Internationales

Die politische Lage in Lateinamerika

beschlossen vom Internationalen Exekutivkomitee des CWI, November 2017

Bei seinem Treffen im Dezember 2016 hat das IEK des CWI die Ansicht bekräftigt, dass die Periode relativer ökonomischer und politischer Stabilität in Lateinamerika ihr Ende gefunden hat. Das ist das Ergebnis der internationalen Krise und der Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung in der Region: peripher, was die Lage angeht, und abhängig vom Imperialismus. Auf dem Subkontinent ist eine neue, von großer Instabilität sowie sozialen und politischen Turbulenzen geprägte Phase angebrochen.

Zu diesem neuen Szenario gehört auch, dass die „progressiven“ politischen Kräfte in die Krise geraten, die seit Beginn dieses Jahrhunderts aus dem Widerstand gegen den Neoliberalismus in der Region Kapital schlagen konnten. Im Zusammenhang mit dem Rohstoffboom war es einem Teil der lateinamerikanischen „progressiven“ Kräfte (wie im Falle der PT-Regierungen unter Lula in Brasilien) möglich, sich für eine bestimmte Form von „sozialem Pakt“ mit begrenzten Zugeständnissen an die Armen zu entscheiden. Im Gegenzug dazu blieben die Privilegien der Elite unangetastet.

In anderen Ländern, in denen der Prozess – wie in Venezuela – polarisierter und radikalisierter vonstatten ging, ist der Ölreichtum für eine umfassendere Reichtumsverteilung und Sozialreformen genutzt worden. In keinem Land ist es zum Bruch mit dem kapitalistischen System gekommen.

Die Zuspitzung der kapitalistischen Krise hat alle „progressiven“ Varianten in Lateinamerika geschwächt und den Kern der lateinamerikanischen herrschenden Klasse dazu gebracht, mit der Politik der Klassen-Kollaboration zu brechen und sich in die Gegenoffensive zu begeben, um neue Angriffe auf die Beschäftigten und die Armen durchzuführen.

Im Zuge der Krise der „progressiven“ Alternativen in Lateinamerika und aufgrund des Fehlens neuer konsequenter aufgestellter linker Alternativen mit Massenverankerung erlebte die Rechte eine Renaissance. Es sind neue Regierungen neoliberaler rechter Kräfte an die Macht gekommen: so mit Macri in Argentinien, Temer in Brasilien, Kuczynski in Peru u.a. In Venezuela hat die Rechte die Mehrheit in der Nationalversammlung gewonnen und nutzt diese, um ihr reaktionäres Projekt voran zu bringen.

Wie wir schon früher gesagt haben, hat genau diese Rechte allerdings große Schwierigkeiten, ihre Macht und Politik zu konsolidieren. Was die Frage der politischen Repräsentanz angeht, existiert eine allgemeine Krise, die zu Spaltungen in der Bourgeoisie führt. Dies geschieht im Kontext bedeutsamen Massen-Widerstands gegen neue Attacken dieser Regierungen auf die Arbeiterklasse, indigene Völker, Frauen, junge Leute und andere unterdrückte Bevölkerungsteile.

Diese Widersprüche sind 2017 noch stärker geworden und auch in der nächsten Periode wird diese Dynamik anhalten. Lateinamerika befindet sich in einer Phase, die von einer historischen politischen und ökonomischen Krise gekennzeichnet ist.

Auf der einen Seite geht es um eine Krise der ökonomischen Modelle, die auf dem Export von Rohstoffen und einer steigenden Binnennachfrage basieren, die Kredit-finanziert ist. Andererseits hat die Rückkehr des offen auftretenden Neoliberalismus diese Widersprüche im Namen des schnellen Profits für die Kapitalisten nur noch weiter verschärft.

Von politischer Warte aus betrachtet weisen die in der vergangenen Periode umgesetzten Herrschaftsformen klare Krisen-Zeichen auf. Das gilt für die „progressiven“ Regierungen genauso wie für die explizit rechtslastigen, die die letzte Periode überstanden haben (z.B. die PRI-Regierung von Peña Nieto in Mexiko).

Allgemein befindet man sich in der Region zur Zeit in einer Sackgasse, in der das Alte abstirbt und das Neue noch nicht das Licht der Welt erblickt hat. Diese Situation eröffnet (um es mit den Worten Gramscis zu sagen) allen Formen „morbider Phänomene“ neue Möglichkeiten. Möglich sind Rückschläge auf politischer, ökonomischer und auf sozialer Ebene.

Weit ab davon, die Lage zu stabilisieren, hat das Aufkommen neuer rechter Regierungen in Ländern wie Argentinien und Brasilien nur dazu geführt, dass die politische Situation sich weiter polarisiert hat. Es wurden starke Reaktionen von Seiten der Arbeiterklasse und der Armen hervorgerufen. Gezeigt hat sich das am größten Generalstreik der jüngeren Geschichte, der am 28. April in Brasilien stattgefunden hat. Aber auch die enormen Mobilisierungen gegen die Politik von Macri in Argentinien und die größte Mobilisierung von ArbeiterInnen seit dem Ende der Diktatur in Chile gegen das private Rentensystem (AFP), bei der unsere GenossInnen dort eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben.

Da jedoch die alte Gewerkschaft und die politische Führung der Arbeiterklasse keinen klaren alternativen Weg aufgezeigt haben, konnten viele Attacken erfolgreich umgesetzt werden. Das bestehende politische Vakuum kann von reaktionären politischen Kräften genutzt werden, die als „neue“ Formationen daher kommen, oder es dient möglicherweise sogar den Kräften des Establishments, die von der Idee des „kleineren Übels“ profitieren könnten.

Der Wiederaufbau der Linken und der Arbeiterbewegung in Lateinamerika, die in der Lage ist, die Reaktion beiseite zu drängen, kann nur auf der Basis einer politischen und organisatorischen Neuaufstellung der sozialistischen Linken erreicht werden. Grundlegend hierfür ist, dass die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit gezogen werden und dass eine klare antikapitalistische und sozialistische Perspektive aufgezeigt wird. Es ist eine zentrale Aufgabe für das CWI in Lateinamerika in diesem Prozess einen Beitrag zu leisten.

Wirtschaftskrisen und soziale Ungleichheit

Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften haben sich in der letzten Periode in zunehmendem Maße vom Export von Rohstoffen abhängig gemacht und waren vom Ende des Booms bei den Verbrauchsgütern sowie durch die Verlangsamung in China stark getroffen. Der geringe Anstieg des Welthandels und bei den Rohstoffpreisen im Jahr 2017 dürfte zu einem geringfügigen Wachstumsschub in der Region führen. CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der UNO) schätzt, dass das Wachstum in Lateinamerika und der Karibik bei 1,2 Prozent liegen wird. Für 2018 geht man von einer Verdopplung dieses Wertes aus.

Brasilien und Venezuela gehören weiterhin zu den Ländern mit der schlechtesten wirtschaftlichen Lage. Was Brasilien angeht gehen die optimistischsten Schätzungen nach drei Jahren der Rezession von 2014 bis 2016 und einem Gesamtverlust von 8,6 Prozent des BIP davon aus, dass 2017 ein Wachstum von 0,7 Prozent zu verzeichnen sein wird. Dies bedeutet nur, dass die Situation nach der längsten Rezession seit 1980 aufgehört hat, sich noch weiter zu verschlechtern. Es gibt keine Garantie dafür, dass eine Dynamik soliden Wachstums begonnen hat. Das schwache Wachstum, das wir bisher erleben konnten, geht in erster Linie auf die Ausfuhr von Agrargütern zurück, und hinsichtlich der Binnennachfrage besteht keine Aussicht auf Wachstum. Die Investitionstätigkeiten liegen immer noch brach. Das politische Szenario mit den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr machen die Dinge nur noch komplizierter.

Das langsame und schwache Wachstum kommt lediglich den Reichsten in der Gesellschaft zu Gute. Die durchschnittlichen Einkommen der Ärmsten befinden sich weiter in freiem Fall. Die Erwerbslosigkeit verharrt bei rund 12 Prozent bis 13 Prozent und es herrscht ein enormes Maß an Unterbeschäftigung. Gleichzeitig ist eine große Mehrheit der Beschäftigten von extremer Prekarisierung am Arbeitsplatz betroffen.

Der öffentliche Sektor befindet sich in einer Art finanzpolitischen Würgegriffs. Das hat viele Bundesstaaten dazu gebracht, den Beschäftigten im öffentlichen Dienst Löhne und Rentenzahlungen vorzuenthalten. Selbst in so wichtigen Bundesstaaten wie Rio de Janeiro stehen Schulen und Krankenhäuser am Scheideweg. Ohne finanzielle Mittel der Bundesregierung sind in beinahe 4.000 Kommunen insgesamt 8.239 öffentliche Beschäftigungsprojekte zum Stillstand gekommen.

Ein geringes Wachstum hat in Verbindung mit hohen Zinsen und zurückgehenden Staatseinnahmen dazu geführt, dass das Defizit der öffentlichen Kassen ständig größer wird. Und das, obwohl nach einem als Putsch zu bezeichnenden Vorgehen, das im Namen der Verantwortung für die öffentlichen Kassen ausgeführt worden war, Temer an die Macht gekommen ist. Seit Ende 2014 bis Juli 2017 ist die Verschuldung der öffentlichen Hand von 56,3 Prozent auf 73,8 Prozent des BIP angestiegen und könnte 2018 den Wert von 80 Prozent erreichen. Mindestens die Hälfte dieser Schulden steht in Bezug zu den meist kurzfristigen Zinsen der Zentralbank.

Wenn die öffentlichen Schulden in Brasilien eine Zeitbombe darstellen, so läuft in Venezuela alles auf eine extreme Situation hinaus. Wirtschaftlich betrachtet befindet sich das Land weiterhin in einem Zustand, den man als Teil-Zusammenbruch bezeichnen muss. Die CEPAL geht für 2017 von einem erneuten Absinken des BIP im Rahmen von nun acht Prozent aus. Zu verzeichnen sind vier Jahre ökonomischen Schrumpfens, das insgesamt 36 Prozent des BIP umfasst.

Nach enormen Bemühungen, mit denen den ausländischen Gläubigern ein umgehender Schuldendienst garantiert werden sollte und die der venezolanischen Regierung unheimliche Kosten (bis hin zur Mangelwirtschaft) verursacht hat, versucht die Regierung Maduro jetzt die Umstrukturierung der Schuldenlast, indem sie mit den Kreditgebern verhandelt.

Aufgrund der Sanktionen, die Trump auferlegt hat, hat sich die Lage drastisch verschlechtert. In Venezuela hat dies bereits zum Teil-Ausfall geführt. Durch Verhandlungen mit Russland über einen Kredit i.H.v. drei Milliarden Dollar hat die Regierung etwas Zeit gewonnen. Sie wird versuchen, Ähnliches mit China zu bewerkstelligen. Dennoch besteht weiterhin die Gefahr einen Komplett-Ausfalls. Sollte es dazu kommen, würde dies zu einer weitaus kritischeren Situation führen, was die Beziehungen der Regierung zum Imperialismus angeht. Venezuela hält Vermögenswerte in Übersee, darunter auch eine Tochtergesellschaft des staatlichen Ölriesen PDVSA in den USA, die als Leidtragende aus den schwerwiegenden US-Sanktionen hervorgehen könnte.

Ohne Maßnahmen, die mit der Logik der Kapitalakkumulation im Land und der Region brechen, kann es für die venezolanische Wirtschaft aus der Sicht der ArbeiterInnen und Armen keinen Ausweg geben. Starke Zustimmung von Seiten der Beschäftigten in Venezuela und in ganz Lateinamerika würde hingegen die Ablehnung der Staatsschulden haben, wenn sie mit der Verstaatlichung der Banken einhergeht und von einer Arbeiterregierung durchgeführt wird, die die Ressourcen dafür einsetzt, um die Lebensmittel- und Medikamenten-Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Dadurch kann in der gesamten Region eine neue Welle offensiver Kämpfe angestoßen werden.

Verglichen mit dem Großteil Südamerikas weist Mexiko viele Besonderheiten auf. Zwar hat das Land unter dem Rückgang der Rohstoffausfuhren gelitten, jedoch nicht so stark wie andere Länder, die sich weiter südlich befinden. Der Wirtschaft des Landes ist dieses Jahr sogar ein leichter Anstieg der Öl-Exporte zugute gekommen. Der wesentliche Faktor allerdings, der bestimmend ist für die Volkswirtschaft von Mexiko, sind die USA und die Frage, wie es mit NAFTA weitergeht. Die Drohungen, die Trump zu Beginn seiner Amtszeit von sich gegeben hat, haben in Mexiko zwar zu Turbulenzen geführt, sind aber seither kaum konkret geworden. Die mexikanische Wirtschaft befindet sich in einer Situation, geprägt von Stagnation und niedrigem Wachstum. Arbeitsplätze entstehen nicht und die Lebensverhältnisse der Armen werden ebenfalls nicht besser.

Das Erdbeben, das im September den Südosten des Landes und die Region um Mexiko Stadt heimgesucht hat, offenbarte das Versagen des Staates und die perverse Logik des mexikanischen Kapitalismus. Angesichts der Tatenlosigkeit der Regierung ist die Solidarität und Hilfsbereitschaft für die Opfer von den jungen Menschen, den ArbeiterInnen und vor allem von den Frauen ausgegangen. Das schwere Erdbeben von 1985 wurde bis vor zwei Jahren noch als Wendepunkt in Mexikos Geschichte gesehen. Dadurch wurde eine neue Phase im Klassenkampf eingeleitet. Was die momentane Situation angeht, finden sich Elemente dieser Entwicklung auch heute.

Gegen-Reformen, Angriffe und Widerstand

In allen Ländern der Region haben die Regierungen auf die Krise reagiert, indem sie die Rechte der Arbeiterklasse beschnitten haben. In so gut wie jedem Fall sind diese Regierungen jedoch auch auf mächtigen Widerstand gestoßen. Es stimmt aber auch, dass dieser Widerstand aufgrund der Rolle der alten politischen Führungen (inklusive der Gewerkschaftsapparate) begrenzt geblieben ist.

Auf dem gesamten Kontinent standen vor allem die Themen soziale Sicherheit und Renten im Fokus des Klassenkampfes. In Chile entzündete sich daran sogar ein als historisch zu bezeichnende Massenbewegung. Aber auch in Argentinien, Brasilien, Mexiko und anderen Staaten waren dies die zentralen Punkte der neoliberalen Regierungen.

In Brasilien hat Temer es geschafft, eine Verfassungsreform durchzusetzen, die die öffentlichen Ausgaben für die nächsten 20 Jahre deckeln wird. Darüber hinaus hat er auf der Ebene des Arbeitsrechts eine Gegen-Reform durchgeführt, mit der historische, von der Arbeiterbewegung seit den 1930er Jahren erkämpfte Rechte wieder eliminiert werden. Dass er diese Reformen im Kongress durchbringen konnte, erklärt, weshalb die Regierung mit den weltweit geringsten Zustimmungswerten (sie kommt auf lediglich drei Prozent!) es schafft, sich an der Macht zu halten. Temer fungiert als Instrument der parasitären Bourgeoisie, um für sie die Drecksarbeit zu machen und dann wieder fallen gelassen zu werden.

Auf der anderen Seite kommt der Präsident, der in Korruptionsskandale verwickelt ist und es mit einer starken Mobilisierung gegen ihn sowie mit einer permanenten Krise zu tun hat, nicht auf genügend Stimmen, die er für eines seiner wichtigsten Vorhaben bräuchte: die Rentenreform. Wenn er es dieses Jahr nicht mehr umgesetzt bekommt, dann wird es ihm 2018, dem Wahljahr, nahezu unmöglich sein, das Projekt noch zu verwirklichen.

Ohne diese weitere Gegen-Reform wird die von ihm durchgesetzte Verfassungsreform, mit der die Ausgaben der öffentlichen Hand eingefroren worden sind, im Großen und Ganzen unrentabel bleiben. Möglich wäre sogar, dass die Arbeiterbewegung zum Gegenschlag ausholt und die brutale Attacke wieder rückgängig macht.

In Argentinien hat Macri Zollerhöhungen und Ausgabenkürzungen durchgesetzt sowie die Rechte beschnitten. Dabei musste er allerdings mit wesentlich langsamerer Gangart als eigentlich geplant vorgehen. Der Grund dafür waren Massenmobilisierungen und der Widerstand aus der Bevölkerung. Nachdem sie bei den Parlamentswahlen vom Oktober einen wichtigen Erfolg einfahren konnte, wird die Regierung versuchen, eine neue Offensive zu beginnen – mit einem neuen Paket neoliberaler Gegen-Reformen, zu dem auch eine Attacke auf RentnerInnen und eine Gegen-Reform des Arbeitsrechts gehören wird. Trotz der Rolle, die die Gewerkschaftsbürokratie gespielt hat, die wie ein Bremsklotz wirkte, gibt es bereits Initiativen für den Widerstand. Der Konflikt ist unumgänglich.

Die Regierung Bachelet in Chile war nicht in der Lage, größere Angriffe auf die Arbeiterklasse zu fahren, und musste eine Sprache annehmen, mit der sie versucht hat, die Stimmung der Straße zu reproduzieren. Das galt vor allem für die Bereiche Bildung und bezüglich des Rentensystems. Auf beiden Feldern sind in der vergangenen Periode Massenmobilisierungen der ArbeiterInnen und jungen Leute provoziert worden. Und dennoch bleibt die Bachelet-Regierung einer neoliberalen Logik verhaftet und ist auf keine der Forderungen der Bewegung eingegangen, die zu den o.g. Themen gemacht worden sind. Auf diese Weise hat sie einen Großteil ihrer Unterstützung eingebüßt.

Trotz des Widerstands der Arbeiterklasse, den es in Mexiko zu beobachten gab, hat die dortige Regierung Nieto mit ihrer Privatisierungspolitik weitergemacht und diese auf Energie- und Ölunternehmen ausgeweitet. Hinzu kamen Attacken auf den Bereich der öffentlichen Bildung.

Die historisch am stärksten gebeutelten Bevölkerungsteile sind von der Krise und den Attacken gegen die Arbeiterklasse am schwersten getroffen. Das gilt vor allen anderen gerade für die Frauen. In allen Fällen, in denen Angriffe auf die Rechte stattgefunden haben, gab es bedeutende Mobilisierungen von Frauen. Das gilt zum Beispiel für die „Ni una menos“-Kampagne in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Der Kampf gegen Frauenmorde hat Massenmobilisierungen zur Folge gehabt. Selbiges gilt für den Kampf für das Recht auf Abtreibung und gegen den Roll-back der Rechte, die die Frauen bereits errungen haben.

In Bezug auf die ökonomische Krise und die Ungleichheit umfasst die Situation in zunehmendem Maße Elemente von sozialer Barbarei. Obwohl der Kontinent nur acht Prozent der Weltbevölkerung stellt, finden in Lateinamerika 33 Prozent der Morddelikte statt. 14 der 20 Kommunen mit den weltweit meisten Morden liegen in dieser Region.

Einen weiteren prägenden Aspekt in dieser Situation bilden die Folgen des landwirtschaftlichen Export-Modells, das auf Raubbau basiert und mit dem die Umwelt ausgebeutet wird sowie den indigenen Gemeinden enorme Lasten auferlegt werden. In den meisten Ländern ist es auf diesem Gebiet zu Angriffen gekommen. Die Vernichtung indigener Völker, Vorstöße des Kapitals in ihre Territorien und die Zerstörung der Umwelt sind allesamt Folgen der grundlegenden Natur des Kapitalismus in Lateinamerika

In Brasilien hat die Regierung Temer ein Dekret verabschiedet, mit dem ein Naturreservat (RENCA) vernichtet wird, das im Amazonasgebiet liegt und eine Fläche von 47.000 Quadratkilometern umfasst. Geschehen ist dies, um Bergbauunternehmen entgegen zu kommen. Wegen der enormen Reaktionen, die ihr Schritt nach sich gezogen hat, sah sich die Regierung gezwungen, das Dekret wieder zurück zu nehmen. Das Problem besteht jedoch weiterhin. 2016 hat die Abholzung am Amazonas um 30 Prozent zugenommen. Beinahe 8.000 Quadratkilometer sind vernichtet worden.

Auch Regierungen, die als „progressiv“ beschrieben worden sind, haben sich bei ihren Wirtschaftsmodellen ebenfalls für das neo-extraktivistische Raubbau-Konzept entschieden. So war es die brasilianische Regierung unter der „Arbeitspartei“ PT, die die Fabriken „Belo Monte“, „Santo Antonio“ und „Jirau“ inmitten des Amazonasgebiets gebaut hat. Der Umwelt, den indigenen Völkern und Arbeitnehmerrechten ist damit massiver Schaden zugefügt worden.

Das heftigste derartige Beispiel ist mit dem „Arco Minero del Orinoco“ in Venezuela zu beobachten. Es geht dabei um ein Gebiet von 112.000 Quadratkilometern Größe, das im Endeffekt 150 multinationalen Konzernen aus 35 Ländern ausgehändigt worden ist, um dort in den nächsten 40 Jahren hunderttausende von Bodenschätzen auszubeuten. Mit dieser Politik hat Maduro nicht nur der Umwelt und der nationalen venezolanischen Souveränität einen Bärendienst erwiesen sondern auch den sozialen Rechten in einem sehr großen Teil des Landes.

Wahlen und Bewegungen auf der Straße

In Lateinamerika sind in diesem Jahr hunderttausende von Beschäftigten, jungen Leuten, Frauen und Angehörige indigener Völker auf die Straße gegangen, in Streik getreten, an Besetzungen und allen möglichen Formen von Kämpfen beteiligt gewesen, um ihre Rechte zu verteidigen. Das alles geschah entgegen der Drohkulisse, die von neuen wie alten Regierungen aufgebaut worden ist. In vielen Fällen haben diese Ereignisse trotz aller aufgebrachter Macht nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt. Manche dieser Niederlagen widerspiegeln die Tatsache, dass die alte Führung der Bewegung darauf besteht, die Priorität auf die parlamentarische und die Wahl-Ebene zu legen. Sie stellt die Politik der Versöhnung über den direkten Kampf.

Zwischen 2018 und 2019 wird es in 14 von 21 Ländern Lateinamerikas zu Präsidentschaftswahlen kommen. Für die weitere Entwicklung auf dem gesamten Kontinent mit am wichtigsten dürften folgende Wahlen und Länder sein: Chile noch in diesem Jahr, Brasilien, Venezuela, Mexiko und Kolumbien in 2018 und Argentinien im Jahr 2019.

In Ländern wie Brasilien und Argentinien sind der Lulaismus bzw. der Kirchnerismus nach über einem Jahrzehnt entmachtet worden. Beide Ansätze haben all ihre Bemühungen rein auf der parlamentarischen Ebene vollzogen. In beiden Ländern ist es zu einer Zunahme an Massen-Kämpfen gekommen, die sich der Kontrolle dieser alten Führungsfiguren entzogen haben und zu Problemen führen könnten, wenn es darum geht, dass ihre Wiedergänger an die Macht und zu neuer Stabilität zurückkehren wollen.

In Argentinien hat der Erfolg der Verbündeten von Macri bei den Regionalwahlen im Oktober das Scheitern dieses Ansatzes offenbart. Dieser Sieg für Macri wird für eine neue Welle von Attacken gegen die Arbeiterklasse genutzt werden. Obwohl sie als Senatorin für Buenos Aires gewählt worden ist, hat Christina Kirchner weniger Stimmen erhalten als der Kandidat von Macri. Nicht nur der Erfolg von Bullrich, so sein Name, wird Folgen für die Präsidentschaftswahlen haben, die 2019 dort anstehen.

Bei den Wahlen vom Oktober kam die FIT („Front der Linken und ArbeiterInnen“) auf ein bedeutendes Ergebnis. Das gilt vor allem, wenn man an die auf den Gegensatz zwischen Kirchnerismus und Macri fokussierte Polarisierung der Lage denkt. 1,5 Millionen Menschen haben für die Linke gestimmt. Insgesamt hat sie nun 40 Abgeordnete auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Regionen. Nicht was die absolute Größe angeht aber gemessen am Vergleich zum Abschneiden bei den letzten Wahlen macht dieses Ergebnis die FIT ganz klar zu einem Faktor in der politischen Landschaft Argentiniens.

Dabei agiert die FIT eher als Wahlbündnis mit begrenzter Präsenz bei den täglichen Kämpfer der Beschäftigten.

Chile

In der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen, die am 17. Dezember stattfinden, wird Sebastián Piñera von der Rechten gegen Alejandro Guillier antreten, den Kandidaten, der von der bisherigen Regierung unterstützt wird. Piñera gewann in der ersten Runde mehr Stimmen und könnte wieder an die Macht kommen. Dann hätten wir es mit einem weiteren Fall zu tun, in dem eine angeblich „progressive“ Regierung (gemeint ist Bachelets Koalitionsbündnis der „Neuen Mehrheit“, dem auch die KP angehört), die eine rechtslastige Politik betrieben hat, den Boden für die traditionelle Rechte bereitet und sie zurück ins Amt bringt.

Allerdings macht das Ergebnis der ersten Runde, entgegen aller Vorhersagen aus den Umfragen und trotz des Diskurses in den dominierenden bürgerlichen Medien, klar, wie viel Raum doch für eine linke Alternative vorhanden ist – sowohl gegenüber der „Neuen Mehrheit“ als auch hinsichtlich der herkömmlichen Rechten. Die „Breite Front“ unter der Führung des Präsidentschaftskandidaten Beatriz Sanchez, kam auf überraschende 20 Prozent der Stimmen (in absoluten Zahlen waren das 1,3 Millionen). Damit lag sie nur zwei Prozent hinter Alejandro Guiller und wurde somit zur drittstärksten politischen Kraft im Land. Piñera, von dem viele dachten, er würde die Wahl schon in der ersten Runde gewinnen, erhielt viel weniger Stimme als erwartet: 36 Prozent gegenüber 22 Prozent für Guiller. Was das angeht, geht Piñera wesentlich geschwächter in die zweite Runde als angenommen.

Nach der ersten Runde drehte sich die Debatte weniger um die Feststellung, dass „einfach“ ein Rechtsruck stattgefunden hat (was angesichts des Aufstiegs von Piñera und den fast acht Prozent der Stimmen, die auf den Rechtsextremen Kast entfallen sind, keine Überraschung gewesen wäre). Vielmehr ging es darum, dass das politische System hinterfragt worden ist. Das zeigt sich an den Stimmen, die die „Breite Front“ bekam, aber auch daran, dass sich derart viele der Stimme enthalten haben. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 49 Prozent.

Jetzt besteht die große Herausforderung darin zu kämpfen, um den Raum einzunehmen, der auf der Linken frei geworden ist. Das muss mit aller Konsequenz geschehen. Bei der „Breiten Front“ handelt es sich um ein Parteienbündnis, dem auch heterogene linke Strukturen angehören. Darunter befinden sich moderate ReformistInnen, Unabhängige und eher sozialistische Linke. Bei den internen Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl machte bei der „Breiten Front“ die moderate Kandidatin Beatriz Sanchez vor dem linken Kandidaten Alberto Mayol das Rennen. Hinsichtlich der zweiten Runde ist unsere Position, dass die „Frente Amplio“ („Breite Front“) als echte Opposition auftreten muss und nicht in eine Regierung eintreten oder sich an einer Diskussion über ein etwaiges Regierungsprogramm beteiligen darf. Wir rufen dazu auf, gegen Piñera, den rechten Milliardär, zu stimmen. Gleichzeitig dürfen wir nicht einfach zur Wahl Guilliers aufrufen, da er für die Fortsetzung des bisherigen neoliberalen Regierungskurses steht. Er lehnt es ab, die Forderungen der breiten Masse der Bevölkerung zu akzeptieren: Stopp des privaten Rentensystems (AFP), Aufhebung der Studiengebühren, der CAEs (staatlich garantierte Bankkredite) und Beendigung der Privatisierungen im Gesundheitsbereich sowie der durch Missbrauch gekennzeichneten privaten Gesundheitseinrichtungen namens ISAPRES.

In jedem Fall haben wir es bei der „Breiten Front“ mit einer direkten Folge der zunehmenden Kämpfe der jungen Leute und Beschäftigten in Chile zu tun, die sie in den letzten Jahren gegen das bestehende Bildungssystem und das Rentensystem ausgefochten haben, bei denen es sich um das Erbe der Pinochet-Zeit handelt. Unsere GenossInnen haben nicht nur aktiv an den Debatten rund um die „Breite Front“ teilgenommen, sie waren auch ProtagonistInnen bei den Kämpfen gegen das AFP und haben stets ein Programm verteidigt, das auf der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und auf dem Sozialismus basiert. Zusammen mit den anderen Organisationen der Linken innerhalb der „Breiten Front“ (z.B. mit unseren GenossInnen von der linkssozialistischen „Movimiento Socialista Allendista“) haben wir an der „Demokratischen Volksbewegung“ MDP teilgenommen und innerhalb der „Breiten Front“ am Aufbau einer neuen linken Partei gearbeitet.

2018 wird es in Kolumbien zu den ersten Wahlen nach dem Abkommen zwischen Regierung und der FARC kommen. Letztere ist nun eine rechtlich anerkannte Partei und wurde in „Alternative Revolutionäre Kraft für das Gemeinwesen“ (FARC) umbenannt. Die Wahlen werden im März 2018, die erste Runde der Präsidentschaftswahlen wird im Mai desselben Jahres stattfinden. Die neue FARC wird voraussichtlich ihren Anführer Timoschenko (eigentlich: Timoleón Jiménez) als Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken.

Trotzdem zeichnet sich bereits die erste Krise bei der Umsetzung der Friedensvereinbarungen ab. Trotz der erklärten Amnestie befinden sich immer noch über 1.000 ehemalige KämpferInnen im Gefängnis. Viele weitere sind Opfer von Übergriffen oder Vergeltungsakten geworden. Allein in diesem Jahr werden 130 führende Köpfe der sozialen Bewegung als ermordet gelistet.

Brasilien – Risiken, Unsicherheiten und Möglichkeiten in 2018

In Brasilien sind die lulaistische Führung des größten Gewerkschaftsbunds, des CUT, und vieler anderer sozialer Bewegungen (z.B. der bundesweiten Studierenden-Gewerkschaft oder der Bewegung der obdachlosen LandarbeiterInnen) an ihrer alten Position haften geblieben oder haben gar vor dem von der PT als prioritär erachteten Programm kapituliert, das da lautet: Wiederwahl von Lula bei den Wahlen 2018. Im Namen dieses Projekts hat Lula den Kampf zum Sturz von Temer herunter gefahren und einen Prozess der Wiederannäherung mit Teilen der PMDB (von Temer; Erg. d. Übers.) und anderer traditioneller Parteien initiiert.

Wie die Wahlen in Brasilien im Jahr 2018 ausgehen werden, ist noch völlig offen. Die politische Krise, die noch angeheizt worden ist durch Ermittlungen wegen Korruption, ist die größte in der Geschichte des Landes und lässt die Situation äußerst volatil erscheinen.

Aktuell würde Lula laut Wahlumfragen gegen alle möglichen KontrahentInnen eine starke Mehrheit sicher sein (rund 35 Prozent in der ersten Wahlrunde). Angesichts des massiven öffentlichen Widerstands gegen Temer scheint Lula für viele die einzige Antwort auf die zu sein, die momentan an der Macht sind. Dies steht im Zusammenhang damit, dass viele abhängig Beschäftigte sich nach den Niederlagen der Kämpfe, die in diesem Jahr stattgefunden haben, frustriert fühlen.

Auf Platz zwei in den Umfragen rangiert mit beinahe 13 Prozent Jair Bolsonaro, ein rechtsextremer Populist, Reservist der Armee und Fürsprecher der Diktatur sowie reaktionärer Positionen in Bezug auf die Menschenrechte. Er ist ein Anti-Feminist, homophob usw. Groß werden konnte er aufgrund des Vakuums, das die allgemeine Unzufriedenheit geschaffen hat. Dies gilt vor allem für die eher konservative Mittelschicht und vor dem Hintergrund traditioneller Politikansätze. Dort sind Menschen auf der Suche nach einer deftigen Antwort auf das bestehende Chaos, die Korruption und das, was er selbst als „Gefahr des Kommunismus“ beschreibt!

Die traditionelle Rechte (vor allem die PSDB) ist tief gespalten und keineR ihrer KandidatInnen hat zur Zeit gute Aussichten gewählt zu werden. Selbst der „neue“ João Doria, neuer Bürgermeister von São Paulo und Geschäftsmann, der gewählt worden ist, weil er als jemand betrachtet wurde, der außerhalb des politischen Systems steht, scheint ins Wanken zu geraten. Er befindet sich in Konflikt zu seinem Mentor, dem Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin. Es geht dabei um die Auseinandersetzung um die Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur der PSDB. Die sinkenden Zustimmungsraten für Doria – als Bürgermeister und als möglicher Präsidentschaftskandidat – lassen seine Kandidatur immer unwahrscheinlicher werden. Doch der Streit darum wird noch anhalten.

Das Szenario einer zweiten Runde zwischen Lula und Bolsonaro versetzt Teile der Bourgeoisie in Schrecken. Lula geht nicht ganz zu Unrecht davon aus, dass ein beträchtlicher Teil der Bourgeoisie in dieser Gemengelage für ihn und gegen die Unsicherheit votieren würde, die ein extremes Abenteuer unter Bolsonaro bedeuten könnte.

Auch Bolsonaro strebt – trotz seines Festhaltens an einer antikommunistischen und proto-faschistischen Rhetorik – nach einer Übereinkunft mit ernstzunehmenderen Teilen der Großbourgeoisie, um sich selbst als den Kandidaten gegen Lula zu präsentieren, der für die herrschende Klasse kein Risiko darstellt. Er hat eine liberalere wirtschaftspolitische Haltung angenommen, die in Widerspruch dazu steht, dass er die Diktatur verteidigt, die 1964 installiert wurde. Die damaligen Generäle befürworteten bei weitem stärker staatliches Eingreifen und waren nationalistischer als ihre südamerikanischen Gegenstücke.

Trotz dieser Bemühungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass die brasilianische Bourgeoisie sich um Bolsonaro vereinen wird. Wenn kein PSDB-Kandidat realisierbar wird, dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der brasilianischen Bourgeoisie ihr Medienmonopol nutzt, um eine alternative und zuverlässigere Figur aufzubauen.

Sollten die ökonomischen Grunddaten nicht zu schlecht ausfallen, dann könnte die Wahl auf den Innenminister fallen. Henrique Meirelles ist einer, auf den sich die Elite einigen könnte und der sogar die Zustimmung einiger PolitikerInnen der PT bekommen mag. In der Zeit der Regierungen unter Lula war er Präsident der Zentralbank und Lulas Wunschkandidat für das Amt des Innenministers unter Dilma Rouseff.

Ein weiterer Name aus dem Bereich der Justiz ist der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs Brasiliens, Joaquim Barbosa. Auch er könnte eine Rolle spielen. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass noch einE KandidatIn aus dem Bereich der Fernsehunterhaltung dazu kommt; so z.B. der TV-Moderator Luciano Huck.

Nichtsdestotrotz ist die Kandidatur von Lula aufgrund des Schuldspruchs gefährdet, den er im Lava Jato-Korruptionsfall bereits hinnehmen musste. Eine Möglichkeit, die die Bourgeoisie sieht, ist, ihn wegen dieser Sache noch aus dem Rennen zu drängen. Gleichzeitig wissen Teile der herrschenden Klasse, dass eine solche willkürliche Maßnahme auch zu noch stärkerer Polarisierung und Radikalisierung führen kann.

Ohne Lula würde sich das Rennen um das Präsidentenamt radikal ändern. In einer solchen Situation wäre sogar für eine linke Alternative, die sich um die PSOL organisiert, möglich, zu wachsen und einen Teil des o.g. Vakuums auszufüllen.

Neuorganisation der brasilianischen Linken

Wenn es nicht zu einer Kandidatur von Lula kommt, dann steigen die Chancen auf eine Kandidatur von Guilherme Boulos von der MTST, der wichtigsten Führungsfigur der heutigen brasilianischen sozialen Bewegungen.

Boulos ist eine Person, die die Beziehung zur PSOL als prioritär betrachtet (bei den letzten Wahlen hat er die Partei unterstützt) und von der sozialen Basis von Lula und der PT dennoch weitgehend akzeptiert wird. Er ist den vergangenen Regierungen der PT und ihrer Politik der Klassen-Kollaboration sowie dem Festhalten am Neoliberalismus gegenüber kritisch eingestellt. Dennoch verbindet er diese Haltung mit einer ausdrücklichen Verteidigung der Aktionseinheit gegen Temer und seine Angriffe.

Das politische Projekt von Boulos und der MTST-Führung besteht darin, einen Prozess der Neu-Organisation der brasilianischen Linken zu unterstützen. Als Beispiel nimmt man sich PODEMOS in Spanien, mit der man enge Beziehungen unterhält. Ein möglicher Präsidentschaftswahlkampf würde Bestandteil dieses Prozesses sein. Aus diesem Grund würde PSOL sich entsprechend anschließen und ein breites Bündnis der Bewegungen zusammen mit AktivistInnen und linken Parteien aufbauen.

Es geht um ein Projekt, mit dem der Lulaismus und die PT von links überwunden werden sollen. Das würde aber auch bedeuten, dass man über die PSOL in ihrer aktuellen Konstellation hinaus geht. Wenn das dazu führt, dass die soziale Basis der PSOL ausgeweitet wird und man sich direkter in Verbindung zu den Kämpfen setzt, die stattfinden (z.B. die von der MTST initiierten), dann wäre das äußerst begrüßenswert. Es besteht allerdings weiter die Gefahr, dass dieser Prozess opportunistische Teile der PT anzieht und die PSOL unter Druck setzt, moderatere Positionen zu übernehmen. Das wäre eine Kapitulation vor dem Lulaismus.

Boulos meint, dass es keinen Sinn macht, eine eigene Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen anzustreben, wenn Lula antritt. Damit würden alle Stimmen, die Temer gegenüber kritisch sind, kanalisiert, weil das Prinzip des „kleineren Übels“ zöge. Unter diesen Voraussetzungen würde er nicht antreten und könnte in der ersten Runde die/den KandidatIn der PSOL unterstützen. Wenn es zu einer zweiten Wahlrunde kommt, dann wird der Druck drastisch steigen, eine kritische Stimme für Lula abzugeben.

Die PT und Lula versuchen auch, die MTSTS und Boulos zu beeinflussen. Damit wollen sie ihre in Verruf geratene Partei „renovieren“, die sich von der alten sozialen Basis der Partei distanziert hat. Lula und die PT gründen sich allerdings weiterhin auf on top-Vereinbarungen, weil sie regieren wollen und den Kapitalismus besser zu managen meinen als die traditionellen Parteien. Daraus, dass sie die Macht wieder aus den Händen verloren hat, hat die PT nichts gelernt. Abgesehen von ihrer etwas kämpferischeren Wortwahl, die sie als Oppositionspartei nun an den Tag legt, steht sie immer noch für dieselbe Art von Politik, die sie an der Regierung verfolgt hat.

Die Tatsache, dass Boulos sich näher an Lula positioniert hat, als einige erwartet hätten, hat Teile der Linken (innerhalb und außerhalb der PSOL) zur Vereinfachung gebracht, er sei nur Teil des Projekts von Lula. Diese Teile der Linken haben eine ultra-linke Position angenommen und gehen davon aus, dass die PSOL mit Boulos zusammengeht, was eine Gefahr für die Partei sei und zur Selbst-Auflösung zugunsten des Lulaismus führen wird. Dieses Risiko und die Gefahr der Kapitulation vor dem Lulaismus hat für den Großteil der PSOL immer bestanden und wird weiterhin bestehen. Die beste Haltung in diesem Prozess besteht jedoch darin, innerhalb des heute dynamischsten Teils der Massenbewegung in Brasilien die Einheit der PSOL zu verteidigen und gleichzeitig für ein sozialistisches Programm und eine ebensolche Strategie für diesen Prozess der Re-Organisation zu kämpfen.

Die „Povo Sem Medo“-Front, eine Kampfstruktur unter der Führung der Landlosenbewegung MTST, hat im ganzen Land eine Reihe programmatischer Debatten mit Versammlungen und Podiumsdiskussionen organisiert, die auch im Internet übertragen worden ist. Mehr als 200.000 Menschen haben online daran teilgenommen. Obwohl sie von ihrer Grundstruktur eine heterogen zusammengesetzte Bewegung ist (an den Debatten sind die PSOL, Unabhängige und sogar die PT beteiligt, auch wenn sie nicht viel Gewicht hatte), zielen die Ergebnisse dieses Prozesses in die Richtung eines Programms, das die wesentlichen Forderungen der sozialen Bewegungen und eine allgemeine Verteidigungshaltung gegenüber radikalen Reformen miteinander vereint. Der Fokus liegt dabei auf dem Klassenkampf als Mittel, mit dem diese Ziele erreicht werden sollen.

Ob Boulos kandidieren wird, muss spätestens bis März 2018 geklärt sein. Die Bundeskonferenz der PSOL wird im Dezember stattfinden, und die Mehrheit wird voraussichtlich dafür votieren, die Entscheidung auf in drei Monaten zu verschieben. LSR tritt dafür ein, dass die Partei ihr Wahlprogramm demokratisch auf der Bundeskonferenz beschließt (diesem Vorschlag werden jedoch verschiedene Formalia entgegengehalten). Wir unterstützen zwar die Fortsetzung der Debatte mit Boulos, vertreten aber den Standpunkt, dass die Partei sich für eineN alternativeN KandidatIn entscheiden sollte, falls Boulos nicht antritt. Wir sind dagegen, dass die Entscheidung ohne weitere Diskussion von einer kleinen Führungsriege gefällt wird.

Venezuela – Polarisierung hält an

In Venezuela hat der Wahlsieg von Chávez einen tiefgreifenden revolutionären Prozess eingeläutet. Zwei Jahrzehnte später ist mit dem Kapitalismus immer noch nicht gebrochen worden. Die kapitalistische Wirtschaft ist ebenso noch intakt wie der kapitalistische Staat. Einhergegangen ist dies mit der Entwicklung einer Bürokratie, die zwar den sozialistischen Diskurs nutzt, sich aber in zunehmendem Maße von den Massen entfernt. Diese Bürokratie häuft Privilegien an und teilt ihre Interessen mit Teilen der Bourgeoisie.

Unter Maduro hat dieser Prozess einen qualitativen Sprung hingelegt. Die Regierung spricht immer noch von Sozialismus, versucht aber im Bündnis mit den imperialistischen Mächten Russland und China den Kapitalismus zu managen. Als Teil dieser Zielvorgabe hält die venezolanische Regierung an Abkommen mit Teilen der Bourgeoisie fest. Im Zusammenhang mit sinkenden Erdöleinnahmen bedeutet dies, dass Maßnahmen zum Einsatz kommen, mit denen soziale Errungenschaften wieder gestrichen werden. Die Preise steigen, in staatlichen Betrieben oder beim Bergbauprojekt „Arco Minero del Orinoco“ werden tausende von Arbeitsplätzen abgebaut. Die Folge ist, dass die Unterstützung für die PSUV zurückgeht und die Rechte die Möglichkeit bekommt wieder an Boden gut zu machen. Letztere hat die Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung von 2015 für sich entscheiden können und war in der Lage, im September/Oktober 2016 und im April/Juni 2017 die Massen mobilisieren zu können.

Ziel dieser letzten Offensive, bei der über 100 Menschen ums Leben gekommen sind, war es, einen Staatsstreich zu forcieren und die Macht zu übernehmen. Maduro und die Bürokratie reagierten darauf nicht mit der Mobilisierung der Massen sondern mit bonapartistischen Maßnahmen. Sowohl auf politischer wie auch auf ökonomischer Ebene wird der Militärführung immer mehr Macht zugestanden. Was die Bewegung angeht, so fördert man Parallelstrukturen, die man mit dem eigenen Klientel besetzt und von denen man erwartet, dass sie soziale Unruhen verhindern werden sowie die bürokratische Kontrolle wahrnehmen.

Die Einberufung der „Verfassunggebenden Nationalversammlung“ (ANC) war Bestandteil dieser Strategie. Damit sollte die Blockade der MUD, die das Bündnis auf gesetzgebender Ebene aufrecht erhielt, gebrochen und ferner eine neue demokratisch gewählte Körperschaft legitimiert werden. Selbstverständlich sollte die ANC streng unter der Kontrolle der Bürokratie stehen. Die Massen reagierten zunächst unterkühlt auf dieses Vorgehen. Alles änderte sich dann mit den Aktionen der faschistischen Banden, die mehrere AktivistInnen lynchten und verbrannten. Hinzu kamen die Drohgebärden seitens des US-Imperialismus und der Wahlboykott des MUD. All dies brachte Millionen von Menschen dazu, energisch in die Bewegung mit einzusteigen. Darunter waren sogar Bevölkerungsteile, die schon in Apathie versunken schienen. Ein sehr großer Teil unterstützte dann KandidatInnen, bei denen es sich um „kritische ChavistInnen“ handelten. Nur der Druck der Bürokratie (in manchen Fällen gar die Wahlmanipulation) und interne Spannungen unter diesen regimekritisch eingestellten Kandidaturen verhinderten, dass mehrere von ihnen Erfolge einfahren konnten.

Dass dem konterrevolutionären Plan, mit dem die Macht errungen werden sollte, eine Niederlage beigebracht worden ist, hat eine neue Phase im Klassenkampf eröffnet. Der MUD ist gespalten und befindet sich in der Krise. In seinen traditionellen Hochburgen hat das Bündnis vermehrt Stimmenthaltungen hinnehmen müssen und im Oktober die Hausmacht auf regionaler Ebene eingebüßt. Bei den Kommunalwahlen im Dezember könnte sich diese Erfahrung wiederholen. Interessanter Weise ging der Wahlsieg der PSUV (die damit 18 von 23 GouverneurInnen stellt) ebenfalls einher mit zunehmenden Unannehmlichkeiten und internen Widersprüchen. Zwischen einzelnen Teilen der Bürokratie kam es zu gegenseitigen Korruptionsvorwürfen, und erneut gewannen kritische Kandidaturen an Unterstützung. Bezeichnend war die Situation in der Hauptstadt Caracas, wo der ehemalige Minister Eduardo Saman in den Umfragen massive Unterstützung bekommen hatte. Verglichen mit dem von der PSUV unterstützten Kandidaten hatten die Menschen an der Basis ihn als wesentlich weiter links stehend angesehen und als kritisch gegenüber der Bürokratie.

Obwohl die Rechte heute nur sehr wenige Kapazitäten für Mobilisierungen und eine Wahlunterstützung hat, schafft das anhaltende ökonomische Desaster die Bedingungen, die sie braucht, um das Heft wieder in die Hand nehmen zu können. Aus demselben Grund werden Teile der chavistischen Basis und Schichten der Arbeiterklasse dazu getrieben, sich weiter nach einer Alternative umzusehen. Das geschieht trotz der enormen Schwierigkeiten, der sich politische AktivistInnen gegenübersehen und die mit der Wirtschaftskrise zu erklären sind. Hinzu kommen noch die Manöver der Bürokratie und deren Repressalien und Nötigungsversuche. Die Aufgabe für MarxistInnen besteht darin, in diese Bewegung hinein zu arbeiten und mit einem revolutionären Programm, das die ArbeiterInnen und die Armen zusammenbringt und mobilisiert, eine Einheitsfront der kritischen Linken des Chavismus zu verteidigen. So kann der konterrevolutionären Bedrohung durch den MUD Einhalt geboten werden und der Kampf gegen die Bürokratie kann damit organisiert werden, damit schließlich die gesamte politische und ökonomische Macht auf die Beschäftigten übergeht. Damit wäre die Richtung vorgegeben für die sozialistische Transformation Venezuelas und ganz Lateinamerikas.

Mexiko

Was die Frage „progressiver“ Regierungen bzw. von Mitte-Links-Regierungen angeht, die von rechten Koalitionen ersetzt werden, bewegt Mexiko sich möglicherweise in die entgegengesetzte Richtung. Die neoliberale Regierung Nieto von der PRI hat nur wenig Unterstützung und es herrscht allgemeine Unzufriedenheit. Auf der anderen Seite ist „MORENA“, die Partei von Andres Manoel Lopes Obrador (kurz: AMLO) stark geworden. Es besteht dort die reale Möglichkeit, dass er die Wahlen 2018 für sich entscheidet.

Bei den Kommunalwahlen vom Juni hatte sich gezeigt, dass die Stimmung in Richtung Wandel geht, obwohl die vorhandenen linken Alternativen sehr begrenzt sind und das politische System Mexikos strukturell von Betrügereien gekennzeichnet ist. Im Vergleich zum letzten Urnengang hat die PRI im Bundesstaat Mexiko fast die Hälfte ihrer WählerInnen verloren. Den rechten Alternativen wie der PAN oder gar der PRD, die sich in vielen Regionen mit der Rechten zusammengetan hat, ist es kaum besser ergangen. In der Hauptstadt-Region ist „MORENA“ zur stärksten Kraft geworden und geht gestärkt in die Wahlen von 2018.

Je mehr die Siegchancen von AMLO zunehmen, desto entwickelten er und „MORENA“ sich hinsichtlich der öffentlich geäußerten Positionen nach rechts. AMLO macht die Entwicklung von Lula durch, die letzterer in seinem Wahlkampf von 2002 vollzogen hat. Um die Märkte, Investoren und die herrschende Klasse zu beruhigen versprach er, keine „Brüche“ vollziehen zu wollen. AMLO und „MORENA“ sind auch entfernt von den Kämpfen der Massen wie z.B. im Falle der Bewegung der Beschäftigten im Bildungssektor.

Dieser von AMLO angenommene „Moderator-Ansatz“ wird noch nicht einmal die Garantie mit sich bringen, dass er nicht auch zum Opfer von Wahlbetrug wird. Nur der Kampf der Massen und eine Kandidatur gegen die Hegemonie der PRI und den Neoliberalismus der PAN kann eine Kraft schaffen, die sich effektiv gegen Wahlbetrügereien zur Wehr setzen kann.

Auch die „Zapatistas“ (EZLN) und der „Nationale Indigene Kongress“ (CNI) haben ihre im Zuge ihrer letzten Konferenz getroffene Vereinbarung umgesetzt, eine weibliche Kandidatin ins Rennen zu schicken. Sie haben sich für María de Jesús Patricio Martínez entschieden, die auch als Marichuy bekannt ist. Es handelt sich hierbei eher um eine „Anti-Kandidatur“, mit der auf die derzeitige Lage und den Zustand der „Etablierten“ hingewiesen werden soll. Auch wenn sie keine großen Auswirkungen haben wird, so wird der Wahlkampf der EZLN möglicherweise doch eine Schicht von jungen Leuten ansprechen, denen die Rechtsentwicklung von AMLO zu weit geht.

Die Lage drängt

Die Schwächung und das Zurückdrängen „progressiver“ politischer Kräfte in Lateinamerika bietet Raum für ein Wiedererstarken der traditionellen Rechten. Obwohl sie nicht in der Lage ist, den großen Herausforderungen ins Auge zu sehen, mit denen die Völker Lateinamerikas konfrontiert sind, und trotz der Tatsache, dass sie die Rechte nicht von der Macht vertreiben kann, gelangen einige alte Empfehlungen der traditionellen Linken angesichts des Scheiterns neuer rechter Regierungen wieder zu neuer Blüte.

Sollte es dazu kommen, wäre im Falle Brasiliens eine mögliche neue Regierung Lula außerstande, den Forderungen der Bevölkerung zu entsprechen und würde im Land schnell für eine extreme Polarisierung und Instabilität sorgen. Wenn in diesem Kontext keine neue sozialistische Linke mit Massencharakter aufgebaut wird, dann kann ein Großteil der Unzufriedenheit von neuen rechten oder rechtsextremen Kräften ausgenutzt werden.

Wir haben nicht viel Zeit, um uns auf dieses Szenario vorzubereiten und ein solides Fundament für die Kräfte des revolutionären Sozialismus in Lateinamerika zu schaffen. Für unsere revolutionäre Arbeit müssen wir unseren GenossInnen die Dringlichkeit der Situation bewusst machen.

 

Vorsitzender der Post-Gewerkschaft in Serbien bedankt sich beim CWI

Erfolgreiche Solidaritätskampagne gegen Union-Busting
von BerichterstatterInnen des Komitees für eine Arbeiterinternationale

Nach der überaus erfolgreichen Solidaritätskampagne des Komitee für eine Arbeiterinternationale (internationale sozialistische Organisation, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist) zur Unterstützung eines Streiks der Postbeschäftigten in Serbien dürfen wir an dieser Stelle nun einen Brief des Vorsitzenden der unabhängigen Gewerkschaft der Postbeschäftigten in Serbien veröffentlichen, in dem dieser dem CWI seinen Dank ausspricht und zu weiteren Solidaritätsaktionen aufruft.

Vorangestellt sei zunächst ein kurzer Abriss über den Konflikt bei der Post.

Vergangenen November gab es auf www.socialistworld.net, dem Internetportal des CWI, ein Interview mit Zoran Pavlović, dem Vorsitzenden der unabhängigen Gewerkschaft der Postbeschäftigten. (Hier nachzulesen). Darin beschrieb Zoran die schwierige Gemengelage, in der die betroffenen KollegInnen steckten, und die Mobbing-Taktik des General-Geschäftsführers des Postamtes. In einer Art Racheakt der Geschäftsführung sind 37 PostmitarbeiterInnen, darunter auch GewerkschaftsaktivistInnen und -vertreterInnen, vom Dienst suspendiert worden. Sie hatten gegen ihren arbeitsrechtlichen Status und die Arbeitsbedingungen im Postamt Protest eingelegt.

Die Arroganz der örtlichen Geschäftsführung aber auch das herablassende Auftreten der serbischen PolitikerInnen lässt sich daran ablesen, dass niemand auch nur das geringste Interesse an der Tatsache zeigte, dass die Post-Geschäftsführung entgegen dem geltenden Arbeitsrecht gehandelt hat. Dass sie alle vorsätzlich über diese rechtswidrigen Machenschaften der Geschäftsführung hinweg gesehen haben, ist auf eine arrogante Regierungsführung zurückzuführen, bei der über Jahre hinweg staatliche Betriebe wie Privateigentum und ArbeiterInnen wie SklavInnen behandelt worden sind. Das alles ging mit der Zustimmung der neoliberalen Regierung vonstatten.

Serbische ArbeiterInnen fühlen sich häufig machtlos und auf sich allein gestellt. Genau das ist Geschäftsführungen privater Betriebe aber auch der Regierung sehr bewusst. Aus diesem Grund war die Beteiligung und Solidarität des CWI beim Streik der Postbeschäftigten auch ein wahres Schock-Erlebnis. Arbeitgeber wie Politiker haben diese Art der Unterstützung als äußerst unangenehm empfunden. Sicher ist, dass es zum Teil-Erfolg beigetragen hat, der am Ende zu verzeichnen war: Noch vor Jahresfrist sind 32 der 37 KollegInnen wieder eingestellt worden.

Dieser großartige Erfolg zeigt, wie mächtig internationale Solidarität sein kann. Damit ist das Ziel allerdings noch nicht erreicht. Schließlich sind immer noch fünf KollegInnen, bei denen es sich ausschließlich um GewerkschaftsvertreterInnen handelt, vom Dienst suspendiert. Um dazu beizutragen, dass die PostkollegInnen einen umfassenden Erfolg verbuchen können, bitten wir die LeserInnen unserer Webseite, weiterhin Solidaritätsadressen zu verfassen und zu versuchen, Gewerkschaften in diese Unterstützungsarbeit mit einzubeziehen. Es gilt vor allem solche Gewerkschaften anzusprechen, in denen Postangestellte organisiert sind.

Im Folgenden veröffentlichen wir die Übersetzung eines Schreibens an das CWI von Zoran Pavlović, dem Vorsitzenden der unabhängigen Gewerkschaft der Postbeschäftigten in Serbien:

„Wir wollen erneut unseren Dank für all das aussprechen, was das CWI für uns vom Dienst suspendierte Postbeschäftigte getan hat und weiterhin tut. Dank eurer Aktivitäten, der Medienpräsenz und des Drucks, den ihr erzeugt habt, konnten 32 von 37 unserer KollegInnen am 29. Dezember wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Weiterhin vom Dienst suspendiert sind Zoran Pavlović, Vorsitzender unserer Gewerkschaft, Radovan Tešić, sein Stellvertreter, und Dejan Bogovac, Sprecher unserer Gewerkschaft im Hauptpostamt von Belgrad. Selbiges gilt auch für den Vorsitzenden und den stellvertretenden Vorsitzenden von „Solidarität“, einer weiteren Gewerkschaft für Postbeschäftigte in Serbien: Tin Antić und Vladimir Djokić. Sie haben die Proteste unterstützt und sich aktiv daran beteiligt. Wir sind immer noch vom Dienst suspendiert und es deutet nichts darauf hin, dass sich daran etwas ändert.

In den anderthalb Monaten seit der Suspendierung hat die Unterstützung und Solidarität unter den KollegInnen dazu geführt, dass wir rund 12.000 Euro sammeln konnten. Damit konnten wir jedeR suspendierteR PostlerIn gut 340 Euro auszahlen, womit die ausgefallenen Löhne nahezu ausgeglichen werden konnten. Alle vom Dienst suspendierten Personen bekommen kostenlosen Rechtsbeistand und die Möglichkeit die Serbische Post zu verklagen. Die meisten werden davon aber leider keinen Gebrauch machen, weil sie Angst vor möglichen weiteren Repressionen haben.

Hinzu kommt die Tatsache, dass unser Recht zu arbeiten verweigert wird. Wir dürfen die Postfilialen nicht betreten und können somit auch nicht unser Recht wahrnehmen, gewerkschaftlich zu arbeiten. Wir haben wiederholt bei allen Behörden der Republik Serbien auf diesen Umstand hingewiesen, allerdings hat praktisch niemand irgendetwas unternommen.

Wir bitten euch in aller Form um jede Unterstützung, die ihr uns über das CWI zuteil lassen werden könnt, und dass ihr die Postgewerkschaften über unsere Probleme informiert.

Vorsitzender
Zoran Pavlović

Solidarity action

Wir rufen ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und linke AktivistInnen dazu auf, dringend ihre Solidarität mit dem Kampf der Postbeschäftigten in Serbien auszudrücken. Schickt bitte Protestschreiben an:

Mira Petrović, Geschäftsführer kabinet@posta.rs
Premierministerin Ana Brnabić: predsednikvlade@gov.rs
Rasim Ljajić, Minister für Tourismus, Telekommunikation und öffentl. Dienst: potpredsednik@mtt.gov.rs ; kabinet@mtt.gov.rs
Milan Krkobabić, Minister für regionale Entwicklung und Koordination der öffentl. Betriebe (PUPS): www.mbprr.gov.rs; kabinet@mbprr.gov.rs
Ministerium für Arbeit, Beschäftigung, Kriegsversehrte und soziale Angelegenheiten: www.minrzs.gov.rs; press@minrzs.gov.rs
Kopien gehen bitte an:
ivan.djikovic@kompas.org.rs
sindikat.poste@ptt.rs
christoph.glanninger@slp.at
miraglav@live.co.uk

Unterstützen kann man den Vorsitzenden der unabhängigen Gewerkschaft der Postbeschäftigten, Zoran Pavlović, auch direkt unter seiner Mobilnummer: (00381) +381646651087

Musterschreiben

An

Premierministerin Ana Brnabić

Minister für Tourismus, Telekommunikation und öffentl. Dienst

Minister für regionale Entwicklung und Koordination der öffentl. Betriebe

Minister für Arbeit, Beschäftigung, Kriegsversehrte und soziale Angelegenheiten

Durch das CWI und die serbische Aktivisten-Gruppe „Borba“ bin ich darüber informiert worden, dass die Beschäftigten beim öffentlichen Postunternehmen von Serbien regelwidrig behandelt werden. Die Entlassung und Suspendierung von GewerkschafterInnen, weil diese innerhalb des Betriebs Organisierungsarbeit geleistet und für bessere Arbeitsbedingungen protestiert haben, bedeutet einen fundamentalen Angriff auf grundlegende Arbeitnehmerrechte. Wir begrüßen die Wiedereinstellung von 32 zuvor suspendierten Beschäftigten, verurteilen aber mit aller Deutlichkeit die anhaltende Suspendierung der noch übrig gebliebenen fünf Mitglieder des Streikkomitees: Zoran Pavlović, Vorsitzender der unabhängigen Gewerkschaft der Postbeschäftigten, Radovan Tešić, stellvertretender Vorsitzender, und Dejan Bogovac, Vorsitzender der Gewerkschaftsstruktur im Hauptpostamt von Belgrad, sowie Tin Antić, Vorsitzender, und Vladimir Djokić, stellvertretender Vorsitzender der serbischen Post-Gewerkschaft „Solidarität“.

Wir erklären uns solidarisch mit den AktivistInnen und VertreterInnen der unabhängigen Gewerkschaft der Postbeschäftigten und der Gewerkschaft „Solidarität“. Es ist unglaublich, dass die o.g. KollegInnen immer noch vom Dienst suspendiert sind, weil sie Protest geübt und essentielle Verbesserungen wie höhere Löhne, faire Arbeitsverträge und Neueinstellungen eingefordert haben, um das Arbeitspensum schaffen zu können. Die Forderungen der unabhängigen Gewerkschaft der Postbeschäftigten sind vollkommen berechtigt und wir erwarten ihre unverzügliche Umsetzung. Wir werden die Öffentlichkeit und die Medien informieren und über den Fortgang der Entwicklungen auf dem Laufenden halten.

Dieser Artikel erschien zuerst am 10. Januar 2018 in englischer Sprache auf www.socialistworld.net

 

Griechenland: „Erfolgsstory“ Syriza?

Seit fast drei Jahren setzt Syriza das brutale Kürzungsdiktat der EU-Troika in Griechenland um.
Laura Rafetseder

Beifall erhielt Tsipras von Trump & IWF: Griechenland mache einen hervorragenden Job. D.h: Massensteuern wurden angehoben, Pensionen im Schnitt um 9% gekürzt, massive Privatisierungen umgesetzt. Syriza behauptet, dass man die Sparpolitik beende, sobald die Krise vorbei sei. Doch trotz zartem Wachstum von 1,5-2% glaubt in Griechenland niemand daran. Die soziale Lage ist katastrophal. Die Löhne sinken seit Jahren. Die Hälfte der Beschäftigten im privaten Sektor lebt an der Armutsgrenze. Viele erhalten ihre Löhne und Gehälter erst bis zu 15 Monate später. Die Stimmung ist eine von tiefer Wut, aber auch Demoralisierung und Frustration. Wo es Proteste gibt, sind sie oft mit Repression konfrontiert. Die Niederlage, durch die die griechische ArbeiterInnenklasse geht, ist eine ernste. Allerdings ist sie nicht vergleichbar mit jener im BürgerInnenkrieg 1945-49 oder der Militärdiktatur 1967-74. Die ArbeiterInnenklasse wird mit ihren kämpferischen Traditionen die Bühne wieder betreten. SozialistInnen stehen vor einer doppelten Aufgabe. Einerseits die politischen Schlussfolgerungen aus der Kapitulation Syrizas zu ziehen: dass es nötig ist, mit dem Kapitalismus zu brechen, um die Sparpolitik zu beenden. Und andererseits die verschiedenen Bewegungen in Griechenland zusammenzubringen und in einer gemeinsam Formation mit sozialistischem Programm zu vereinen.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Deutschland in der Krise

Tilman M. Ruster

Wo um Deutschland herum Regierungen kollabierten und kaum wer wiedergewählt wurde, überstand Kanzlerin Merkel sogar Eurokrise und Flüchtlingsstrom und regiert seit 2005 in unterschiedlichen Koalitionen. Stabile Wirtschaft - stabile Regierung. Das Platzen der Jamaika-Koalitionsverhandlungen löste jetzt eine politische Krise aus, die vermutlich Neuwahlen bringt. Einige Monate ohne Regierung lassen sich überstehen: Nach den belgischen Wahlen 2010 dauerte es 540 Tage bis eine neue Regierung stand, was sich auf den Alltag der BelgierInnen kaum auswirkte. Aber die politische Krise in Deutschland geht über die Unfähigkeit, eine Regierung zu bilden, hinaus: Die FDP fürchtet, in einer 4er-Koalition wie Jamaika nicht genug vorzukommen und bei den nächsten Wahlen wieder aus dem Bundestag raus zu fliegen. Die SPD hat Angst vor einem Schicksal wie andere Sozialdemokratien in Europa, die teilweise in den einstelligen Bereich absanken. Hier stehen Parteiinteressen vor dem Interesse des Kapitals nach einer ihm genehmen handlungsfähigen Regierung. Das folgt einem internationalen Trend: Trump und Brexit sind weitere Beispiele dafür, dass aus Sicht des Kapitals kein Verlass mehr auf ihren Staat ist. Hintergrund ist als Folge der wirtschaftlichen Probleme und der Unfähigkeit der Herrschenden, diese zu lösen, eine Vertrauenskrise in die Parteien, ihre Politik und eigentlich das ganze politische System. Es ist unmöglich geworden, die Politik für das Kapital noch als Politik für die Mehrheit der Bevölkerung zu verkaufen.

Diese Vertrauenskrise in die bürgerlichen Parteien kann eine Chance für die Linke sein. Das Interesse der Herrschenden ist Stabilität, also ein weiter so mit Politik für Reiche gegen die Interessen von ArbeiterInnen und Jugendlichen. Hier klar gegen die Bürgerlichen aufzutreten und sie erstens als verantwortlich für die sozialen Probleme zu benennen und zweitens eine klare, sozialistische Alternative gegen das „Weiter so“ anzubieten, ist nötig. Das ist der Weg nicht nur zu einem besseren Wahlergebnis, sondern auch die einzige Lösung gegen das Erstarken der Rechten und für sozialen Fortschritt statt Kürzungspolitik!

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Internationale Notizen Dezember/Jänner

Deutschland: Miethai enteignen

Das Unternehmen Intown besitzt Wohnhäuser in ganz Deutschland. 2017 mussten bereits drei Wohnkomplexe wegen baulicher oder hygienischer Mängel von den MieterInnen geräumt werden. Mit den Mieteinnahmen wurden nicht längst notwendige Reparaturen ermöglicht, sondern mehr Profite für Intown. Nach der jüngsten Evakuierung wurde von Mitgliedern der SAV (CWI in Deutschland) und betroffenen MieterInnen die Initiative „Hannibal II“ ins Leben gerufen. Zu den Forderungen der Initiative zählen Übergangswohnungen und Enteignung der Wohnkomplexe sowie Überführung in öffentliche Hand. Trotz nur kurzer Mobilisierungszeit konnte eine Demonstration der MieterInnen mit knapp 100 TeilnehmerInnen gestartet werden, die mit Transparenten und Sprechchören lautstark ihre Forderungen deutlich machten.

www.sozialismus.info

USA: Wahl in Minneapolis

Die Sozialistin Ginger Jentzen kandidierte für den Stadtrat von Minneapolis mit Forderungen nach höheren Steuern für Reiche und Senkungen der Mieten. Trotz Hetzkampagne der etablierten Parteien konnte Jentzen von Socialist Alternative (CWI in den USA) im 1. Wahlgang die Mehrheit der Stimmen erreichen, in Arbeiter- und Studierendentenvierteln sogar über 50%. Nur das undemokratische Wahlsystem sicherte dem Kandidaten der Demokraten den Sieg. Jentzen wurde von der PflegerInnengewerkschaft, der TransportarbeiterInnengewerkschaft und anderen Gewerkschaften unterstützt. Ohne eine einzige Spende von Firmen wurden Spendenrekorde aufgestellt. Jentzen’s Wahlkampf konnte tausende Menschen für sozialistische Ideen und eine Mobilisierung gegen Banken und Konzerne begeistern.

www.socialistalternative.org

Irland: Gefährliche Ideen

Am 3. und 4. November fand das zweite Mal “Dangerous Ideas” der Socialist Party (CWI in Irland) statt. Es war ein großartiger Erfolg mit rund 350 TeilnehmerInnen, darunter viele Aktivistinnen der “Repeal” Bewegung, die für Abtreibungsrechte kämpft. Es gab breit gefächerte Beiträge über die Lehren der Russischen Revolution und darüber, wie Sozialismus funktionieren kann.

www.socialistparty.ie

 

Stefan Brandl

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Für die sozialistische Republik Katalonien!

Katalonien erhebt sich gegen die Repression der PP-Regierung die mit Instrumenten der Diktatur arbeitet.
Ana Garcia, Generalsekretärin von Sindicato de Estudiantes und Mitglied der Leitung von Izquierda Revolucionaria

Die Propaganda der Bourgeoisie stellt die Geschehnisse in Katalonien als etwas komplett Undenkbares für die ArbeiterInnen und Jugendlichen des restlichen spanischen Staates und auf internationaler Ebene dar. Sie haben versucht, die Kämpfe von Millionen Menschen für ihr Recht auf Selbstbestimmung zu kriminalisieren und vertuschen dabei die wirklichen Gründe, die diese enorme Reaktion der Massen hervorgerufen haben.

Die nationale Unterdrückung in Katalonien ist eine spürbare Realität, die sich, seitdem die PP (Partido Popular - Volkspartei, deren Wurzeln im diktatorischen Francoregime liegen, Anm.) 2012 in die Zentralregierung kam, verschärft hat. Die Kampagne gegen alles Katalanische, die Sprache und die Kultur war eine Konstante dieser Jahre. Das hat die Erinnerungen an die Zeiten der Franco-Diktatur wiederaufleben lassen, wo Katalanisch zu reden gleichbedeutend mit Verfolgung und Gefängnis war. Parallel dazu hat die PP Kürzungen und Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse voran getrieben. Diese lösten soziale Verwüstung aus, wobei Katalonien eines der Gebiete ist, die es am härtesten traf.

Da fällt es leicht, zu verstehen, dass viele Jugendliche und ArbeiterInnen in dem Unabhängigkeitskampf einen Weg gefunden haben, sich gegen die reaktionäre Regierung, die die Interessen der wenigen Reichen vertritt, aufzulehnen. Aber es ist nicht weniger klar, dass die PP nicht alleine für die Kürzungspolitik in Katalonien verantwortlich ist. Die katalanischen Bürgerlichen, die durch die PDeCat (Katalanische Europäische Demokratische Partei) und Puigdemont repräsentiert sind, vertraten letztendlich genau dieselbe Politik. Aus Misstrauen gegenüber der bürgerlichen Führung befanden sich deshalb viele linke Jugendliche und ArbeiterInnen, die gegen die Kürzungen sind, zunächst am Rande der Bewegung für das Recht auf Selbstbestimmung. Aber es wäre eine grobe Vereinfachung, diese Massenbewegung mit Puigdemont und seinen Leuten zu identifizieren. Dass sie so weit gegangen sind, ist dem enormen Druck der Bewegung zu verdanken. Erst als sie ihre Positionen in Gefahr gesehen haben, begannen sie aus einer opportunistischen Haltung heraus, die Fahne der Unabhängigkeit zu schwenken.

Die Repression der PP, gemeinsam mit Ciudadanos (neuere neoliberale Partei, Anm.) und der PSOE (Sozialdemokratie, Anm.), provozierte eine Reaktion unter ArbeiterInnen und Jugendlichen - sogar unter jenen, die die Unabhängigkeit nicht unterstützen. Sie verstanden die Repression als Angriff auf ihre grundlegendsten demokratischen Rechte. Das zeigen alleine die Bilder von tausenden Personen, welche die Wahlurnen beim Referendum am 1. Oktober verteidigten. Dabei forderten sie die bürgerliche Gesetzmäßigkeit heraus, widersetzten sich den Schlägen der Polizei und verteidigten die Rechte, welche hart unter bzw. gegen die Diktatur erkämpft wurden. Diese starke Allianz zeigte ihre Kraft erneut in dem Generalstreik, welcher am 3. Oktober ganz Katalonien lahmlegte.

Die großen Konzerne und Banken sahen das revolutionäre Potenzial dieser Bewegung. Sie starteten eine Kampagne der Erpressung und drohten mit Abwanderungen. Es haben bereits 2.000 Firmen ihren Sitz aus Katalonien abgezogen. Dieselbe Strategie führte die EU-Troika auch bei der griechischen Bevölkerung durch. Aber die Kraft und der Antrieb derjenigen, die kämpfen, sind beeindruckend. Die Repression hat das Gegenteil davon bewirkt, was sie eigentlich bewirken sollte. Die spanische Zentralregierung sperrte AnführerInnen sozialer Bewegungen und Abgeordnete der katalanischen Regierung ein und löste das katalanische Parlament auf. Die Antwort darauf war erneut eine Massenmobilisierung am 8. November.

Als Izqiuerda Revolucionaria (Revolutionäre Linke, CWI in Spanien) und Sindicato de Estudiantes (SchülerInnen und Studierendengewerkschaft) verteidigen wir die katalanische Republik, die von Millionen im Widerstand gegen Repression und Erpressung erkämpft wurde. Aber die Republik, die wir verteidigen, ist nicht jene, die Puigdemont verteidigt. Sie ist eine Republik der Bevölkerung, genauer gesagt eine sozialistische Republik Katalonien. Eine sozialistische Republik, die den Zwangsräumungen, den Kürzungen und den unsicheren und schlecht bezahlten Jobs ein Ende bereitet, und welche in erster Linie durch soziale Rechte definiert wird. So kann auch die Unterstützung aller ArbeiterInnen, katalanisch oder nicht katalanisch, einheimisch oder migrantisch, gewonnen werden.

Leider haben die Führungen der großen linken Parteien, Podemos und Izquierda Unida, die Bewegung bis jetzt im Stich gelassen. Sie haben ein solches Programm der „Stabilität“ des spanischen Staates untergeordnet. Doch nur mit so einem Programm können die linken Organisationen und Parteien in einer gemeinsamen Front das Gift der Spaltung, welches die Bourgeoisie verbreitet, überwinden. Sie können die katalanische Republik zu einem Sieg der vereinigten ArbeiterInnen, frei von jeglicher Unterdrückung, machen und den Kampf aller Unterdrückten im Rest Spaniens und der Welt inspirieren.

http://www.sindicatodeestudiantes.net/

http://www.izquierdarevolucionaria.net/

 

 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Stoppt den Krieg gegen die KurdInnen

Türkisches Militär raus aus Afrin! Bundeswehr raus aus der Türkei!
Von Sascha Staničić

Solidaritätsproteste in Wien

Solidaritätsproteste in Wien

Flugblatt unserer deutschen Schwesterorganisation der Sozialistischen Alternative (SAV)

Am 21. Januar marschierte türkisches Militär in den in Nordsyrien gelegenen und zur kurdischen Autonomieregion Rojava gehörenden Kanton Afrin ein. Was vom türkischen Präsidenten Erdoğan als Offensive gegen Terroristen bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein Angriffskrieg gegen die kurdische Bevölkerung. Ziel der Herrschenden in Istanbul ist die Schwächung der kurdischen Autonomiebewegung, der Ausbau des eigenen Einflusses bei der Neuaufteilung Syriens nach der Niederlage des so genannten Islamischen Staates (IS) und nicht zuletzt die Stärkung der AKP in der Türkei durch eine nationalistische Kampagne und eine Fortsetzung des Ausnahmezustands und der Repression gegen alle Oppositionellen.

Syrien ist ein Kampfplatz der unterschiedlichsten imperialistischen Groß- und Regionalmächte. Für die USA stand in der letzten Phase der Kampf gegen den IS im Mittelpunkt. Dazu stützten sie sich auf ein militärisches Bündnis mit den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ), welche die Streitkräfte des von der kurdischen PYD (Partei der Demokratischen Union) kontrollierten selbstverwalteten Gebiets Rojava im Norden Syriens sind. Die Türkei hingegen hatte in der Vergangenheit den IS und andere islamistische Kräfte im syrischen Bürgerkrieg unterstützt, während Russland und der Iran den syrischen Diktator Assad unterstützten.

Allen unterschiedlichen Interessen und Bündnissen zum Trotz, verbindet alle diese Mächte ein Ziel: die kurdische Bewegung darf ihre Ziele nicht erreichen, das mit einem demokratischen und multiethnischen Anspruch angetretene Rojava darf nicht überleben. Es wird als Bedrohung für die Macht der Imperialisten und Diktatoren in der Region betrachtet. Nur so erklärt sich das Verhalten der Groß- und Regionalmächte, die alle das Blut der bei dem türkischen Angriff getöteten KurdInnen an ihren Händen haben. Denn es gibt keinen Versuch, der türkischen Offensive Einhalt zu gebieten. Vieles spricht dafür, dass der Angriff mit der russischen Regierung abgesprochen war, die ihre in Afrin stationierten Truppen vorher abzog und ihre Möglichkeit, eine Flugverbotszone auszusprechen, nicht nutzt. Die USA stecken in einem Dilemma, handelt es sich doch um einen Krieg zweier ihrer Bündnispartner. Sie rufen zur Zurückhaltung und Vermeidung ziviler Opfer auf, was zum Ausdruck bringt, dass sie im Zweifelsfall keinen Bruch mit dem NATO-Partner Türkei riskieren wollen, weil dies ihren mittel- und langfristigen Einfluss in der Region untergraben würde.

Auch die Haltung der Bundesregierung ist ein Skandal. Erst kürzlich hatten sich die Außenminister beider Staaten, Gabriel und Çavusoglu, in Deutschland getroffen und das deutsch-türkische Bündnis beschworen. Das türkische Militär ist mit deutschen Leopard II-Panzern in Afrin eingerückt, welche zeitnah für den Minenschutz nachgerüstet werden sollen – was Sigmar Gabriel ausdrücklich unterstützt. Die Bundesregierung hat auch Verständnis dafür geäußert, dass die Türkei ihre Sicherheit in der Region bedroht sehe.

Tatsache ist aber, dass es in Afrin keine Stellungen des Islamischen Staates gibt und von der YPG keine Angriffe auf türkisches Staatsgebiet worden waren. Die YPG wäre auch gut beraten, ihren Kampf als Verteidigungskampf zu führen und der Aussage eines PYD-Führers nicht zu folgen, der davon sprach, den Kampf auch auf türkischem Staatsgebiet zu führen. Denn das wäre ein Geschenk für Erdoğans Propagandamaschine und würde es ihm erleichtern, die Opposition im eigenen Land mundtot zu machen.

Denn es kann kein Zweifel daran bestehe, dass die Militäroffensive auch stark innenpolitisch motiviert ist. Im nächsten Jahr finden Wahlen statt und die AKP läuft Gefahr, ihre Mehrheit zu verlieren. Sie kann seit dem Putschversuch im Jahr 2016 nur durch massive Repression und einen Dauer-Ausnahmezustand regieren. Mit der IYI-Partei, einer Abspaltung der faschistischen und mit der AKP verbündeten MHP, ist eine rechte Opposition entstanden, die in Umfragen auf bis zu zwanzig Prozent kommt, während die MHP möglicherweise an der zehn-Prozent-Hürde scheitern würde. In der bürgerlich-sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP wurde kürzlich die linksliberale Canan Kaftancıoğlu zur Vorsitzenden der Istanbuler Parteiorganisation gewählt. Kaftancıoğlu begann in der Kurdenfrage von den traditionell nationalistisch-antikurdischen Positionen der CHP abzurücken. Der Krieg gegen Afrin führt nun dazu, dass sich alle Oppositionsparteien (natürlich mit Ausnahme der linken und prokurdischen HDP) zu einer nationalen Front hinter Erdoğan zusammen schließen und es diesem einfacher machen, seine Unterdrückung jeglicher Opposition im Land zu intensivieren, einschließlich der sich im Arbeitskampf befindenden MetallarbeiterInnen. Nur drei Tage nach dem Beginn des Angriffs sollen schon fünfzig JournalistInnen verhaftet worden sein, insgesamt sitzen Zehntausende aus politischen Gründen in den Gefängnissen, einschließlich der beiden Vorsitzenden der HDP.

Die kurdische Bevölkerung verdient die Solidarität der weltweiten Arbeiterbewegung, Linken und AntikriegsaktivistInnen. Die SAV unterstützt alle Demonstrationen und Proteste gegen den Angriffskrieg der Türkei und die Komplizenschaft der imperialistischen Mächte, einschließlich der Bundesrepublik.

Wir fordern:

* Abzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien/Afrin

* Bundeswehr raus aus der Türkei

* Schluss mit Rüstungsexporten an die Türkei, keine Modernisierung der Leopard-Panzer

* Solidarität mit den Kriegsflüchtlingen – Öffnung der Grenzen zur Türkei, dem Nordirak und Aufnahme in Deutschland

* Aufhebung des PKK-Verbots und des Verbots kurdischer Symbole

Wir unterstützen die Forderungen unserer türkischen Schwestergruppe Sosyalist Alternartif:

* Für eine gewerkschaftliche Mobilisierung gegen den Krieg durch Generalstreik

* Für die Verbindung des Kampfes der MetallarbeiterInnen mit dem Kampf gegen den Krieg

* Arbeitereinheit gegen Nationalismus und konfessionelle Spaltung

* Gegen den Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung und Armut – für eine freiwillige sozialistische Konföderation des Nahen und Mittleren Ostens

 

GroKo: Offenbarungseid der SPD

Weitere vier Jahre Politik fürs Kapital
Sascha Staničić ist Bundessprecher der SAV. Bei den Sozialismustagen spricht er auf der Auftaktveranstaltung zum Thema „Rebellion gegen Repression: Demokratie geht nur sozialistisch“.

Das Votum des SPD-Bundesparteitags für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU zur Bildung einer neuerlichen Großen Koalition war knapp. In den Tagen zuvor und auf dem Parteitag selbst konnte man den Eindruck bekommen, die SPD sei eine lebendige Partei mit einer einflussreichen innerparteilichen Opposition und einem aufrührerischen Jugendverband. Generalsekretär Klingbeil zeigte sich nach dem Parteitag stolz auf die inhaltlich geführte Debatte. Dabei waren BefürworterInnen wie GegnerInnen einer GroKo nicht von grundlegenden inhaltlichen Differenzen, sondern von Angst angetrieben.

Die einen hatten Angst davor, dass die Partei nach weiteren vier Jahren als Juniorpartnerin in einer Merkel-geführten Bundesregierung noch weiter in der Wählergunst abstürzen wird. Die anderen hatten Angst, dass der Gang in die Opposition von eben diesen WählerInnen nicht verstanden würde und der Stimmanteil für die Sozialdemokratie bei Neuwahlen weiter sinken würde.

Dann waren sich wieder alle irgendwie einig, dass man Fehler gemacht habe und es eine Erneuerung der Partei geben müsse. Scheinbar soll diese aber keine inhaltliche Erneuerung darstellen, denn Konzepte für einen grundlegenden Kurswechsel der ehemaligen Arbeiterpartei wurden nicht vorgetragen.

Das Dilemma der Sozialdemokratie im Bundestagswahlkampf war, dass sie mit dem Versprechen nach sozialer Gerechtigkeit sozusagen Wahlkampf gegen sich selbst gemacht hat – und ihr das niemand abkaufen konnte. Schließlich war sie fünfzehn der letzten neunzehn Jahre Teil der Bundesregierung und hätte für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen können. Das Gegenteil war der Fall. Nun ist ihr Dilemma, dass der größte Erfolg ihrer Sondierungsverhandlungen die Rücknahme einer Regelung ist, die sie selbst mitzuverantworten hatte: die Aufgabe der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Nicht gerade ein großer Wurf.

Nichts quietscht

Im Zickzackkurs seit dem Wahlabend ist die SPD vom Nein zur Wiederauflage der Großen Koalition über die Einschätzung von Martin Schulz, das Ergebnis der Sondierungen sei „hervorragend“ beim „jetzt wird verhandelt bis es quietscht“ von Andrea Nahles gelandet. Dass es bei den Sondierungsgesprächen nicht gequietscht hat, kann da nur Menschen mit schwachem Kurzzeitgedächtnis nicht auffallen. Aber die scheint es in der SPD viele zu geben, denn sonst hätte Andrea Nahles mit ihrer Wutrede beim Parteitag nicht solche Jubelstürme ausgelöst. Dabei war gerade diese Rede ein Offenbarungseid für die SPD-Spitze, denn die Fraktionsvorsitzende hat auf den Punkt gebracht, was sozialdemokratische Politik im Vergleich zu CDU/CSU ausmacht: Bürgerversicherung und Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit- mehr nicht. Und da man als 20,5-Prozent-Partei nicht hundert Prozent des eigenen Programms durchsetzen könne, dürfe daran nun eine Regierungsbildung nicht scheitern, denn abgesehen davon habe man ja den Großteil des Wahlprogramms durchgesetzt. Und selbst der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert bescheinigte den SPD-SondiererInnen, dass sie viel rausgeholt haben.

In dieser SPD gibt es keine relevante Kraft, die noch bereit wäre für sozialdemokratische Reformpolitik im ursprünglichen Sinne des Wortes zu kämpfen. Das hat seine Ursache vor allem darin, dass der Kapitalismus in der derzeitigen neoliberal geprägten Niedergangsperiode (in der er sich trotz Wirtschaftswachstum und Haushaltsüberschüssen in der Bundesrepublik befindet) keine größeren und dauerhaften Verbesserungen für die Masse der Bevölkerung leisten kann und die SPD diesem Kapitalismus so verpflichtet ist, wie der Papst dem Vatikan. Deshalb wird sich nichts grundlegendes ändern an Niedriglöhnen, Arbeitshetze, Hartz IV-Schikanen, Altersarmut, Zwei-Klassen-Medizin, explodierende Mieten, Verfehlen der Klimaziele, staatlichem Rassismus und Rüstungspolitik.

Nichts ändert sich

Das Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD schreibt deshalb vor allem eine Fortsetzung der Politik im Interesse des Kapitals fort. Die darin versprochenen Verbesserungen (Erhöhung des Kindergelds, Wiedereinführung der Parität bei der Finanzierung der GKV, Bafög-Erhöhung, Überprüfung des so genannten Schonvermögens für ALG II-BezieherInnen etc.) sind minimal, zum Teil waren sie schon in den Jamaika-Verhandlungen vereinbart worden und beinhalten kein dem Mindestlohn vergleichbares Projekt (ganz abgesehen davon, dass es alles andere als sicher ist, dass alle diese Vorhaben auch umgesetzt werden). Gleichzeitig sollen die Arbeitszeiten flexibilisiert und die Höchstarbeitszeit raufgesetzt werden. Ganz zu schweigen von der faktischen Einführung einer Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten, den Restriktionen beim Familiennachzug für Geflüchtete mit eingeschränktem (so genanntem subsidiären) Status und dem weiteren Ausbau von Rüstung und staatlichem Repressionsapparat.

Viel wichtiger ist, was sich alles nicht ändert: keine Steuererhöhungen für die Superreichen, keine Rücknahme von Privatisierungen, keine schnellere Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, kein Ende der Zwei-Klassen-Medizin, kein Ende von Leiharbeit und dem Missbrauch von Werksverträgen. Für die Arbeiterklasse und ihre Organisationen kann die Bildung einer Großen Koalition nur als Aufforderung verstanden werden, den Druck auf der Straße und in den Betrieben für soziale Verbesserungen zu verstärken. Umso skandalöser ist es vor dem Hintergrund, dass der DGB-Vorsitzende Hoffmann und ver.di-Chef Bsirske sich für die Bildung der GroKo ausgesprochen hat.

Dass ein solcher Druck Wirkung zeigen kann, zeigt das Sondierungsergebnis an einer Stelle aber auch: nachdem, ausgehend von den Streiks der Beschäftigten an der Berliner Charité, eine bundesweite Bewegung für mehr Personal im Krankenhaus entstanden ist, müssen CDU, CSU und SPD hier versprechen, die Personalsituation in allen Krankenhausbereichen zu verbessern. Auch hier bleibt abzuwarten, ob den Worten Taten folgen, aber die Worte sind Ergebnis des Drucks der Beschäftigten und nicht des SPD-Verhandlungsgeschicks.

Ob es jedoch zur Großen Koalition kommen wird, ist zwar mit dem SPD-Parteitagsvotum wahrscheinlich geworden, aber alles andere als sicher. Denn der Parteitag hat die SPD-Spitze auch aufgefordert in Sachen Begrenzung befristeter Arbeitsverhältnisse, kürzeren Wartezeiten für KassenpatientInnen und Ausweitung der Härtefallregelungen beim Familiennachzug aus den Koalitionsverhandlungen noch mehr rauszuholen, als im Sondierungspapier erreicht wurde. Hier wurde zwar aus den Reihen der CDU schon ein gewisses Entgegenkommen signalisiert, aber ob das reichen wird, um die SPD-Basis zu überzeugen, die in einem Mitgliederentscheid das letzte Wort haben wird, ist zumindest nicht gesichert. Denn unter den Mitgliedern ist die Angst vor den endlosen Niedergang der Partei als Merkels Bettvorleger womöglich größer als die staatspolitische Verantwortung.

Iran: Wie entstanden die Proteste?

Finanzskandale führten zum Aufbau der Oppositionsbewegung
Von P. Daryaban, „Committee for a Workers´ International“ // „Komitee für eine Arbeiterinternationale“ (CWI), dessen Sektion in Österreich die SLP ist

Aktivistinnen der SLP
Unterstützen die Proteste im Iran

Es ist bezeichnend, dass die landesweiten Demonstrationen im Iran in Mashhad, der zweitgrößten Stadt des Landes, ihren Anfang nahmen, wo viele jetzt bankrotte Finanzhäuser ihren Hauptsitz hatten und deren Zusammenbruch bereits zu Protesten im ganzen Land geführt hatte.

Den Hintergrund für die jüngste Pleite-Welle von Finanzhäusern bildet die sich lang hinziehende ökonomische Krise, unter der die iranische Wirtschaft schon lange leidet. Der Berater des iranischen Präsidenten hat die sechs schwerwiegendsten Folgen der Krise aufgelistet, für die das Regime bisher nicht in der Lage war eine Lösung anzubieten: Trinkwasservorräte, Umwelt, Rentenkassen, Landeshaushalt, Bankensystem und Erwerbslosigkeit.

In den letzten beiden Jahrzehnten war das Wachstum der Banken und die Zunahme ihrer Dominanz über die Wirtschaft ein ganz augenscheinlicher Aspekt in der ökonomischen Entwicklung des Landes. Diese Dominanz hat allerdings zu größeren Problemen geführt. Zunächst einmal haben die Banken wie Blutsauger am Körper der Ökonomie gewirkt. Die Zinsen im Land sind sehr hoch. Die Banken geben Zinsen von über 20 Prozent auf Geldeinlagen und nehmen noch höhere Sätze auf Kredite, die sie selbst vergeben. Durch diese Zinspolitik sind mittlere Industriebetriebe stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Ein Großteil der Branche leidet infolge dieser hohen Zinssätze unter fehlenden Finanzressourcen. Vor allem nach Inkrafttreten der internationalen Sanktionen gegen den Iran im Zuge des Konflikts über das Atomprogramm des Landes sind viele dieser Betriebe pleite gegangen.

Vor kurzem fasste die Zentralbank den Entschluss, die Zinsen um ein paar Prozentpunkte zu senken. Inwieweit diese Politik erfolgreich sein würde, konnte aber niemand sagen, da die Banken geschickt darin sind, sich Schlupflöcher zu suchen und Tricks anzuwenden, um Zinsen zu den alten Sätzen zu kassieren.

Im Zuge der Revolution von 1979 sind die Banken im Iran fast vollständig verstaatlicht worden. Während des Kriegs mit dem Irak von 1980 bis 1988 wurden die Banken von der Regierung genutzt, um das Haushaltsdefizit zu bewältigen. Die Schulden der Regierung bei den Banken stiegen über die Jahre kontinuierlich an, so dass die Regierung heute mit 2.200.000 Milliarden Rial (55 Milliarden US-Dollar) bei den Banken in der Kreide steht.

Nach dem Krieg begann das Land mit der Wiederbelebung der Wirtschaft, indem die Öl- und Rohstoff-Exporte erhöht wurden. Anfang der 2000er Jahre erlebte der Iran einen relativen Wirtschaftsboom, der vor allem in der Baubranche zu spüren war. Der lukrative Immobilienmarkt bewog die Banken zu großen Investitionen in diesem Bereich. Darüber hinaus erlaubte die Regierung die Gründung von Privatbanken und sogenannter Finanz- und Kreditinstitutionen.

Der Unterschied zwischen den Banken und diesen Institutionen besteht darin, dass letztere nicht dazu verpflichtet waren, einen bestimmten Kapitalanteil als Sicherheit bei der Zentralbank zu hinterlegen. Die Zentralbank hält diese Einlage, um die Verpflichtungen der Banken gegenüber ihren KundInnen zu garantieren. Hinzu kommt, dass die Institutionen freie Hand bei der Festlegung ihres Zinsrahmens haben. Im Wettbewerb mit den Banken nahmen einige von ihnen irrsinnige Zinssätze von 29 Prozent!

Die Gier der Banker

Die neu gegründeten „privaten“ Banken und Institutionen gehören zu verschiedenen Interessengruppen und Organisationen. Folgt man den Angaben eines offiziellen Vertreters, so hatte in den frühen 2000er Jahren jede Organisation beschlossen, ihr eigenes Bankhaus und ihre eigene Finanzinstitution zu eröffnen. Bei vielen der GründerInnen dieser Institutionen handelt es sich um korrupte BeamtInnen aus den Reihen der Sicherheitskräfte und/oder des Militärs oder aus dem Bürokratie-Apparat des Regimes.

In den 2000er Jahren legten sowohl die Banken als auch die Finanzinstitutionen enorme Beträge auf dem Immobilienmarkt und in nicht-produktiven Bereichen an (zum Beispiel Import, Boden- und Goldspekulation). Das Bauprogramm des ehemaligen Präsidenten Ahmadinedschad für erschwinglichen Wohnraum stimulierte die Gier der Bankiers und ihre Lust auf riesige Profite.

Die hohen Zinsen waren sowohl für SpekulantInnen als auch für „einfache“ Leute verlockend. Wegen der hohen Erwerbslosigkeit und sinkender Kaufkraft brachten viele Menschen ihr Geld auf die Bank, weil sie hofften, dass die Zinseinnahmen ihre Lebensumstände ein wenig verbessern würden. Einige verkauften sogar ihre Häuser, um den Erlös bei Banken oder Finanzhäusern einzuzahlen. Die Reichen machten natürlich Profit, weil sie enorme Summen horten und entsprechende Zinserträge einheimsen konnten. Vor kurzem äußerte ein Beamter, dass sich 20 Prozent des in Umlauf befindlichen Geldbestands in Form von Einlagen auf Konten bei den Institutionen befindet.

Und dennoch handelte es sich bei diesem Wettrennen zur Ausplünderung der Arbeiterklasse lediglich um eine kurzlebige Blase. Um das Jahr 2011 herum verzeichnete man einen plötzlichen Rückgang und den Beginn der Immobilienkrise. Verstärkt wurde dies durch die Sanktionen und die drastische Abwertung der Landeswährung. Die folge dessen war vorhersehbar: Alle Finanzinstitutionen, die märchenhafte Zinsen gewährt hatten, konnten ihren KundInnen die Verbindlichkeiten nicht mehr zahlen. Und als die Leute sich beeilten, ihr Geld zurück zu holen, war nichts mehr zu holen! Die Pleitegeier machten einer nach dem anderen den Laden dicht. Eine der größten und berüchtigsten Institutionen, die „Caspian Credit Institution“, schuldet rund einer halben Million KontoinhaberInnen sage und schreibe 1,4 Milliarden Dollar.

Die Zentralbank hat versucht, Banken-Rettungspakete zu schnüren und andere Bankhäuser zur Übernahme der Reste der Einlagen bankrotter Institutionen zu verpflichten. Bisher ist dieser Schritt aber nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Gerade erst hat ein Parlamentsabgeordneter gesagt, dass rund 20 Millionen IranerInnen Leidtragende der Krise der Finanzinstitutionen sind! Die Zentralbank hat wiederholt versprochen, das Problem zu lösen, aber lediglich einige Banken dazu verpflichtet, bankrotte Institutionen zu übernehmen. Was jedoch in Wirklichkeit passiert, ist, dass nur ein Bruchteil des Geldes an wenige SparerInnen zurückgezahlt worden ist. Und die Zentralbank hat gesagt, dass für die Jahre, in denen die Einlagen bei den Institutionen angelegt waren, keine Zinsen gezahlt werden.

Demonstrationen von SparerInnen

Die SparerInnen, die ihr Geld bei den Institutionen angelegt haben (es handelt sich in erster Linie um arme Leute) haben sich im ganzen Land an Demonstrationen beteiligt. Im Sommer letzten Jahres, als der Chef der Zentralbank die Buchmesse von Teheran besuchte, skandierten sie Parolen gegen ihn. Er musste das Messegelände abrupt wieder verlassen. In einigen Städten gerieten die Protestierenden in Konflikt mit der Polizei. Das Regime sah sich jedoch außer Stande, eine härtere Gangart an den Tag zu legen. Fast jede Woche kam es zu Kundgebungen vor dem Hauptgebäude der Zentralbank und der Chef der Notenbank sollte zur Rechenschaft gezogen werden. Als die TeilnehmerInnen beschlossen hatten, in Richtung des Amtssitzes von Chāmeneʾi zu ziehen, löste die Polizei die Kundgebung auf dem Enghelab-Platz in Teheran auf. So manches Mal kam es dazu, dass die Proteste sich mit Protesten anderer Gruppen zusammen schlossen. Dies geschah beispielsweise im Rahmen der Buchmesse, als SparerInnen und Menschen, die bei einem bankrott gegangenen Wohnungsbauprojekt ihr Geld verloren hatten, eine gemeinsame Demonstration bildeten. Eine Lösung des Problems wäre die bedingungslose und umgehende Rückzahlung aller Einlagen unter 50.000 Dollar. Die Zentralbank hat versprochen dies umsetzen zu wollen. Bisher handelt es sich dabei aber nur um leere Versprechungen.

Die Geschichte dieser Institutionen ist die Geschichte einer Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die entstehende Klasse der FinanzkapitalistInnen mit korrupten BeamtInnen eines bonapartistischen Regimes. Das ist ein weiterer Aspekt der sich verschärfenden sozialen und ökonomischen Spannungen und der Klassenkämpfe im Iran.

Iran: Protestbewegung von ArbeiterInnen und Jugendlichen

Regime unter Druck
von P. Daryaban (CWI -Komitee für eine Arbeiterinternationale)

Aktivistinnen der SLP

unterstützen die Proteste im Iran

Spontane, landesweite Großproteste haben den Iran erschüttert. Teile der Massen haben ihre scharfe Verachtung gegenüber dem Regime demonstriert. Jugendliche, unter denen die Arbeitslosigkeit geschätzt zwischen 25 und 40 Prozent liegt, spielen insbesondere eine führende Rolle.

Die Proteste, die sich zunächst lediglich gegen Preiserhöhungen und Korruption richteten, entwickelten sich fast unmittelbar zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, was die Zahl der Todesopfer in die Höhe schnellen ließ. In einigen Städten griffen die Menschen Polizeiwachen, Zentren von regierungsnahen Paramilitärs und religiöse Einrichtungen an. Das Tempo der Ereignisse erschien selbst den optimistischsten politischen AnalystInnen und AktivistInnen unbegreiflich.

Unmittelbarer Anlass war die Ablehnung der im Dezember angekündigten, erneuten neoliberalen Maßnahmen durch den „moderaten“ Präsidenten Hassan Rohani. Hinzu kam das starke Ansteigen der Lebensmittelpreise neben Veröffentlichungen von Details über die übertriebene Finanzierung religiöser Körperschaften. Derweil herrscht weiterhin Massenarbeitslosigkeit und der Lebensstandard ist über die letzten Jahre im Durchschnitt um 15 Prozent gefallen. Die Proteste breiten sich also schnell im ganzen Land aus.

Die wirtschaftliche Krise hat sich in den letzten Jahren vertieft. Anschauliche Beispiele dafür sind die riesige Verschuldung der Regierung bei den Banken, Zuwendungssenkungen bei den Rentenversicherungen, der Bankrott von Finanzinstitutionen und ein unglaubliches Ausmaß an Korruption und Veruntreuung, welches unmittelbar die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse angreift. Das spielt in den Protesten eine wichtige Rolle – neben der Tatsache, dass eine reiche Elite gesellschaftlich immer sichtbarer wird. Nicht zuletzt hörte man bei den Protesten: „Nieder mit den Veruntreuern!“

Die Rohani-Administration brüstete sich damit, die Inflation auf einstellige Zahlen reduziert und die Wachstumsrate auf sechs Prozent erhöht zu haben. Jedoch erzielte man ersteres hauptsächlich mit neoliberalen Maßnahmen, während zweiteres lediglich das Ergebnis der UN-Sanktionsaufhebungen war – das Regime war lediglich wieder in der Lage Öl zu exportieren.

Das Regime hat zudem seine Ressourcen durch die Einmischung in den Kriegen im Irak, in Syrien und im Jemen verschwendet. Zusätzlich erklärte der libanesische Anführer der Hisbollah öffentlich, dass alle Mittel für seine Partei und die Infrastrukturmodernisierungen im Südlibanon aus dem Iran kommen würden. Das Regime wendet ebenfalls große Mittel dafür auf, die von ihnen unterstützten Militärkräfte im Irak zu unterstützen. Die ambitionierte Außenpolitik des Regimes ruft Kosten hervor, welche die iranische Arbeiterklasse zahlen muss. Das Regime versuchte, sie für eine Zeit lang zu rechtfertigen – durch Panikmache vor dem Aufstieg des Terrorismus innerhalb der iranischen Grenzen. Doch nach dem Niedergang des IS ist das Schreckgespenst des Regimes weitestgehend verschwunden, zumindest bis zu diesem Moment.

Trumps Amtsantritt verschärfte die Situation und zerschlug alle Träume des iranischen Regimes, ausländische Investitionen anzuziehen. Iranische Banken haben es bis jetzt nicht geschafft, zum internationalen Bankensystem zurückzufinden.

In den letzten drei, vier Jahren waren es zwei große Bewegungen, die die Flamme der Opposition hochhielten: Die Arbeiterbewegung und die Kampagne von AnlegerInnen von insolventen finanziellen Institutionen.

Bedeutende Streiks und Streikposten fanden in Arak (Nordwesten des Irans) und in öl- bzw. erdgasreichen Regionen im Süden statt. Zudem gingen die Proteste gegen die Repression von GewerkschaftsaktivistInnen weiter, wie gegen den Führer der Teheraner BusfahrerInnen und anderen von der Haft-Tapeh Zucker-Konzern in Chusistan.

Die Finanzinstitutionen, welche meist von regierungsnahen Personen gegründet wurden, haben Millionen von Dollars von AnlegerInnen gestohlen. Das betrifft sowohl Menschen mit niedrigem Einkommen, welche kleinste Beträge für die Zukunft angelegt haben, als auch reiche Menschen, welche riesige Zinszahlungen erhielten. Die Geschichte dieser Institutionen, sowie die der massiven Veruntreuung bei der Lehrer-Rentenversicherung und der Sozialversicherung handelt nicht nur von einfacher kapitalistischer Profitmacherei – es erinnert eher an das Rauben und Plündern aus dem Mittelalter. Keiner der korrupten Beamten wurde zur Rechenschaft gezogen.

Der Haushalt gießt Öl ins Feuer

Der von Rohani angekündigte Haushaltsentwurf für 2018 goss weiter Öl ins Feuer. Er beinhaltet eine Erhöhung der Benzin-, Erdgas- und Erdölpreise um circa vierzig Prozent. Zeitgleich stiegen plötzlich die Preise für Eier in den letzten Wochen. Das bedeutet, dass sich die Armen nicht mal mehr Grundnahrungsmittel leisten können. Der Haushaltsentwurf sieht auch vor, die monatlichen Lohnsubventionen von 455.000 Rial (12,60 US-Dollar) für circa 34 Millionen Menschen (rund vierzig Prozent aller BezieherInnen) einzusparen.

Zudem erzürnte der Haushaltsentwurf die Wut der Menschen, indem er die riesigen Zuwendungen an die parasitären, religiösen Institutionen offenbarte. Während der Entwurf davon sprach, die staatlichen Ausgaben um sechs Prozent anzuheben (und die Inflation offiziell beizehn Prozent liegt), führt der Entwurf die neoliberale Kürzungspolitik in Wirklichkeit weiter, welche Rohani nach seinem Amtsantritt 2013 einführte. Die Zahlen, die die offiziellen Statistikämter des Iran veröffentlichen, sind höchst widersprüchlich. Die reale Inflations- und Arbeitslosenraten dürften weit größer ausfallen.

Die wachsende Verbreitung sozialer Medien stellt die staatlichen Nachrichtenagenturen in den Schatten und erlaubt den Menschen, ihre Wut und Unzufriedenheit freier miteinander zu teilen. Zur Zeit der letzten Massenproteste 2009 besaßen rund eine Million Menschen im Iran ein Smartphone. Heute sollen es laut Berichten 48 Millionen sein.

Da unabhängige, klassenkämpferische Gewerkschaften im Iran nicht zugelassen sind, benutzen die Menschen jede Möglichkeit und jede Öffnung, um ihre Forderungen zu erheben. Die vertiefte Krise und Wut haben zu vertieften Spaltungen und Konflikten innerhalb des Regimes geführt. Ex-Präsident Ahmadinedschad hat begonnen, die Judikative und Exekutive massiv anzugreifen. Khamenei warnte Ahmadinedschad und versuchte ihn so zum Schweigen zu bringen. Doch der sogenannte Oberste Religionsführer hat seine Autorität selbst innerhalb des Regimes verloren.

Unter diesen Umständen waren die Proteste in Maschhad vom 28. Dezember der Startpunkt. Der Fokus auf die steigenden Preise und die Korruption wandelte sich schnell und wurde politischer. Die Menge rief „Tod dem Diktator“ und forderte Freiheit für politische Gefangene. Selbst wenn zunächst befürchtet wurde, dass die sogenannten „Hardliner“ im Regime die Proteste angestoßen haben könnten, um durch sie Druck auf Rohani auszuüben, so ist es doch klar ersichtlich, dass sie jegliche Kontrolle über die Proteste verloren haben, sobald sie begannen!

Am nächsten Tag ereigneten sich ähnliche Demonstrationen in Teheran, Rascht, Kermanschah und Ahvaz, deren Slogans sich gegen die Führer des Regimes wendeten.

Der Charakter dieser Bewegung ist vor allem spontan – ohne einheitliche Führung. Sie gründet sich zum größten Teil auf die Initiative der Massen von unten. Entferntere Städte warten nicht auf die großen Zentren. Sie sind vollkommen unabhängig in die Bewegung eingetreten.

Zunächst war das Regime kurz gelähmt und zögerte vor einer heftigen, gewaltsamen Gegenoffensive, trotzdem es Hunderte in Gewahrsam nahm und bisher mindestens 21 Menschen tötete. Dort wo es versuchte, seine nach Eigenbezeichnung sogenannte „eiserne Hand“ einzusetzen, bestraften die Menschen es aufs Äußerste. In Malayer und Schahinschahr besetzten die Menschen laut Berichten die Polizeiwachen und die Büros der höchsten, örtlichen Geistlichen. Das geschieht nicht nur in farsischen (persischen) Gegenden – KurdInnen und Balutchis nehmen ebenfalls an den Protesten teil. Frauen spielen eine außerordentliche Rolle in der Bewegung.

Niemand konnte sich diese Situation noch vor einer Woche vorstellen. Es ist noch nicht klar, wie sich diese Bewegung von unten in nächster Zeit entwickeln wird. Doch es ist sehr klar, dass wir Zeugen großartigen Muts, überwältigender Wut und dem tiefen Wunsch nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sind.

Politische Eigenschaften der Bewegung

Diese Bewegung basiert komplett auf der Initiative der Massen. Viele haben mit den Reform-Führern der Grünen Bewegung von 2009 vollkommen gebrochen. Diese haben die Menschen lediglich für die Wahlen gebraucht und dann die Macht mit anderen großen Fraktionen der herrschenden Elite aufgeteilt. Die sogenannte Reformer-Fraktion hat die jetzigen Proteste sogar öffentlich verurteilt und zu ihrer Unterdrückung aufgerufen. Die Bewegung zeigt die weitverbreitete Unzufriedenheit mit Präsident Rohani, welcher im letzten Mai noch mit überwältigenden 57 Prozent wiedergewählt wurde.

Das Rückgrat der Bewegung hat sich im Vergleich zu den Grünen Protesten von 2009 verändert, welche damals hauptsächlich von großen Schichten des Kleinbürgertums und der Mittelschichten getragen wurden. Nun sind es Schichten der Arbeiterklasse, der Arbeitslosen und des niederen und mittleren Kleinbürgertums. Die aufgestaute Wut hat diese Bewegung extrem radikalisiert. Die Massen glauben nicht mehr an Ghandi-mäßige „gewaltfreie“ und „stille“ Demonstrationen. Sie rufen unverhüllt zum Sturz des Regimes.

Frauen haben wie bereits zuvor eine herausragende Rolle in der Bewegung gespielt und agieren in einigen Fällen mutiger als die Männer. Das liegt an der doppelten Unterdrückung, unter welcher sie durch die harten, islamischen Regeln leiden.

Die Proteste sind so groß und mächtig, dass die kleinen Städte in entfernteren Gegenden nicht mehr auf die großen Zentren warten.

Aussichten

Im Augenblick schränkt die Internetzensur des iranischen Regimes die Menge an genauen, aktuellen Informationen über die derzeitigen Entwicklungen im Land ein.

Wir sind nicht sicher, wie lang die spontanen Proteste weitergehen werden, doch es steht fest, dass sie ein neues Kapitel in der iranischen Geschichte nach der Revolution 1979 aufgeschlagen haben. Wir können diese Geschichte in drei Phasen unterteilen: von der Februarrevolution 1979 zur Zerschlagung im Juni 1981; von dieser Zerschlagung zum Dezember 2017. In der ersten Phase konnte das Regime die Revolution 1979 unterdrücken und seine Macht konsolidieren. Während der zweiten Phase überlebte der Thermidor (Reaktion) trotz seiner Krisen, wie der Grünen Bewegung 2009, da die Menschen immer noch auf Reformen durch das Regime hofften (insbesondere tat das die sogenannte Reformer-Fraktion). Die neue dritte Phase markiert den Beginn eines völligen Bruchs zwischen dem Regime und seinen Fraktionen auf der einen Seite und bedeutenden Schichten auf der anderen Seite. Die Herrschaft des Klerus wird immer mehr für die Entwicklungen verantwortlich gemacht.

Jedoch gibt es neben dem hohen Level an Militanz auch Schwächen dieser Bewegung. Sie steckt noch in den Kinderschuhen und – ohne die Existenz einer revolutionären Partei, die eine klare Strategie formulieren kann – läuft sie trotz ihres schnellen Aufstiegs Gefahr an Dynamik zu verlieren. Unweigerlich führen diese Schwächen und Eigenschaften zu durchmischten und widersprüchlichen Trends im Bewusstsein der TeilnehmerInnen. So gibt es teilweise auch Slogans zu hören, die die Monarchie von vor der Revolution 1979 unterstützen, auch wenn diese nicht die dominante Stimmung widerspiegeln.

Der erste Aktionsradius der Bewegung beschränkte sich auf die Straßen. Bisher ist sie nicht mit Protesten in Betrieben zusammengegangen. Nur im öffentlichen Raum und auf den Straßen zu demonstrieren, wird das Überleben der Bewegung nicht absichern können. Die Bewegung muss sich in Fabriken, Betrieben, Stadtteilen und Bildungsinstitutionen aufbauen.

Wenn die Arbeiterklasse in den großen Industriesektoren – Öl-, Erdgas-, Chemie- und Automobilindustrie – in einen 24-stündigen Streik treten würde, würde das der Bewegung den Stempel aufdrücken und einen riesigen Schwung nach vorne mitgeben. Bisher konnten wir jedoch keine Anzeichen für solch einen Schritt nach vorne erkennen.

Was tun?

Die Linke im Iran muss versuchen, die Lehren aus der 1979er Revolution, den 2009er Protesten und den Erfahrungen revolutionärer Kämpfe auf der Welt (insbesondere des „Arabischen Frühlings“) zu ziehen. Das bedarf auch eines schärferen Sinns für Internationalismus und Kooperation mit der internationalen sozialistischen Bewegung.

Die Linke muss auf diese neuen Gelegenheiten mit Vorschlägen reagieren: für Aktivitäten, organisatorische Formierungen und praktische Methoden, um die Bewegung zu stärken und zu verbessern. Die Linke muss die neuen Kommunikationsmittel nutzen, welche trotz der Zensurversuche des Regimes heutzutage eine entscheidende Rollen dabei spielen können, die Massen zu erreichen. Diese Mittel (einschließlich sozialer Medien) muss die Linke nutzen, um Informationen und Vorschläge zu verbreiten, die die nächsten Schritte organisieren.

Auch wenn die jetzigen Proteste wieder verschwinden können, haben sie die Situation im Iran grundlegend verändert. Diese Erfahrung kann die Basis für den Aufbau einer Arbeiterbewegung legen, welche sowohl das Regime als auch den Kapitalismus herausfordern kann. Die ersten Schritte beinhalten das Zusammenbringen von AktivistInnen in Gruppen und Komitees, um gemeinsame Aktivitäten zu koordinieren und Forderungen und Programm auszuarbeiten. Die Linke muss in den Dialog treten, um eine Einheitsfront zu organisieren – als ein Schritt auf dem Weg zur Gründung einer demokratischen Massenarbeiterpartei, welche ArbeiterInnen, Arme und Jugendliche im Kampf für eine Alternative vereint.

MarxistInnen streiten für ein Programm, welches die Forderungen nach demokratischen Rechten, den Kampf gegen Repression und die Verteidigung und Verbesserung der Lebensstandards mit der Notwendigkeit einer Regierung bestehend aus wirklichen VertreterInnen der ArbeiterInnen und Armen verbindet. Diese kann mit der sozialistischen Umgestaltung des Iran beginnen, indem die Kommandohöhen der Wirtschaft verstaatlicht und unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Das hätte eine riesige Anziehungskraft auf ArbeiterInnen im gesamten Nahen Osten und darüber hinaus.

Die Linke muss vor imperialistischen Interventionen warnen, welche die Bewegung untergraben und zweckentfremden. Trumps Heuchelei muss offen angesprochen werden, wenn er das iranische Volk genauso „unterstützt“ wie die Diktatur in Saudi-Arabien. Zeitgleich müssen unter gewissen Schichten der Bevölkerung jegliche Illusionen bekämpft werden, dass pro-westliche, kapitalistische Alternativen den Menschen ein besseres Leben bringen können. Die Alternative ist ein sozialistisches Programm, welches erklärt was durch den Sturz des Kapitalismus alles erreicht werden kann.

Nur eine Gesellschaft, welche von VertreterInnen der ArbeiterInnen und Werktätigen regiert wird, kann die chronischen Krisen im Iran überwinden, demokratische Rechte erkämpfen, der Armut ein Ende bereiten und Unterdrückung aufgrund von Geschlecht, Religion oder Herkunft verbannen. Eine Arbeiterrevolution im Iran wird gleichzeitig progressive, demokratische und sozialistische Kräfte im Nahen Osten bestärken und reaktionären, islamistischen Ideen und Kräften etwas entgegensetzen.

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