Internationales

Trudeau: Der Lack ist ab

Rückschlag für Justin Trudeau, den ehemaligen Liebling der Liberalen auf der ganzen Welt
Bill Hopwood, Socialist Alternative (Kanada)

Bei den Wahlen 2015 versprach Trudeau "sonnige Wege" - inklusive Wahlreform, Bekämpfung des Klimawandels, Verringerung der Ungleichheit, Verbesserungen für Frauen und die indigene Bevölkerung und mehr. Seine Liberale Partei (LP) gewann, er wurde Premierminister und die bis dahin regierende sozialdemokratische NDP verlor mehr als die Hälfte ihrer Sitze. In den ersten Monaten seiner Amtszeit polierte Trudeau sein Image als Fortschrittlicher weiter auf, mit der Ernennung eines Kabinetts mit 50% Frauen, mit der Ankündigung am Pariser Klimagipfel, dass "Kanada zurück ist", sowie dem Versprechen, die Rechte der Indigenen Bevölkerung zu respektieren. Trumps Wahl im November 2016 bestärkte Trudeaus Image als progressiver Kontrast.

Doch seither verblasst dieser Glanz. Die versprochene Wahlreform hat er aufgegeben. Unter seiner Regierung wurde für 4,5 Milliarden Dollar eine Pipeline angeschafft um verdünntes Bitumen (ein Kohlenwasserstoffgemisch, Anm.) nach Vancouver zu transportieren. Für 15 Milliarden Dollar wurden Waffen nach Saudi-Arabien verkauft. Im Frühjahr 2019 folgte ein Bericht, dass der Premierminister und sein Büro Druck auf die Generalstaatsanwaltschaft ausgeübt hatten, um die Strafverfolgung korrupter Machenschaften des Großkonzerns SNC-Lavalin einzustellen. Der Skandal offenbarte die schmutzigen Verbindungen der Regierung zum Großkapital. Keine Überraschung für Marxist*innen, aber schmerzhaft für Liberale. Leah McLaren schrieb über den SNC-Lavalin-Skandal: „Es war, als würde man zusehen, wie ein Einhorn von einem Lastwagen zerquetscht wird". Für viele Kanadier*innen bestätigte sich, dass die Liberale Partei wie alle anderen auch im Wahlkampf Veränderung verspricht und wenn sie gewählt ist, im Sinne der großen Konzerne regiert.

Zum Absturz Trudeaus trug im September die Veröffentlichung einiger Fotos von ihm mit „Blackfacing“ Make-up bei. Obwohl das die öffentliche Meinung kaum beeinflusste, verstärkte es den Zynismus gegenüber Politiker*innen – dass sie alle heucheln. Das Wahlergebnis ist aber nicht nur das Ergebnis der jüngsten Skandale, sondern der letzten Jahre, in denen der Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit deutlich wurde. Die LP blieb mit 157 Sitzen hinter den nötigen 170 zurück und wird als Minderheitsregierung nach Bündnispartnern suchen müssen.

Doch auch die frühere Regierungspartei NDP verlor weiter. Sie versprachen zwar im Wahlkampf, die Subventionen von jährlich drei Milliarden an die Öl- und Gasindustrie einzustellen, den öffentlichen Verkehr und das Gesundheitssystem auszubauen und 300.000 neue, gute Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Gegenüber den weitgehend unbeliebten konservativen Tories sind und den stark angeschlagenen Liberalen, wäre das ein guter Boden für die NDP gewesen. Doch nach der Wahlniederlage von 2015 war die Partei für mehrere Jahre weitgehend unsichtbar. Im Gegensatz zu Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn in Britannien hat sie keine neue Basis mit einer mutigen Politik aufgebaut. Sie beschränkt sich auf den Glauben, sie könne den Kapitalismus besser managen. Wahlgewinner waren folglich die Konservativen und der Bloc Québécois, der sich auf die französische Identität und die Souveränität von Quebec konzentrierte, während die rassistisch/nationalistische Partei von Maxime Bernier weniger als 2 Prozent erhielt.

Trudeau konnte bisher noch von einer relativ guten wirtschaftlichen Lage profitieren. Doch die Wolken am Himmel der Weltwirtschaft werfen auch auf Kanada ihren Schatten. Die meisten Kanadier*innen sind bis zum Hals verschuldet. Vor allem in Toronto und Vancouver droht die enorme Immobilienblase zu platzen. Die hohe Exportquote macht die kanadische Wirtschaft und die kanadischen Beschäftigten stark abhängig von der Entwicklung der Weltwirtschaft. Gleichzeitig zeigt ein Bericht der Statistics Canada, dass kanadische Unternehmen unglaubliche 353 Milliarden Dollar in Steueroasen geparkt haben. Was könnte mit diesem Geld für Jobs, Soziales, leistbares Wohnen, öffentlichen Verkehr und die Umwelt geschaffen werden, wenn es aus dem Privatbesitz in die öffentliche Hand und unter Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse gestellt würde!

Eine Umfrage von Ipsos zeigte auf, dass 67% meinen, dass die Wirtschaft zugunsten der Reichen und Mächtigen funktioniert und 61% sagen, dass die traditionellen Parteien sich nicht um Menschen wie sie selbst kümmern. Gleichzeitig gibt es Raum für eine selbstbewusste und kampagnenorientierte linke Partei, was sich u.a. darin zeigt, dass 58% der Kanadier*innen eine positive Meinung von „Sozialismus“ haben.

Kanada steht eine instabile Minderheitsregierung ins Haus. Die sich ankündigende Rezession wurde im Wahlkampf völlig ausgeblendet. Doch Wirtschaftskrisen und das ökologische Desaster basieren nicht auf Managementfehlern, sondern sind das Ergebnis des Kapitalismus selbst. Die heraufziehende Wirtschaftskrise und das ökologische Desaster machen einmal mehr deutlich, dass das „managen“ des Kapitalismus keine adäquate Antwort ist.


http://www.socialistalternative.ca

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Kopf des Monats: Mülkiye Laçin

Seit 25 Jahren ist Mülkiye Laçin Freizeitpädagogin in Wien. Nun wurde im Urlaub in ihrem Heimatdof in der Türkei festgenommen. Das Erdogan-Regime kriminalisiert sie, weil sie sich auch für die Rechte von Frauen und Kurd*innen einsetzt. Ihre Kolleg*innen im Betriebsrat starteten nun die Kampagne „Free Mülkiye“

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

„Unser Hauptziel ist es, sozialistische Ideen in die Öffentlichkeit zu bringen.“

Interview Christoph Glanninger, Sozialistische LinksPartei (CWI in Österreich)

Interview mit Katarina Peović, Präsidentschaftskandidatin der Radnička fronta in Kroatien.

In Kroatien findet am 22. Dezember die Präsidentschaftswahl statt. Obwohl die politische Landschaft in Kroatien von rechten nationalistischen und prokapitalistischen Politiker*innen und Parteien dominiert wird, stellt die Radnička fronta (RF, Arbeiter*innenfront) Katarina Peović auf, um eine sozialistische Alternative anzubieten und den Arbeiter*innen und den Armen, die gegen den Kapitalismus kämpfen, eine Stimme zu geben. Sie konnten 15.000 Unterschriften sammeln, mehr als die 10.000, die notwendig waren, um an den Wahlen teilnehmen zu können. Wir sprachen mit ihr über ihre Präsidentschaftskampagne und den Klassenkampf in Kroatien.

Am 22. Dezember findet in Kroatien eine Präsidentschaftswahl statt, bei der du kandidierst. Warum tritt die Radnička fronta bei dieser Wahl an?

Unser Hauptziel ist es, sozialistische Ideen in die Öffentlichkeit zu bringen. Die menschlichsten Ideen – Gleichheit, der Aufbau der Gesellschaft zur Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung, Organisation des Arbeitsplatzes nach den Wünschen der Belegschaft – wurden von denjenigen, die von ihnen am meisten gefährdet sind, systematisch verteufelt. Kapitalistische Eliten betreiben zusammen mit Bürokrat*innen, die als ihre Sprachrohre fungieren, eine konstante Hetzkampagne gegen sozialistische Ideen.

In welcher politischen Situation findet diese Wahl statt und wie spiegelt sie sich in den öffentlichen Diskussionen und in den Positionen anderer Kandidat*innen wider?

Die politische Situation wird von nationalistischer und liberaler Ideologie dominiert. Die Presse wiederholt Dinge wie „wir brauchen schmerzhafte Kürzungen“ und beschimpft die Beschäftigten im öffentlichen Dienst so lange, dass die Verleumdungen von praktisch allen politischen Kräften akzeptiert werden. Der so genannte „Heimatkrieg“ – der Kroatienkrieg 1991-95 – wurde idealisiert und wird kontinuierlich ausgeschlachtet, so dass er uns im Jahr 2019 näher zu sein scheint als noch Anfang der 2000er. Der Antikommunismus wird auch von der Sozialdemokratischen Partei, einem Nachfolger des Bundes der Kommunisten Kroatiens (Staatspartei zur Zeit des Titoismus), akzeptiert, deren Präsidentschaftskandidat einen Großteil des positiven Erbes des „real existierenden Sozialismus“ in Kroatien ablehnt. Ihre Europaabgeordnet*innen haben einstimmig für die antikommunistische Resolution des Europäischen Parlaments gestimmt.

Was sind das Programm und die zentralen Forderungen von Radnička fronta bei dieser Wahl, und wie organisiert ihr eure Kampagne?

Unsere Kampagne konzentriert sich vor allem auf die Fehlentwicklung, die die kroatische Wirtschaft seit 30 Jahren eingeschlagen hat – Deindustrialisierung und fast vollständige Ausrichtung auf Handel und Tourismus. Wir stehen auf der Seite der Arbeiter*innen der zusammengebrochenen Industrie, wir argumentieren, dass dieser Weg nicht nachhaltig ist. Wir fordern auch Gesundheitsversorgung und Bildung, die für alle angemessen und kostenlos ist. Wir glauben, dass jeder*m eine gute Unterkunft und Nahrung zusteht, ohne in die Schuldsklaverei zu fallen. Wir sind entschieden gegen die Mitgliedschaft Kroatiens in der NATO, gegen Teilnahme an ausländischen Militärinterventionen, gegen Sexismus, Homo- und Transphobie. Wir wollen die Trennung von Staat und Kirche erneuern und fordern eine unabhängige Außenpolitik.

Während der Kampagne gab es Streiks von Lehrer*innen und der Arbeiter*innen des Industrieunternehmens Đuro Đaković. Kannst du etwas über diese Auseinandersetzungen sagen und wie ihr euch dazu verhaltet?

Wir haben die Streikenden voll unterstützt. Wir haben die Beschäftigten von Đuro Đaković besucht und versuchen derzeit, sie mit den Metallarbeiter*innen der Uljanik-Werft in Pula, dem Ort eines der größten Klassenkämpfe in Kroatien der letzten Zeit, sowie den Metallarbeiter*innen von ITAS, die die Fabrik in die eigenen Hände genommen haben, in Kontakt zu bringen.

Wir waren auch am Lehrer*innenstreik involviert, indem unsere Mitglieder, die selbst Lehrer*innen sind, beteiligt haben und unsere gesamte Mitgliedschaft hat den Streik voll unterstützt. Am Ende wurden die Beschäftigten von einem Teil der opportunistischen Gewerkschaftsführung verraten, aber es war trotzdem eine sehr positive Auseinandersetzung mit beispiellosen Mobilisierungen und außerdem der längste Streik in Kroatien seit einiger Zeit.

Gibt es andere wichtige Kämpfe, die gerade jetzt stattfinden?

Es gibt regelmäßig Kämpfe gegen die nie endende Kürzungspolitik, die Schleifung des Arbeitsrechts und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Es stimmt uns sehr optimistisch, dass viele einst passive und demoralisierte Arbeiter*innen Kroatiens beginnen, rebellischer zu werden. Besorgniserregend ist, dass kroatische Gerichte vor kurzem damit begonnen haben, Streiks zu verbieten und so selbst grundlegende Stützen des bürgerlichen Rechts und der Verfassung Kroatiens verletzen. Erst vor einer Woche haben wir gesehen, wie der von der NCS (Unabhängige Straßenarbeiter*innengewerkschaft) initiierte Streik für einen besseren Kollektivvertrag verboten wurde. Im Sommer 2018 wurde ein Streik der Arbeiter*innen von Croatia Airlines vom Gericht verboten, weil er das Unternehmen schädigen könnte. Nun, das ist ja der springende Punkt an einem Streik.

Glaubst du, dass dieser euer Wahlkampf ein Werkzeug für den Wiederaufbau der Linken und des Klassenkampfes sein kann?

Ja, definitiv. Wie ich bereits gesagt habe, diese Kampagne gibt es, um die Idee des Sozialismus in Kroatien wiederzubeleben. Eines der Schlüsselthemen, auf das ich mehr Menschen aufmerksam machen möchte, ist der wesentliche Konflikt, der die Grundlage dieser Gesellschaft bildet – der Konflikt zwischen denen, die besitzen und denen, die gezwungen sind, ihre Arbeit zu verkaufen, um zu überleben. Nach der Kampagne wollen wir die Öffentlichkeit, die wir während der Wahlen gewonnen haben, nutzen, um die Arbeit in anderen Bereichen auszubauen, insbesondere unsere Unterstützung von und die Verbindung zu Arbeiterkämpfen, fortschrittlichen Gewerkschaften und anderen ähnlichen Organisationen.

Ihr nehmt auch an internationalen Protesten teil, zum Beispiel gegen Vučić in Serbien. Warum ist Internationalismus für die Radnička fronta wichtig?

In Kroatien wird der Nationalismus seit sehr langer Zeit genutzt, um jede Art von Unmut zu unterdrücken. Wenn du Privatisierung, den Diebstahl öffentlicher Mittel und so weiter nicht magst, nennen sie dich einen Serben oder einen Serben-Lover und einen Verräter und das war’s. Wir wollen sagen, dass arbeitende Männer und Frauen kein Vaterland haben und dass sie mehr mit den Mitgliedern ihrer Klasse in anderen Ländern teilen, als sie jemals mit den Kapitalist*innen und Bürokrat*innen des Landes teilen werden, das angeblich ihr eigenes ist. Der Sozialismus kann nur erfolgreich sein, wenn er auf einem organisierten internationalen und internationalistischen Klassenkampf basiert.

Wir danken dir für das Gespräch und wünschen euch alles Gute für euren Wahlkampf.

Wir sind der Meinung, dass ein starkes Votum für Radnička fronta die beste Wahl für Beschäftigte und Jugendliche und eine wichtige Verbesserung der Situation in Kroatien wäre.

 

In Äthiopien braucht es den gemeinsamen Kampf gegen rassistisch motivierte Gewalt

Erklärung der Rättvisepartiet Socialisterna (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schweden)

Die neue Welle an rassistisch motivierter Gewalt in Äthiopien muss gestoppt werden. In einer Woche sind im Oktober mehr als 80 Menschen vom Mob getötet worden, der von Jawar Mohammed aufgehetzt worden ist.

Diese Gewalt ist ein weiterer Beleg dafür, dass es eine vereinte und demokratische Massen-Bewegung von unten braucht, um das alte Regime zu stürzen, das – wenn auch in neuem Gewand – immer noch an der Macht ist.
Es wird immer deutlicher, dass es sich bei der Machtübernahme von Abiy Ahmed im April 2018 um den Versuch der regierenden Parteienkoalition EPRDF und ihrem wichtigsten Bestandteil, der TPLF, gehandelt hat, die zunehmenden Massen-Proteste und die Unzufriedenheit zu beenden.
Ihre Methoden der massenhaften Repression (zehntausende sind verhaftet und als „Terroristen“ bezeichnet worden) und Wahlmanipulation können Massen-Demonstrationen und sogar Streikbewegungen keinen Riegel mehr vorschieben. Das starke Wirtschaftswachstum Äthiopiens kommt nur einer kleinen Elite zu Gute, multinationalen Konzernen und ausländischen diktatorischen Staaten wie China oder den Golfstaaten. Die Masse der wachsenden Bevölkerung lebt immer noch von der Subsistenzwirtschaft (Landwirtschaft zur Deckung des Eigenbedarfs). Es gibt drei Millionen Binnenflüchtlinge im Land.

Neues Gewand, altes Regime

Im April 2018 ist Premierminister Abiy Ahmed als echter Erneuerer präsentiert worden. Politische Gefangene wurden entlassen, verbotene Parteien zur Mitarbeit eingeladen, es kam zum Abkommen mit Eritrea und auf Massen-Versammlungen wurde echter Wandel versprochen. Im Westen – nicht zuletzt in Schweden und Norwegen – war man derart begeistert vom neuen Premier, dass man ihm am 10. Dezember sogar den Friedensnobelpreis übergibt.
Aus ökonomischer Sicht wird die Politik von Abiy Ahmed nicht dazu beitragen, die wachsenden Probleme zu lösen. Auch wird sie der verarmten Masse der Bevölkerung nicht helfen, die Lebensmittel und Geld braucht. Er will das Unternehmen „Ethiopian Airways“, die Stromversorgung, die Telekommunikation, die Eisenbahn und weitere Bereiche privatisieren. Das ist eine Einladung an multinationale Konzerne, Äthiopien auszuplündern und die Arbeiter*innen in noch stärkerem Maße auszubeuten. Hinzu kommt, dass er sich enger an die Golfstaaten bindet. In diesem Zusammenhang geht es vor allen Dingen um Kredite der Vereinigten Arabischen Emirate, zu denen er enge Beziehungen pflegt.

Ein Regime-Wechsel reicht nicht

Bei vielen Demonstrationen von Äthiopier*innen in Schweden gegen die EPRDF und gegen die Deportation politischer Flüchtlinge haben wir von der „Rättvisepartiet Socialisterna“ erklärt, dass ein „Regime-Wechsel“ nicht ausreicht. Dies gilt umso mehr, wenn das „neue Oberhaupt“ aus den Reihen des alten Regimes kommt. Beim Versuch von Abiy, jetzt eine neue Partei, die „Wohlstands-Partei“, zu gründen, handelt es sich nur um einen neuen Namen für alte Parteien. Noch nicht einmal die TPLF ist bisher beigetreten.
Echte Veränderung muss von unten kommen, aus der demokratischen Organisierung der Arbeiterklasse und der Armen. Dazu braucht es den Kampf der Massen, wie wir es heute in so vielen Ländern erleben. Diese Kämpfe sind eine Inspiration für alle Unterdrückten. Dieses Jahr sind schon die Diktatoren im Sudan und in Algerien gestürzt worden. Im Sudan herrscht großes Misstrauen gegenüber dem Abkommen zwischen einigen führenden politischen Köpfen und dem Militär zur gemeinsamen Regierungsbildung.

Von Ägypten und Tunesien lernen

Nach dem Sturz von Mubarak 2011 in Ägypten sind sowohl das Militär als auch die Kapitalist*innen unangetastet geblieben. Das verschaffte General al-Sisi die Möglichkeit, eine neue Diktatur zu errichten. Militär und altes Regime müssen bis ins letzte Glied entrümpelt, kriminelle Machenschaften müssen strafrechtlich verfolgt werden. Das ist die Lehre, die aus dem „ägyptischen Frühling“ zu ziehen ist. Aus den Kämpfen in Tunesien lernen wir, dass Gewerkschaften in der Lage sind, der schlimmsten Konterrevolution entgegen zu wirken.
Heute müssen in Äthiopien demokratische Verteidigungsausschüsse gegen den Mob organisiert werden, der von Jawar Mohammed angestachelt wird. Ethnischer Chauvinismus und rassistische Gewalt müssen verurteilt werden. Addis Abeba gehört allen Menschen in Äthiopien.
Das Regime wird es aber nicht dazu kommen lassen. Im Gegenteil beschreiben sie die Gewalt als „Kämpfe, die von beiden Seiten ausgehen“. Man macht sich auch die Angst vor der Gewalt zunutze, um auf diese Weise zu verhindern, dass es zu vereinten Protesten kommt.
Abiy Ahmed ist gescheitert. Nötig ist eine neue und demokratisch strukturierte Partei der Arbeiter*innen und verarmten Landbevölkerung, um für echten politischen und wirtschaftlichen Wandel kämpfen sowie sicherstellen zu können, dass alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte haben. Das macht den Sturz des alten Regimes, des Kapitalismus und Imperialismus in Äthiopien erforderlich – für demokratischen Sozialismus.

Ein sozialistisches Programm für Äthiopien

  • Schluss mit allen rassistisch motivierten Gewalttaten! Für die Bildung demokratischer Verteidigungsausschüsse! Volle demokratische Rechte für alle ethnischen Gruppen! 

Die Bewegung und der Kampf

  • Für eine neue und demokratische und sozialistische Partei und Bewegung für alle Unterdrückten, Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen 
  • Einheit im Kampf aller Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, gegen den gemeinsamen Feind: das Regime, den Kapitalismus und Imperialismus
  • Nein zu jeglicher Form der Diskriminierung, Gleichbehandlung für alle
  • Lokale und regionale Autonomie für alle, für die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts aller 

Demokratie

  • Freiheit für alle politischen Gefangenen
  • Freiheit für alle politischen Parteien und Organisationen, freie und faire Wahlen zu einer wirklich demokratischen verfassunggebenden Versammlung
  • Politiker*innen und gewählte Vertreter*innen dürfen keine Privilegien erhalten, sie müssen jederzeit abwählbar sein 
  • Für unabhängige, demokratische und kämpferische Gewerkschaften
  • Für gewählte Ausschüsse in allen Betrieben, Dörfern, Universitäten etc.
  • Für das Recht auf Organisation (auch in puncto Versammlungen und Demonstrationen)
  • Für freie Religionsausübung
  • Stopp aller Zensur in den Medien und im Internet, demokratischer Zugang zu Druckmaschinen, Fernsehen und Computern

Die Regierung

  • Nieder mit dem Regime der EPRDF – strafrechtliche Verfolgung von kriminellen Regierungsvertreter*innen und Beschlagnahmung ihres Besitzes und Reichtums

Waffen und Militär

  • Sämtliche Unterstützer*innen der Diktatur müssen aus dem Militär verschwinden
  • Alle Waffen und Einheiten müssen der demokratischen Kontrolle von Ausschüssen unterstellt werden, die mit Arbeiter*innen und Bäuer*innen besetzt sind

Grund und Boden

  • Stopp dem „land grabbing“ (Landraub) – Beschlagnahmung allen Grundbesitzes, der multinationalen Konzernen u.a. übertragen worden ist
  • Eine Landreform, um sicherstellen zu können, dass Bäuer*innen Grund und Boden zur Verfügung steht
  • Volle Entschädigung im Fall, dass Landbesitz für Straßenbau o.ä. benötigt wird – Entscheidungen darüber müssen vor Ort getroffen werden
  • Staatliche Unterstützung für freiwillige Kollektive in der Landwirtschaft

Imperialismus

  • Beschlagnahmung allen imperialistischen Eigentums unter demokratischer Kontrolle
  • Aufruf an die Arbeiter*innen weltweit zur Unterstützung im Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus

Wirtschaft und Wohlfahrt

  • Ein Plan zur Bereitstellung von Lebensmitteln für alle
  • Gerechte Verteilung der Ressourcen des Landes
  • Beendigung sämtlicher Privatisierungen
  • Für einen demokratischen Plan für das Land in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung, Infrastruktur (Wasser, Strom, Straßen) 
  • Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung für alle, auch die Menschen mit Behinderungen 
  • Für die demokratische Planung der Produktion und Verteilung der Ressourcen 
  • Für eine demokratische und sozialistische Regierung

 

Nicht jammern, organisieren!

Erklärung von Socialist Alternative (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales)

Es ist nicht das Ergebnis, das wir uns erhofft haben. Die starke Mehrheit, die die konservativen „Tories“ jetzt haben, wird sich als schwerer Schlag für die Arbeiterklasse herausstellen, mit der düsteren Aussicht auf fünf weitere Jahre kaltschnäuziger Politik.

Und was bedeutet das für uns? Boris Johnson mag ja gesagt haben, dass die Austerität beendet sei, aber neun Jahre voller Kürzungen haben im Bereich der öffentlichen Daseinsversorgung ihre Spuren hinterlassen. Das Gesundheitssystem NHS steht vor dem Zusammenbruch und erwartet seine nächste Winter-Krise, wobei diese Krise eigentlich ganzjährig ist.
Und wie reagiert Boris Johnson auf das schockierende Bild eines Jungen, der mit Lungenentzündung auf dem Flur eines Krankenhauses liegt, weil es nicht genug Betten gibt? - Er  nimmt dem Journalisten, der ihm die Bilder gezeigt hat, das Handy aus der Hand anstatt das Problem auch nur anzuerkennen!
Trotz eines Fehltritts nach dem anderen (so hat er sich absurder Weise vor laufenden Kameras in einer Kühlkammer versteckt, um einen anderen Journalisten von sich fernzuhalten) hat sein Versprechen und Mantra-artig wiederholtes „Wir ziehen den Brexit durch“ irgendwie Zuspruch gefunden. Natürlich sind die Leute angesichts des Hin und Her um den Brexit frustriert. 
Diese Wahl ist zur Abstimmung über den Brexit geworden, obwohl Jeremy Corbyn sich alle Mühe gegeben hat, die Themen in den Vordergrund zu stellen, die für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit wichtig sind: Bewältigung des Klimawandels, Stärkung des NHS, Abschaffung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, kostenlose Bildung.
Die Menschen werden aufgrund der reaktionären Rhetorik von Johnson und seiner Unfähigkeit, sich für seinen Fanatismus zu entschuldigen, zurecht beunruhigt sein: muslimische Frauen würden ihm zufolge aussehen wie Briefkästen. Das hat die Anzahl der Delikte aufgrund von Hass-Kriminalität bereits ansteigen lassen, die durch seine Homophobie und seinen Sexismus befördert werden. Und sein eindeutiger Sieg wird zweifelsohne all jene ermuntern, die diese Ansichten teilen. 
Es wäre allerdings ein Fehler zu meinen, diese Wahl würde bedeuten, dass sozialistische Ideen und Ansätze abgelehnt werden. Ein große Anzahl junger Leute hat sich für diese Wahl registrieren lassen, weil sie sich vom Wahlprogramm von „Labour“ und der darin skizzierten Politik angesprochen gefühlt haben. Und es wäre ebenfalls ein Fehler, wenn Corbyn nun als Parteivorsitzender zurücktreten würde. Er sollte diese Position weiter ausfüllen und für den Wandel in seiner Partei kämpfen, damit diese die Interessen der 99 Prozent vertritt. 
Der Wahlerfolg von Boris Johnson muss sicherlich als erdrutschartig bezeichnet werden, doch er ist auf Sand gebaut. Er wird nicht in der Lage sein, „den Brexit durchzuziehen“, und die konservative Partei wird eine Partei bleiben, die von Krisen zerrissen ist.
Wir müssen dieses Wahlergebnis nicht einfach so hinnehmen. Die Arbeiterklasse ist – wenn sie organisiert auftritt – die Kraft in der Gesellschaft, die für Veränderung sorgen kann. Wir können eine Bewegung aufbauen, die Widerstand leisten und kann Corbyn wie auch seine sozialistischen Ansätze verteidigen kann. Arbeitnehmer*innen kämpfen, um Arbeitsplätze zu verteidigen, junge Leute kämpfen, um eine Zukunft zu haben, und die Gewerkschaften müssen für all dies eine Plattform bieten.
Wenn wir kämpfen, können wir gewinnen. Beteiligt euch also am Widerstand, helft mit, eine Bewegung für den Sozialismus aufzubauen und schließt euch uns an, wenn ihr unseren Standpunkt teilt!

 

FCK HSBC

Brettros

Am 2.10. protestierten SLP-Aktivist*innen vor HSBC Global Asset Management Österreich an einer der nobelsten Adressen der Stadt. Die Aktion war Teil der internationalen Solidaritäts-Kampagne. Der Grund: HSBC in Hong Kong hatte Nathan Leung gefeuert. Nathan ist bei der Sozialistischen Aktion (Schwesterorganisation der SLP in Hong Kong) und verlor seinen Job, weil er Aktivist der Demokratie-Bewegung ist. HSBC in Wien weigerte sich unter dem Vorwand, dass es sich um einen anderen Geschäftsbereich handle, unsere Forderungen anzunehmen. Solche Ausreden legte HSBC offenbar Verantwortlichen rund um den Globus nahe. Auch in Hong Kong versucht sich HSBC mit dem Argument, Nathan wäre über eine Arbeitsüberlassungsfirma angestellt gewesen, aus der Verantwortung zu stehlen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

#RiseUp4Rojava

Moritz Bauer

Am 19.10 fand in zahlreichen Städten in Europa der Aktionstag gegen den Einmarsch der Türkei in Rojava, der kurdischen Selbstverwaltungszone in Nordsyrien, statt. Das „Go“ zum Angriffskrieg gab US-Präsident Trump am 6.10 mit dem Abzug der US-Truppen aus der Region. Damit sind die kurdischen „Volks-“ und „Frauenverteidigungseinheiten“ YPG/ YPJ und ihre Verbündeten der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) nun mit Erdogans Truppen, jihadistischen Söldnern und Bombardements konfrontiert. Das bedeutet nicht nur eine humanitäre Krise mit hunderten Toten und hunderttausenden Flüchtenden, sondern könnte auch die Selbstverwaltung kosten. Denn die kurdischen Kräfte haben – angesichts der Bedrohung durch ein türkisches Massaker- ein Bündnis mit Assad geschlossen. Es ist zwar verständlich, dass YPG/ YPJ jede Hilfe annehmen, um ein Massaker zu verhindern. Doch das Bündnis mit Assad, dem Henker der Revolution von 2010/11, wird die Gewalt nicht aufhalten können. Im Gegenteil: Dieses Bündnis könnte den kurdischen Milizen ihr Image als Kraft der Befreiung kosten. Und auch der Waffenstillstand, den die USA mit Erdogan ausgehandelt haben, geht auf Kosten der Kurd*innen und wird laut kurdischen Medien von der Türkei nicht eingehalten.

Aktivist*innen der SLP in Wien, Graz und Linz waren Teil der Proteste am Aktionstag und in den Tagen davor. Mit Flyern und Reden machten wir Vorschläge, wie die Situation verbessert werden kann und was wir in Österreich konkret tun können. Vor allem die Mitverantwortung von NATO, EU und Österreich wurde angesprochen: Rüstungskonzerne wie Steyr oder Glock liefern Waffen, Munition und Kriegsmaterial in die Region. Mit einem Appell an linke Organisationen, soziale Bewegungen und Gewerkschaften könnte die Basis der Proteste verbreitert werden, die Offenlegung der Bücher aller Unternehmen, die mit der Türkei Geschäfte machen, erkämpft werden und die Waffenlieferungen blockiert werden. In Linz betonte SLP-Aktivist Jan Millonig in seiner Rede: „Wir brauchen einen gemeinsamen Kampf aller unterdrückten Menschen in der Region gegen Kapitalismus und Imperialismus!“ Frieden für die Region kann nur der Sturz der Regime und eine freiwillige, sozialistische Föderation im Nahen Osten bringen.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Polen: Was steckt hinter dem Erfolg der PiS?

Paul Smith, Alternatywa Socjalistyczna

Bild:
Kancelaria Sejmu, CC BY 2.0

Polens regierende rechts-populistische Partei Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) ist bei den Parlamentswahlen vom 13. September mit 43,6 Prozent der abgegebenen Stimmen im Amt bestätigt worden und hat damit eine Mehrheit der Sitze im Abgeordnetenhaus.

Die neoliberale Bürgerplattform (der Donald Tusk angehört; Erg. d. Übers.) wurde zweitstärkste Kraft und kam auf 27,4 Prozent der Stimmen. Lewica Razem (dt.: „Linke Gemeinsam“), ein Wahlbündnis aus progressiven und linken Parteien, erreichte 12,6 Prozent.

Trotz allem war die PiS nicht in der Lage, die Mehrheit der Senatssitze zu erlangen und verpasste ihr eigenes Ziel deutlich, in der Zweiten Kammer die Zwei-Drittel-Mehrheit zu bekommen. Damit hätte sie die Verfassung im Alleingang ändern können.

Vor vier Jahren ist die PiS auf einer Welle der Unzufriedenheit an die Macht gekommen. Die Stimmung damals richtete sich gegen die neoliberale Politik und die Austerität der vorangegangenen Regierung der Bürgerplattform. Stattdessen bot man ein Gemisch aus nationalistischer und konservativer Rhetorik sowie soziale Reformen, die den ärmeren Teilen der Bevölkerung zu Gute kommen sollten. Dazu zählte auch das Versprechen, das Renteneintrittsalter absenken zu wollen.

Bald nach ihrem Regierungsantritt versuchte die PiS, die unmittelbare Kontrolle über die Gerichte in Polen zu bekommen, was Massenproteste im ganzen Land hervorrief, an denen sich in erste Linie die Mittelschicht beteiligte. Doch die Versuche der Regierung, Abtreibungen ohne Ausnahme zu verbieten, stieß auf ein noch stärkeres Echo: Es kam zu einer Massenbewegung wütender junger Frauen, die in den „Schwarzen Montag“ mündete, den Frauen-Streiktag im November 2016, der die Regierung zwang, ihre Pläne wieder zurückzunehmen.

Die Partei hat die Medien voll unter Kontrolle. Radio und Fernsehen werden von ihr schamlos zu parteipolitischen Zwecken genutzt. Vor kurzem hat die PiS Ängste vor einer Invasion von Menschen aus der LGBT-Community geschürt. Diese Invasion würde – so wurde behauptet – die polnische Lebensweise und die Familie zerstören. Das Thema Gender ist ein weiteres, dass die Regierungspartei mit Vorliebe zum Schreckgespenst umfunktioniert.

Abgesehen von den autoritären und reaktionären Maßnahmen hat die PiS viele ihrer Wahlversprechen eingehalten. Sie hat umgehend eine neue Sozialleistung für Kinder eingeführt, die die Lebensstandards vieler armer Familien verbessert hat. Und sie hat das Renteneintrittsalter wie zuvor zugesagt gesenkt. Auch wurden die Bestimmungen für Ladenöffnungszeiten an Sonntagen verschärft, was den Beschäftigten in den Geschäften zugute kam. Viele ärmere Menschen, die Arbeiterklasse und die gesellschaftlich Ausgeschlossenen haben das Gefühl, dass es endlich eine Partei gibt, die für ihre Interessen eintritt. Für die politische Linke ist dies eine schallende Ohrfeige und zeigt, wie dringend nötig es ist, eine Arbeiterpartei zu gründen.

Und dennoch sind bereits einige Teile der Arbeiterklasse (z.B. die Lehrkräfte, Beschäftigte im Gesundheitsbereich und Mitarbeiter*innen der staatlichen Fluggesellschaft) in die Schusslinie der PiS geraten und haben die feindselige Seite dieser Regierung kennengelernt. Trotz gestiegener Sozialausgaben haben die am Markt orientierten Baufinanzierungshilfen der Regierung nicht dazu geführt, dass die Wohnungskrise beendet worden wäre. Das Gesundheitssystem des Landes befindet sich in einem miserablem Zustand.

Im Laufe von 2019 hat die PiS-Regierung mit einem Finanzpaket im Wert von rund zehn Millionen Euro die Wirtschaft stimulieren wollen. Das entspricht zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und bestand vor allem aus der Ausweitung der Sozialleistung für Kinder wie auch zusätzlicher Rentenauszahlungen. Die Regierung hat auch Pläne zur schrittweisen Anhebung des Mindestlohns verkündet. Das Ziel ist es, bis 2023 auf grob 900 Euro zu kommen.

Dank dieser Politik ist die polnische Wirtschaft trotz der Abkühlung in der Eurozone und zurückgehender Exporte relativ rege. Bislang wurde all dies vor allem durch eine verbesserte Politik der Steuereinziehung in Folge des harten Durchgreifens gegen Mehrwertsteuer-Betrug durch fingierte Unternehmen finanziert, den Verkauf des Offenen Rentenfonds und den Transfer staatlicher Anteile am staatseigenen sozialen Versicherungssystems. Hinzu kommen kreative Abrechnungsmethoden und eine geringfügig erhöhte Kreditaufnahme. Und dennoch wird dies nicht von Dauer sein können und früher oder später zu einer Krise der öffentlichen Finanzen führen.

Als ein Ergebnis dieser gesellschaftlichen Transferleistungen und des anhaltenden Wirtschaftswachstums genießt die Regierungspartei – trotz zahlreicher Korruptionsskandale, offenkundigem Filz und Vetternwirtschaft – weiterhin starke Unterstützung von breiten Teilen der Bevölkerung.

Im Gegensatz dazu ist die größte Oppositionspartei, die Bürgerplattform, damit gescheitert, die Arbeiter*innen davon zu überzeugen, dass sie diese Wirtschaftsreformen nicht zurücknehmen würden. Die Erinnerung an die Austerität und die arbeitnehmerfeindliche Politik der letzten Regierung der Bürgerplattform von 2007 bis 2015 ist immer noch präsent.

Das neue Wahlbündnis Lewica landete mit 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen auf dem dritten Platz. Hierbei handelt es sich um eine Plattform, die kurz vor den Wahlen von der SLD, der linksliberalen Wiosna sowie Razem gebildet wurde. Bei der SLD handelt es sich um die post-stalinistischen Sozialdemokrat*innen, die selbst eine neoliberale Politik verfolgt haben, als sie Anfang der 2000er Jahre die Regierung stellten. Nach nur einer Legislaturperiode sind sie von den Arbeiter*innen entschieden in die Schranken gewiesen worden und erlitten ein wahlpolitisches Erdbeben. Wiosna ist eine neue liberale, anti-klerikale Partei unter der Führung von Polens erstem offen homosexuell auftretenden Bürgermeister, der sich selbst mit Macron vergleicht. Hinzu kommt Razem, eine neue linksreformistische Formation, die vor vier Jahren gegründet worden ist und sich an Podemos, Syriza und dem „skandinavischen Sozialstaatsmodell“ orientiert.

Bedauerlicherweise war Razem in den letzten vier Jahren nicht in der Lage, auf der Wahlebene Fortschritte zu machen. Auch ist sie darin gescheitert, bei der Arbeiterklasse den Durchbruch zu schaffen. Teilweise liegt das daran, dass die PiS einige Dinge getan hat, die ansonsten als „traditionell links“ zu bezeichnen wären (wie etwa die Anhebung des Mindestlohns, die Absenkung des Renteneintrittsalters, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs auf dem Land, Einführung neuer Sozialleistungen).

Aber auch der Versuch von Razem , sich als moderate Partei zu geben, die im Rahmen des Kapitalismus agiert, hat das seinige dazu beigetragen. Während man in der Lage war, einiges an Unterstützung von radikaleren Teilen der Mittelschicht in den größeren Städten zu bekommen – Parteichef Adrian Zandberg kam in Warschau auf beeindruckende 141.000 Stimmen, war Razem nicht in der Lage, eine Basis in der Arbeiterklasse und den kleineren Städten aufzubauen.

Vor vier Jahren, als die SLD und Razem getrennt voneinander bei Wahlen angetreten sind, scheiterten beide an der Prozenthürde und kamen nicht ins Parlament. Dabei waren sie gemeinsam auf 11,2 Prozent der Stimmen gekommen. Danach verspürten beide Parteien zunehmend den Druck, ihre Kräfte bündeln zu müssen. Und heute haben sie es auf einer gemeinsamen Liste mit Wiosna geschafft, 48 Sitze zu erringen. Ihren Stimmenanteil konnten sie auch mit der gemeinsamen Liste nur um marginale 1,5 Prozent steigern.

Natürlich ist es positiv, dass es nun Abgeordnete im Parlament gibt, die links von der Bürgerplattform stehen – vor allem, da die Konfederacja, ein Bündnis rechter Parteien, auf 6,8 Prozent und elf Sitze gekommen ist. Allerdings stellt Razem nur sechs der insgesamt 48 Abgeordneten, die das Bündnis Lewica nun hat. Die meisten von ihnen kommen von den liberalen Parteien, die von der Wahlkampfunterstützung von Razem profitiert haben.

Die Frage lautet nun, ob diese sechs Parlamentsabgeordneten von Razem in der Lage sein werden, ihre Position dafür zu nutzen, der organisierten Arbeiterklasse eine effektive Stimme zu verleihen – sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Parlaments – und eine linke Alternative zu der Krise des Kapitalismus anzubieten. Werden sie sich energisch für die streikenden Lehrkräfte und Beschäftigten im Gesundheitswesen einsetzen? Werden sie eine klare Alternative zur sozialen Ungerechtigkeit des Kapitalismus vorbringen und einen Weg für den Kampf der Arbeiter*innen aufzeigen? Oder werden sie dem Druck erliegen, „seriös“ und „wählbar“ bleiben zu müssen und somit weiter in die Mitte (das heißt nach rechts) rücken?

Leider deuten die Bemerkungen der frisch gewählten Razem-Abgeordneten Marcelina Zawisza eher auf letztere Möglichkeit hin. Anstatt ihre Absicht zu erklären, als Anwältin der Arbeiterklasse im Parlament aufzutreten, schrieb sie, dass es nun an der Zeit sei, Streitereien mit anderen Parteien beiseite zu lassen und dass sie sogar in Betracht ziehe, mit den Neoliberalen von der Bürgerplattform und der konservativ-nationalistischen Gruppierung PSL-Kukiz zu kooperieren.

Trotz des Stimulierungsprogramms schwächt die polnische Wirtschaft sich ab, und es ist unwahrscheinlich, dass sie die bevorstehende globale und europäische Wirtschaftskrise schadlos übersteht. Die PiS wird es in ihrer zweiten Amtszeit schwerer haben. Es wird neue Attacken auf die Arbeiterklasse geben und massenhaften Widerstand dagegen. Aus diesem Grund wird die Frage, ob es eine unabhängige sozialistische Alternative der Arbeiterklasse geben muss, umso dringlicher.

 

Iran: Neue Massenaufstände gegen das Regime

von Sarah Mo, Wien

Nachdem das iranische Regime in der Nacht vom 15.November einen Anstieg der Benzinpreise um 50 – 300% und zugleich eine Rationierung vom Treibstoff ankündigte, gingen spontan überall im Land massenhaft Menschen auf die Straße. Seitdem eskalieren die Proteste immer stärker.

Die Polizei und der paramilitärische Arm der Revolutionsgarden (Basiji) reagierten so schnell und brutal wie nie zuvor. Sie eröffneten unmittelbar nach dem Ausbruch der Proteste das Feuer auf die Demonstrant*innen. Die Menschen blockieren Straßen und Autobahnen, zündeten Banken und Tankstellen, aber auch religiöse Schulen und Institutionen an. Infolge der massiven Angriffe und Repressionen durch die Polizei wurden auch Polizeistationen von den Massen gestürmt. Mittlerweile wurden mehr als 1.000 Demonstrant*innen festgenommen, mindestens 50 schon getötet. Dennoch bleibt der heroische Kampf der iranischen Arbeiterklasse ungebremst, die Proteste weiten sich immer weiter aus.

Obwohl das Regime schon während des zweiten Tages die Internetverbindung weitgehend deaktivierte, um die Kommunikation und Koordination der Demonstrant*innen zu blockieren und es dadurch immer noch sehr schwer ist, verlässliche Informationen zu erlangen, kann man in jedem Fall davon ausgehen, dass die Proteste sich in über 100 Städte ausgeweitet haben; nicht nur in den großen Zentren wie Teheran, Mashad, Isfahan und Shiraz, sondern auch in die ländlichen Regionen und Provinzen.

Auch die hohe Beteiligung unterdrückter Minderheiten ist bezeichnend, so wie in den kurdischen Regionen, aber auch in Lorestan, Azerbaijan und Khuzestan etc. Dieses Mal gibt es keine Kluft zwischen den großen Städten und den Provinzen, die Proteste weiten sich in alle Richtungen aus.

Der Benzinpreis hat einen sehr großen Effekt auf den Lebensstandard im Iran. Den Menschen ist bewusst, dass diese Erhöhung Preiserhöhungen in allen anderen Bereichen zur Folge haben wird. Die Inflation liegt jetzt schon bei 40%. Die Regierung behauptet, der Schritt würde Geld einnehmen, um der Bevölkerung zu helfen, „vor allem denen, die wirtschaftlich zu leiden haben“ und dass 70% der Bevölkerung spezielle „monatliche Boni“ erhalten würden, um die Preiserhöhung auszugleichen. Aber diese leeren Versprechen interessieren niemanden mehr – es sind genau diese Iraner*innen mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die unter der aktuellen Währungs- und Wirtschaftskrise am meisten zu leiden haben. Seit der neuen US-Sanktionen 2018 ist die Wirtschaft um fast 10% geschrumpft.

Am Sonntag blieben nicht nur Schulen und Universitäten in einigen Städten geschlossen, sondern auch der Bazar in Teheran beteiligte sich an Streikaktionen – ein historisches Zentrum revolutionärer Erhebungen. Schon seit dem 4.November, vor dem Ausbruch der Proteste, sind Arbeiter*innen der Zuckerfabrik Haft-Tappeh, wo in den letzten Jahren große Kämpfe gegen die Privatisierung und für die Auszahlung ausstehender Gehälter stattgefunden haben, erneut im Streik. Stahlarbeiter*innen in Ahwas, die auch dafür bekannt sind, radikale Arbeitskämpfe zu organisieren, sind auch in den Protesten involviert. Einzelne Rathäuser wurden schon gestürmt und auch wenn die Informationen noch nicht vollständig gesichert sind, ist in sozialen Netzwerken die Rede davon, dass Teile der Stadt Fardis und anderer umliegender Städte in der Provinz Alborz in der unmittelbaren Umgebung von Tehran, ebenso wie der Süden von Shiraz unter der Kontrolle der Demonstrant*innen seien.

Diese Proteste sind der Ausdruck der tiefen politischen und ökonomische Krise des Landes, zum Teil durch die Auswirkungen der US-Sanktionen und befeuert durch den Ausbruch von Massenprotesten in umliegenden Ländern wie Irak, Libanon und Ägypten, welche das Regime zunehmend unter Druck setzen.

Nach der letzten Welle von Protesten 2017/18, ausgelöst durch verschiedene wirtschaftliche Verschlechterungen und Preiserhöhungen wurde klar, dass keine Ruhe mehr einkehren wird. Nach dieser Welle hat nun das Regime entschieden, Repressionen zu verstärken. General Soleimani, Generalmajor der Revolutionsgarden, prahlte schon letzte Woche, dass „wir im Iran wissen, wie man mit Protesten umzugehen hat“. Aber diese neue, unvermeidliche Welle des Widerstandes gegen das Regime konnte angesichts der tiefen Krise des Staates auch durch härtere Repressionen nicht aufgehalten werden. Die Wut richtet in erster Linie gegen die Mullahs und Präsident Ruhani, aber auch gegen den US-Imperialismus. Viele Menschen verstehen, dass die US-Sanktionen die ökonomische Lage verschlimmern. Doch das iranische Regime versucht auch selbst genau daran anzuknüpfen und die USA für die Krise verantwortlich zu machen. Khamenei bezeichnete die Demonstrant*innen als „Schläger“ und beschuldigte „Konterrevolutionäre und ausländische Feinde des Iran“, was später vom Außenministerium, das die USA für die Unterstützung einer „Gruppe von Randalierern“ verantwortlich machte, wiederholt wurde.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Massenaufstände in der Region auch auf den Iran ausbreiten würden. Der Iran spielt eine zentrale Rolle als Regionalmacht, auch bei der Entwicklung revolutionärer Aufstände. Eine Massenbewegung im Iran gegen das Regime wäre ein Kampf in der Höhle des Löwen. Die Instabilität des Mullah-Regimes und die Wut und der Kampfgeist der iranischen Arbeiterklasse und Jugend, der jetzt wieder ausbricht, können zu einem entscheidenden Hebel für die Entwicklung revolutionärer Massenaufstände in der Region werden.

Es gab schon erste Solidaritätsbotschaften von irakischen Demonstrant*innen an die Protestierenden im Iran. In einer Botschaft vom Al-Tahrir-Platz heißt es: „Es ist für uns von entscheidender Bedeutung, dass ihr euch der Tatsache bewusst seid, dass wir Iraker eine echte Liebe zu euch empfinden. Unser Problem ist das iranische sektiererische Regime, das alle korrupten Politiker, Kriminellen und Mörder in unserer derzeitigen Regierung unterstützt. Unser Ehrgeiz und einziges Ziel ist es, unsere korrupten Herrscher loszuwerden, und wir freuen uns auf starke und stabile Verbindungen zu unseren iranischen Nachbarn, die eine gerechte und zivilisierte Regierung verdienen. Es lebe das Volk“.

Es ist von größter Bedeutung, diese Art der internationalen Solidarität aller Unterdrückten in der Region zu intensivieren, um nationale, religiöse und ethnische Gräben zu überwinden. Was 2009 und 2017/18 notwendig gewesen wäre, nämlich den Kampf von der Straße in massenhafte Streiks zu verwandeln – bis hin zu einem Generalstreik, Fabriken und Städte zu übernehmen und damit das Regime zu stürzen, ist heute notwendiger denn je.

Dabei darf es kein Vertrauen in den US-Imperialismus geben – der jetzt wieder heuchlerisch von Solidarität spricht, aber kein Interesse an der tatsächlichen Befreiung der iranischen Arbeiterklasse hat. Ein von den USA beeinflusster „Regime-Change“, wie im Irak demonstriert, unter kapitalistischen Bedingungen und unter dem Einfluss des US-Imperialismus wird dem Iran keinen Frieden, keine wirtschaftliche Stabilität und keine politische Freiheit bringen. 

Auch eine Rückkehr zu monarchistischen Ideen bietet keinen Ausweg. Die Anhänger der alten Schah-Monarchie sehen nun wieder einmal die Möglichkeit, an dem Zorn der Massen gegen die Mullahs anzuknüpfen. Diese Tendenzen, ebenso wie Nationalismus, können zurückgedrängt werden, indem auf den starken Traditionen der Arbeiterbewegung im Iran aufgebaut wird und die Arbeiterklasse aus eigener Kraft wirtschaftliche und politische Kontrolle über das Land erlangt. Dabei muss sie dafür kämpfen, die natürlichen Ressourcen des Landes zu übernehmen, sie als Teil einer demokratisch geplanten Wirtschaft zu nutzen, um den Lebensstandard aller Arbeiter*innen und Armen zu sichern, die Rechte der nationalen Minderheiten zu garantieren und eine demokratische sozialistische Gesellschaft zu etablieren, die als Leuchtturm für revolutionäre Bewegungen in der gesamten Region dienen kann.

Es ist natürlich schwer einzuschätzen, wie sich die Situation in den kommenden Tagen und Wochen entwickeln wird, wie weit die Repressionen reichen werden und ob es zu einer zunehmenden Koordinierung und Zentralisation der Proteste kommen wird. Aber im Moment gibt es allen Grund zur Annahme, dass sich die Situation nicht beruhigen wird und dass eine neue Phase revolutionärer Massenaufstände bevorsteht.

 

"Sozialismus" in der Höhle des Löwen?

Rede von Nikolas Wagner bei "Eine Welt zu gewinnen"-2019

Liebe Freundinnen und Freunde, Liebe Genossinnen und Genossen: Es war heute vor 30 Jahren, dass die Berliner Mauer gefallen ist, und die stalinistischen Länder, eins nach dem anderen, zusammengebrochen sind. Die Massenbewegungen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die eine Demokratisierung in ihren Ländern gefordert haben, wurden von Regierungen der kapitalistischen Länder ausgenutzt, um den Kapitalismus wiederherzustellen. Der neoliberale Philosoph, Francis Fukuyama, hat das Ende der Geschichte ausgerufen, und den Kapitalismus zum Sieger erklärt.

In den USA, der Höhle des Löwen des globalen Kapitalismus, wusste der Keim unserer heutigen Schwesterorganisation (Socialist Alternative), dessen Samen nur ein paar Jahre davor gepflanzt wurde, dass die politische Arbeit in den kommenden Jahren nicht einfach werden würde. Nichtsdestoweniger wussten wir ebenso gut, dass die Klassengegensätze, die es seit Jahrhunderten gab, bleiben werden. Und wo es Klassengegensätze gibt, wird es immer zu Momenten der Auseinandersetzungen kommen, und der tiefgreifende Klassencharakter unserer Gesellschaft wird sich eindeutig zeigen.

Im Laufe der Jahre hat sich diese Perspektive bewahrheitet. In den 90er Jahren haben Massenproteste der Antiglobalisierungsbewegung in Seattle und weltweit stattgefunden. Gewerkschaften, die von den Kürzungen und dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen der Clinton Regierung genug hatten, haben versucht eine neue Arbeiter*innenpartei, die Labor Party, zu gründen. Unsere Genossinnen und Genossen sind in dieser Initiative aktiv gewesen und sogar Teil der Führung der New Yorker Ortsgruppe geworden. Aber leider ist diese Möglichkeit für eine politische Alternative jung verstorben.

Die Bush-Jahre haben die größte Antikriegsbewegung der menschlichen Geschichte hervorgerufen. Trotz neuer Hoffnungen in Obama hat das Bürger*innentum im Aftermath der Finanzkrise profitiert, während die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse sich verschlechtert haben, Migrantinnen und Migranten stärker abgeschoben wurden, und unendliche Kriege im Nahen Osten weiter angetrieben wurden. Daraus ist die Occupy Wall Street Bewegung entstanden, die der Ausdruck der Wut gegen die herrschende Klasse war.

Was nicht gefehlt hat, war die Bereitschaft zu kämpfen. Was nicht gefehlt hat, war der Klassenkampf von oben. Was gefehlt hat, war die Methode des Marxismus. Nach Jahrzehnten der Verfolgung von Sozialistinnen und Sozialisten, war das Bewusstsein der amerikanischen Linken weit zurückgeworfen.

Socialist Alternative, die während diesen stürmischen Entwicklungen einige neue Mitglieder gewinnen konnten, hat erkannt, dass es endlich Zeit war, einen offen sozialistischen Wahlkampf zu führen. Nach mehreren Versuchen hatten wir 2013 mit Kshama Sawant´s erstem Wahlsieg in Seattle einen Durchbruch. Das war ein Meilenstein für unsere Organisation, und hat bewiesen, dass Sozialistinnen und Sozialisten sogar in Amerika nicht nur kandidieren, sondern sogar gewinnen können. Bundesweit haben wir die Effekte gespürt: unsere Mitgliedszahlen haben sich vervierfacht und der 15 Dollar Mindestlohn wurde in zahlreichen Bundesstaaten und Städten eingeführt, von denen der erste in Seattle durch unsere Bewegung gewonnen wurde.

Wir haben die Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise ernstgenommen und haben eine Bewegung für eine leistbare Stadt aufgebaut. Die Krönung dieser Kampagne war eine Kopfsteuer auf Großkonzernen, die 40 Millionen US Dollar jährlich für leistbare Wohnungen aufgebracht hätte. Doch das war für Amazon-Chef Jeff Bezos und seine Kumpels einen Schritt zu weit: sie haben eine Gegenkampagne auf den Beinen gestellt. Kurz danach hat die "demokratische" Mehrheit des Stadtrates die Kopfsteuer auf Jeff Bezos Bitte hin aufgehoben.

Und Jeff hat nicht aufgehört. In der diesjährigen Wahl hat Amazon 1,5 Millionen US Dollar gespendet, um Kshama ihr Mandat aus den Händen zu reißen. Das gilt als die größte Spende in der Geschichte der Stadt Seattle. Angesichts dieser Herausforderung schnallten wir unsere Gürtel enger, sagten „Jetzt erst recht“ und fingen mit der harten Arbeit des Wahlkampfes an.

Mit diesem offenen Versuch, den Stadtrat zu kaufen, sehen wir, wie gefährlich wir für die herrschende Klasse tatsächlich sind. Die Bourgeoisie kann es nicht ertragen, dass eine marxistische Stadträtin im Amt ist. Der reichste Mann der Welt, ein Mann, der es lieber riskiert, dass seine Beschäftigen durch Erschöpfung im Sommer hospitalisiert werden, anstatt ein bisschen Geld für Klimaanlagen auszugeben, kann es nicht ertragen, dass eine kleine Prozentzahl von seinen Profiten besteuert wird, damit Menschen im kalten Winter nicht in den Straßen schlafen und sterben müssen.

Die Wahl hat diese Woche am Dienstag stattgefunden. Die Stimmen wurden im Schneckentempo gezählt, aber heute freue ich mich, anzukündigen, dass wir mit 51% gewonnen haben. Als es noch unklar war, welches Ergebnis herauskommt, egal ob wir gewinnen oder verlieren, haben wir klar gezeigt, wofür wir stehen. Wir haben uns mit Arbeiterinnen und Arbeitern, insbesondere Amazon-Beschäftigen vernetzt, und unser nationales Profil ausgebaut.

Als Jeffs große Spende bekannt geworden ist, sind solidarischen Botschaften für Kshama aus allen Ecken des Landes geströmt. Sowohl Sarah Nelson, die kämpferische Präsidentin der Bordpersonalgewerkschaft, die einen Generalstreik gegen den Government Shutdown vor einem Jahr ausgerufen hat, als auch der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders haben sich mit uns solidarisiert.

Natürlich können wir uns nicht alle Entwicklungen als Verdienst anrechnen. Bernie Sanders, der lebenslang im Hintergrund der US-Amerikanischen Politik tätig war, hat das Moment wahrgenommen und ist 2015 bei den Wahlen angetreten. Weil er sich als Sozialist bezeichnet hat und sich direkt gegen die herrschende Klasse ausgesprochen hat, ist seine Beliebtheit explodiert. Dadurch hat er Sand ins Getriebe der demokratischen Parteimaschinerie gestreut und die Führung der demokratischen Partei setzte jede undemokratische Hürde gegen Sanders ein, um seinen Sieg zu verhindern.

Diesmal ist Sanders wieder da, und er ist beliebter denn je. Aber dieselbe undemokratische Demokratische Partei steht zwischen ihm und einer Präsidentschaftskandidatur. Wenn es wieder zu einer Niederlage kommt, werden all seine Unterstützer*innen und alle Basisorganisationen, die sich für seinen Wahlkampf organisiert haben an einem Scheideweg befinden. Es kann sein, dass die meisten sich einschüchtern lassen und dass die breite Masse wieder in die Sackgasse des parlamentarischen Reformismus strömen wird. Aber hoffentlich werden genug Menschen verstehen, dass es keine Möglichkeit gibt, für die Arbeiter*innenklasse und alle unterdrückten Menschen in einer bürgerlichen Partei zu kämpfen.

Es gibt schon genug Anzeichen, dass amerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter die Perspektive und den Willen haben, um das zu schaffen. Wie Genossinnen und Genossen gestern Abend betont haben, bezeichnen sich mehr und mehr jugendliche Amerikanerinnen und Amerikaner in den USA als Sozialistinnen und Sozialisten, oder sogar als Kommunistinnen und Kommunisten. Trotz eines erbärmlichen Organisationsgrad in den USA ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten dank des Bemühens junger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahren endlich gestiegen. 2018 gilt als das Jahr in dem die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit über 30 Jahren gestreikt haben. Ohne die Anstrengungen der Lehrerinnen und Lehrer, die wilde Streiks in West Virginia und bundesweit für ihre Schülerinnen und Schüler geführt haben, wäre das nicht möglich gewesen.

US-Amerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter sind kämpferischer geworden und identifizieren sich immer mehr als Sozialistinnen und Sozialisten. Der Unterschied zwischen den 90er Jahren und heute ist wie einer von Tag und Nacht.

Kurz noch etwas zum Schluss: In den Traditionen der amerikanischen Linken ist es üblich „Solidarity“ am Ende einer Rede zu sagen. Aber als ich vor einem Jahr nach Europa gezogen bin, war ich recht enttäuscht zu lernen, dass das hier völlig unnormal ist. Trotzdem im Geiste des Internationalismus werde ich es heute Abend tun. Ich möchte noch erwähnen, dass ich zuversichtlich bin, trotz aller Schwierigkeiten, Rückschlägen, und Schlappen, dass der Weg zu einer Gesellschaft, in der alle Menschen ein erfülltes Leben haben können, vor uns steht. Die Geschichte gehört den Arbeiterinnen und Arbeitern. Es sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, in Amerika, in Chile, in Hong Kong, in Österreich, und auf der ganzen Welt, die die Geschichte letztendlich schreiben werden. Nicht Fukuyama. Let’s get to work. Danke und Solidarity.

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