"Sozialismus" in der Höhle des Löwen?

Rede von Nikolas Wagner bei "Eine Welt zu gewinnen"-2019

Liebe Freundinnen und Freunde, Liebe Genossinnen und Genossen: Es war heute vor 30 Jahren, dass die Berliner Mauer gefallen ist, und die stalinistischen Länder, eins nach dem anderen, zusammengebrochen sind. Die Massenbewegungen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die eine Demokratisierung in ihren Ländern gefordert haben, wurden von Regierungen der kapitalistischen Länder ausgenutzt, um den Kapitalismus wiederherzustellen. Der neoliberale Philosoph, Francis Fukuyama, hat das Ende der Geschichte ausgerufen, und den Kapitalismus zum Sieger erklärt.

In den USA, der Höhle des Löwen des globalen Kapitalismus, wusste der Keim unserer heutigen Schwesterorganisation (Socialist Alternative), dessen Samen nur ein paar Jahre davor gepflanzt wurde, dass die politische Arbeit in den kommenden Jahren nicht einfach werden würde. Nichtsdestoweniger wussten wir ebenso gut, dass die Klassengegensätze, die es seit Jahrhunderten gab, bleiben werden. Und wo es Klassengegensätze gibt, wird es immer zu Momenten der Auseinandersetzungen kommen, und der tiefgreifende Klassencharakter unserer Gesellschaft wird sich eindeutig zeigen.

Im Laufe der Jahre hat sich diese Perspektive bewahrheitet. In den 90er Jahren haben Massenproteste der Antiglobalisierungsbewegung in Seattle und weltweit stattgefunden. Gewerkschaften, die von den Kürzungen und dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen der Clinton Regierung genug hatten, haben versucht eine neue Arbeiter*innenpartei, die Labor Party, zu gründen. Unsere Genossinnen und Genossen sind in dieser Initiative aktiv gewesen und sogar Teil der Führung der New Yorker Ortsgruppe geworden. Aber leider ist diese Möglichkeit für eine politische Alternative jung verstorben.

Die Bush-Jahre haben die größte Antikriegsbewegung der menschlichen Geschichte hervorgerufen. Trotz neuer Hoffnungen in Obama hat das Bürger*innentum im Aftermath der Finanzkrise profitiert, während die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse sich verschlechtert haben, Migrantinnen und Migranten stärker abgeschoben wurden, und unendliche Kriege im Nahen Osten weiter angetrieben wurden. Daraus ist die Occupy Wall Street Bewegung entstanden, die der Ausdruck der Wut gegen die herrschende Klasse war.

Was nicht gefehlt hat, war die Bereitschaft zu kämpfen. Was nicht gefehlt hat, war der Klassenkampf von oben. Was gefehlt hat, war die Methode des Marxismus. Nach Jahrzehnten der Verfolgung von Sozialistinnen und Sozialisten, war das Bewusstsein der amerikanischen Linken weit zurückgeworfen.

Socialist Alternative, die während diesen stürmischen Entwicklungen einige neue Mitglieder gewinnen konnten, hat erkannt, dass es endlich Zeit war, einen offen sozialistischen Wahlkampf zu führen. Nach mehreren Versuchen hatten wir 2013 mit Kshama Sawant´s erstem Wahlsieg in Seattle einen Durchbruch. Das war ein Meilenstein für unsere Organisation, und hat bewiesen, dass Sozialistinnen und Sozialisten sogar in Amerika nicht nur kandidieren, sondern sogar gewinnen können. Bundesweit haben wir die Effekte gespürt: unsere Mitgliedszahlen haben sich vervierfacht und der 15 Dollar Mindestlohn wurde in zahlreichen Bundesstaaten und Städten eingeführt, von denen der erste in Seattle durch unsere Bewegung gewonnen wurde.

Wir haben die Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise ernstgenommen und haben eine Bewegung für eine leistbare Stadt aufgebaut. Die Krönung dieser Kampagne war eine Kopfsteuer auf Großkonzernen, die 40 Millionen US Dollar jährlich für leistbare Wohnungen aufgebracht hätte. Doch das war für Amazon-Chef Jeff Bezos und seine Kumpels einen Schritt zu weit: sie haben eine Gegenkampagne auf den Beinen gestellt. Kurz danach hat die "demokratische" Mehrheit des Stadtrates die Kopfsteuer auf Jeff Bezos Bitte hin aufgehoben.

Und Jeff hat nicht aufgehört. In der diesjährigen Wahl hat Amazon 1,5 Millionen US Dollar gespendet, um Kshama ihr Mandat aus den Händen zu reißen. Das gilt als die größte Spende in der Geschichte der Stadt Seattle. Angesichts dieser Herausforderung schnallten wir unsere Gürtel enger, sagten „Jetzt erst recht“ und fingen mit der harten Arbeit des Wahlkampfes an.

Mit diesem offenen Versuch, den Stadtrat zu kaufen, sehen wir, wie gefährlich wir für die herrschende Klasse tatsächlich sind. Die Bourgeoisie kann es nicht ertragen, dass eine marxistische Stadträtin im Amt ist. Der reichste Mann der Welt, ein Mann, der es lieber riskiert, dass seine Beschäftigen durch Erschöpfung im Sommer hospitalisiert werden, anstatt ein bisschen Geld für Klimaanlagen auszugeben, kann es nicht ertragen, dass eine kleine Prozentzahl von seinen Profiten besteuert wird, damit Menschen im kalten Winter nicht in den Straßen schlafen und sterben müssen.

Die Wahl hat diese Woche am Dienstag stattgefunden. Die Stimmen wurden im Schneckentempo gezählt, aber heute freue ich mich, anzukündigen, dass wir mit 51% gewonnen haben. Als es noch unklar war, welches Ergebnis herauskommt, egal ob wir gewinnen oder verlieren, haben wir klar gezeigt, wofür wir stehen. Wir haben uns mit Arbeiterinnen und Arbeitern, insbesondere Amazon-Beschäftigen vernetzt, und unser nationales Profil ausgebaut.

Als Jeffs große Spende bekannt geworden ist, sind solidarischen Botschaften für Kshama aus allen Ecken des Landes geströmt. Sowohl Sarah Nelson, die kämpferische Präsidentin der Bordpersonalgewerkschaft, die einen Generalstreik gegen den Government Shutdown vor einem Jahr ausgerufen hat, als auch der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders haben sich mit uns solidarisiert.

Natürlich können wir uns nicht alle Entwicklungen als Verdienst anrechnen. Bernie Sanders, der lebenslang im Hintergrund der US-Amerikanischen Politik tätig war, hat das Moment wahrgenommen und ist 2015 bei den Wahlen angetreten. Weil er sich als Sozialist bezeichnet hat und sich direkt gegen die herrschende Klasse ausgesprochen hat, ist seine Beliebtheit explodiert. Dadurch hat er Sand ins Getriebe der demokratischen Parteimaschinerie gestreut und die Führung der demokratischen Partei setzte jede undemokratische Hürde gegen Sanders ein, um seinen Sieg zu verhindern.

Diesmal ist Sanders wieder da, und er ist beliebter denn je. Aber dieselbe undemokratische Demokratische Partei steht zwischen ihm und einer Präsidentschaftskandidatur. Wenn es wieder zu einer Niederlage kommt, werden all seine Unterstützer*innen und alle Basisorganisationen, die sich für seinen Wahlkampf organisiert haben an einem Scheideweg befinden. Es kann sein, dass die meisten sich einschüchtern lassen und dass die breite Masse wieder in die Sackgasse des parlamentarischen Reformismus strömen wird. Aber hoffentlich werden genug Menschen verstehen, dass es keine Möglichkeit gibt, für die Arbeiter*innenklasse und alle unterdrückten Menschen in einer bürgerlichen Partei zu kämpfen.

Es gibt schon genug Anzeichen, dass amerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter die Perspektive und den Willen haben, um das zu schaffen. Wie Genossinnen und Genossen gestern Abend betont haben, bezeichnen sich mehr und mehr jugendliche Amerikanerinnen und Amerikaner in den USA als Sozialistinnen und Sozialisten, oder sogar als Kommunistinnen und Kommunisten. Trotz eines erbärmlichen Organisationsgrad in den USA ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten dank des Bemühens junger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahren endlich gestiegen. 2018 gilt als das Jahr in dem die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit über 30 Jahren gestreikt haben. Ohne die Anstrengungen der Lehrerinnen und Lehrer, die wilde Streiks in West Virginia und bundesweit für ihre Schülerinnen und Schüler geführt haben, wäre das nicht möglich gewesen.

US-Amerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter sind kämpferischer geworden und identifizieren sich immer mehr als Sozialistinnen und Sozialisten. Der Unterschied zwischen den 90er Jahren und heute ist wie einer von Tag und Nacht.

Kurz noch etwas zum Schluss: In den Traditionen der amerikanischen Linken ist es üblich „Solidarity“ am Ende einer Rede zu sagen. Aber als ich vor einem Jahr nach Europa gezogen bin, war ich recht enttäuscht zu lernen, dass das hier völlig unnormal ist. Trotzdem im Geiste des Internationalismus werde ich es heute Abend tun. Ich möchte noch erwähnen, dass ich zuversichtlich bin, trotz aller Schwierigkeiten, Rückschlägen, und Schlappen, dass der Weg zu einer Gesellschaft, in der alle Menschen ein erfülltes Leben haben können, vor uns steht. Die Geschichte gehört den Arbeiterinnen und Arbeitern. Es sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, in Amerika, in Chile, in Hong Kong, in Österreich, und auf der ganzen Welt, die die Geschichte letztendlich schreiben werden. Nicht Fukuyama. Let’s get to work. Danke und Solidarity.