Internationales

Jerusalem-Coup und Antisemitismus-Debatte

Eine sozialistische Perspektive auf den Nahostkonflikt (Foto: credit: activestills.org)
Von Steve Hollasky, Dresden

Donald Trump scheint immer für eine Überraschung gut, allerdings heißt das in seinem Fall nur selten etwas Gutes. In diese Kategorie kann auch sein Entschluss, die US-amerikanische Botschaft in Israel nach Jerusalem zu verlegen, gezählt werden.

Die Reaktionen waren vorhersehbar: Die Hardliner in der israelischen Regierung freuten sich, die Herrschenden in der EU vergossen Krokodilstränen und die PalästinenserInnen wurden von Wut erfasst, brennende Israel-Fahnen am Brandenburger Tor und ein Bundespräsident, der vor dem Erstarken eines neuen Antisemitismus warnt.

Was bedeutet Trumps „Hauptstadtcoup“?

Die israelische Regierung beeilte sich sehr, nach der Ankündigung Trumps Jerusalem als Hauptstadt anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen, diesen Schritt als harmlos, ja – bezüglich des sogenannten Friedensprozesses – sogar als hilfreich darzustellen. Jerusalem sei nun einmal die Hauptstadt Israels, erklärte Netanjahu, und man müsse Fakten akzeptieren, wenn man Frieden wolle.

Wenn dem so wäre, dann würde das bedeuten, auch die palästinensischen Ansprüche auf Jerusalem als Fakt anzuerkennen, ebenso wie den Umstand, dass gleich alle drei Weltreligionen Jerusalem als konstituierend für ihren Glauben ansehen.

Tatsächlich stellt Trumps Maßnahme all die vielen schön klingenden Zusicherungen an die PalästinenserInnen ernsthaft infrage. Ein unabhängiger palästinensischer Staat, der wenigstens auch auf einen Teil der Stadt Jerusalem Anspruch erheben würde, scheint mit dem Schritt des US-amerikanischen Präsidenten in weite Ferne gerückt zu sein.

Wieso geht Trump diesen Schritt?

Die immer offeneren Mutmaßungen über den Gesundheitszustand des US-amerikanischen Präsidenten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Trumps Schritt Ergebnis eiskalter Berechnung war. Dabei spielten weder die Interessen noch ein angeblich bestehender politischer Druck jüdischer Kreise in den USA eine Rolle. Ganz im Gegenteil hat die weit überwiegende Mehrheit der US-amerikanischen Jüdinnen und Juden nicht Donald Trump gewählt. Von ihm erhofft sich die Mehrheit der US-amerikanischen Jüdinnen und Juden wohl kaum die Vertretung ihrer Interessen. Vielleicht versucht Trump diese Situation mit seiner Maßnahme auch – wenigstens teilweise – zu verändern und die politische Meinung von Jüdinnen und Juden in den USA zu seiner Regierung zu verändern. Ob ihm das mittels solcher Aktionen gelingen wird bleibt jedoch fraglich.

Als sicher kann hingegen angesehen werden, dass Trumps diplomatische Provokation die reaktionäre, erzkonservativ-christliche Rechte in den USA beeindrucken soll. Gerade jenes Klientel also, welches sich von Trumps Präsidentschaft so viel erhofft hatte. Dessen antimuslimische Vorurteile spricht das Weiße Haus an. Und genau diese Schicht ist über den Coup ihres Präsidenten hocherfreut.

Trumps Schritt dient zum einen als außenpolitisches Ablenkungsmanöver, um etwas Luft angesichts der vielen innenpolitischen Probleme seiner Präsidentschaft zu bekommen. Zum anderen sichert sich Trump mit der Anerkennung Jerusalems als israelischer Hauptstadt die Gunst des wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten in einer Phase, in der dort die Karten neu gemischt, die Pfründe neu verteilt werden.

Und er bietet ihm gleichzeitig konkrete Schützenhilfe an: Die Netanjahu-Regierung gerät im Land immer stärker unter Druck. Zuletzt gingen am 3. Dezember Zehntausende gegen den Chef des regierenden Likud-Blocks auf die Straße. Sie werfen Benjamin Netanjahu Vorteilsnahme in wenigstens zwei Fällen vor. So soll Netanjahu von dem US-Filmproduzenten und mehrfachen Milliardär Arnon Milchan teure Geschenke für sich und seine Ehefrau angenommen haben.

Dem Verleger der Zeitung Jediot Ahronot soll er im Gegenzug für eine positive Berichterstattung über sich und seine Regierung versprochen haben, dem Konkurrenzblatt Israel Hayom das Leben schwer zu machen.

Und gute Presse hat Netanjahu dringend nötig: Unvergessen sind die Szenen von Hunderttausenden, die vor nunmehr sechs Jahren den Rothschild-Prachtboulevard in Tel Aviv entlangmarschierten, weil die sozialen Kürzungen des Likud-Blocks ihnen das Leben unerträglich werden ließen; noch allzu frisch sind die Erinnerungen an den israelischen Lehrer, der mit seinen zwei Kindern inmitten Gleichgesinnter auf dieser Straße campte, weil er in der vierten Woche des Monats kein Geld für seine Familie mehr hatte, obwohl er voll arbeiten ging.

Auch heute zelten AktivistInnen wieder im Freien, diesmal vor der Staatsanwaltschaft, weil sie die Anklage Netanjahus fordern.Ihre Zahlen sind weitaus geringer als 2011, aber wie sie bewiesen haben, können auch sie Zehntausende mobilisieren.

Als Anfang Dezember der israelische Pharma-Riese Teva die Streichung von weltweit 14.000 Stellen bekanntgab und erklärte allein in Tel Aviv sollten 1.700 Arbeitsplätze wegfallen, streikten nicht nur die Beschäftigten des Unternehmens. Am Sonntag, dem 17.12. folgten auch zahlreiche Angestellte des öffentlichen Dienstes – in Banken, Schulen und anderen staatlichen Einrichtungen – dem Aufruf des Gewerkschaftsdachverbandes „Histadrut“ und legten die Arbeit nieder. Selbst die Börse musste zeitweilig ihre Pforten schließen. Der Streik sollte Solidarität mit den MitarbeiterInnen von Teva erzeugen. Diese blockierten an diesem Tag sogar Straßen und öffentliche Plätze.

Eines stellt der erfolgreiche Streik unter Beweis: Die Wut der ArbeiterInnen in Israel über ihre korrupte Regierung und über Arbeitsplatzvernichtung scheint riesig zu sein.

Und dennoch versucht Trump den in Bedrängnis geratenen israelischen Ministerpräsidenten zu stützen. Die aggressive Außenpolitik des Likud-Blocks liegt auch im Interesse des US-Präsidenten. Doch Netanjahu gibt es nur im Gesamtpaket, wer seine außenpolitischen Bestrebungen will, der muss seinen Sozialabbau im Inneren akzeptieren und auch seinen Umgang mit den PalästinenserInnen, die in Netanjahus Augen bestenfalls eine eingeschränkte Selbstverwaltung unter Ägide der Herrschenden in Israel genießen sollen. Auch für ihn birgt die Handlung Trumps große Chancen, ermöglicht es ihm doch von seinen Problemen im Inneren auf die außenpolitische Bühne abzulenken.

Palästinensische Reaktionen

In der Westbank und im Gaza-Streifen, den mehrheitlich von PalästinenserInnen bewohnten Gebieten, fielen die Reaktionen heftig aus: Zusammenstöße mit der israelischen Armee und ein Generalstreik in der Westbank. Angesichts dieses spontanen Widerstands, fühlte sich die rechte, islamistische Hamas gezwungen, zu einer „dritten Intifada“, also einem Aufstand gegen Israel aufzurufen.

Die Unterstützung der Hamas war in den letzten Jahren deutlich gesunken: Die Versorgungsschwierigkeiten, Korruption und die Unterdrückung grundlegender Rechte im Gaza-Streifen, haben das Bild der Hamas bei den palästinensischen Massen stark verändert. Zuletzt streikten am 12. Dezember Beschäftigte des öffentlichen Dienstes im Gaza-Streifen und forderten die Auszahlung des ausstehenden Novembergehalts. Die Hamas hatte die Entlohnung von Lehrerinnen und Lehrern und Verwaltungsangestellten mit Blick in die leeren öffentlichen Kassen unterbunden. Mit ihrem Aufruf zur Intifada versucht die Hamas Kontrolle über die Situation zu erlangen und verlorene Unterstützung wieder gut zu machen.

Scheinbar gerät die Hamas auch durch islamistische Splittergruppen unter Druck, die in den letzten Wochen mehrmals Raketen in Richtung Israel abfeuerten. Von denen wird der Beschuss von jüdischen Siedlungen als Widerstand gegen die Besatzung verkauft, obwohl er für die unterdrückten PalästinenserInnen nichts bewirkt, aber die israelische Zivilbevölkerung in die Arme der Netanjahu-Regierung treibt.

Und genau hierin liegt das Problem: Das Vorgehen der Hamas spaltet die Menschen in Israel und Palästina entlang ethnischer und religiöser Linien. Den Herrschenden in Israel werden die Raketeneinschläge nicht gefährlich, aber sie eignen sich bestens, um Angriffe auf den Gaza-Streifen zu legitimieren. Und wenn die Angriffe der Hamas auf Israel überhaupt irgendwen bedrohen dann – das zeigen alle Erfahrungen mit dieser Art des Kampfes – lediglich unschuldige Israelis.

Dabei war der Instinkt der palästinensischen Massen sich mittels eines Generalstreiks gegen Trumps Hauptstadtcoup zur Wehr zu setzen genau richtig. Nur wird die Hamas genau in diesem Kampf keine Hilfe sein.

Gemeinsam kämpfen lernen

Die einfachen ArbeiterInnen und Jugendlichen auf beiden Seiten der nationalen Spaltungslinie leiden unter der angespannten Sicherheitslage und unter Armut, Sozialabbau und der Dominanz der „eigenen“ kapitalistischen Eliten. Was in Israel und Palästina fehlt ist eine starke unabhängige, sozialistische Bewegung, die die soziale Frage in den Mittelpunkt rückt und auf der Basis einer gegenseitigen Anerkennung des nationalen Selbstbestimmungsrechts die gemeinsamen sozialen Interessen der israelisch-jüdischen und der palästinensischen Arbeiterklasse formuliert.

Auf der Grundlage wäre es möglich, den Sozialabbau in Israel und die Unterdrückung in den Palästinensergebieten zu beenden. Und die aktuelle Lage scheint dafür Möglichkeiten zu bieten: Allein im Dezember gab es in Israel und in den den Gebieten der PalästinenserInnen vier Massenkämpfe, es gab Streiks, Demonstrationen und Straßenbesetzungen. Eine sozialistische Bewegung würde versuchen diese Kämpfe zu vernetzen und die Gemeinsamkeiten in den Interessenslagen erkennbar werden zu lassen: Wie die Angestellten des öffentlichen Dienstes im Gaza-Streifen angesichts ausstehender Gehaltszahlungen Angst um ihre Existenz haben, so verzweifelt und wütend sind die israelischen Beschäftigten bei Teva. So wie die Israelis zunehmend die Likud-Regierung mit Netanjahu an der Spitze nicht mehr bereit sind zu ertragen, so sehr hassen die palästinensischen Massen diese Regierung, weil sie sie bedroht, bombardiert und jeden Ansatz für einen eigenen Staat zunichte macht.

Antisemitismus-Debatte in Deutschland

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnte unlängst vor dem Wiedererstarken antisemitischer Stimmungen in der deutschen Bevölkerung. Anlass zu dieser Warnung war eine Demonstration palästinensischer Gruppierungen vor dem Brandenburger Tor, die als Antwort auf den Schritt der USA gedacht war. Dabei wurden israelische Flaggen verbrannt.

Angesichts der deutschen Geschichte und des Holocausts ist es nachvollziehbar, dass das Verbrennen einer Fahne, die den Davidstern trägt, auf Empörung stößt. Genauso ist aber die Wut von PalästinenserInnen auf den Staat Israel nachvollziehbar, der für die Vertreibung Hunderttausender PalästinenserInnen und für jahrzehntelange Unterdrückung verantwortlich ist. Dass sich diese Wut auch gegen Symbole des unterdrückenden Staates richtet, ist nicht verwunderlich, wenn auch unklug, weil solche Aktionen nur den Effekt haben, die Debatte von der Verantwortung des israelischen Staates für millionenfaches Leid abzulenken und eine Antisemitismus-Debatte auszulösen, die heuchlerisch ist und sich immer mehr pauschalisierend gegen muslimische MigrantInnen richtet.

Das Argument, der Antisemitismus ziehe durch palästinensische Demonstrationen wieder in Deutschland ein, ist in ungefähr so schlüssig, wie die AfD/PEGIDA-Logik, nach der in Deutschland sexualisierte Gewalt gegen Frauen erst mit dem vermehrten Ankommen von Geflüchteten zu einem Problem geworden sei. Antisemitismus ist nicht mit den Protesten der PalästinenserInnen in Deutschland aufgetaucht. Er hat eine lange und ungebrochene Tradition. Und so sehr pauschalisierende Aussagen gegen Jüdinnen und Juden auf solchen Demonstrationen zurück gewiesen werden müssen, sind die Proteste in Solidarität mit Palästina alles andere als antisemitisch.

Die Linke und Palästina

Linke Gruppen und Parteien haben die Aufgabe den Kampf der Unterdrückten weltweit zu unterstützen und zu vernetzen. In Palästina ist das umso bedeutender, weil das Fehlen starker sozialistischer Kräfte den Kampf dort erschwert und Gruppen wie der Hamas Rückenwind verpasst. Der Kampf für ein befreites Palästina bedeutet Kampf gegen die Herrschenden in Israel. Der wird jedoch nur erfolgreich sein, wenn die ArbeiterInnen in Israel verstehen, dass sie mit den unterdrückten PalästinenserInnen weit gemein haben als mit den Herrschenden in ihrem Land. Einen solchen Kampf kann nur organisieren, wer mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen bricht. Der Kampf um ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten ist ein Kampf gegen den Kapitalismus. Frieden wird es nur geben, wenn die Internationale der Beherrschten ihn gegen die Internationale der Herrscher, der Trumps und der Netanjahus durchsetzen wird. Deshalb treten wir für ein sozialistisches Israel und ein sozialistisches Palästina – mit zwei Hauptstädten in Jerusalem – ein, in dem die Menschen frei entscheiden können, wie sie zusammen leben und ob sie sich zu einer Föderation sozialistischer Staaten im Nahen Osten zusammenschließen wollen. Das könnte, wie die Sozialistische Bewegung „Kampf“ in Israel und Palästina schreibt „einen angemessenen Lebensstandard, gleiche Rechte, Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit ermöglichen und gleichzeitig religiösen Zwang überwinden. In einer solchen Gesellschaft könnte Jerusalem als pluralistische Stadt aufblühen ohne verarmte Ghettos, ohne Diskriminierung und ohne Betonmauern.“

 

“Die Hoffnung, mehr Kontrolle über das Leben zu haben”

Interview mit Sinéad Daly zu den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland und Katalonien

In Katalonien, Schottland und anderen europäischen Ländern gibt es Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit. Warum ist das so?

Die Unfähigkeit des Kapitalismus die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, führt zu einem Anstieg von Spannungen zwischen Ländern, aber auch in ihnen selbst. Die europäische Arbeiterklasse hat einen hohen Preis für die Folgen der weltweiten Bankenkrise seit 2007/2008 bezahlt. Kürzungsprogramme, wachsende Arbeitslosigkeit, Streichungen von öffentlichen Dienstleistungen und eine stark wachsende Ungleichheit. Denn die Profite der obersten „ein Prozent“ wachsen rasant. Das ist verbunden mit einem Niedergang der bürgerlichen – inklusive der ehemals sozialdemokratischen – Parteien. All diese Parteien haben keine Antwort auf die Krise des Kapitalismus. Ganz im Gegenteil, sie tun so, als ob man nichts machen könne.

Menschen, die nach einem Ausweg aus dieser Situation suchen, können durch nationalistische Ideen angezogen werden. Die Sozialistische Partei Schottlands (Schwesterorganisation der SAV in Schottland) hat die Bewegung für schottische Unabhängigkeit und die Volksabstimmung als “Aufbegehren gegen Kürzungspolitik und das Establishment auf Wahlebene” bezeichnet. Angetrieben von der Hoffnung, mehr Kontrolle über ihr Leben zu haben, haben 1,6 Millionen Menschen für die Unabhängigkeit Schottlands gestimmt. Hunderttausende, die nie gewählt haben, haben sich beteiligt. Die Wahlbeteiligung lag bei über 85 Prozent.

Ähnliche Entwicklungen sehen wir in Katalonien. Die Wirtschaftskrise hat sich stark ausgewirkt. In Katalonien gibt es die höchste Rate an Mangelernährung, in Schulen kann im Winter nicht mehr geheizt werden und SchülerInnen müssen Decken zum Wärmen mitbringen. Die Unabhängigkeitsbewegung ist Ausdruck einer Hoffnung auf Besserung dieser Situation.

Das Zusammenkommen von wirtschaftlichen und sozialen Fragen mit nationaler Unterdrückung kann, wie wir es in Katalonien gesehen haben, zu Massenbewegungen bis hin zu revolutionären Situationen führen. Aber es gibt auch eine gefährliche und hässliche Seite des Wachstum des Nationalismus – insbesondere was das Wachstum der Rechten angeht.

Es gibt keine pauschale Herangehensweise an nationale Unabhängigkeitsbewegungen. Peter Hadden, der ein führendes Mitglied des Komitees für eine Arbeiterinternationale war, führt in seinem Buch “Bewegte Zeiten” über Nordirland aus: “Die Forderungen in der nationalen Frage müssen sich auf die tatsächlichen Umstände beziehen. Zum Bewusstsein verschiedener Schichten, besonders der Arbeiterklasse. Weder Bedingungen noch Bewusstsein sind fest oder statisch. Sie ändern sich ständig, müssen die Anforderungen neu bewertet, abgestimmt und verändert werden.”

Warum hat die SNP in Schottland zuletzt an Unterstützung verloren?

Auch wenn die Volksabstimmung nicht gewonnen wurde, hat die SNP damals massiv an Unterstützung gewonnen. Sie sind links aufgetreten, ihre Mitgliedschaft wuchs auf 100.000. Bei den Wahlen im Mai 2015 haben sie mehr als fünfzig Prozent der Stimmen gewonnen. Aber die Führung der Partei blieb die gleiche. Im schottischen Parlament und den Kommunen wurde Kürzungspolitik umgesetzt. Die SNP-Führung stellt sich auch sehr pro-EU auf. Aber viele, die für Unabhängigkeit stimmten, lehnen die EU der Banken und Konzerne ab.

Die letzten Parlamentswahlen sahen daher Verluste für die SNP. Gleichzeitig gibt es Hinweise für eine wachsende Unterstützung für die schottische Labour Party. Auch wenn das bisher wegen ihrer mangelhaften Position zur Frage der Unabhängigkeit Grenzen hat.

Wie wirken sich die Ereignisse in Katalonien auf Schottland aus?

Es gibt eine große Stimmung von Solidarität und Mitgefühl mit den Menschen in Katalonien. Das ist vor allem wegen der massiven staatlichen Repression der Fall. Tausende Menschen haben sich in Schottland an Solidaritätsdemonstrationen beteiligt.

Während der schottischen Unabhängigskeitskampagne gab es das “Projekt Angst” des Establishments, in Katalonien sehen wir das “Projekt Terror”. Dass sich Zehntausende dort zur Verteidigung der Wahllokale versammelt haben, sich Millionen an Streiks und Demonstrationen beteiligt haben, hat hier viele Menschen inspiriert. Zur gleichen Zeit verzweifeln die Menschen an der SNP, die sich auf die Seite der EU in dem Konflikt gestellt hat.

Wie stellen sich SozialistInnen zu diesen Ereignissen und zu den Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit?

Wir unterstützen die berechtigten Forderungen der Arbeiterklasse, aber machen deutlich, dass die Probleme auf Basis des Kapitalismus nicht gelöst werden können. Daher verbinden wir jede Bewegung mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft.

So hätten wir in Schottland natürlich einfach die Kampagne der SNP unterstützen können. Stattdessen haben wir eine Kampagne für ein unabhängiges sozialistisches Schottland geführt. Wir haben argumentiert, dass es nicht ausreicht die schottische Flagge am Holyrood (dem Parlament) zu hissen, sondern dass wir einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel brauchen.

Unsere Schwesterorganisation in Katalonien verteidigt das Recht der KatalanInnen über ihre Zukunft zu entscheiden und fordert ein sozialistisches Katalonien in Verbindung mit einer sozialistischen Konföderation aller Teile des Spanischen Staats. Dazu unterstützen wir alle Proteste gegen die Herrschenden und ihre Handlanger in der Zentralregierung.

Peter Hadden fasste in dem schon erwähnten Buch die sozialistische Herangehensweise an Unabhängigkeitsbewegungen sehr gut zusammen: “Sozialismus bedeutet […] eine internationale Einheit der Arbeiterklasse zu schaffen. Eine Einheit, die auf der Achtung der Unterschiede beruht und in der alle nationalen und Minderheitenrechte garantiert sind. Es ist die Einheit der Arbeiterklasse, die im Kampf für eine solche Gesellschaft geschaffen wird, die die nationale Frage lösen wird.“

Streik in Kasachstan

Wut der Bergleute entlädt sich
Bericht von KorrespondentInnen aus Kasachstan

Solidaritätsaktion am 16.10.2012

WM-Qualifikationsspiel Österreich - Kasachstan

 

In den Kohlegruben von Karaganda kommt es derzeit zu einem dramatischen Arbeitskampf. Es geht um die Übernahme der Minen durch „Arcellor Mittal Temirtau“.

Schon wenige Stunden nach Beginn des Ausstands ist den Bergleuten eine Lohnsteigerung von zunächst 20 Prozent, dann sogar von 50 Prozent angeboten worden. Dennoch haben hunderte von Kumpeln, die sich unter Tage aufhalten, geschworen, solange im Stollen zu bleiben, bis die Gesamtforderung erfüllt ist. Sie wollen direkte Gespräche mit dem Besitzer, dem indischen Milliardär Lakshmi Mittal, der das Land fluchtartig verlassen hat.

Insgesamt sind mehrere tausend Bergleute involviert, die seit einem halbe Jahr schon auf die Erfüllung ihrer Forderungen warten. Jetzt ist ihre Geduld am Ende! Zu ihren Forderungen zählt eine Lohnsteigerung um 100 Prozent sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Minen, um das unsagbare Maß an (teilweise tödlichen) Arbeitsunfällen spürbar zu senken. Darüber hinaus ist die Rückkehr zum Renteneintrittsalter von 50 Jahren das Ziel.

Der „Minister für sozialen Schutz“ hat für eine Zuspitzung des Konflikts gesorgt, indem er behauptet hat, die Beschäftigten würden bereits mehr als 1.000 Dollar im Monat verdienen! Fakt ist, dass sie weniger als die Hälfte dieser Summe dafür bekommen, dass sie jeden Tag Leib und Leben riskieren.

In den vergangenen Tagen haben Streikende und JournalistInnen die Aktionen – teilweise bei Minusgraden unter freiem Himmel – gefilmt und rufen zu internationaler Solidarität auf. Wie die Bergleute in den Filminterviews selbst sagen, ist die Mehrheit der Bevölkerung Kasachstans immer noch von der Kohleenergie und somit von ihrer Hände Arbeit abhängig. Das gilt sowohl für die Stromversorgung als auch für Heizmaterial.

In einem Filmmitschnitt ist ein streikender Bergmann zu sehen, wie er bei einer Massenkundgebung wütend erklärt: „Sie haben ihre feinen Häuser, ihre feinen Limousinen, ihre feinen Gehälter und wir können noch nicht einmal unsere Familien durchbringen!“. Eine andere Aufnahme zeigt einen Streikführer in der Zeche „Lenin“, der vor versammelter Belegschaft eine Rede hält. Unterbrochen von lautem Jubel sagt er: „Lenin wird bis zuletzt zu uns halten!“. Auf die Frage, ob es nicht ein Fünkchen Stabilität in Kasachstan gibt, antwortet ein Streikender mit den Worten: „Stabilität in diesem Land? – Nein!“.

Der 16. Dezember

Während dieser Artikel verfasst wurde, befanden sich alle acht Bergwerke im Ausstand. So kurz vor dem Unabhängigkeitstag des Landes, der jährlich am 16. Dezember begangen wird, nehmen die Spannungen also weiter zu.

Aus historischen Gründen ist dieses Datum in Kasachstan von großer Bedeutung. Am 16. Dezember 1986, als Kasachstan noch zur UdSSR gehörte, ist Dinmuchamed Kunajew, Generalsekretär der Kasachischen SSR, von Moskau abgesetzt und durch Gennadi Kolbin ersetzt worden. das führte zu unmittelbaren Protesten, die von den Studierenden ausgingen. Sie waren der Meinung, ein Mensch aus Kasachstan müsse an der Spitze der Teilrepublik stehen.

In Almaty (Alma-Ata) kam es zu Massendemonstrationen, die auch auf andere kasachische Städte übersprangen. Die Proteste sind energisch unterdrückt worden, wobei auch die Armee zum Einsatz kam. Es gab zahlreiche Opfer und eine Reihe von AktivistInnen ist für eine Zeit lang hinter Gitter verfrachtet worden. Einige von ihnen sind im Gefängnis gestorben. Viele Studierende sind exmatrikuliert worden. 1989 folgte dann Nasarbajew auf Kolbin.

Nach der Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 erklärte die Regierung des unabhängigen Kasachstan den 16. Dezember zum Unabhängigkeitstag.

Genau an diesem Tag kamen 25 Jahre später, im Jahr 2011, Beschäftigte der Ölindustrie und ihre Familienangehörigen zu einer friedlichen Kundgebung im Stadtzentrum von Schangaösen im Westen von Kasachstan zusammen. Vorangegangen war ein acht Monate langer Streik für höhere Löhne. Plötzlich wurden sie ohne Vorwarnung von bewaffneten staatlichen Kräften angegriffen. Über 70 Menschen wurden getötet, viele weitere wurden verletzt.

Rigoroses Durchgreifen und Widerstand

Für die Behörden ist der 16. Dezember aufgrund dieser Ereignisse zu einem Tag geworden, an dem sie besonders nervös werden. Man fürchtet, dass die Menschen das Datum aufgreifen, um die MärtyrerInnen der Vergangenheit zu ehren und ihre Wut gegenüber der fortdauernden diktatorischen Herrschaft von Nursultan Nasarbajew. Man hat Angst vor Massenprotesten, die von diesem Tag ausgehen könnten und zum Sturz der Regierung führen könnten. Dieses Jahr haben die Behörden bereits im Vorfeld Vorkehrungen getroffen, bei denen auch die Sondereinheit „Spetsnaz“, das Büro des Oberstaatsanwalts, die Geheimpolizei KNB, Polizei und Armee involviert sind. Telefone werden abgehört, Menschen beschattet, Polizeieinheiten verstärkt und interne ErmittlerInnen eingesetzt. All dies geschieht, um Proteste unmöglich zu machen.

Vor kurzem erst, am 30. November und somit einen Tag vor dem Nationalfeiertag zu Ehren von Präsident Nasarbajew am 1. Dezember, ist es zu einer spontanen Arbeitsniederlegung in einer Kupfer-Mine in Schesqasghan (Zentralkasachstan) gekommen. Das hat die Behörden schwer verunsichert. Die Geschäftsführung des Konzerns „Kazakhmys“ hat umgehend Lohnsteigerungen und umfangreiche Zugeständnisse zugesagt. Es gab jedoch nichts Schriftliches. Jetzt greift sie zusammen mit den Behörden auf verschiedene Methoden der Einschüchterung zurück: Erpressung, Drohungen, Warnungen, Versuche, um die AktivistInnen untereinander zu spalten, und viele andere schmutzige Tricks. Die Behörden versuchen verzweifelt, Proteste zum jetzigen Zeitpunkt zu verhindern.

Die Taktik des Regimes wird nicht aufgehen

Letztes Jahr sind die Leute sogar an den Tagen vor und nach dem 16. Dezember zu Hause geblieben. Die Straßen waren wie leer gefegt. Dieses Jahr könnte es anders kommen. Das Regime ist nervös, tritt aber gleichzeitig auch provokant auf.

Vor dem Hintergrund der ganzen diktatorischen Mittel ist der Flughafen der Hauptstadt Astana nach Nasarbajew benannt worden! In Almaty wurde eine Prachtstraße nach ihm benannt. Es gibt eine Universität, die seinen Namen trägt, einen Park, eine Schule und so weiter. Es gibt Denkmäler zu seinen Ehren und nun schlagen korrupte Parlamentsabgeordnete vor, die Hauptstadt Astana in „Nasarbajew“ umzubenennen!

Die Leute sind zwar außer sich, sie trauen sich bisher jedoch nicht, in der Öffentlichkeit irgendetwas in dieser Richtung zu äußern. Einige haben Angst ihre Arbeit zu verlieren. Andere sorgen sich um das Wohl ihrer Familie. Das ist die Methode, mit der die Schergen Nasarbajews vorgehen. Dem Journalisten Berig Schagiparow wurde offiziell mit Anklage gedroht, weil er in den sozialen Medien einfach nur über die Aktionen bei „Kazakhmys“ in Schesqasghan publiziert hat. Bevor es zum echten Wutausbruch kommt, wird man weiter versuchen, Einzelne herauszupicken. Eine starke Arbeiterbewegung ist wichtiger denn je. Und nun kommt es zu dem beeindruckenden Streik in Karaganda!

Sendet bitte Solidaritätsschreiben an die streikenden Kumpel. Fotos, Emails, Videonachrichten – alles ist in jeder Sprache willkommen. Nehmt über die „Kasachstan-Kampagne“ des CWI („Campaign Kasachstan“) Kontakt auf: campaignkazakhstan@gmail.com.

Schreibt auch der Botschaft Kasachstans in eurer Nähe, um dem Nasarbajew-Regime klarzumachen, dass wir weltweit noch genau das Bild vom Blutbad in Schangaösen vor Augen haben, als streikende ArbeiterInnen internationale Unterstützung für ihre Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen bekamen und dass die willkürliche Verhaftung von Menschen, die die Kämpfe der Arbeiterklasse unterstützen, ein Ende haben muss!

Bitte sendet heute noch Protestschreiben an Präsident Nasarbajew. Schreibt an die kasachische Botschaft: berlin@mfa.kz (https://embassy.goabroad.com/embassies-of/kazakhstan)

Muster für einen Protestbrief an Präsident Nursultan Nasarbajew:

Wir schreiben Ihnen und Ihrer Regierung, um unsere volle Unterstützung für die streikenden Bergleute in Karaganda auszudrücken, die einen entschlossenen Arbeitskampf für angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen begonnen haben. Jeden Tag setzen sie ihr Leben auf´s Spiel, um am Monatsende nur rund 500 € zu bekommen, während ein Minister der Regierung lügt und erzählt, sie würden das Doppelte bekommen. Seit einem halben Jahr bitten sie nun schon um bessere Verträge ohne bisher eine Antwort bekommen zu haben. Jetzt sind sie bereit zu streiken, viele von ihnen bleiben unter Tage bis ihnen ein faires Angebot gemacht wird.

Wir haben noch genau vor Augen, was vor sechs Jahren, am 16. Dezember 2011 passiert ist, als Beschäftigte der Ölindustrie in West-Kasachstan den Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen aufgenommen haben und Ihre Regierung bewaffnete Kräfte gegen friedlich demonstrierende Menschen in Schangaösen zum Einsatz gebracht und damit Dutzende ums Leben sowie viele weitere verletzt hat.

Sie haben schon Blut an den Händen, und wir möchten Sie warnen, dass jede weitere Gewalttat gegen streikende ArbeiterInnen und friedliche Proteste weltweit verurteilt werden wird.

Die Bergleute von Karaganda und andernorts haben die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung Kasachstans. Sie haben genug von dem, was Sie Regierung nennen. Sie erleben, wie ihnen vertraute Plätze Ihnen zu Ehren umbenannt werden – weil Sie seit Jahzehnten ein Diktator sind. Sie sehen, wie Sie, Ihre Familie und Freunde sich am Reichtum des Landes bereichern, den die ArbeiterInnen aus dem Boden holen. Und sie sind wütend, dass sie immer noch in erbärmlicher Armut und in einem Polizeistaat leben.

Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir niemals vergessen und vergeben, was am 16. Dezember 2011 passiert ist, und dass wir uns weiterhin für Gerechtigkeit einsetzen – für die Familien der Opfer und für all jene, die aufstehen und für ihre berechtigten Forderungen eintreten.

Wir sagen:

  • Geben Sie den ArbeiterInnen, was sie fordern oder bekommen Sie die Folgen zu spüren!
  • Treten sie ab und lassen Sie demokratische Wahlen zu!
  • Lassen Sie alle politischen Gefangenen frei, die Sie in Ihren Gefängnissen festhalten, und lassen sie alle Anklagen gegen sie fallen!
  • Keine Strafverfolgung gegen diejenigen, die sich für Arbeitnehmerrechte einsetzen!

Serbien: Interview mit einem Streikführer bei der serbischen Post

Das Gespräch führte Christoph Glanninger gemeinsam mit einem serbischen Gewerkschaftsaktivisten

Wir veröffentlichen hier ein Interview (vom 23.11.) mit Zoran Pavlovic, Präsident der Unabhängigen PostarbeiterInnengewerkschaft. Serbische PostarbeiterInnen befinden sich seit letzter Woche im Streik, wegen einer Reihe von Misständen. Die Firma, die im Staatsbesitz ist, weigert sich, grundlegende ArbeiterInnenrechte anzuerkennen und geht sogar gegen GewerkschaftsaktivistInnen vor. Serbien steht vor Regionalwahlen in Belgrad und wahrscheinlich auch vor gleichzeitig stattfindenden bundesweiten Wahlen. Ein Sieg im Streik könnte ein wichtiger Rückschlag für das Vucic-Regime und seine arbeiterInnenfeindliche Agenda bedeuten.

 

Postangestellte in Serbien befinden sich seit dieser Woche im Streik. Worum geht es in der Auseinandersetzungen?

Seit Jahren werden die ArbeiterInnen immer ärmer. Aber in den letzten 3 Jahren werden unsere Arbeitsrechte, die durch die Gesetze und die Verfassung der Republik Serbien garantiert werden, genauso wie unsere Kollektivverträge noch stärker bedroht. Das ist einer der Hauptgründe wegen denen wir den Protest gestartet haben. Der andere Grund ist, dass wir (als GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen) von der stellvertretenden Geschäftsführerin, Mira Petrovic, ignoriert werden.

Der zentrale Grund, wegen dem unsere Gewerkschaft, seit ihrer Gründung 2006, so schlecht behandelt wird, ist, dass wir immer kritisch gegenüber dem Management waren, egal welche politischen Parteien gerade an der Macht waren. Leider ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass die regierenden Parteien die öffentlichen Firmen und öffentliches Eigentum behandeln, als wäre es ihr Privateigentum. Oft nominieren sie inkompetente Parteimitglieder für Positionen reserviert für ExpertInnen und Menschen mit Erfahrung.

Diese Gründe, genauso wie unsere Rolle als GewerkschafterInnen, haben uns motiviert, Widerstand gegen dieses Verhalten zu leisten, mit allen legalen Mittel die uns zur Verfügung stehen.

Unsere Forderungen betreffen die zentralsten Probleme der ArbeiterInnen:

  •  Die illegale 3 monatliche Suspendierung von 47 ArbeiterInnen muss beendet werden.

Fast 50 ArbeiterInnen wurden suspendiert, weil sie in ihrer Freizeit auf einem öffentlichen Platz protestiert haben. Sie haben sich vor dem Hauptquartier der Post versammelt, um zu protestieren und wurden von CCTV gefilmt, und danach vom Management suspendiert. Sie sind alle ehrliche, hart arbeitende Menschen, mit Familien, die sie versorgen müssen und die Mehrheit arbeitet schon seit Jahrzehnten für die serbische Post. Einige von ihnen haben große Familien die sie unterstützen müssen, mit kranken Kindern oder Verwandten.

  • Die sofortige Entlassung von Mira Petrovic von der Position der geschäftsführenden Generalmanagerin der serbischen Post, weil ihre Amtszeit schon vor Monaten abgelaufen ist.

Die stellvertretende Geschäftsführerin Mira Petrovic wurde von der PUPS eingesetzt (der Partei der PensionistInnen und Pensionierten). Ihre Amtszeit ist am 12. September dieses Jahr abgelaufen. Sie ist der Kern vieler Probleme. Sie ist inkompetent, ihre Managementaufgaben zu erfüllen und der einzige Grund, aus dem sie eingesetzt wurde, ist ihre Mitgliedschaft und Loyalität zur PUPS-Partei. Sie agiert, als wäre die serbische Post ihr Privatbesitz und nutzt die Werbung zum politischen Eigennutz. Parteimitglieder werden angestellt, die PUPS-Partei und ihre Verbündeten und Koalitionspartner werden finanziert.

Wir bereiten auch Strafanzeige gegen Mira Petrovic vor.

  • Eine Gehaltserhöhung, die der echten Anzahl an geleisteten Arbeitsstunden in den letzten 3 Jahren entspricht.

Die serbische Post ist eine öffentliche Firma, die nicht vom Budget der serbischen Republik abhängt, sondern sich durch ihre eigenen Einnahmen am Markt finanziert. Wir sind eine der erfolgreichsten Firmen in Serbien, was die Profite angeht, aber die Löhne der ArbeiterInnen werden nicht entsprechend dem Geschäftserfolg erhöht. Im Gegenteil; die Einkommen der ArbeiterInnen werden gesenkt und ArbeiterInnen werden ärmer, Jahr um Jahr. Wir schätzen, dass es in den letzten 3 Jahren einen Einkommensverlust von ca. 14% gegeben hat. Zusätzlich dazu hat die Regierung die Löhne um 10% gekürzt als Teil eines Austeritätsprogrammes, das mit dem IMF und der EZB abgeschlossen wurde. Vor den Kürzungen war das Einkommen der PostarbeiterInnen im staatlichen Durchschnitt, jetzt liegt es deutlich unter dem Durchschnittseinkommen.

Vor ein paar Monaten hat die Regierung das Einkommen für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst um 10% erhöht, aber die Gehälter von PostarbeiterInnen wurden nicht erhöht. Das hat die ArbeiterInnen zusätzlich wütend gemacht.

  •  Das mittlere und obere Management soll Verantwortung für den Druck, die Suspendierungen und den Drohungen gegenüber den Beschäftigten und GewerkschaftsaktivistInnen übernehmen.

Das Management hat ein Verbot von gewerkschaftlicher Organisierung in der serbischen Post eingeführt. Fünf von 8 Mitgliedern unseres Streikkomitees wurden suspendiert und dürfen kein Gebäude oder Büro der serbischen Post mehr betreten. Das Management hat einen Streik gestoppt, der gesetzlich komplett legitimiert war.

  • Die Entlassung des Präsidenten und der Mitglieder des Aufsichtsgremiums weil sie ihrer Pflicht nicht nachgekommen sind.

Das Aufsichtsgremium ist ein Gremium mit 5 Mitglieder, einer davon sollte eigentlich ein Repräsentant der ArbeiterInnen sein. Es ist unakzeptabel, dass der ArbeiterInnenrepräsentant, Goran Djeric, gleichzeitig ein Mitglied des oberen Managaments der Firma ist.

  • Alle LeiharbeiterInnen und ArbeiterInnen mit befristeten Arbeitsverträgen müssen in der Firma voll beschäftigt werden.

Diese ArbeiterInnen arbeiten für ein viel niedrigeres Einkommen als der Durchschnitt für die Positionen die sie besetzen. Sie haben keine Kranken- und Rentenversicherung oder bezahlten Jahresurlaub.

  •  Alle ArbeiterInnen, die voll beschäftigt sind, aber einen befristeten Vertrag unterschrieben haben, müssen einen Vertrag zur Vollbeschäftigung erhalten, auf dem kein Kündigungsdatum angeben ist.

Eigentlich sollte sich der Status von ArbeiterInnen mit der Zeit verbessern, bzgl. ihrer Arbeitsplatzsicherheit. Trotzdem wurden von 900 ArbeiterInnen mit befristeten Arbeitsverträgen, sogar nach einem Eingreifen der Regierung, bis jetzt nur 586 fest angestellt. Das Gesetzt besagt, dass ArbeiterInnen nur 2 Jahre lang mit befristeten Verträgen arbeiten dürfen und danach voll beschäftigt oder entlassen werden müssen, wir schätzen, dass 174 ArbeiterInnen mit befristeten Verträgen schon mehr als zwei Jahre in der Firma arbeiten.

  • Wir verlangen, dass das Unternehmen mehr ArbeiterInnen in technischen Positionen anstellt.

Viele Positionen sind unterbesetzt. Aus diesem Grund konnten und können viele ArbeiterInnen den bezahlten (auch nicht bezahlten) Jahresurlaub, der gesetzlich garantiert ist, nicht nutzen. Tage, die zum Jahresurlaub gehören, werden in "freie Tage" umgewandelt, was illegal ist. Die ArbeiterInnen sammeln eine große Anzahl an "freien Tagen" auf, aber nach drei Jahren verfallen alle "freien Tage".

ArbeiterInnen haben Angst, eine Klage gegen das Unternehmen einzureichen, sogar wenn sie wissen, dass sie die Klage eindeutig gewinnen können.

  • Aufnahme von Verhandlungen zwischen den ArbeiterInnen und ihren VertreterInnen auf der einen Seite und dem Management auf der anderen Seite im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichheit.

Wir werden daran gehindert, Verhandlungen mit dem Arbeitgeber zu führen. Unsere Gewerkschaft wird ungleich behandelt, und der Zugang zu wichtigen Informationen über Unternehmensführung und -erfolg wird uns verweigert. Wir waren gezwungen, Informationen über das Büro des Kommissars für Informationen mit öffentlicher Relevanz einzuholen. Bei vielen Gelegenheiten baten wir um ein Treffen mit der Geschäftsleitung und der stellvertretenden Geschäftsführerin Mira Petrovic. Sie arrangierte ein Treffen mit unserer Gewerkschaft am 19. Oktober, aber erst nachdem wir zwei Tage lang protestiert hatten.

  • Alle Personen, die zwar schon formal pensioniert sind, aber trotzdem in Managementpositionen angestellt werden, müssen entlassen werden

In der serbischen Postgesellschaft werden Personen, die bereits in Rente sind, als Manager, Direktoren und Sonderräte eingestellt. Dies geschieht über spezielle Verträge. Wir wehren uns dagegen, weil es viele junge, derzeit arbeitslose ExpertInnen gibt, die viel besser eingesetzt werden könnten.

 

Wie viele ArbeiterInnen streiken derzeit und welche Entwicklungen haben vor dem Streik stattgefunden?

Die Entscheidung zu streiken sowie unsere Forderungen bleiben. Wir riefen die Mutigsten unter unseren Mitgliedern und unter den ArbeiterInnenn zum Streik auf. Einige von ihnen beschlossen, selbst trotz enormem Druck und Drohungen zu streiken. Außerdem haben wir uns entschlossen, alle, die Angst vor einem Streik haben, zu Demonstrationen und Protestprozessionen im Stadtzentrum von Belgrad aufzurufen. Mehr als 2.000 Menschen haben protestiert. Leider fehlen uns die finanziellen Mittel, um den Transport von vielen serbischen Standorten nach Belgrad zu organisieren.

Bevor wir uns entschlossen haben zu protestieren, haben wir monatelang an die Geschäftsleitung und den geschäftsführenden Geschäftsführer appelliert, aber ohne Ergebnis. Wir haben ihre Entlassung erst zu unseren Forderungen hinzugefügt, nachdem 47 ArbeiterInnen widerrechtlich suspendiert worden waren.

Wer organisiert den Protest und den Streik und welche Gewerkschaften sind beteiligt? Bekommt ihr Unterstützung von anderen Organisationen?

Der Hauptorganisator des Protestes ist die Unabhängige Gewerkschaft der Postangestellten (Samostalni Sindikat Poštanski Radnika), und wir arbeiten eng mit der "Gewerkschaft Solidarität bei der serbischen Post" zusammen. Auch der Verband der unabhängigen Gewerkschaften Serbiens unterstützt unseren Protest. Unterstützung kam auch von der Polizeigewerkschaft Serbiens, der Militärunion Serbiens, der unabhängigen Gewerkschaft für Bildung in Vojvodina, der ArbeiterInnenbewegung und "BORBA", der Studierendenorganisation "7 Forderungen", marxistischen und linksorientierten Aktivisten und anderen Organisationen, die ArbeiterInnenkämpfe unterstützen.

Welche Rolle spielen die Regierung und die politischen Parteien?

Die Tatsache, dass eine politische Partei in der Regierung das Postsystem als privates Eigentum nutzt, spricht Bände.

Wie könnt ihr diesen Kampf gegen das Unternehmen und die Regierung gewinnen?

Wir dürfen nicht aufgeben. Wir rufen alle Menschen auf, sich unserem Kampf anzuschließen. Wir verwenden alle rechtlichen Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Dieser Kampf stößt an Systemgrenzen, aber wir geben unser Bestes und geben nicht auf.

Was können GewerkschafterInnen und linke AktivistInnen auf der ganzen Welt tun, um Ihren Kampf zu unterstützen?

Es ist unerlässlich, dass ihr euren Einfluss, wo auch immer, nutzt: um zu veröffentlichen, zu zeigen und zu erklären, wie die ArbeiterInnenrechte in der serbischen Post unter Beschuss stehen. Genauso wie alle ArbeiterInnenrechte in Serbien.

Danke für das Gespräch

 

Wir rufen alle ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und linke AktivistInnen dazu auf Solidarität mit dem Kampf der ArbeiterInnen bei der serbischen Post zu zeigen und Protestresolutionen an folgende Adressen zu senden:

Und Kopien an:

Unterstützung kann auch an den Präsidenten der unabhängige Gewerkschaft der Postarbeiterinnen, Zoran Pavlovic gesendet werden. Telefonnummer: +381646651087

 

Vorlage für eine Protestresolution:

To Prime minister, Ana Brnabic; Minister for tourism, telecomunication and services; Minister for regional development and coordination of Public Companies; Ministry for work, employment, war veterans and social issues;.

I have been informed by the CWI and the Serbian activist group, Borba, about the mistreatment of workers at the Public Enterprise Post of Serbia. The sacking and suspension of trade unionists for organizing within the company and protesting for better working conditions represents a fundamental attack on basic workers‘ rights. We strongly condemn the suspension of 47 workers for protesting in public places, as well as the suspension of five members of the strike committee.

We stand in solidarity with the independent union of postal workers. It is outrageous that workers are facing suspension for protesting and asking for essential improvements, like higher wages, fair working contracts and more employees to manage the workload. The demands of the independent postal workers union are completely justified and we demand their immediate implementation. We will inform the public and media and keep them updated about developments.

 

Nuklearer Krieg um Korea?

Viele Menschen fürchten sich angesichts der aggressiven Parolen von Trump und Kim Jong-un vor einem Krieg.
Claus Ludwig

Nordkorea würde bei einer militärischen Konfrontation mit den USA und Südkorea den Kürzeren ziehen. Doch die nordkoreanische Artillerie könnte vor ihrer Vernichtung durch die Luftüberlegenheit der USA massive Zerstörungen mit Zehntausenden Toten in der nur 50 km südlich der Demarkationslinie liegenden südkoreanischen Hauptstadt Seoul anrichten. Käme es zum Einsatz von Nuklearwaffen, könnte niemand vorhersagen, was passiert.

Kriege entstehen nicht, weil bei einem Präsidenten die Sicherungen durchknallen. Sie basieren auf den profit- und geostrategischen Interessen der herrschenden Klassen. Der Streit um Nordkorea ist Teil des Machtkampfes insbesondere zwischen den USA und China um die Vorherrschaft im Pazifischen Raum. Die aggressive Rhetorik dient Trump und dem Kim-Regime dazu, die eigene Bevölkerung auf einen äußeren „Feind“ zu fokussieren. Kim Jong-un und seine Generäle sind keineswegs „irre“. Sie spielen ihren einzigen Trumpf und drohen mit der atomaren Option, um an Verhandlungen beteiligt zu werden und nicht zu enden wie Libyens Gaddafi.

Die USA wollen das Regime in Pjöngjang schwächen, die eigenen Verbündeten – v.a. Südkorea, Japan und Vietnam – enger an die USA binden und China isolieren. Und doch ist die Kriegsgefahr gewachsen. Gegenseitige Provokationen ermöglichen Fehleinschätzungen und Überreaktionen. Ein Krieg würde aber auch Antikriegs-Proteste weltweit auslösen und Trumps Regierung weiter destabilisieren. Auch das wissen die Strategen….

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Wessen Katalonien?

Franz Neuhold

Die Ereignisse seit dem Referendum vom 1. Oktober beweisen, dass im Kapitalismus selbst demokratische Prinzipien wie das Selbstbestimmungsrecht von Massenbewegungen erkämpft werden müssen. Das spanische Bürgertum hat Katalonien tatsächlich nicht mehr zu bieten als juristische Formalitäten, königliche Ansprachen und Schlagstöcke.

Das gegen die Unabhängigkeit geführte Argument, das reiche Barcelona wolle ja nur die Solidarität mit den armen Regionen aufkündigen, mag mitunter auf das nationalistische katalanische Bürgertum zutreffen. Doch dieses stellt sich ebenso wie Rajoys konservative Regierung in Madrid mit neoliberaler Politik und Sozialkürzungen gegen die Mehrheit. Für viele Menschen sind die Unabhängigkeits-Bestrebungen mit dem Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung verwoben. Wenn sich Puigdemont (Chef der katalanischen Autonomie-Behörden) und die PDeCAT mit ihrem neoliberalen Kurs halten, wird für die meisten Menschen durch Unabhängigkeit kaum etwas gewonnen sein. Die Bruchlinie zwischen Puigdemont und den Massen wurde am 10. Oktober offenkundig, als er die Unabhängigkeitserklärung aussetzte. Die katalanische Linke muss nun die Zeit nutzen, um einen echten Dialog zu führen: mit jenen in der Bevölkerung, die gegen die Unabhängigkeit oder (noch) skeptisch sind. Auch der Generalstreik gegen Polizeigewalt (3.10.) wurde von „unten“ dominiert. Ob HafenarbeiterInnen, öffentlich Bedienstete oder SchülerInnen. Durch sie war dieser Protest in den Augen des spanischen Innenministers eine „Aufstachelung zur Rebellion“. DAS ist für den spanischen Kapitalismus das eigentliche Problem. Ein Katalonien, welches sich Richtung ArbeiterInnen-Regierung bewegt, könnte auf der ganzen Halbinsel zu Aufständen führen. Eine Kettenreaktion, die den Kapitalismus erschüttert, wäre gestartet. Dadurch könnte sich eine Einheit von katalanischen und spanischen ArbeiterInnen erneuern; ob als Föderation, mit Autonomie oder durch Wiedervereinigung. Entscheidend ist, dass unter den Bedingungen sozialistischer Republiken aufgrund gesellschaftlichen Eigentums, geplanter Wirtschaft (auf technologisch hohem Niveau) und umfassender ArbeiterInnen-Demokratie die sozialen Gräben gemeinsam zugeschüttet werden könnten.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Deutschland nach den Wahlen

Ein langweiliger Bundestagswahlkampf endet mit einem politischen Erdbeben und ersten Protesten
Wolfram Klein, Mitglied des Bundesvorstandes der SAV, www.sozialismus.info

Der Bundestagswahlkampf in Deutschland war extrem langweilig. Merkel würde Kanzlerin bleiben. Unklar war nur, in welcher Koalition. Auch dass mit der AfD zum ersten Mal seit den 1950er Jahren eine Partei rechts von CDU/CSU in den Bundestag einziehen würde, war abzusehen.

Da CDU/CSU und SPD in den letzten vier Jahren gemeinsam regierten und ohnehin beide für kapitalistische Interessen und neoliberale Politik stehen, bestanden keine großen Differenzen. Dass die SPD deutlich verlieren würde, wurde erwartet. Überraschender war, dass CDU und CSU noch mehr verloren (-8,6%, SPD -5,2%) und die FDP zweistellig (10,7%) wieder in den Bundestag einzog. Der Erfolg der FDP fußt im Überdruss über die große Koalition in bürgerlichen Kreisen und massive finanzielle, publizistische etc. Unterstützung für diese „kleine Partei des großen Kapitals“.

Die SPD erklärte am Wahlabend den Gang in die Opposition. Fast die einzig vorstellbare Regierungskonstellation ist eine Jamaika-Koalition (CDU/CSU, FDP und Grüne). Bei einem Scheitern von „Jamaika“ könnte es Neuwahlen geben … es sei denn, die SPD ließe sich dann doch noch zu einer Koalition breitschlagen.

Das Ergebnis der AfD mit 12,6% war deutlich höher als erwartet. Es hat viele Menschen erschreckt und führte umgehend zu Protesten mit teils Tausenden TeilnehmerInnen. Das Ergebnis erinnert an verschiedene Landtagswahlen 2016 unter dem Eindruck der „Flüchtlingskrise“. Danach war die Unterstützung der AfD wieder zurückgegangen. In den letzten Wochen vor den Wahlen stieg sie wieder, auch weil beträchtliche Teile der Medien die Flüchtlingspolitik wieder in den Vordergrund schoben.

60% der AfD-WählerInnen sagen, dass sie die Partei aus Protest wählen. Dahinter steckt bei vielen ein Gefühl des Abgehängtseins (nicht nur wirtschaftlich und sozial). Das verbindet sich mit rassistischen, nationalistischen und antimuslimischen Vorurteilen, die seit Jahrzehnten von bürgerlichen Parteien und Medien geschürt wurden. Diese Vorurteile werden bei vielen erst aufgrund der Erfahrung von gemeinsamen Kämpfen gegen „die da oben“ wieder verschwinden. Aber auch davor ist es nicht zwangsläufig, dass sie im Bewusstsein im Vordergrund stehen. Ein großer Teil der heutigen AfD-WählerInnen hatte solche Vorurteile schon vor der „Flüchtlingskrise“ 2015, aber zu anderen Zeiten waren sie nicht wahlentscheidend für sie.

Die LINKE hatte zwei verschiedene Wahlergebnisse. In Ostdeutschland, wo sie in drei Bundesländern und in vielen Kommunen mitregiert und weithin als Teil des Establishments gesehen wird, fiel sie von 22,7% auf 17,8%. In Westdeutschland, wo sie aufmüpfiger, radikaler, mit sozialen Bewegungen verbunden ist, Arbeitskämpfe unterstützt hat, legte sie von 5,6 auf 7,4% zu (bundesweit von 8,6 auf 9,2%). Mit einem radikaleren Wahlkampf wäre mehr drin gewesen. Leider lernen die Teile der LINKEN, die bisher eine Koalition mit SPD und Grünen propagiert haben, offenbar nicht, sondern bieten der SPD jetzt Zusammenarbeit in der Opposition an.

SAV-Mitglieder waren in Bremen und Bayreuth Wahlkreiskandidaten der LINKEN und hatten eine Kandidatin auf der Baden-Württembergischen Landesliste. Darüber hinaus haben wir uns in vielen Orten am Wahlkampf der LINKEN beteiligt. Damit haben wir zu den guten Ergebnissen, die DIE LINKE in verschiedenen Städten Westdeutschlands (und auch z.B. in Neukölln in Westberlin mit 18,3%, plus 4,1%) hatte, beigetragen.

Die Koalitionsverhandlungen dürften schwierig werden, von den Grünen bis zur CSU ist eine politische Bandbreite. Solange die Haushaltslage relativ entspannt ist, wird es wohl keinen Frontalangriff auf die Arbeiterklasse geben, sondern eher eine Kombination von öffentlichen Investitionen in Bereichen, wo aus Sicht des Kapitals Nachholbedarf besteht (z.B. Digitalisierung) mit verschiedenen Sozialkürzungen, Privatisierung etc. Die Grünen haben im Wahlkampf den Klimaschutz betont. Wenn sie ihre Versprechen bei Koalitionsverhandlungen über Bord werfen, können die Proteste zur UN-Klimakonferenz in Bonn noch wichtiger werden.

Teils wird jetzt die Gemeinsamkeit der 87%, die nicht AfD gewählt haben, propagiert. Aber Seite an Seite mit den bürgerlichen Parteien gegen die AfD zu kämpfen, wäre fatal. Es würde nur deren falsches Image als Anti-Establishment-Partei verstärken und sie für die Opfer neoliberaler Politik attraktiver machen.

Ebenso fatal wäre es, den Antirassismus abzuschwächen, um AfD-WählerInnen anzusprechen. Proteste gegen den kommenden AfD-Parteitag in Hannover können ein wichtiger Termin werden. Notwendig ist aber statt eines rein moralischen Antirassismus die Betonung des gemeinsamen Kampfs von Deutschen, MigrantInnen, Flüchtlingen für ihre gemeinsamen Interessen. Wenn DIE LINKE verstärkt die Kämpfe an zahlreichen Krankenhäusern für Personaluntergrenzen, Mieterinitiativen, etc. unterstützt und ihre sozialen Forderungen offensiv vertritt, ist das auch der beste Kampf gegen Teile-und-Herrsche-Politik und die AfD.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

AfD im Bundestag – was tun?!

Widerstand auf der Straße und inhaltliche Alternative nötig
Von Dorit Hollasky, Dresden und Sascha Stanicic, Berlin (Mitglieder der SAV der deutschen Schwesterorganisation der SLP)

Einige hatten die Hoffnung, dass die AfD nach dem Austritt von Frauke Petry geschwächt würde, doch in den Meinungsumfragen hat die Unterstützung für die Rechtspopulisten bisher nicht nachgelassen.

Vieles spricht dafür, dass die AfD zwar kein stabiles, aber doch ein mittelfristig bleibendes politisches Phänomen ist. Die jüngsten Entwicklungen stärken den rechtsextremen Flügel der Partei.

Ursachen für AfD-Erfolge

Ein Blick auf die Zusammensetzung der AfD-WählerInnen ist interessant. Zwar hat es eine Verschiebung der Wählerbasis hin zu ärmeren Schichten und Erwerbslosen gegeben, aber fünfzig Prozent der AfD-WählerInnen sind vollzeitbeschäftigt, so viele wie in keiner anderen Partei, und nicht wenige Selbständige wählen sie. Allerdings haben auch diese Schichten oftmals große Zukunftssorgen. Auch wenn migranten- und islamfeindliche Einstellungen ein gemeinsamer Nenner der meisten AfD-WählerInnen sind, ist die Motivation diese Rechtspartei zu wählen doch vielfältiger. Protest gegen die etablierten Parteien und Zukunftsängste allgemeiner Art gehören dazu. Letzteres ist berechtigt, wird von der AfD aber in die falsche Richtung geleitet.

Kapitalismus = Unsicherheit

Ganz klar: Der Kapitalismus schafft Unsicherheit. Das Vermögen wird immer ungleicher verteilt, das Rentenniveau sinkt, die prekäre Beschäftigung hat zugenommen. 27,5 Prozent aller ALG II-EmpfängerInnen gehen arbeiten, aber ihr Lohn reicht nicht zum Leben, die Mieten steigen rasant. Es ist nicht überraschend, dass sich Menschen Sorgen machen, wie sie ihr Leben und ihre Wohnung auf Dauer finanzieren sollen. Hinzu kommen Ängste vor Terror und Krieg.

Ist der Osten besonders betroffen?

Auch wenn drei Viertel der Stimmen für die AfD im Westen erzielt wurden, sind ihre Wahlergebnisse in Ostdeutschland prozentual deutlich höher. Das hat etwas damit zu tun, dass die Gefahr des sozialen Abstieges im Osten stärker ist. Aber auch damit, dass sich viele Ostdeutsche zurecht “abgehängt” und von den Versprechen über die “blühenden Landschaften” eines vereinigten Deutschlands verraten fühlen.

Dass DIE LINKE hier für einige keine Alternative (mehr) ist, hängt vor allem mit zwei Dingen zusammen: erstens mit der Erfahrung des Stalinismus – weil die damals erlebten schlechten Erfahrungen auf DIE LINKE übertragen werden. Zweitens mit der Tatsache, dass DIE LINKE (wie zuvor die PDS) nicht zuletzt wegen ihrer Regierungsbeteiligungen auf Landesebene und ihrer auch in den Kommunen angepassten Politik, eher als Teil des Polit-Establishments denn als Oppositions- und Protestkraft gesehen wird.

AfD-Rassismus

Der AfD gelingt es, mit ihrem Rassismus gesellschaftliche Debatten nach rechts zu verschieben. Den Konzern- und Bankeigentümern kommt diese Diskursverschiebung nicht ungelegen, auch wenn sie die AfD als destabilisierenden Faktor mehrheitlich ablehnen. Entsprechend dem Prinzip „Teile und Herrsche“ ist es ihnen lieber, wenn sich Beschäftigte, RentnerInnen, Geflüchtete, Studierende etc. untereinander bekämpfen, als die Schuld bei ihnen und im Kapitalismus zu suchen. Angesichts des enormen gesellschaftlichen Reichtums wird durch die reale Anzahl nach Deutschland fliehender Menschen keine “Kapazitätsgrenze” erreicht. Irland hat zum Beispiel zwischen 2004 und 2015 einen Bevölkerungszuwachs um 15 Prozent von 4,05 Millionen auf 4,65 Millionen “verkraftet”.

Trotzdem erscheinen vielen Menschen die Geflüchteten als KonkurrentInnen um günstigen Wohnraum und Arbeitsplätze. Das sind sie aber nur aufgrund der Verhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft. Niedriglöhne und Wuchermieten wurden jedenfalls nicht von den Geflüchteten erfunden und müssen von allen Betroffenen gemeinsam bekämpft werden. Der Rassismus der AfD verhindert eine solche gemeinsame Gegenwehr, weil er die Betroffenen spaltet und von den wahren Problemen und ihren VerursacherInnen ablenkt.

Was tun?

Eine Bewegung gegen die AfD ist nötig. Proteste gegen AfD-Veranstaltungen, Massendemonstrationen etc. sind ein wichtiges Mittel, um deutlich zu machen: Die AfD ist keine Partei wie jede andere, sondern ein Brandstifter-Verein. Die Verbreitung rassistischer Hetze kann nicht als Teil des demokratischen Diskurses hingenommen werden, weil sie brennende Geflüchtetenunterkünfte und Angriffe auf MigrantInnen und AntifaschistInnen zur direkten Folge hat. Deshalb ist es wichtig, dass am 2. Dezember in Hannover massenhaft gegen den AfD-Bundesparteitag demonstriert wird.

Aber Proteste und Aufklärung über den rassistischen Charakter der AfD werden nicht ausreichen. Nötig ist eine politische Alternative zum Rechtspopulismus, die einen anderen Weg aufzeigt, den Zukunftsängsten und -bedrohungen zu begegnen. Diese kann nur darin bestehen, eine erfolgversprechende Strategie aufzuzeigen, “die da oben” – also die wirklich Verantwortlichen an gesellschaftlichen Missständen, zu bekämpfen. Gelingt dies nicht, werden immer Teile der Bevölkerung in der Nation die Identifikationsgruppe suchen, um nach unten, gegen die Schwächsten der Schwachen, zu treten.

Der LINKEN und auch den Gewerkschaften ist es nicht gelungen, als echte Alternative wahrgenommen und angenommen zu werden. Warum? Sie haben es verpasst, den Sozialabbau zu verhindern bzw. den Kampf dagegen zu organisieren.

Es reicht nicht, an die Güte der Mitmenschen und das Mitgefühl mit den Geflüchteten zu appellieren. Die soziale Frage muss in den Mittelpunkt gestellt werden. Gewerkschaften und DIE LINKE müssen dafür in die Offensive kommen. Sie müssen von sich aus Aktionen anstoßen für wirkliche Verbesserungen, zum Beispiel eine Senkung des Renteneintrittsalters, Rekommunalisierung von Krankenhäusern und Wohnungen, Erhöhung des Mindestlohnes auf zwölf Euro und dafür in den Betrieben, Verwaltungen und Nachbarschaften werben.

Denn das wirksamste Mittel gegen Rassismus ist Solidarität und der gemeinsame Kampf für soziale Verbesserungen.

Siemens im Kahlschlagswahn

Nur der Kampf der Beschäftigten kann den Irrsinn der Konzernchefs stoppen
Von Steve Hollasky, Dresden

Was den ArbeiterInnen bei Siemens und ihren Familien kurz vor Weihnachten durch den Kopf gehen muss, kann man nur erahnen. Die Konzernspitze in München kündigte kürzlich die Streichung von 6.900 Stellen weltweit an, 3.300 davon in Deutschland.

Es sind nicht allein die erschreckenden Sparpläne der Unternehmensführung, die gerade die Stimmung zum Kochen bringen. Was die Unternehmensleitung um Joe Kaeser vor hat, ist mehr als ein einfacher Angriff, es ist eine Offensive.

Siemens erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2017 laut der Tageszeitung „Junge Welt“ vom 21.11. eine Gewinnsteigerung um elf Prozent! Jenen, die diesen Zugewinn tagtäglich erarbeiteten, zeigen die feinen Herren und Damen in Nadelstreifen und Kostüm nun, was sie von ihnen halten. Neben Stellenvernichtung in Berlin und Offenbach sollen die Siemenswerke in Leipzig und Görlitz bis 2020 bzw. 2023 komplett verschwinden. Was das für die strukturschwache Region rund um Görlitz bedeuten wird, kann man sich ungefähr ausmalen. Erst kürzlich prophezeite die „Sächsische Zeitung“ (SZ) im Falle einer Werksschließung eine weitere Abwanderungswelle.

Besonders perfide erscheinen die Standortschließungen, wenn man sich die Rahmenbedingungen ansieht: Siemens fährt Rekordprofite ein und Leipzig und Görlitz sind alles andere als Sorgenkinder. Im Görlitzer Turbinenwerk sind die Auftragsbücher voll. Gerade kleine und leistungsfähige Turbinen werden aus dem Betrieb angefordert. Nicht anders sieht es in Leipzig aus, wo die Aufträge noch bis Ende des nächsten Jahres abgearbeitet werden müssen. Dennoch will Joe Kaeser die 250 Beschäftigten in Leipzig und die 700 in Görlitz in die Arbeitslosigkeit schicken.

Was steckt dahinter?

Kaeser beabsichtigt mit den Maßnahmen die Steigerung der Börsenkurse und nicht zuletzt eine Schwächung der Gewerkschaften. Sollte die Siemens-Chefetage mit ihren Plänen durchkommen, würde sie vollkommen ungescholten alle Übereinkünfte mit der Gewerkschaft gegen betriebsbedingte Kündigungen über den Haufen werfen. Das Ergebnis wäre ein Präzedenzfall von kaum vorhersehbarer Wirkung.

Dass die Hintergründe der Siemens-Entscheidung eher in diesen Erwägungen zu suchen sind, als in dem immer wieder bemühten bevorstehenden Strukturwandel hin zu erneuerbaren Energien, ist allen voran den Beschäftigten klar. Der Leipziger Siemens-Betriebsrat Stefan Schulz sprach von „einer politischen Entscheidung“.

Falsche Freunde

Der scheidende Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) nannte das Vorgehen eine „Bankrotterklärung“ des Traditionskonzerns und kündigte an, man werde von Siemens Alternativen zu Standortschließungen verlangen. Dass Siemens ungern in Alternativen denkt, hat Joe Kaeser mit seinen Plänen bereits beweisen. Solche Reaktionen aus den Reihen der „großen Politik“ werden den Siemens-ArbeiterInnen weder in Sachsen, noch in Offenbach oder Berlin helfen.

Genauso wenig wie die Stellungnahme des Görlitzer Bundestagsabgeordneten der rassistischen AfD, Tino Chrupalla, der in einer Erklärung die Energiewende und die sinkenden Siemens-Gewinne verantwortlich machte, um dann die Frage zu stellen: „Was bleibt dem Konzernchef Joe Kaeser also anderes übrig, als das traditionsreiche Geschäft zu verkleinern, indem z.B. Produktionsstandorte zusammen gelegt werden?“

Was muss geschehen?

Die Siemens-ArbeiterInnen wollen sich dem Diktat Kaesers nicht unterwerfen, das zeigt ihre bewundernswerte Kampfbereitschaft: Unterschriften, Mahnwachen, Demonstrationen: Aufgeben ist keine Alternative! Doch was die IG-Metall-Führung als letztes Mittel darstellt, die kollektive Verweigerung der Arbeit, ist sofort notwendig. Kaeser und Co. hören nicht auf Appelle, sie müssen zum Einlenken gezwungen werden. Sie wissen genau, was sie den Beschäftigten, ihren Familien und den betroffenen Regionen antun. Das interessiert sie nicht. Aber ihre Profite interessieren sie, deshalb verfolgen sie die Kahlschlagspläne. Also muss man sie dort treffen, wo es ihnen wehtut.

Streik ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Dazu muss die IG Metall aufrufen und sicher stellen, dass in allen Standorten und für den Gesamtkonzern eine Streikleitung aus den Reihen der Belegschaft demokratisch gewählt wird. Wenn die IG Metall-Führung dazu nicht bereit ist, müssen sofort Belegschaftsversammlungen durchgeführt werden, die diese Frage diskutieren und entscheiden können. Außerdem dürfte ein Streik nicht an den Toren der betroffenen Werke Halt machen. Auch die anderen Siemens-Standorte sollten die Arbeit niederlegen.

In Görlitz sollte der Aufruf noch an Bombardier ergehen. Auch der Waggonbauer will 800 Stellen streichen.

Die Solidarität für die Beschäftigten ist enorm, das haben die  bisherigen Aktionen bewiesen. Warum geht die IG Metall nicht den Weg der sächsischen ver.di, die gerade die Rekommunalisierung der Rettungsstellen fordert, um das Lohndumping der Betreiber zu beenden? Wenn Kaeser die Standorte nicht mehr haben will oder wie im Fall von Berlin und Offenbach, einfach Tausende auf die Straße setzen wird, dann muss gelten: Siemens in Arbeiterhand! Um diese Forderung durchzusetzen, bräuchte es den Druck derjenigen, die solidarisch mit den Beschäftigten sind, auf die Landesregierungen, die Standorte notfalls unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung zu verstaatlichen, um den Jobverlust zu verhindern und eine ggf. nötige Umstellung der Produktion sinnvoll durchzuführen.

Deutschland in der politischen Krise

Nach dem Aus der Jamaika-Verhandlungen wächst die Instabilität
Von Sascha Staničić

Die Wahlplakate der LINKEN in Münster.

Das Scheitern der Sondierungsgespräche zur Bildung einer Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen kam für die meisten überraschend. Zu unwahrscheinlich mutete es an, dass PolitikerInnen deren Machtgeilheit unumstritten ist und die alle im Interesse der großen Banken und Konzerne handeln, vor dem Hintergrund einer relativ stabilen ökonomischen Situation und hoher Haushaltsüberschüsse, eine politische Krise auslösen würden, wie sie es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gab. Aber so ist es gekommen. Warum? Und wie wird es weiter gehen?

Der Bösewicht ist schnell ausgemacht: Christian Lindner und die FDP haben die Sondierungsgespräche platzen lassen, hatten möglicherweise niemals vor, diese zu einem erfolgreichen Abschluss kommen zu lassen. VertreterInnen von CDU, CSU und Grünen erklärten nach dem Abbruch der Gespräche unisono, dass sie eine Einigung für möglich gehalten hatten. Tatsächlich schien das „platzen lassen“ der Sondierungen durch die FDP gut vorbereitet und spricht viel dafür, dass die Führung der Liberalen zum einen Sorge hatte, ihr könne nach einer Legislatur als Juniorpartner in einer Regierung Merkel wieder das passieren, was ihnen nach der schwarz-gelben Regierung 2009 bis 2013 widerfahren war – der Absturz unter die Fünf-Prozent-Hürde und der Rauswurf aus dem Bundestag. Und dass sie zum anderen der politischen Kalkulation folgt, ein Scheitern unter dem nun propagierten Motto „Besser nicht regieren, als falsch“ könne ihr bei Neuwahlen ein besseres Ergebnis einbringen. Vieles spricht dafür, dass dies eine Fehlkalkulation wäre, denn die FDP wurde von vielen gewählt, um eine Große Koalition zu verhindern – eine solche ist jetzt aber wieder näher gerückt.

Es mögen die parteipolitischen Eigeninteressen des Yuppies Christian Lindner und seiner extremistisch-neoliberalen FDP sein, die der Auslöser für das Scheitern der Sondierungsgespräche waren, tiefer liegende Gründe finden sich aber woanders. Das politische System der Bundesrepublik ist aus den Fugen geraten, die Vertrauenskrise der bürgerlichen Parteien und Institutionen so groß, dass sie nicht mehr wissen, wie sie damit umgehen sollen. Die Angst vor dem politischen Selbstmord wird so stark, dass parteipolitische Eigeninteressen schwerer wiegen, als das, was „Staatsverantwortung“ genannt wird (und die Verantwortung die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse in stabiler Form aufrecht zu erhalten meint). Die Folge: es entstehen Situationen, die nicht den Gesamtinteressen der eigentlich herrschenden Klasse aus KapitalbesitzerInnen entsprechen. Das politische System funktioniert nicht mehr einwandfrei in ihrem Interesse. Das ist ein weltweites Phänomen, das in den letzten zwei Jahren vor allem mit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten, dem Brexit-Votum und der Unabhängigkeitserklärung Kataloniens deutlich wurde.

Inhaltliche Hürden waren überbrückbar

Das sind noch keine Weimarer Verhältnisse. Dafür ist die ökonomische und gesamtgesellschaftliche Situation zu stabil. Aber es ist ein Wetterleuchten für die Art von politischen Krisen, die kommen werden, wenn die Wirtschaft vom Aufschwung in den Abschwung oder gar in einer Krise gerät.

An den tatsächlich inhaltlichen Differenzen lag das Scheitern der Sondierungsgespräche nicht, zumindest nicht in erster Linie. Die Grünen haben einmal mehr bewiesen, dass sie bereit sind für einen Platz auf der Regierungsbank ihre Prinzipien über Bord zu werfen – egal ob beim Thema Verbrennungsmotor, Kohlekraftwerke oder Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten. Selbst bei letzterem zeigten sie sich am Sonntag bereit zu einem faulen Kompromiss (Stichwort: „atmender Rahmen“ bei 200.000 Geflüchteten). Nur beim Thema Familiennachzug für Geflüchtete waren sie scheinbar hart geblieben. Ein Thema, wo es zweifellos zum Kompromiss hätte kommen können, denn erst kürzlich hat eine Studie ergeben, dass die Zahl der zu erwartenden nachzuholenden Familienmitglieder von Geflüchteten deutlich niedriger ist, als in den letzten zwei Jahren von AfD bis CDU/CSU verbreitet wurde.

Abgesehen davon hatten sich die SondiererInnen schon auf nicht wenige Maßnahmen im Interesse der Arbeitgeber geeinigt, wie zum Beispiel eine weitere Flexibilisierung von Arbeitszeitregeln anzugehen.

Was nun?

Was nun? Eigentlich spricht alles für Neuwahlen, auch wenn der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Wort in seiner Erklärung vom gestrigen Montag nicht in den Mund nahm, sondern an das Verantwortungsgefühl der Parteien appellierte und den Eindruck erweckte, er wolle diese dazu drängen noch einmal in der Jamaika-Runde an den Verhandlungstisch zurückzukehren oder aber die SPD überzeugen, sich doch für eine Große Koalition mit CDU und CSU zu öffnen – eine Koalition übrigens, die alles andere als groß wäre.

Das ist unwahrscheinlich und wurde vom SPD-Parteivorstand am Montag Nachmittag in einem einstimmigen Votum abgelehnt. Nach dem Wahlerfolg in Niedersachsen hofft die SPD berechtigterweise, dass sie bei Neuwahlen den einen oder anderen Prozentpunkt zulegen könnte.

Noch unwahrscheinlicher ist, dass die JamaikanerInnen es sich noch mal anders überlegen. Über so große Schatten kann niemand springen und es ist auch gar nicht klar, wer denn in welcher Frage was für ein Zugeständnis machen müsste.

Eine Minderheitsregierung wäre für die Bundesrepublik ein weitaus größeres und gefährlicheres Novum, als Neuwahlen und würde eine instabile Regierung bedeuten, die nicht nur innenpolitisch wenig durchsetzen könnte, sondern vor allem auch außenpolitisch das Gewicht des deutschen Imperialismus untergraben würde. Und das in mehr als schwierigen außenpolitischen Zeiten, in denen Merkel gerade erst als neue Führerin der freien Welt gefeiert wurde, um nun zur „lame duck“ zu werden.

Kenia? Neuwahlen?

Bleiben also Neuwahlen. Ist das tatsächlich so? Interessanterweise lehnt die SPD nur einen Eintritt in eine Große Koalition ab. Ein, sicher auch sehr ungewöhnliches, aber über größere inhaltliche Schnittmengen verfügendes Regierungsbündnis sollte aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden: eine schwarz-rot-grüne „Kenia“-Koalition. Schließlich nutzen CDU/CSU und Grüne gerade jede Gelegenheit, um zu betonen, wie gut sie miteinander können. Eine solche Koalition würde über eine größere parlamentarische Mehrheit verfügen, der FDP die Möglichkeit geben in der Opposition der AfD Konkurrenz zu machen und der SPD die Gelegenheit geben, das Gesicht zu wahren, weil das Gewicht der Union im Vergleich zur Großen Koalition gemindert wäre. Doch auch das ist nicht sehr wahrscheinlich, weil die CDU/CSU dann fürchten müsste, dass die Zentrifugalkräfte in ihren Reihen wachsen und die Landtagswahlen in Bayern erst recht verloren gehen.

Theoretisch wäre auch eine schwarz-rot-gelbe „Deutschland“-Koalition eine Möglichkeit, aber das FDP-Gebaren macht doch eine Rückkehr der Liberalen auf die Regierungsbank gerade sehr unwahrscheinlich.

Bleiben also Neuwahlen. In den Medien wird eine Stärkung der AfD bei solchen als gegeben betrachtet. Vieles spricht dafür, denn das Scheitern von Jamaika wirkt wie eine Bestätigung der AfD und auch in Umfragen legen die Rechtspopulisten eher etwas zu, als dass sie verlieren würden. Das relativ schwache Abschneiden bei den Landtagswahlen in Niedersachsen im Oktober war wohl mehr auf lokale Faktoren zurückzuführen, als auf eine sich wandelnde Stimmung unter vormaligen AfD-WählerInnen. Aber es sollte nicht unterschätzt werden, dass die meisten Menschen doch lieber eine Regierung haben als keine Regierung. Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, dass es bei Neuwahlen einen „Wunsch-nach-Stabilität“-Effekt geben kann, der die AfD und die FDP schwächt und CDU/CSU und SPD stärkt, möglicherweise auch, weil mancheR AfD-WählerIn doch wieder zu Hause bleibt, schließlich hat der Denkzettel vom 24. September gesessen.

DIE LINKE

DIE LINKE kann aus Neuwahlen als Gewinnerin, aber auch als Verliererin hervorgehen. Das hängt gänzlich davon ab, wie sich die Partei jetzt aufstellt und mit welchem politischen Profil sie in den Wahlkampf gehen wird. Dazu muss ab sofort eine breite und demokratische, die Basis einbeziehende Debatte organisiert werden.

Leider spricht viel dafür, dass die Führungskräfte die Chance vergeben werden, dass DIE LINKE nach Neuwahlen gestärkt sein wird. Die öffentlich ausgetragenen Machtkämpfe und die Erpressungsversuche Sahra Wagenknechts gegenüber der LINKE-Bundestagsfraktion haben der Partei in den letzten Wochen schon enorm geschadet. Nun ist damit zu rechnen, dass Sahra Wagenknecht ihre falschen Positionen zur Migrationsfrage in einem möglichen Bundestagswahlkampf vertreten wird und der Wahlkampf im Sinne der von Lafontaine propagierten „neuen linken Sammlungsbewegung“ (was man als einen schön klingenden Begriff für eine Schwächung demokratischer Parteistrukturen und eine institutionalisierte Zusammenarbeit mit der SPD-“Linken“ interpretieren kann) noch mehr vom „Team Sahra“ als der Partei geführt werden soll. Das wäre ein Rezept für innerparteilichen Streit bis zum und wahrscheinlich auch während des Wahlkampfs und würde LINKE-Mitglieder demotivieren.

Wenn Bernd Riexinger und Katja Kipping, wie in ihren Reaktionen auf das Scheitern von Jamaika herauszuhören war, mehr oder weniger offensiv für einen Lagerwahlkampf mit der SPD gegen die Jamaika-Parteien werben, werden sie ein gutes Abschneiden der LINKEN von der anderen Seite untergraben. Denn eines ist sicher: es wird keine Mehrheit für R2G geben und das weiß jeder. Wenn CDU/CSU und SPD aus Neuwahlen auch nur minimal gestärkt hervor gehen werden, werden sie das als „Auftrag“ zur Bildung einer Großen Koalition verkaufen. Niemand in der SPD hat aus den Wahlen vom 24. September die Schlussfolgerung gezogen, dass die Zukunft der Partei in Regierungsbündnissen mit der LINKEN und den Grünen zu finden sei. Dementsprechend unsinnig ist es, wenn Bernd Riexinger jetzt davon spricht, man müsse eine linke Alternative zum neoliberalen Block bilden und damit offensichtlich nur die Jamaika-Parteien meint und implizit einem „linken Lager“ aus SPD und Linkspartei das Wort redet. Es ist aber auch politisch falsch, wie wir immer wieder erklärt haben. Die mit viel Pomp vorgetragene Haltung der FDP (die in Wirklichkeit nur die Schminke über ihren rein parteitaktischen Erwägungen ist), sich nicht an einer Regierung zu beteiligen, die keine „liberale Handschrift“ habe, würde der LINKEN gut zu Gesicht stehen. Und das bedeutet klar zu sagen: eine Regierung mit „sozialistischer Handschrift“ kann es mit SPD und Grünen nicht geben. Deshalb will DIE LINKE stärkste Oppositionskraft werden, der AfD diese Position streitig machen und gegen die arbeiterfeindliche Politik kämpfen, die von jeder möglichen Regierungsoption nach etwaigen Neuwahlen zu erwarten ist.

Die Partei sollte die Ergebnisse der Bundestagswahlen noch einmal genau anschauen und daraus die nötigen Schlussfolgerungen ziehen: im Osten (einschließlich Ost-Berlin) massiv verloren, wo DIE LINKE kommunal und in drei Landesregierungen an Regierungen mit der SPD beteiligt ist, den Mangel mitverwaltet und nicht mehr als Protest- und gesellschaftliche Oppositionskraft wahrgenommen wird. Im Westen in vielen Städten dazu gewonnen, wo es eine aktive Parteibasis gibt, die die Partei mit sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen verbindet und als Anti-Establishment-Kraft präsentiert.

DIE LINKE muss ab sofort in (Wahl-)Kampfmodus übergehen. Die erste Entscheidung des neuen (kommissarischen) Bundesgeschäftsführers Harald Wolf sollte sein, die Wahlplakate der Bundestagswahl (so sie denn noch in irgendwelchen Kellern liegen) in den Reißwolf zu geben und die Münsteraner Plakate (siehe Foto) als Plakate für einen (Neu-)Wahlkampf vorzuschlagen. Dann sollte der Parteivorstand beschließen, eine klaren antikapitalistischen und oppositionellen Wahlkampf gegen die Reichen und gegen alle etablierten Parteien zu führen – mit Slogans wie „Obergrenzen für Reichtum – nicht für Menschen“, „Die wahren Sozialschmarotzer: Steuerflüchtlinge!“, „Klima statt Kapitalismus!“ und, in Anlehnung an den Wahlkampf von Bernie Sanders in den USA: „Brecht die Macht der Milliardärs-Klasse!“

Wenn sich DIE LINKE als die Partei präsentiert, die die Rettung des Klimas und die Solidarität mit Geflüchteten nicht zur Verhandlungsmasse macht, wird sie solche Grünen-WählerInnen erreichen können, die die Grünen aus fortschrittlichen Erwägungen gewählt haben. Beim Thema Geflüchtete und Migration muss gelten: keine Aufweichung der Positionen der Partei, uneingeschränkte Solidarität mit Geflüchteten und gleichzeitig muss DIE LINKE deutlich machen, dass die Reichen dafür zahlen müssen und der gemeinsame Kampf aller Menschen, egal welcher Hautfarbe oder Nationalität, für günstigen Wohnraum, einen höheren Mindestlohn und gute Jobs nötig ist.

Es muss ein Wahlkampf vorbereitet werden, der sich in vielen Punkten vom Wahlkampf in diesem Jahr unterscheidet: deutlicher gegen das kapitalistische Establishment, klarere Forderungen und praktisch an der Seite von Menschen, die sich gegen soziale Ungerechtigkeit zur Wehr setzen, wie die Beschäftigten von Siemens.

Mit eindeutigen Forderungen nach der Rücknahme der Agenda 2010, 12 Euro Mindestlohn ohne Ausnahmen, einer gesetzlichen Mindestpersonalregelung für die Pflege, dem Verbot von Leiharbeit und sachgrundlosen Befristungen und dem Verbot von Rüstungsexporten könnte DIE LINKE deutlich machen, dass nur sie für eine Politik im Interesse der Millionen statt der Millionäre und Milliardäre eintritt – und würde gleichzeitig die von sozialer Gerechtigkeit schwadronierende SPD vorführen, die keiner solchen konkreten Forderungen zustimmen wird.

Sascha Staničić ist Bundessprecher der SAV (deutsche Schwesterorganisation der SLP) und aktiv in der LINKEN Neukölln und der Antikapitalistischen Linken (AKL).

 

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