Erdogans Kampf um die Macht

„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“ – Tayyip Erdogan
Stefan Gredler

Die AKP-Regierung beherrscht die Türkei seit fast 14 Jahren. Der Aufstieg zur Macht ist mit jenem von Recep Tayyip Erdogan eng verbunden, denn er ist der Mitgründer und unumstrittener Führer der „islamisch-demokratischen“ Bewegung. AKP steht für „Aufstiegs und Gerechtigkeitspartei“, die strahlende Glühbirne ist ihr Logo. Und viel hatte Erdogan versprochen: Zu einem Hort der politischen Stabilität wollte er die Türkei machen. Er versprach zu demokratisieren und den Einfluss des Militärs zurückzudrängen.

Zu einem wirtschaftlichen Aufstieg kam es in den Jahren unter Erdogan tatsächlich, doch die Hauptprofiteure des Booms waren die kapitalistische Minderheit des Landes und die Erdogan-Clique selbst. Gerechtigkeit hat die AKP nicht gebracht, weder ökonomisch, noch politisch oder gesellschaftlich – die Schere zwischen einer kleinen Minderheit von Superreichen und Millionen in Armut war noch nie so groß.

Tatsächlich hat es seit 1950, drei Militärputschen und zahlreichen Regierungswechseln keine Partei geschafft, solange an der Macht zu bleiben wie die AKP. Besonders in den armen und ländlich geprägten Gebieten Anatoliens liegt die Machtbasis des Erdogan Regimes. Er kann in den religiös geprägten Gebieten als starker Mann der islamischen Werte punkten. Zusätzlich wurden besonders in jenen Teilen Autobahnen, Wohnanlagen, Flughäfen, Schulen und Spitäler gebaut. Die Bevölkerung hatte in den Jahren des Aufschwungs plötzlich Zugang zu gratis Gesundheitsversorgung, es wurde in ihre unmittelbare Infrastruktur investiert und besonders Menschen, die für den Staat arbeiten wurden und werden heute noch mit leistbarem Wohnraum und sicheren Gehältern ans Regime gebunden.

Der Kopf der AKP spielt gerne den einfachen Mann des Volkes, der sich aus dem Istanbuler Arbeiterbezirk Kasımpaşa nach oben gekämpft hat. Er kommt früh in Kontakt mit islamisch-reaktionären Kräften und bleibt diesen Inhalten treu. 1994 wurde er überraschend zum Bürgermeister Istanbuls gewählt, 2001 gründet er dann seine AKP. Er geht massiv gegen den Einfluss des Militärs vor und beseitigt die alte kemalistische Machtelite und ersetzt sie durch seine Leute, regiert mit zunehmend diktatorischen Ausprägungen und benimmt sich wie ein Feudalfürst. Viele landen wegen „Majestätsbeleidigung“ im Gefängnis. Er will die Verfassung ändern und ein Präsidialsystem einführen. Das würde bedeuten, dass er das Land per Dekret regiert und das Parlament jederzeit auflösen kann. Die Türkei soll zur zentralen Macht in der Region ausgebaut werden – wirtschaftlich, aber auch militärisch.

Die reaktionären und religiösen Ansichten der neuen herrschenden Schicht versucht er in allen gesellschaftlichen Bereichen umzusetzen. Die Tradition der Türkei, die Religion zur Privatsache machte, wird beendet. Erdogan sieht Frauen als Gebärmaschinen, die mindestens drei Kinder bekommen sollten während der Mann arbeiten geht, Homosexualität ist etwas Teuflisches und Proteste gegen ihn würden vom Finanzkapital und dunklen Kräften gesteuert.

Heute ist jedoch der ökonomische Aufschwung und somit auch Erdogans politischer vorbei. Die türkische Wirtschaft steht auf extrem wackeligen Säulen, denn das Wachstum basierte auf einem durch Schulden und mit „Hot Money“ finanzierten Bau-Boom, der vor allem Teile des Klein- und Mittelkapitals massiv förderte. Mit ausländischen Krediten wurden binnen kürzester Zeit Dutzende von Mega-Einkaufszentren, Tunnel und Wolkenkratzer aus dem Boden gestampft. Aktuell soll der größte Flughafen der Welt entstehen. Eine riesige Kreditblase wurde geschaffen, um Konsum durch Privatschulden massiv anzukurbeln – zwei Drittel der Bevölkerung sind verschuldet.

"Scher dich zum Teufel Erdogan!“ – Grubenarbeiter aus Soma

Im Mai 2013 explodierten die Widersprüche und es kam zu landesweiten Protesten. Ausgehend von UmweltaktivistInnen, die den berühmt gewordenen Gezi-Park besetzten, gab es monatelangen Widerstand gegen die Regierung. Die Brutalität des Regimes heizte die Proteste an. Der von Tausenden besetzte Taksim-Platz war Symbol des Widerstandes, gegen das Erdogan Regime, gegen die Ungleichheit im Land, die Unterdrückung von Minderheiten, für LGBT- und Frauenrechte, gegen Kapitalismus und für eine solidarische und freie Gesellschaft. Erdogan setzt den Motor der Unterdrückung in Bewegung: Tränengas, Polizeibrutalität bis hin zu Toten, JournalistInnen, RichterInnen und StaatsanwältInnen werden verhaftet. Das Medienmonopol Erdogans hetzt über sieben Fernsehkanäle und acht Tageszeitungen gegen die Protestierenden und verteufelt sie als TerroristInnen, die von außen gesteuert werden würden. Das öffnete vielen die Augen. Besonders jene, die selbst plötzlich zu Terroristen wurden, obwohl sie gerade erst zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen hatten oder aus dem Fenster beobachteten wie Zivilpolizisten Menschen mit Farbflecken von den Gummigeschossen der Polizei verhafteten.

Die Propagandablase von der "stabilen und sozialen Türkei" ist endgültig geplatzt. Es folgt im Mai 2014 der Grubenunfall von Soma, bei dem 301 Bergleute ihr Leben lassen. Das einst staatliche Unternehmen wurde 2009 privatisiert. Proteste gegen das „Unglück“ werden mit Tränengas beantwortet. Die traditionellen 1.Mai Demos am Taksimplatz in Istanbul sind verboten und werden mit massiver Polizeigewalt unterdrückt. Statt Friedensprozess gibt es Krieg gegen die KurdInnen, mit über 200 Toten. Tendenz steigend. Statt Demokratiereform gibt es Polizeieinsätze und Haftstrafen für linke AktivistInnen, JournalistInnen, GewerkschafterInnen und viele andere.

Doch mit zunehmenden Angriffen kommt es auch zu immer mehr Widerstand seitens der ArbeiterInnenklasse. Als im Juni 2015 im westtürkischen Bursa die ArbeiterInnen der Automobilindustrie streikten, waren viele internationale Beobachter überrascht. Bursa gilt als Zentrum dieser Branche, große Konzerne lassen dort bauen. Staatsnahe Gewerkschaften garantierten Stabilität. Die ArbeiterInnen streikten nicht nur für höhere Löhne sondern auch gegen den staatsnahen Gewerkschaftsverband Türk-IS. Die Automobilbosse und die Türk-IS Spitze verteidigten sich mit dem Verweis auf große Lohnsteigerungen. Angesichts einer jährlichen Inflation von offiziellen ca. 8% und noch höheren Preissteigerungen spüren die ArbeiterInnen aber kaum etwas von den Lohnerhöhungen. Die Preissteigerungen sind für viele Menschen schwer zu verkraften und heizen die Unzufriedenheit an.

Mit dem Zuspitzen der inneren Widersprüche des türkischen Staates lässt Erdogan immer deutlicher seine demokratische Maske fallen. Die GegnerInnen werden zahlreicher und kommen aus der Jugend, der ArbeiterInnenbewegung und den kurdischen Gebieten. Entscheidend wird sein, wann und wie der Widerstand gegen die AKP-Regierung sich neu entfacht und ob es einen gemeinsamen Kampf der türkischen, kurdischen und weiteren Minderheiten angehörenden ArbeiterInnen gibt!

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