. Aber Geld zu drucken, wie das letzte Jahrzehnt der quantitativen Lockerung gezeigt hat, bedeutet nicht, dass Kapitalist*innen dieses Geld fruchtbar investieren werden, um die Depression zu „beheben“. Außerdem ist das Drucken von Geld wirklich nur für einige wenige reiche Imperialist*innen eine Option. In der aktuellen Krise, die die ganze Welt im Griff hat, ist die MMT eine unzureichende Antwort für die arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt, die nach einem Ausweg suchen.

Was ist die Modern Monetary Theory?

MMT ist sowohl eine heterodoxe (nicht dem Mainstream entsprechende) Ansicht darüber, wie die kapitalistische Wirtschaft funktioniert, als auch ein Bündel von politischen Handlungsempfehlungen gemeint. Laut MMT ist Geld nicht durch Tauschhandel entstanden, sondern durch den Staat, der seine Autorität nutzt, um Geld herauszugeben und die Nachfrage nach ihm zu diktieren. Alles, ob Gold oder digitale Bits, würde zu Geld gemacht werden, wenn der Staat dieses Ding als Zahlung für Verpflichtungen (Steuern, Schulden, Bußgelder) gegenüber sich selbst akzeptiert. Alle Bürger*innen des Staates (z. B. Steuerzahlende) sind gezwungen, dieses Geld per Gesetz zu verwenden, und so wird es zum akzeptablen Geld für den Handel. Diejenigen außerhalb des Staates werden dieses Geld ebenfalls akzeptieren, weil sie wissen, dass die Bürger*innen des Staates es akzeptieren werden.

MMT-Ökonom*innen untermauern ihre These, dass Geld aus Verpflichtungen gegenüber dem Staat entstanden sei, mit ihrer Interpretation anthropologischer Forschungen zu einer breiten Palette von Geldarten, von der Entwicklung der sumerischen Währung bei der Steuererhebung über die Praxis der germanischen Stämme bei der Wiedergutmachung von Verletzungen oder Todesfällen bis hin zur Monetarisierung der kolonialen afrikanischen Ökonomien durch die britisch-imperiale Besteuerung.

Wenn Geld mit dem Staat beginnt, so die Begründung der MMT, dann kann die nationale Regierung nach Belieben Geld schaffen und vernichten. Diese Behauptung widerspricht der Vorstellung, dass Staatsausgaben durch Steuereinnahmen finanziert werden. Stattdessen argumentiert MMT, dass die Regierung effektiv Geld im Moment der Ausgaben erschafft - und die Steuererhebung erst Monate später folgt. Stephanie Kelton erklärt in einem bahnbrechenden MMT-Papier mit dem Titel „Can Taxes and Bonds Finance Government Spending?“, dass „die Regierung nicht Geld, sondern Brücken, Armeen, Satelliten usw. haben will und dass sie sie erwirbt, indem sie die Bevölkerung dazu ermutigt, sie im Austausch für Regierungsgeld bereitzustellen.“ Mit anderen Worten: Der Staat nutzt die Zwangssteuererhebung, um dem neu gedruckten Geld einen Wert zu verleihen, das wiederum gegen privatwirtschaftliche Produkte getauscht wird.

Diese Analyse hat eine intellektuelle Geschichte, die im Chartalismus verwurzelt ist, einer ökonomischen Theorie des frühen 20. Jahrhunderts, die besagt, dass „Steuern das Geld antreiben“. Der Chartalismus beeinflusste John Maynard Keynes in der Entwicklung seiner Theorie, die wiederum MMT sowohl in den wirtschaftlichen als auch in den politischen Schlussfolgerungen beeinflusste. MMT selbst entstand in den 1990er Jahren aus einer post-keynesianischen Online-Forumsdiskussion zwischen dem Hedgefonds-Millionär Warren Mosler und einer Gruppe von Ökonom*innen.

Das politische Programm von MMT, die Jobgarantie und die Inflation

MMT-Befürworter*innen, die im Allgemeinen links orientiert sind, haben sich eifrig für Programme wie den Green New Deal eingesetzt. Sie haben Recht, wenn sie den Kampf gegen den Klimawandel, die Beendigung der Masseninhaftierung (in den USA und anderen Staaten) und die allgemeine Gesundheitsversorgung mit den verzweifelten Herausforderungen der Großen Depression und des Zweiten Weltkriegs vergleichen.

Indem sie Parallelen zum New Deal ziehen, sehen MMT-Ökonom*innen den Green New Deal als sozial wertvoll und antizyklisch, d.h. in der Lage, dem wirtschaftlichen Abschwung entgegenzuwirken, indem Investitionen und Ausgaben angekurbelt werden. Obwohl die Kosten der Sozialprogramme enorm sein werden, argumentiert Kelton, dass die Finanzierung kein Problem darstellt, denn „wenn der Kongress ein paar hundert Milliarden Dollar bewilligt, dann ist es die Aufgabe der Fed, dafür zu sorgen, dass diese Schecks nicht platzen.“ MMT weicht der Frage aus, wer für den Green New Deal bezahlt, indem sie darauf hinweist, dass die Federal Reserve (Fed) einfach Geld für das Programm drucken kann.

Um die Bedenken über den inflationären Effekt einer Erhöhung der Geldmenge zu beantworten, baut MMT auf Keynes‘ Ideen zur Vollbeschäftigung auf. Befürworter*innen der MMT behaupten, dass es keine Inflation geben wird, solange die Geldschöpfung mit einer erhöhten Produktion einhergeht. Ein Land mit Vollbeschäftigung hätte eine maximale Produktion, über die hinaus zusätzliche Geldschöpfung Inflation verursachen würde. Bei weniger als Vollbeschäftigung argumentieren die Befürworter*innen der MMT jedoch, dass die Geldschöpfung nicht zu Inflation führen würde, und dass sich die Regierung selbst durch ein Programm namens „Jobgarantie“ zur Vollbeschäftigung verpflichten sollte. Auf diese Weise kann die Wirtschaft in Abschwungphasen die Konsumausgaben aufrechterhalten, weiterhin mit maximalem Output produzieren und das soziale Leid der Arbeitslosigkeit reduzieren.

Diese Theorie der Inflation ist stark von den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts geprägt. Die Fed hat durch „quantitative Lockerung“ (quantitative Easing) effektiv viel Geld gedruckt, aber die Inflation blieb niedrig, weil die Finanzkrise 2008 eine langanhaltende Rentabilitätskrise offengelegt hat. Ohne gute Investitionsmöglichkeiten weigerten sich die Kapitalist*innen, das neu geschaffene Geld für Büros, Löhne, Fabriken und so weiter auszugeben - stattdessen steckten sie es in spekulative Anlagen. In den letzten zwei Jahrzehnten war die allgemeine Wirtschaft auch einem deflationären Druck ausgesetzt, der durch die Überproduktion und den sinkenden Anteil des Reichtums, der an die Arbeiter*innenklasse ging, verursacht wurde. Gleichzeitig wurden bestimmte Vermögenswerte, wie Wohnungen und Aktien, spekulativ und zu himmelhohen Preisen aufgeblasen. Der prominente bürgerliche Ökonom Larry Summers beschreibt dieses Phänomen zähneknirschend als „säkulare Stagnation“. Es sind nicht die von MMT entdeckten ökonomischen Gesetze, sondern der Mangel an profitablen Investitionen in Kombination mit dem deflationären Druck in der kapitalistischen Wirtschaft, der die allgemeine Inflation in der vorangegangenen Periode des Gelddruckens in Schach gehalten hat.

Getreu seinen keynesianischen Wurzeln schlagen MMT-Vertreter*innen vor, den anhaltenden Mangel an privaten Investitionen mit groß angelegten öffentlichen Ausgaben durch Programme wie die Arbeitsplatzgarantie (AG) auszugleichen. Die AG würde Arbeitsplätze mit einem existenzsichernden Lohn von 15 Dollar pro Stunde für jeden schaffen, der Arbeit haben möchte, was ein ausgezeichneter Ausgangspunkt ist. Allerdings, so die prominente AG-Befürworterin Pavlina Tcherneva in „The Job Guarantee: Design, Jobs, and Implementation“ („Die Arbeitsplatzgarantie: Design, Jobs und Umsetzung“), sind diese Jobs für den „Übergang zu Beschäftigungsmöglichkeiten im privaten Sektor“ gedacht, „ohne mit dem privaten Sektor zu konkurrieren“. Die Arbeitsplatzgarantie soll den privaten Sektor wieder profitabel machen, daher sind die angebotenen Jobs absichtlich schlechter als die Beschäftigung im privaten Sektor, um Konkurrenz zu vermeiden.

Der AG-Lohn würde auf 15 Dollar pro Stunde festgelegt und nicht an die Inflation angepasst werden. MMT-Ökonom*innen argumentieren, dies sei notwendig, um weitere Inflation zu verhindern. Einen AG-Job anzunehmen würde bedeuten, dass man auf andere Sozialhilfeleistungen verzichten müsste. Wenn der Privatsektor expandiert, wird das AG-Programm als Reaktion darauf schrumpfen, um Kapitalist*innen als primäre Arbeitgeber*innen zu behalten. Die Stellen sind so konzipiert, dass sie wenig qualifiziert und arbeitsintensiv sind, mit minimalem Einsatz von Kapital. All dies summiert sich zu einem Programm, bei dem der anfänglich vernünftige Lohn durch Inflation ausgehöhlt wird, genau wie der Mindestlohn, und bei dem Geschäftsinteressen Vorrang vor dem Wohlergehen der Arbeiter*innen haben. Die AG ist kein Regierungsprogramm für gute Jobs - sie ist eher eine Form der Wohlfahrt, die Arbeit voraussetzt.

Der Grund, warum MMT-Theoretiker*innen gezwungen sind, die AG zu schwächen, ist, dass sie als bürgerliche Theoretiker*innen die Macht der Bosse nicht bedrohen können, die ihrer Meinung nach die primären Arbeitgeber*innen in einer Wirtschaft sein sollten. Die Arbeitslosen bilden das, was Marx eine „Reservearmee der Arbeit“ nannte, auf die die Kapitalist*innen zurückgreifen können, um diejenigen zu ersetzen, die gerade arbeiten. Diese Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und Ersetzbarkeit wirkt als Abwärtsdruck auf die Löhne und hilft den Kapitalist*innen, Gewinne zu machen. Wenn MMT die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit beseitigt, dann muss es einen anderen Weg anbieten, die Kosten zu senken - wie z. B. AG-Jobs dazu zu verdammen, irgendwann unerwünscht zu sein, wobei die Löhne durch die Inflation erodiert sein werden - um die Interessen der Kapitalist*innen zu schützen. Ohne starken sozialen Druck, der das AG-Programm verteidigt und es besser macht, können Konzernlobbys die AG leicht in Workfare (gemeint ist "Sozialleistungen gegen Arbeit", Anm. d. Übers.) verwandeln.

Anstatt die Arbeitsplatzgarantie zu schwächen, um dem Kapitalismus entgegenzukommen, kämpfen Sozialist*innen für gute Arbeitsplätze für alle, auch wenn das bedeutet, das Wirtschaftssystem zu ändern. Eine starke Bewegung der Arbeiter*innenklasse kann Sozialausgaben durchsetzen, ohne vorschnelle Zugeständnisse an Geschäftsinteressen zu machen. Soziale Forderungen werden im Kapitalismus immer mit den Forderungen des Großkapitals kollidieren, und die Ökonom*innen müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Leider haben die Befürworter*innen der MMT einen Rückzieher gemacht und sich den Interessen des Profits gebeugt - und das nicht nur beim AG.

Ist MMT die richtige Strategie für die Sozialausgaben?

MMT-Vertreter*innen geht es in erster Linie um die Rettung des Kapitalismus. Sie sehen den Weg zum sozialen Wohlstand ausschließlich in der Kooperation mit den Interessen der Wirtschaft. Ihre zentrale These ist, dass Sozialprogramme durch Geldschöpfung finanziert werden können, und nicht durch zusätzliche Steuern, die die Gewinne schmälern würden. Der Kampf um Sozialausgaben ist jedoch ein Klassenkampf. Die MMT versucht, die Kapitalist*innenklasse mit einer Abkürzung bei der Finanzierung von Sozialprogrammen zu beschwichtigen, bei der die Besteuerung der Reichen vermieden wird. Aber kann die Federal Reserve wirklich in eine linksradikale Institution verwandelt werden, die Milliarden von Dollar für Sozialprogramme druckt? Wie kann die MMT die Kräfte mobilisieren, die eine solche Umwandlung durchführen?

Marxist*innen sehen den Staat nicht als neutrale*n Schiedsrichter*in zwischen den Klassen, sondern als ein Instrument der herrschenden Klasse - der Kapitalist*innenklasse. Das bedeutet nicht, dass Arbeiter*innen niemals Siege gegen den Staat erringen können, aber es gibt ernsthafte Grenzen für die Fähigkeit, das System zu reformieren. Wenn die Fed morgen anfangen würde, Sozialprogramme zu finanzieren, könnte der von den Konzernen kontrollierte Kongress einfach die Satzung der Fed umschreiben. Nur weil die Finanzmärkte als Reaktion darauf, dass die Zentralbanken Geld für Unternehmen drucken, in die Höhe schossen, heißt das nicht, dass sie es befürworten, wenn die Zentralbanken Geld für Sozialprogramme drucken, was die Märkte im Allgemeinen ablehnen. Und wenn es für Konzerne unrentabel ist, in den Green New Deal oder Medicare For All zu investieren, werden sie nicht die notwendige Anzahl von Turbinen oder Medikamenten produzieren und stattdessen das neu gedruckte Geld einfach einstecken.

Wir haben das bereits gesehen, als die Coronavirus-Konjunkturmaßnahmen im Jahr 2020 größtenteils in die Geldspeicher der Unternehmen flossen, während nur ein Fünftel an die Arbeiter*innen ging. Das trug dazu bei, den Reichtum der amerikanischen Milliardär*innen um eine Billion Dollar zu erhöhen. Gleichzeitig verloren die Amerikaner*innen allein in den ersten beiden Monaten der Pandemie 1,3 Billionen Dollar an Einkommen. Einer von vier Haushalten in den USA hat einen Arbeitsplatz verloren und Millionen von Menschen sind von Zwangsräumungen bedroht - und das alles, während die Fed für die Aktionär*innen der Unternehmen noch nie dagewesene 3,5 Billionen Dollar gedruckt hat. Um den Erfolg von ernsthaften Reformen wie dem Green New Deal oder Medicare For All zu garantieren, können wir den großen Hersteller*innen und Pharmakonzernen nicht einfach Geld geben. Selbst nachdem sie 2,5 Milliarden Dollar an Regierungsgeldern für die COVID-19-Impfstoffforschung und weitere Milliarden für die ersten Hunderte Millionen Dosen erhalten hatten, lieferte die US-Pharmaindustrie bis Ende Januar nur 68 Millionen der versprochenen 300 Millionen Impfstoffe aus. Während die Produktion des Impfstoffs hochgefahren wird, war die Verteilung ein Desaster. Wir müssen alle großen Konzerne in demokratische öffentliche Hand nehmen, damit Wettbewerb und Geschäftsgeheimnisse die Zusammenarbeit nicht behindern, die Produktion auf notwendige Güter gelenkt werden kann und die Preise erschwinglich sind.

Im Kampf für Sozialausgaben und reale Gewinne für die arbeitenden Menschen ist unser Gegner nicht die Inflationstheorie oder der Geldumlauf, sondern die Kapitalist*innenklasse. Der Kampf für Sozialprogramme ist Teil des Kampfes um das Sozialprodukt: welcher Anteil des von den Arbeiter*innen produzierten Reichtums geht an die Arbeiter*innenklasse und welcher Anteil an die Kapitalist*innen. Während des Nachkriegsbooms, angesichts einer mächtigen Arbeiter*innenbewegung und der Bedrohung durch die UdSSR, gaben die Kapitalist*innen im Westen vorübergehend umfangreiche Sozialausgaben frei. Die massive Ausweitung der Produktion nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ermöglichte es, die Rentabilität aufrechtzuerhalten, während die Sozialhilfe den Anteil des Reichtums, der an die Arbeiter*innenklasse geht, erhöhte. Aber als die Rentabilität sank und die Kapitalist*innen sich dem Neoliberalismus zuwandten, wurden die Sozialprogramme zum Ziel von Kostensenkungen und Privatisierung. Die Kapitalist*innen stellten die Rentabilität wieder her, indem sie sich den Anteil der Arbeiter*innen am Reichtum unter den Nagel rissen und die Ausbeutungsrate erhöhten.

Die Arbeiter*innenklasse mit ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer potenziellen Macht am Arbeitsplatz ist die Kraft, die Sozialausgaben ohne Zugeständnisse durchsetzen kann, nicht MMT-Technokrat*innen, die im kapitalistischen Staatsapparat arbeiten. Um eine möglichst starke Bewegung aufzubauen, müssen die Forderungen nach Sozialausgaben die Arbeiter*innen mobilisieren und direkt auf den Feind lenken. Das bedeutet, die Reichen zu besteuern, um Sozialprogramme zu finanzieren, und wichtige Unternehmen in öffentliches Eigentum unter Arbeiter*innenkontrolle zu bringen.

Leider ist die Besteuerung der Reichen für viele MMT-Theoretiker*innen ein Tabu-Thema. In dem Arbeitspapier des Levy Economics Institute „How to Pay for the Green New Deal“ ("Wie man den Green New Deal finanzieren kann“) erklären die Befürworter*innen der MMT, dass sie „nicht mit [Sanders‘] Ziel übereinstimmen, Einnahmen zu erzielen“, indem sie Arbeitgeber*innen und Reiche besteuern, um für Medicare For All zu zahlen. Stattdessen „schlagen sie vor, einen Aufschlag von 4,6 Prozent auf den Arbeitnehmer*innenanteil der Lohnsteuer zu erheben“, um „Inflationsängste zu beschwichtigen“, indem „die Konsumnachfrage der weniger glücklichen unteren 90 Prozent der Amerikaner*innen reduziert wird“. Trotz der von MMT Befürworter*innen geäußerten rhetorischer Sorge um die einfachen Leute würde dies die Steuerlast weiter auf die Arbeiter*innenklasse verlagern! Eine solche Steuer wäre nicht nur regressiv, sondern würde auch dem rechten Flügel Munition liefern, um Sozialprogramme anzugreifen. Der Mitbegründer der MMT, Randall Wray, hat kürzlich ein Papier mit dem Titel „Is It Time to Eliminate Federal Corporate Income Taxes?“ („Ist es an der Zeit, die Körperschaftssteuer auf Bundesebene abzuschaffen?“) mitverfasst, in dem er behauptet, dass „die Unternehmensbesteuerung ... ineffizient ist und größtenteils von Verbraucher*innen und Arbeitnehmer*innen getragen wird, nicht von Aktionär*innen“, und dass er „die Abschaffung der Steuer auf Unternehmensgewinne bevorzugt“. Dies ist ein schockierender Aufguss des rechten Mythos, dass „Unternehmenssteuern auf Verbraucher*innen und Arbeiter*innen abgewälzt werden, also sollten wir sie nicht besteuern“.

Die Durchsetzung von Sozialprogrammen ist ein harter Kampf, und die politischen Bedürfnisse der Bewegung können nicht durch die ökonomischen Theorien, die sie unterstützen, behindert werden. Der technokratische Ansatz der MMT, der sich auf bürokratische Manöver stützt und Steuern von den Reichen auf die Arbeiter*innenklasse verlagert, wird Arbeiter*innen und Progressive, die an ihren Arbeitsplätzen und auf den Straßen für Sozialausgaben kämpfen, demobilisieren. Der einzige Weg, den Widerstand der Konzerne zu besiegen, sind Arbeitskämpfe und Massenbewegungen, die sich um ein Programm der Besteuerung der Reichen und der Überführung der großen Konzerne in demokratisches öffentliches Eigentum scharen.

MMT vs. Marxistische Ökonomie

Die Schwächen der MMT lassen sich auf ein grundlegendes Missverständnis von Geld, Wert und den Quellen der Krisen des Kapitalismus zurückführen. Historisch gesehen ergibt sich der Ursprung des Geldes aus einer Reihe von sozialen Bedingungen und seine universelle Übernahme ergibt sich aus einer anderen. Der Staat mag Geld erfinden und ausgeben, um Steuern zu quantifizieren, aber er versucht letztlich, realen Wert und nicht Geld zu erheben. Feudalherr*innen zum Beispiel waren mehr als glücklich, von ihren Untertan*innen Nicht-Geld-Steuern in Form von corvée (Fronarbeit) oder Arbeit anstelle von Geld oder Ernteabgaben zu erheben. Doch dasselbe Gebiet hätte ein paar Jahrhunderte zuvor ein römisches Gebiet sein können, in dem Geld aufgrund des weit verbreiteten Handels und der Produktion von Waren für den Verkauf allgegenwärtig war. Wie sehr eine Wirtschaft Geld verwendet, hängt von der Produktion von Waren, ihrem Austausch und der Notwendigkeit ab, Vermögen zu quantifizieren und aufzubauen. Im Kapitalismus, den Marx als „verallgemeinerte Warenproduktion“ beschrieb, sind es nicht die Steuern des Staates, die die Nachfrage nach Geld antreiben, sondern die Warenzirkulation und die Bewegung des Kapitals.

Marxist*innen verstehen, dass eine Ware einen Wert hat, der darauf basiert, wie viel Arbeit im Durchschnitt für ihre Herstellung aufgewendet wird (die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit). Damit Märkte funktionieren, muss die Menge des Geldes und seine Zirkulation die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit der Waren widerspiegeln und kann nicht willkürlich von Feudalkönig*innen oder kapitalistischen Staaten bestimmt werden, ohne dass es zu einer wirtschaftlichen Störung kommt. Ein übermäßiges Geldangebot ist, unter allen Umständen, inflationär. Da der MMT eine Werttheorie fehlt, kämpft sie damit, die allgemeine Bewegung der Preise zu erklären. Sie geht davon aus, dass der Staat die Preise festlegen (die Inflation kontrollieren) kann, indem er die Geldmenge in der Wirtschaft manipuliert. Aber die Kontrolle über die Geldmenge ist nicht dasselbe wie die Kontrolle über den Wert des Geldes. Im Kapitalismus ist es der kapitalistische Markt, nicht der Staat, der letztendlich bestimmt, was und wie viel produziert wird und damit welchen Wert das Geld haben wird.

In diesem Sinne berücksichtigt MMT nicht die zugrundeliegenden objektiven Krisentendenzen im Kapitalismus: die Tendenz zur Überakkumulation von Kapital und die Tendenz in der allgemeinen Wirtschaft, dass die Profitrate sinkt, da mehr in Technologie und Maschinen investiert wird als in die Arbeitskraft der Arbeiter*innen, die die einzige Quelle des Mehrwerts ist. Dies ist eine Tendenz und kein Gesetz, aber man kann es an dem Kampf der USA mit dem sinkenden Produktivitätswachstum sehen. Von 1991-2007 wuchs die Produktivität der Arbeiter*innen in den USA um durchschnittlich 2,2% pro Jahr. Von 2010-2017 fiel das Produktivitätswachstum auf 0,9 %, trotz des massiven Einsatzes der quantitativen Lockerung. Da Kapitalinvestitionen die Produktion pro Arbeiter*in kaum verbessern und die Realzinsen in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern niedrig oder negativ sind, weigern sich die Kapitalist*innen, neu gedrucktes Geld zu investieren, weil sie keinen Gewinn machen können. Das Wachstum der Kapitalintensität - ein Verhältnis, das grob das verbrauchte Kapital zu der in der Produktion verbrauchten Arbeitskraft widerspiegelt - war in den letzten zehn Jahren für die USA nahe Null oder sogar negativ. Die Saat der aktuellen Wirtschaftskrise wurde lange vor dem Aufkommen von COVID-19 gesät.

Wenn die vorherige Periode der Quantitativen Lockerung den Mangel an profitablen Investitionen nicht behoben hat, dann wird auch das Drucken von noch mehr Geld, wie es die MMT vorschlägt, nicht helfen. Die Kombination aus sinkenden Profitraten und lockerer Geldpolitik führte in den 1970er Jahren zur „Stagflation“, als das Wirtschaftswachstum in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern stagnierte, während die Inflation in die Höhe schoss. Das führte dazu, dass die herrschende Klasse den Keynesianismus zugunsten des Neoliberalismus ablehnte, da Neoliberalismus versprach, die Rentabilität durch eine Senkung des Anteils des Wohlstands, der an die Arbeiter*innenklasse geht, wiederherzustellen, einschließlich brutaler Kürzungen von Sozialprogrammen. MMT ist eine Rückkehr zum Keynesianismus, nur bewaffnet mit der Job-Garantie, damit die staatliche Beschäftigung das neu gedruckte Geld aufsaugen kann.

Die AG macht jedoch vor einer massiven staatlichen Beschäftigung halt. In der MMT-Vision für einen Green New Deal, die in „How to Pay for the Green New Deal“ dargelegt wird, würden Arbeiter*innen der AG nur in Teilen in Green New Deal-Projekten eingesetzt werden, für „arbeitsintensive Arbeiten“, die „keine teuren Kapitalinvestitionen oder Materialien erfordern“, und „nicht als qualifizierte Arbeitskräfte eingesetzt werden“. Facharbeit und kapitalintensive Güter und Dienstleistungen würden „einen Kernbestandteil des GND“ ausmachen, aber immer noch „von privaten Auftragnehmer*innen durchgeführt werden, während sie von [dem Staat] bezahlt werden“, finanziert durch Gelddrucken.

Die Arbeiter*innen brauchen dringend höhere Löhne und eine enorme Ausweitung der Sozialausgaben, aber das verwässerte Programm der MMT bietet unerwünschte Arbeitsplätze, während ihr Ansatz des Gelddruckens das Risiko birgt, die Krise des Kapitalismus weiter zu vertiefen. In einer kapitalistischen Wirtschaft, die bereits mit Waren überschwemmt ist, wird das Drucken von Geld für zusätzliche Produktion die Krise der Überproduktion noch verschärfen. Nur eine rationale, geplante Wirtschaft unter demokratischer Kontrolle kann die Produktion umleiten, um die Infrastruktur auf der Basis von 100 % erneuerbarer Energie, universeller Gesundheitsversorgung und guten Arbeitsplätzen für alle wieder aufzubauen.

Ohne eine Theorie des Wertes unterschätzen MMT-Vertreter*innen auch die Rolle der Schulden im Kapitalismus. Staatsschulden sind mehr als eine Zahl; sie sind ein Werkzeug für Kapitalist*innen, um Reichtum von anderen Klassen zu transferieren. Kapitalist*innen sind nicht nur die Hauptbegünstigten der Staatsausgaben, sie sind auch die Gläubiger*innen des Staates und werden ihre Kredite an die Regierung mit Zinsen durch die Besteuerung der Arbeiter*innenklasse und der Mittelklasse zurückbezahlt bekommen. In Band eins des Kapitals nannte Marx „die Staatsverschuldung ... einen der mächtigsten Hebel der primitiven Akkumulation“ des Kapitals.

Aber übermäßige Staatsverschuldung wird zu einer Belastung für den Kapitalismus. Bankguthaben, die in kapitalistische Unternehmen hätten investiert werden können, sind stattdessen in unproduktiven Staatsanleihen gebunden, die in der aktuellen Atmosphäre wirtschaftlicher Unsicherheit und geringer Rentabilität besonders attraktiv werden. Die staatliche Neuverschuldung hört auf ein Instrument der Kapitalakkumulation zu sein, da die realen Zinssätze auf null oder negativ fallen. Die Bewältigung der Staatsverschuldung durch Geldschöpfung, was in begrenztem Umfang bereits durch die Quantitative Lockerung geschehen ist, führte zu explodierenden Preisen an den Immobilien- und Finanzmärkten. Für Kapitalist*innen bedeutete dies steigende Kapitalkosten: teurere Gewerbeimmobilien und höhere Kosten für den Kauf von Anteilen an Start-ups und Konzernen. Dies verringert die Rentabilität weiter und schreckt sie von Investitionen ab. Das Drucken von Geld wandelt die Probleme der Verschuldung lediglich um, hebt sie aber nicht auf.

Außerdem sind die Staatsschulden nicht die einzigen Schulden, über die man sich Sorgen machen muss. Im letzten Jahr haben Zombie-Firmen, die nicht genug Gewinn erwirtschaften können, um die Zinsen für ihre Schulden zu bezahlen, und sich mehr Geld leihen müssen, um einen Bankrott zu vermeiden, ihre Schulden auf 2 Billionen Dollar verdoppelt. Diese Schuldenexplosion wurde von der Federal Reserve angeheizt, die in einem neuen Präzedenzfall Geld druckte, um Unternehmensanleihen aufzukaufen. Heute gibt es so viel spekulatives Geld, das um den Kauf von Schrottanleihen konkurriert, dass deren Renditen gefallen sind und die Unternehmen aufgefordert werden, noch mehr Schrottanleihen auszugeben. Die Blase der Unternehmensanleihen ist ein Pulverfass, das darauf wartet, eine Finanzkrise auszulösen, wenn die Zinsen steigen. Es gibt keinen historischen Grund zu glauben, dass die Zinssätze auf unbestimmte Zeit auf dem derzeitigen niedrigen Niveau bleiben werden. Wenn die Zinsen steigen und die Masse an Zombie-Unternehmen bedrohen, könnte das politische Establishment sogar Elemente der MMT-Logik herausgreifen, um immer größere Rettungsaktionen für Unternehmen zu rechtfertigen und so zu versuchen, das Platzen der Unternehmensschuldenblase zu verhindern.

In der Zwischenzeit gibt es keine Erleichterung für die Schulden der privaten Haushalte. Die amerikanische Regierung hat zwar einen Zahlungsaufschub für Studierendenkredite und Hypotheken sowie ein schwaches Moratorium für Zwangsräumungen beschlossen, aber die Arbeiter*innen müssen nach Ablauf der tilgungsfreien Zeit immer noch enorme Summen zurückzahlen. Der leere Aufschwung nach 2008 und die aktuelle Krise haben gewöhnliche Menschen bis an ihre Verschuldungsgrenze gebracht. Da fast 90 % der Menschen mit Studierendenkrediten diese während der Schonfrist nicht zurückzahlen, droht den arbeitenden Menschen das Gespenst eines massenhaften Zahlungsausfalls, sobald die Rückzahlung wieder obligatorisch wird. Aber die Fed wird uns nicht retten, wie sie es bei den Zombie-Unternehmen getan hat, es sei denn, sie wird durch eine Massenbewegung dazu gezwungen. Ohne eine solche Bewegung werden Kapitalist*innen und der Staat Schuldeneintreiber*innen, Anwält*innen und die Polizei schicken, um sich das Stück zu holen, das ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Schulden sind ein so integraler Bestandteil des Kapitalismus, dass die herrschende Klasse niemals zulassen wird, dass eine technokratische Gelddrucklösung sie eines solch nützlichen Werkzeugs beraubt. Eine sozialistische Transformation der Gesellschaft ist notwendig, um die Last der übermäßigen persönlichen Verschuldung zu beenden und das Leben der arbeitenden Menschen wieder schuldenfrei zu machen.

MMT hängt von der Macht des US-Imperialismus ab

Ein Großteil der ökonomischen Vorschläge von MMT-Vertreter*innen beruht auf der Sonderstellung des US-Imperialismus. Die Politik der MMT erfordert „monetäre Souveränität“ - eine Liste souveräner Privilegien, die die volle Kontrolle über die Ausgabe von Währungen, die Erhebung von Steuern, die Ausgabe von Schulden und die Fähigkeit, Wechselkurse zu floaten (floaten = frei schwanken lassen, Anm. d. Übers.), beinhaltet. Während die USA diese Kriterien erfüllen, tun dies nur wenige Länder auf der Welt. Einzelne Länder der Eurozone haben zum Beispiel nicht die volle Kontrolle über die Ausgabe des Euro. Viele Entwicklungsländer haben keine frei schwankenden Wechselkurse, weil der Imperialismus ihre Volkswirtschaften für den Tourismus oder den Export von Rohstoffen in eine Zwangsjacke gesteckt hat und sie so an den US-Dollar bindet. Versuche neokolonialer Länder, ihre monetäre Souveränität ungeachtet dieser Zwänge auszuüben, haben Währungskrisen ausgelöst, wie die Hyperinflation, die derzeit den Libanon erfasst, da die Zentralbank Lira druckt, um die Schulden einer von Korruption und imperialistischer Ausbeutung gebeutelten Regierung zu decken. Es ist klar, dass MMT-Vorschläge nur in wirklich wohlhabenden Ländern eine Chance haben, zu funktionieren.

Als vorherrschende imperialistische Weltmacht haben die USA auch das Privileg, dass der Dollar die Reservewährung der Welt ist. Das bedeutet, dass die Länder untereinander größtenteils in Dollar handeln, auch wenn keines der Länder den Dollar im Inland verwendet. Der Dollar macht über 60 % der weltweiten Devisenreserven aus. Die weltweite Akzeptanz des Dollars verleiht der Behauptung der MMT Glaubwürdigkeit, dass die USA so viel davon drucken können, wie sie wollen. Das liegt aber zum Teil daran, dass die Folgen des Gelddruckens auf andere Länder abgewälzt werden können, wobei die an den Dollar gekoppelten Länder am härtesten getroffen werden, weil sie neue Dollars mit eigenem Gelddrucken ausgleichen müssen, um die Währungsanbindung aufrechtzuerhalten.

Ein massives Gelddruckprogramm, das zu einer Abwertung führt, wird den Reservestatus des Dollars und die Stärke des US-Imperialismus, der ihn stützt, auf die Probe stellen. In diesem Stadium der weltweiten Krise werden die Kapitalist*innen anderer Länder den USA nicht ohne weiteres erlauben, entweder Inflation oder billigere Waren zum Dollarpreis in ihre Heimatmärkte zu exportieren. Die fortgeschrittenen Kapitalist*innen würden sicherlich Vergeltung gegen die Dollarabwertung üben. Für die neokoloniale Welt könnte eine vom Dollar angetriebene Inflation zusätzlich zur Coronavirus-Krise eine wirtschaftliche Katastrophe auslösen und Volksaufstände provozieren, die den Imperialismus herausfordern.

Für den aufstrebenden chinesischen Imperialismus könnte dies eine Gelegenheit sein, Länder aus der US-Einflusssphäre herauszuholen und in die eigene zu bringen. Möglicherweise ließe sich sogar beobachten, dass Elemente der MMT sowohl von rechten als auch von linken Nationalist*innen übernommen werden, die die US-Hegemonie mit inländischer Währungsautonomie bekämpfen wollen. Da der Welthandel an den Dollar gebunden ist, ist die Schaffung einer riesigen Menge an Dollars in Wirklichkeit eine protektionistische Maßnahme, die dem Export des Weges der USA aus der Krise gleichkommt und die zweifellos die zwischenimperialistische Rivalität beschleunigen, die nationalen Volkswirtschaften weiter entkoppeln und die Wirtschaftskrise vertiefen wird. Der Bruch mit dem Kapitalismus ist ein entscheidender Schritt für die neokolonialen Länder, um die imperialistische Vorherrschaft zu beenden, und für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften, um aus der gegenseitig zerstörerischen wirtschaftlichen Konkurrenz auszusteigen.

Wie können Arbeiter*innen Sozialausgaben gewinnen?

Die heutigen Sozialprogramme orientieren sich am New Deal von Präsident Roosevelt. Die wichtigsten Sozialprogramme des New Deal wurden nicht mit Worten und klugen Argumenten gewonnen, sondern durch einen gewaltigen Aufstand der Arbeiter*innenklasse. In den 1930er Jahren schwappten mehrere Streikwellen über das Land, durch die sich Millionen von Arbeiter*innen unter dem „Congress of Industrial Organizations“ gewerkschaftlich organisierten. Sozialist*innen spielten in diesem Prozess eine Schlüsselrolle, unter anderem führten sie 1934 den Streik der „Minneapolis Teamsters“ an, die sich gegen die Polizei, private Milizen, die Nationalgarde und eine feindliche Gewerkschaftsbürokratie zur Wehr setzten, um den Grundstein für eine starke Gewerkschaft zu legen.

Das ist die Art von Klassenkampfansatz, die wir heute brauchen.

Die Coronavirus-Krise und die wirtschaftliche Depression haben die ohnehin schon extreme Ungleichheit noch verschlimmert. Die Antwort auf die Frage „Wer soll für die Sozialausgaben zahlen?“ muss lauten: „die Reichen“. Seattle hat es vorgemacht, als das Socialist Alternative-Stadtratsmitglied Sawant eine kämpferische Kampagne zur Besteuerung von Amazon anführte und gewann. Jetzt müssen Arbeiter*innen und Sozialist*innen im ganzen Land diese Errungenschaften gegen einen Versuch der Rechten verteidigen, sie abzusetzen. Wenn schon ein einzelnes Stadtratsmitglied das tun kann, was könnten dann erst Bernie Sanders oder AOC erreichen, wenn sie zu einer Massenbewegung aufrufen, um die Reichen zu besteuern und den Green New Deal und Medicare For All zu finanzieren. Diese Art von Kampfbewegung, verbunden mit dem Aufbau einer unabhängigen Arbeiter*innenpartei, die von der Einmischung der Demokratischen Partei befreit ist, kann die beliebten Sozialprogramme in die Tat umsetzen.

Massive Ausgaben sind nicht länger das alleinige Eigentum von MMT-Ökonom*innen. Präsident Biden plant ein großes Konjunkturprogramm, das 400 Dollar/Woche an Arbeitslosenunterstützung und einen einmaligen Scheck von 1.400 Dollar vorsieht - alles ohne neue Steuern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Biden für die Linke gewonnen wurde oder dass er permanente Sozialausgaben beschließen wird. Während Bidens Konjunkturprogramm das genaue Gegenteil seiner sehr fiskalkonservativen Haltung während der Vorwahlen und der Parlamentswahlen ist, ist es nur die Tiefe der gegenwärtigen Krise, die ihn und die herrschende Klasse dazu zwingt, Geld für die einfachen Leute auszugeben, um die Wirtschaft zu stützen.

Wenn diese Ausgaben von oben nach unten durchgesetzt werden, wird dies bei Aktivist*innen und Technokrat*innen, wie den Befürworter*innen der MMT, Illusionen in die Lobbyarbeit des politischen Establishments für umfangreiche Sozialausgaben erzeugen. Dauerhafter sozialer Wandel kann jedoch nur durch eine organisierte Bewegung der Arbeiter*innenklasse gewonnen werden. MMT präsentiert sich als eine Abkürzung für die harte Arbeit des Aufbaus einer Bewegung, als eine Art Allheilmittel für diejenigen, die sich nach sozialem Wandel sehnen. Sozialist*innen sollten dem Appell von MMT freundlich und verständnisvoll gegenüberstehen, aber entschlossen auf seine Schwäche als bürgerliche Theorie hinweisen, die die Grenzen des kapitalistischen Systems selbst nicht anerkennt. Nur eine sozialistische Transformation der Gesellschaft kann einen hohen Lebensstandard für alle garantieren.

 

 

SLP & Februar 1934

Gedenken – Und wie wir die richtigen Lehren aus Kämpfen und Niederlagen ziehen können.
Simon Salzmann

Im Februar gedenken wir regelmäßig der Aufstände, die sich vom 12.-15. Februar 1934 in ganz Österreich ereigneten. Ausgehend von Linz erhoben sich Arbeiter*innen in heroischen Kämpfen gegen den Austrofaschismus. Diese wurden allerdings sehr schnell niedergeschlagen. Das lag vor allem an der Zögerlichkeit der sozialdemokratischen Führung, die bereits 1918 darauf verzichtet hatte, mit dem System zu brechen. Anstatt der radikalen Rhetorik auch radikale Aktionen folgen zu lassen, ließ sie die Arbeiter*innen im Stich.
Die SLP organisierte im Februar selbst sehr viel zum Thema. Organisiert von Aktivist*innen aus Linz fand eine Online–Veranstaltung statt. In Wien wurde eine historische Führung organisiert, die sich inhaltlich nicht nur auf Österreich im Jahr 1934 beschränkte, sondern bis nach Spanien im Jahr 1936 ging und die aktuelle Situation weltweit behandelte. Teil des Schwerpunktes war auch ein Spaziergang zu unserer Broschüre zum Thema und zum Abschluss ein Online-Quiz. Insbesondere die Führung war äußerst stark besucht. Das heißt: Viele Menschen wollen auch von vergangenen Niederlagen antifaschistischer Bewegungen lernen. Für mich ist deutlich geworden: Wenn man den Kampf gegen Faschismus nicht mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbindet, dann zeigt uns die Geschichte, dass er in eine brutale Niederlage führt.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Gamestop: Das System austricksen?

Sorry, die Welt kann nicht am Finanzmarkt verbessert werden, egal wie clever man trickst…
Peter Hauer

Ende Jänner explodierte die Aktie des Spiele-Händlers Gamestop. Der Grund: Die Investment Firma Melvin Capital spekulierte auf einen Fall der GameStop-Aktie. Aber auf dem Online-Forum Reddit „organisierten“ sich Kleinanleger*innen und kauften kollektiv über die Trading-App Robinhood Aktien. Dadurch stieg die Gamestop-Aktie von ca. 18$ auf 347$. Für Melvin Capital bedeutet das einen Verlust von 12,5 Milliarden $ und man musste von Investment-Firmen gerettet werden. Als Reaktion auf den massiven Anstieg sperrte Robinhood die Aktie, um Anleger*innen und sich selbst vor Schaden zu bewahren. Der wahre Grund ist eher, dass Robinhood, auch wenn es der Name suggeriert, nicht eine Umverteilung von Unten nach Oben zum Ziel hat (Kleinanleger*innen verlieren im Schnitt ca. 1/4 des eingesetzten Kapitals).
Der Coup sorgte für verständliche Schadenfreude gegen „die Großen“ – endlich hatten mal die „Kleinen“ profitiert. So stellt sich die Frage ob Apps wie Robinhood die Möglichkeit für eine gerechtere Verteilung des Reichtums bieten? Kann man egoistische Finanzhaie in den Griff bekommen, indem man sie mit ihren eigenen Waffen schlägt? Die kurze Antwort: Nein.
1. Kam die Trade-Initiative nicht „von unten“. Vielmehr nutzte Keith Gill, ein YouTuber und „zufälligerweise“ lizenzierter Finanzprofi, die Reddit-User und ihre Wut über die „großen“ für kurzzeitige Profite (und hat jetzt wegen Verstößen gegen das Wertpapiergesetz Ermittlungen am Hals).
2. Die Umverteilung war nur punktuell und nur einzelne Akteur*innen konnten Profit machen, andere erlitten enorme Verluste. Der 20 jährige Student Alex Kearns fiel auf die Propaganda herein, dass jedeR mit Aktien reich werden könne – und zerbrach am Horror-Minus am Konto.
3. Auch wenn sich hier Kleinanleger*innen organisierten, so fehlt Arbeiter*innen das Geld, um sich Aktienpakete zu kaufen. Das fette Geld geht nur mit großen Paketen und Reserven, um einen Kurssturz aussitzen zu können. Die „kleinen“ aber haben monatliche Ausgaben fürs Überleben und keine Rücklagen – ihre Einlagen sind Spielgeld für die „Großen“.
4. Im Gegensatz zu Arbeiter*innen verfügt der Aktienmarkt über Bailout-Mechanismen, die die Kapitalist*innen vor Schaden und „unachtsamem Gambling“ schützt.
5. Aktuell werden die Blasen auf den Finanzmärkten wieder größer. Aktien repräsentieren kaum reale Werte, sondern Wetten von Kapitalist*innen darauf, wie sich etwas entwickelt. 
Nach „ethischen Aktien“ (viel Öko, keine Waffen) ist das jüngste Beispiel eines, das Illusionen schürt, man könne dem System ein Schnippchen schlagen. Der Aktienmarkt als Instrument für eine Gesellschaft, in der man frei von irgendwelchen Zwängen leben kann, ist eine Illusion. Dass auch die Reddit-Gambler*innen keine soziale Ader haben, zeigte sich, als wenige Tage später im selben Forum vorgeschlagen wurde, Süd-Afrika für Profite finanziell zu ruinieren.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Warum ich der SLP beigetreten bin

Dylan P., 26 Jahre Datenwissenschaftler

Die Welt befindet sich in der Krise. Schulen, Krankenhäuser und die Infrastruktur sind unterfinanziert, während die Militär- und Polizeibudgets immer größer werden. Während die Mächtigen endlos debattieren und sich gegen die kleinsten Veränderungen wehren, kämpfen die Menschen ums Überleben. Das Versagen vermeintlich reicher Länder, diese Pandemie in den Griff zu bekommen, und die Brutalität der Polizei, die von konservativen und liberalen Politiker*innen gleichermaßen auf Anti-Rassismus-Demonstrationen losgelassen wurde, hat jeglichen Glauben, den ich noch an die Fähigkeit des gegenwärtigen Systems hatte, die Probleme unserer Zeit zu lösen, völlig erschüttert. Wenn sie daran scheitern, welche Hoffnung haben wir mit ihnen dann gegen den Klimawandel?
Wenn die Menschheit überhaupt eine Chance haben soll, das nächste Jahrhundert zu überleben, dann müssen wir die Probleme unserer modernen Gesellschaft radikal neu lösen. Wir brauchen Parteien, die sich gegen jene reiche Eliten stellen, die Profit über Menschen und Planeten setzen. Aus diesem Grund bin ich der SLP beigetreten.

 

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Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Offener Brief eines Schülers

Erleichterungen für den Coronajahrgang!
von Felix Lichtmannegger, Salzburg

Wir dokumentieren hier einen Text von Felix, einem Schüler aus Salzburg, der auf unseren Aufruf reagiert hat, Berichte aus dem Schulalltag unter Corona zu schicken. Sehr viele wichtige Punkte werden in seinem Text angesprochen. Schreibe auch du uns, egal ob Schüler*in oder Lehrer*in und berichte von deinen Erfahrungen im Bildungssystem und was sich ändern muss!

"Ich schreibe hier über meine Perspektive auf das Schulsystem und die Erzählung, welche uns die Schule unweigerlich vermittelt. Konkret fordere ich dazu auf, unserem
Jahrgang mindestens einen Fünfer zuzugestehen. (Achtklässler des BORG Straßwalchen)
Die zwangsläufige Konsequenz des Erlernten garantiert von Haus aus keinen Erfolg. Alleine deshalb sollten uns Erleichterungen für die Matura zugesprochen werden. Wir sollten keine leichtere Zentralmatura und keinen leichteren Abschluss fordern müssen. Denn die Politik Österreichs schuldet uns diese Zugeständnisse...
Uns wird durch eine Einsicht in die Pisa-Tests bewusst, dass unser Bildungssystem im europaweiten Vergleich vollkommen marode aussieht. Doch ist die Bildung überhaupt das eigentliche, oder nur das vorgetäuschte, formell erklärte Ziel der österreichischen Bildungspolitik? Nebenbei bemerkt: was soll dieser Aufstand der ÖVP-treuen Schüler_INNENunion während Corona? Wie kann man sich auf jeder erdenklichen Ebene hinter ein offensichtlich verpatztes Bildungsmanagement der vergangen Jahre stellen?
Die Aufgabe der Schule liegt in der Ausstattung der allgemeinen Bevölkerung mit Standpunkten und Urteilen zur Gesellschaft. Denn der Mensch wird unwissend geboren und durch maximal durch falsche Erziehung/ Bildung dumm gehalten. Die Begabung einer Schüler_in wird unter den Teppich gekehrt und man wird mit seinen Mitschüler_innen am selben Standard gemessen. Wir lernen nicht nur aktiv im Unterricht allerlei Dummheiten und Ungereimtheiten, sondern werden auch innerhalb der Organisation des Lernens passiv zur Dummheit erzogen. Die Schüler_innen weltweit bekommen gesagt, sie sollen sich doch einfach “auf ihren Hosenboden setzen”, mit dem nachgereichten Versprechen, es käme “ohne Fleiß kein Preis”, womit sich die Thematik des faulen Schulabbrechens auch schon erledigt habe, oder doch nicht?
Regelmäßig prasselt die Forderung, wir sollten uns doch einfach mehr anstrengen, auf uns ein. Nur wer sich im Leben anstrengt, wird etwas erreichen. Beim näheren Betrachten wird einem der ideologische und indoktrinierende Charakter der Forderung der Lehrer_innnen- und Elternschaft bewusst. Genau das wird zum universellen Urteil über die Welt. Jeder Mensch könne und werde zu Erfolg als zwangsläufige Konsequenz des Angeeigneten kommen. Wer nicht leistet, wird nämlich garantiert zum Versager.
Genau das lernt uns der Bildungsapparat damit. Dieser pädagogische Imperativ ist meist jedoch anders gemeint, als er verstanden wird: Das Erfolg haben ist natürlich keine zwangläufige Konsequenz des Erlernten. Trotzdem hat die Organisation des Schulwesens selbst schon etwas mit der Erhaltung des ideologischen Status quo zu tun.

Als Beispiel lässt sich dafür unter anderem der Umgang mit “Zeit” hinzuziehen. Der gesamte Tagesablauf der Schüler_innen wird durch sie getaktet. Sie lernen die Lehrpläne in vorgegebenen Zeitpensen, essen & trinken in ihnen, lernen eben jene Zeit in den für sie unterfordernden Fächern zu überbrücken. Wir kennen diese Art des Umgangs mit Menschen aus einem anderen Sektor ganz gut: “Arbeit in Zeit” als Funktion des Lohnarbeitsverhältnisses.
Jedoch wird diese systemische Gleichsetzung von der Schule als Einrichtung mit dem Lohnsektor selbst unhaltbar gemacht. Das Lernen innerhalb der Schule nimmt Maß an Zeit. Jedoch nimmt der menschliche Verstand, das Erlernen von sachlichem & logischem Verständnis nicht Maß an Zeit. Kein Mensch der Welt käme auf die  Idee, sich für das Lernen an privaten Interessen die Zeit derart einzuteilen. Es sollte sich die Frage gestellt werden, ob die strikte Unterordnung unter vorgegebene Zeitlimits in der Schule so förderlich ist.

Zu dieser absurden Leistungsideologie, welche nicht an das menschliche Wesen per se angepasst (niemand käme zB auf die Idee, Buchinhalte in solchen Zeitintervallen zu lesen) ist, kommt eine zusätzliche Banalität: Das Lernen geschieht im direkten Vergleich, also in Konkurrenz zu den ursprünglichen Kolleg_innen, die durch die Bewertung um die beste Note eindeutig unfreiwillig in die Konkurrenz rutschen. Anstatt die individuelle Leistung und den eigenen Fort- oder Rückschritt zu benoten, hat die lehrende Person nur die Möglichkeit, Leistung in Relation zu einer Gesamtheit an Schüler_innen zu beurteilen. Als gute_r Schüler_in musst du eigentlich nicht gut, sondern besser als deine Klassenkamerad_in sein. Wir werden zu selbstbewussten, konkurrenzfähigen Subjekten im Markt erzogen und haben uns daran zu gewöhnen, immer gegeneinander zu sein. Es ist ein harter Fakt, dass die Bemessung des Lernerfolgs unter absolut identischen Bedingungen erfolgt. Durch dies vermeintliche “Chancengleichheit” werden Menschen schon im Vorfeld aufgrund sozialer Herkunft
selektiert. Chancenungleichheit. Durch die stur Einteilung des Stoffes in strikte Lehrpläne werden Lernende, die den Inhalt nicht ganz verstehen auf der Strecke gelassen. Sie müssen schlichtweg damit leben, dass das Stoffpensum einfach fortschreiten muss. Somit werden offene (schulstoffbezogene) Fragen mit der gekonnten Ausrede der Lehrperson, man müsse den Lernplan erfüllen, bewusst nicht beantwortet. Das passiert in Corona mit besonderer Wucht. Denn vor allem wenn Lehrpersonen ihren Stoff während ihrer Unterrichtszeit schon nicht gut vermitteln können, können Sie das während Corona umso schlechter. Durch die (auch während normalem Unterricht stattfindenden) Notenvergebung selektiert die Schule selbst die Klasse in gute und schlechte Schüler_innen. Erwünscht ist nicht Auskunft über Gelerntes zu geben, sondern gute und schlechte Abgänger_innen zu produzieren.

Durch diese Kategorisierung wird die bildungspolitische Absicht hinter der Vergabe von Noten klar erkennbar. Sie sind absolut über die gesellschaftspolitische Verwertbarkeit (im Sinne des Arbeitsmarktes)  ussagekräftig. Der Nachwuchs ist genau genommen über dieses Maß (in dem kein logischer Zusammenhang zwischen Fehlern & Noten, geschweige denn Noten & Erfolg besteht) in die Berufshierarchie, die Masse der Lohnabhängigen eingeteilt. Aufgrund der Gleichsetzung mit anderen Schüler_innen wird suggeriert, der Erfolg einer Person stehe in direkter Abhängigkeit zum Versagen der anderen.
Es ist nebenbei bemerkt ein Verbrechen gegen den Verstand, nur bis zum Wiederkäuen des Gegebenen, nicht aber bis zum Hinterfragen des Erlernten zu arbeiten. Doch genau dieses Denken wird von der Schule befeuert. Sie lebt regelrecht von der Passivität. Nichts wird hinterfragt aber möglichst alles auf dem Testblatt schlussendlich wiedergegeben. Das Problem an der ganzen Sache: Tatsachen sind subjektiv. Der abschreckende Charakter, den die Schule den Lernenden vermittelt, bekommt “Lernen” per se einen abschreckenden Beigeschmack, weil der Leistungsdruck der Schule schnell frustriert.
Letztes Jahr hatte der Maturajahrgang die Möglichkeit, trotz einem 5er im Zeugnis aufzusteigen und zur Matura anzutreten. Trotz einer negativen Endjahresnote durften diese Leute aufsteigen. Ich habe mich umgehört: Ein Großteil meine Mitschüler_innen fürchtet sich mehr vor der Endjahresnote als vor der tatsächlichen Matura. Ich fordere dazu auf, uns mindestens dieselbe Möglichkeit zu bieten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Schulsystem in Österreich an sich schon immer vergleichsweise schlecht da stand. Wir lernen kaum fürs leben sondern für die Schule an sich. Außerdem wird muss uns der ideologische Charakter des Schulsystems bewusst sein. Wir werden an den selben Standards wie unsere Mitschüler_innen gemessen und anhand unserer „Leistung“ welche durch die Schule in Relation zu Mitschüler_innen bewertet wird, selektiert. Uns wird eingetrichtert, unser lernen würde sich immer rentieren, was faktisch nicht der Fall ist. Durch die Zeiteinteilung der Stunden wird uns die Vergleichbarkeit zum Lohnsektor bewusst.
Zeitgleich fehlt aber jede Sinnhaftigkeit darin, Menschen durch strikte Zeiteinteilungen im Stoffpensum hinterherinken zu lassen, was sich ja durch die COVID- Krise verschärft. Wir müssen das Bildungssystem komplett neu denken und umkrempeln. Es ist nämlich in seinem Wesen schon ungerecht. Es macht schlichtweg keinen Sinn, uns das Aufsteigen in die nächste Schulstufe zu verwehren, weil die Bewertung nach erbrachter Leistung in Relation zu „einem Durchschnitt“ an sich keinen Sinn macht.
Das sollten wir im Kopf behalten. Ich möchte einfach die Matura. Letztes Jahr bekamen die Schülerinnen trotz einer negativen Note im Endjahreszeugnis einen Schulabschluss und die Erlaubnis, zur Matura anzutreten. Das fordern wir, welche schon seit einem fast einem Jahr im Lockdown sitzen auch. Es gibt dafür zig Gründe.
Aber Fakt ist, dass sich der Ursprung meiner Forderung auf das gescheiterte Schulsystem an sich bezieht.

Hans-Gerd Öfinger - ein kurzer Nachruf

(D)Ein alter, damals junger Genosse

Hans-Gerd Öfinger, von allen nur HG genannt, ist gerade einmal 65-jährig, an Corona verstorben. HG war aktives Mitglied der Linken in Wiesbaden, Korrespondent des Neuen Deutschlands, führender Unterstützer des Funke und vor allem Mitgründer der Vorangruppe, auf deren Erbe unsere Schwesterorgansation in Deutschland fusst. Für die Anfänge der SLP, gemeint ist die Strömung um unsere Zeitung "Vorwärts", war HG sehr, sehr bedeutend. Er hat in den frühen 1980ern Wien besucht, war ein profunder Kenner der österreichischen Geschichte und Politik und war den damaligen, sehr jungen Genoss*innen, ein wichtiger Ratgeber und guter Freund. Wohl aus dieser Zeit kam auch sein Bezug zum Wiener Lied über den lieben Augustin, welches er bei vielen Gelegenheiten zum Besten gab. Unvergesslich bleibt mir zudem seine (damalige?) Leidenschaft für Zahnstocher. Unsere Wege haben sich im Kontext der Geschichte unsere Organisation(en) verloren. Trotzdem denke ich gerade heftig an Dich und deine lebenslange Partnerin Maria-Clara. 

 

 

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