Geschichte und politische Theorie

Marx aktuell: Kandidieren als Schritt zu einer neuen ArbeiterInnenpartei

Tilman M. Ruster

„Warum tut ihr Linken euch nicht einfach zusammen, da könnt ihr doch mehr erreichen!“ werden wir oft gefragt. Ja, das Kapital hat viele Parteien, wir haben keine. In diesem Sinne tritt die SLP seit Jahren in jeder sozialen Bewegung und in ihrem Material für den Aufbau einer neuen ArbeiterInnenpartei ein. Eine solche wäre zentral für effektiven Widerstand gegen Rassismus und Sozialabbau. JEDE Initiative, die einen Schritt in dieser Richtung darstellt, unterstützen wir. Doch was braucht es, damit es ein Schritt in diese Richtung ist? Die Bürgerlichen bezeichnen Politik, die ihren Interessen folgt, gerne als „Sachzwänge“. Sie drohen, dass, wer sich der Logik von Bankenrettung und Sparpaketen widersetzt, alles in den Abgrund stürze. Wer, wie zuletzt Tsipras, keine Systemalternative vor Augen hat, wird der Logik der Herrschenden irgendwann nachgeben. Appelle oder gute Argumente überzeugen die Herrschenden nicht. Im Rahmen ihres kapitalistischen Systems ist ihr (neoliberales) Handeln vernünftig – wenn auch unmenschlich. Denn „(...) Unterdrücker und Unterdrückte standen im steten Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf… Die (…) moderne, bürgerliche Gesellschaft hat diese Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.“ (Marx/Engels, Das kommunistische Manifest, 1848).

Wer also Arbeitszeitverkürzung, Wohnbauoffensive und Einkommen zum Auskommen fordert, muss dem Kapitalismus eine Systemalternative entgegen halten. Ohne die landet man rasch wieder bei den Sachzwängen. „Die Teilreformen und Flickschusterei führen zu nichts. Die historische Entwicklung ist an einer ihrer entscheidenden Etappen angelangt, wo einzig die direkte Intervention der Massen fähig ist, die reaktionären Hindernisse wegzufegen und die Grundlagen einer neuen Ordnung zu errichten. Die Vernichtung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln ist die erste Bedingung einer Ära der Planwirtschaft, das heißt der Intervention der Vernunft auf dem Gebiete der menschlichen Beziehungen“ (Trotzki, Marxismus in unserer Zeit, 1939). Gute Forderungen gibt es viele, zentral ist die Frage, von wem und wie sie erreicht werden können. Auf welche Methoden setzen Linke, um ihre Forderungen durchzusetzen? Gute Argumente, mal etwas Druck von der Straße und sogar Mandate werden, gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise, nicht ausreichen, um Forderungen wie z.B. die nach einem massiven Wohnbauprogramm zu erreichen. Interessen von ArbeitnehmerInnen, MigrantInnen, Jugendlichen und PensionistInnen müssen gegen die Interessen der KapitalistInnen und ihrer HelferInnen erkämpft werden. Zentral ist daher die Vernetzung von ArbeiterInnen in Gewerkschaft, Betrieb und auf der Straße und das Organisieren von Widerstand. Mandate in Parlamenten können dabei helfen: Sie schaffen eine Plattform für linke Ideen und für Mobilisierungen. Linke Abgeordnete in Parlamenten, Gemeinde- oder Bezirksräten, ohne dieses Verständnis von Klassenwidersprüchen und der Notwendigkeit von Kämpfen in Betrieben und auf der Straße, werden sich in der Praxis nicht von denen der bürgerlichen Parteien unterscheiden.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Aus den Erfahrungen verschiedener Linksprojekte lernen

Keiner steigt zweimal in denselben Fluss, doch das Rad müssen wir auch nicht jedes Mal neu erfinden. In der Diskussion und v.a. bei konkreten Schritten hin zu einem ernsthaften Linksprojekt, einer Linkspartei, einer neuen ArbeiterInnenpartei, müssen wir d
Sonja Grusch

Dieser Beitrag wurde im Juli 2015 für den Mosaik.blog auf Bestellung geschrieben, aber bisher nicht veröffentlicht. Wir wissen nicht, warum es keine Veröffentlichung gab, möchten aber auf diesem Weg einen Beitrag zur Debatte über eine neue linke Formation leisten.


Lange, für viele zu lange, hat es gedauert, bis eine ernsthafte Debatte über die Notwendigkeit einer neuen linken Kraft, Partei, ArbeiterInnenpartei auch in Österreich auf breiterer Ebene angekommen ist. Die Verzögerung ist einer der Gründe dafür, dass wir hierzulande eine der stärksten rechtsextremen Parteien Europas haben. Doch besser spät als nie. Unsere Verspätung hat aber zumindest den Vorteil, dass wir auf die zahlreichen Erfahrungen mit solchen neuen linken Projekten zurückgreifen können. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wird im Folgenden versucht, einige der zentralen Lehren aus diversen Projekten zusammen zu fassen.

Die Zeichen der Zeit erkennen

Man will es „ordentlich“ machen, das braucht Zeit. Ein verständlicher Anspruch. Doch manchmal lässt uns die objektive Entwicklung diese Zeit einfach nicht. Podemos (Spanien) oder auch die Vereinigte Linke (Slowenien) waren „zur richtigen Zeit am richtigen Ort“. Sie stellen ein Angebot nach einer Alternative, welches breit angenommen wird. Der Auslöser für die Gründung der P-SOL (Brasilien) war der Rechtsruck der PT unter Lula. Einige Abgeordnete konnten nicht mehr mit dem rechten Kurs mit und wurden letztlich ausgeschlossen. Doch sie zogen sich nicht enttäuscht zurück, sondern gründeten gemeinsam mit anderen und existierenden linken Organisationen die P-SOL. Diese neuen Formationen waren nicht fertig designed - da gab und gibt es viel zu lernen im vorwärts gehen - aber es gibt zumindest etwas. Doch ein solches Zeitfenster hält sich nicht auf Dauer. Es schließt sich oder wird – noch schlimmer – von der extremen Rechten gefüllt. In Frankreich erfolgte die Gründung der NPA verspätet. 2002 hatten zwei Kandidat_innen der radikalen Linken rund drei Millionen Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen erhalten. In den folgenden Jahren gab es eine Reihe großer Bewegungen gegen Le Pen, gegen Penionskürzungen, gegen die EU-Verfassung und ein neues Jugendarbeitsgesetz. Doch die NPA wurde erst 2007 gegründet, viele Chancen waren verpasst worden und die NPA selbst hob nie wirklich ab.

Die Linken, die die Notwendigkeit einer neuen Formation erkannt haben, haben also auch die Verantwortung, nicht zu lange zu warten.

Soziale Bewegungen und Klassenkämpfe befeuern

2004 fanden in Deutschland Massenproteste gegen Hartz IV statt. Diese waren ein wichtiger Auslöser dafür, dass ein Teil von IG-Metall und SPD-FunktionärInnen, die schon lange unzufrieden mit dem immer rechteren Kurs der SPD waren, mit der SPD brachen. Der Druck aus der ArbeiterInnenklasse war gestiegen und hatte auch sie nach links gedrückt. Dieser Prozess war eine wesentliche Grundlage für die erfolgreiche Gründung der WASG und später der Linken. Zusätzlich waren durch auch von Anfang an AktivistInnen Teil dieses Projektes dass, trotz aller Kritik die es daran gibt, eines der erfolgreichsten neuen Linksprojekte in Europa darstellt.

Auch in Südafrika waren es die Proteste der Bergleute vor und nach dem Massaker von Marikana 2012, das den ANC endgültig diskreditiere, die zu eine qualitativ neue Entwicklung führten. In der Gewerkschaft NUMSA, einer der stärksten und kämpferischsten Gewerkschaften des Landes spiegelte sich die wachsende Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Kurs des ANC und dem Wunsch nach einer neue Partei für ArbeiterInnen wieder. Schon 2013 unterstützte NUMSA den den Wahlkampf des ANC nicht mehr, im April 2015 wurde der Fahrplan für eine neue ArbeiterInnenpartei beschlossen. Ein Prozess der noch am Anfang ist, aber durch seine starke Verbindung mit kämpferischen Schichten der ArbeiterInnenklasse ein hohes politisches Gewicht hat.

Auch in Irland sind die Ansätze für eine solche Partei gelegt. In den letzten Jahren gab es einige Versuche, v.a. durch linke Bündnisse die auch Wahlerfolge hatten, eine solche neue Formation zu schaffen. Doch erst die aktuelle Massenbewegung gegen die Wassergebühren rund um die Anti-Austerity-Alliance gibt einem solchen neuen Projekt die aktive Basis, die über eine reine Re-Gruppierung der Linken hinaus geht.

Die Linken, die die Notwendigkeit einer neuen Formation erkannt haben, haben also auch die Verantwortung, soziale Bewegungen nicht nur zu unterstützen, sondern auch voran zu treiben, dazu gehört auch die Arbeit in Betriebsräten und Gewerkschaften um dort für einen kämpferischen Kurs einzutreten.

Organisationen geben Haltbarkeit

Gerade wenn aber diese sozialen Bewegungen und Klassenkämpfe fehlen bzw. sich verzögern, sind es oft verschiedene linke Organisationen, die durch einen Zusammenschluss versuchen, etwas Neues zu formen. Die Erfahrungen die sie gemacht haben - die Fähigkeit, den langen Atem der politischen Arbeit zu halten und einen Kurs beizubehalten – sie können das Rückgrat einer solchen neuen Partei bilden, ohne welches sie nicht länger stehen wird. Doch ohne Bewegungen, die neuen AktivistInnen, die gewonnen werden um sich aktiv einzubringen bleibt es ein lebloses Skelett. Die Skepsis gegenüber „Parteien“ ist angesichts der Korruption und Abgehobenheit der existierenden etablierten Organisationen (und auch vieler Fehler der Linken) durchaus verständlich. Wenn daraus allerdings der Fetisch der (scheinbaren) Unorganisiertheit wird, die letztlich nichts anderes wird als die Führung einer kleinen demokratisch nicht legitimierten Minderheit, dann ist dass die falsche Antwort. Das Projekte wie die P-SOL und der Linksblock in Portugal seit Jahren existieren liegt auch daran, dass sie zu wesentlichen Teilen aus Organisationen bestehen, die eine lange Tradition der politischen Arbeit haben. Das gibt Beständigkeit. Kann aber auch zur Trägheit führen, wenn es an neuen dynamischen Kräften fehlt die im Zuge der sozialen Bewegungen und Klassenkämpfen dazu stoßen.

Die Gründung der SSA bzw. SSP in Schottland fand auf der Basis der großen Verankerung dieser sozialistischen Kräfte u.a. durch die Anti-Poll-Tax-Bewegung statt und in den ersten Jahren war das Projekt sehr Erfolgreich bei Wahlen und Aufbau. Während es anfangs einen Kern von marxistischen Kadern gab, die sich für eine klare politische Linie einsetzen, löste sich dieser später auf. Der politische Kurs verwässerte sich und die SSP verlor sich rasch in politischen Skandalen und der weitgehenden Bedeutungslosigkeit.

Die Linken, die die Notwendigkeit einer neuen Formation erkannt haben, haben also auch die Verantwortung, ein solches Projekt für Individuen wie auch für Organisationen offen zu halten und so für ein Rückgrat zu sorgen.

Wahlen sind nur ein Arbeitsfeld

Der Wunsch nach einer Wahlalternative ist groß. Das Antreten bei Wahlen ist daher auch eine der Aufgaben eines solchen Projektes. Die Wahlkämpfe waren und sind eine Arena, um Ideen zu präsentieren und AktivistInnen einzubinden. Gefährlich wird es aber, wenn der Wunsch nach Mandaten zum Hauptfokus wird. Und in weiterer Konsequenz einer solchen Ausrichtung dann aus dem Wunsch „mitzugestalten“ auch Koalitionen mit bürgerlichen Parteien unterschiedlicher Färbung eingegangen werden. So landet dann eine Linke in Deutschland in Sozialabbau betreibenden Koalitionen mit der SPD. Was als schlaue Taktik präsentiert wird, endet in der Praxis in der Aufgabe der eigenen Inhalte und einer weitgehenden Verwässerung des Programms. Wahlen und Mandate sind eine Bühne, nicht mehr und auch nicht weniger. Es ist wichtig sie zu nutzen und sie gleichzeitig nicht über zu bewerten. Mandate ohne starke Organisation und Unterstützung im Rücken können bestenfalls Anträge stellen, aber kaum etwas durchsetzen.

Die Linken, die die Notwendigkeit einer neuen Formation erkannt haben, haben also auch die Verantwortung, Wahlkämpfe zu führen aber sich nicht darin zu verlieren.

Sozialistisches Programm und Perspektive gegen Sachzwänge

Der Kapitalismus ist in der Krise. Und er erzeugt Krisen, politische wie auch wirtschaftliche. Eine an sich banale Erkenntnis, die aber auch Konsequenzen im politischen Handeln haben sollte. Wenn die krisenbedingten Spielräume für Zugeständnisse enger werden, dann wird es auch der Raum für Reformen im ursprünglichen Sinn (also Verbesserungen für die ArbeiterInnenklasse in ihrer ganzen Buntheit und Vielschichtigkeit). Der Versuch, die Kapitalseite mit guten Argumenten oder listenreichem Tricks zu überrumpeln oder überzeugen, scheitert kläglich. RevolutionärInnen sind die besten ReformerInnen, hat Rosa Luxemburg sinngemäß gesagt. Gemeint hat sie damit, dass in eben solchen wirtschaftlichen engen Zeiten jene Verbesserungen nur erreicht werden können, wenn man bereit ist, über die Grenzen der kapitalistischen Logik hinaus zu sehen. Denn es reicht nicht, nur ein linkes Gewissen oder linkeR MahnerIn zu sein, sondern es braucht eine Organisation die konkret den Kampf für eine andere, nicht kapitalistische, eine sozialistische Gesellschaft führt. Genau das hat z.B. die 1991 gegründete PRC, eines der ältesten „neuen“ Linken Projekte nicht gemacht. Nach einem anfänglich klar linken Kurs mit über 100.000 Mitgliedern und fast 9% bei Wahlen unterstützte sie ab 1996 die Regierung von Prodi die für einen „rigorosen Sparkurs“ stand – und verlor in Folge Mitglieder und WählerInnen.

Auch Syriza ist aktuell in einem ähnlichen Dilemma. Da eine systemüberwindende Perspektive und eine Aktivierung der ArbeiterInnenklasse fehlen, können Tsipras & Co. den Erpressungen der Troika wenig entgegen halten. Das ist die Grundlage seiner Kapitulation, die die große Gefahr birgt, dass v.a. die faschistische Goldene Morgenröte davon profitiert und das Konzept einer neuen Linkspartei insgesamt wieder in Frage gestellt wird.

Die Linken, die die Notwendigkeit einer neuen Formation erkannt haben, haben also auch die Verantwortung, für ein sozialistisches Programm und einen konsequenten Kurs zur Umsetzung desselben einzutreten.

Weil jene, die nicht aus der Geschichte lernen, verdammt sind, die Fehler zu wiederholen.

Frisch gekämpft: Vom walisischen BerarbeiterInnenstreik 1898 zur Gründung der Labour Party

Jan Rybak

Obwohl Ende des 19. Jahrhunderts Großbritannien das fortgeschrittenste kapitalistische Land war, fehlte es an einer unabhängigen Partei der ArbeiterInnenklasse. Die Gewerkschaften organiserten fast ausschließlich Facharbeiter. Sie lehnten sich politisch an die Liberale Partei an, erhofften von ihr Brosamen vom Tisch des rapid aufsteigenden Kapitalismus. Ab den 1890er Jahren fiel die Wirtschaft in eine tiefe Krise und die ArbeiterInnenklasse versuchte in zahllosen Streiks ihre Lebensgrundlage zu verteidigen. Das setzte die Frage der politischen Form des Klassenkampfes und der Organisation auf die Tagesordnung.

Der Streik der walisischen Bergleute 1898 zeigte die organisatorischen und politischen Schwächen der ArbeiterInnenbewegung. Fünf Monate streikten die Bergleute für höhere und sicherere Löhne. Die Unternehmen reagierten mit Aussperrungen und Streikbrechern. Die Regierung setzte „Schlichter“ ein, die den Streikenden schlechte Bedingungen diktierten. Die Gesetze waren ausschließlich von bürgerlichen Parteien gemacht worden. Es fehlte an umfassender gewerkschaftlicher Organisierung, einer politischen Partei und einem politischen Programm. So musste die „Schlichtung“ letztlich akzeptiert werden. Die Folge war jedoch steigende Militanz und v.a. die Gründung der South Wales Miners‘ Federation, die wenig später auch eine wichtige Rolle bei der Schaffung einer politischen Organisation der ArbeiterInnenklasse, der Labour Party, spielte. 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Marx aktuell: Was machen MarxistInnen bei Wahlen?

Helga Schröder

MarxistInnen kämpfen für eine Überwindung des Kapitalismus und damit für eine echte, sozialistische Demokratie. Das Wahlrecht im bürgerlichen Staat wurde hart erkämpft. MarxistInnen verteidigen es, wissend, dass seine Möglichkeiten beschränkt sind. Wahlen sind auch eine Momentaufnahme von Stimmung und Kräfteverhältnis in der Gesellschaft. Die Anarchistin Emma Goldman meinte Wenn Wahlen etwas ändern würden, so wären sie verboten." Doch sich nicht zu beteiligen, bedeutet, den Herrschenden die Bühne völlig zu überlassen. „Wir [..] gehen in das bürgerliche Parlament, um auch von dieser Tribüne des durch und durch verfaulten kapitalistischen Systems den Betrug, der an den Arbeitern und werktätigen Massen verübt wird, zu enthüllen. (W. I. Lenin, Brief an die österreichischen Kommunisten, 1920).

Doch MarxistInnen nutzen Wahlen völlig anders als es bürgerliche Parteien (von SPÖ über ÖVP, Grüne, Neos bis FPÖ) und auch manche „linken“ Projekte tun. Während andere „keine Zeit“ für Proteste und Demonstrationen haben, weil „gerade Wahlkampf“ ist, sind soziale Bewegungen und Kandidatur bei Wahlen für MarxistInnen eine untrennbare Einheit. Wahlzeiten sind Perioden erhöhter Politisierung. Menschen überlegen, wie sie ihre Stimme einsetzen können. Diese Politisierung stärkt soziale Kämpfe. Deshalb kann die Wahlbeteiligung als Stimme und Bühne für eben diese Kämpfe genützt werden. MarxistInnen kommen und wollen also nicht als abgehobene „StellvertreterInnen“ in regionale oder nationale Parlamente, sondern als Teil sozialer Bewegungen. Sie nutzen Wahl und Kandidatur zur Stärkung von Protesten und Arbeitskämpfen. Und sie nutzen Mandate als Bühne und Unterstützung für Klassenkämpfe, deren AkteurInnen sie sind – in- und außerhalb von Parlamenten. So kämpfen MandatarInnen des Komitees für eine ArbeiterInneninternationale (CWI) in Parlamenten, Stadt- und Gemeinderäten unterschiedlicher Länder mit starken Bewegungen im Rücken und mit diesen gemeinsam. Joe Higgins, der "Rote, den man nicht kaufen kann" gewann ein Mandat im irischen Parlament, weil er einer der zentralen Kämpfer gegen unsoziale Wassersteuern war, das Gleiche gilt auch für Paul Murphy. Steve Jolly, sozialistischer Stadtrat in Melbourne/Australien, war führender Teil einer regionalen Kampagne gegen den Bau eines Monstertunnels. Und Kshama Sawant gewann ihr Mandat in Seattle im Zuge der Kampagne für den 15 Dollar Mindestlohn.

MarxistInnen sagen offen, dass Wählen alleine zu wenig und der Druck einer starken, organisierten ArbeiterInnenbewegung nötig ist – Mandate in Parlamenten sind dabei nur ein unterstützender Teil. Deshalb ist jeder Aufruf, uns zu wählen gleichzeitig ein Aufruf, mit uns aktiv zu werden. Wir sagen auch im Wahlkampf, dass wesentliche Errungenschaften für die ArbeiterInnenklasse immer erkämpft, nie in Parlamenten beschlossen wurden (und wenn, dann als Zugeständnis an eine starke Bewegung) und dass Rechte in der bürgerlichen Demokratie ständig unter Beschuss seitens der Herrschenden stehen. Wir vertreten keine WählerInnen in Parlamenten, sondern kämpfen mit ihnen gemeinsam und nutzen Parlamente als Arena des Klassenkampfes (W.I. Lenin, Rede über den Parlamentarismus, 1920). 

 

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Sozialistische Kommunalpolitik – Geht das?

Sebastian Kugler

 „Es ist besser, das Gesetz zu brechen, als die Rücken der Armen!“ – Terry Fields, sozialistischer Stadtrat in Liverpool 1983-87

Nicht „Pragmatismus“ und „Sachpolitik“ führen zum Erfolg, sondern konsequenter Widerstand in- und außerhalb der parlamentarischen Strukturen.

Sturköpfe! Fundis! Auf allen Ebenen, auch in der Kommunalpolitik, wird Linken oft vorgeworfen, sie seien „aus Prinzip“ dagegen und an zielorientierter Politik nicht interessiert. Doch wenn Linke sich tatsächlich oft in der Position einer Fundamentalopposition zu allen anderen Parteien finden, dann nicht, um abstrakter Prinzipien oder der politischen „Reinheit“ willen – Sondern deshalb, weil, vor allem in Krisenzeiten, jegliche „normale“ Politik Kürzungen und Verschlechterungen für ArbeitnehmerInnen, für Jugendliche, für Frauen, für Arbeitslose, für MigrantInnen, für Ärmere... bedeutet. Nicht aus hohen moralischen Prinzipien leitet sich für Linke ihre Opposition zur herrschenden Politik ab. Sondern aus der schlichten Notwendigkeit von Schulen, Krankenhäusern, hohen Löhnen, niedrigen Mieten usw. Im Gegensatz zu etablierten PolitikerInnen lassen sich echte SozialistInnen nicht von „Sachzwängen“ und Rahmenbedingungen des kapitalistischen Systems beschränken. Diese werden von der Politik als „naturgegeben“ dargestellt, obwohl sie nur existieren um Macht und Reichtum zu schützen. Wenn das kompromisslose Eintreten für grundlegende Bedürfnisse von ArbeiterInnen, Arbeitslosen, Armen und Jugendlichen schon radikal ist – dann sind wir eben radikal.

In zahlreichen Ländern sind Mitglieder der Schwesterorganisationen der SLP in Gemeinderäten, Stadträten und sogar Parlamenten. Sie nehmen nie mehr als einen durchschnittlichen ArbeiterInnenlohn an. Denn wie soll man ArbeiterInnen und Arme vertreten, wenn man selbst ein Vielfaches von deren Einkommen verdient? Wie soll man sonst die direkten Auswirkungen der eigenen Politik spüren? Den Rest ihres Gehaltes spenden sozialistische Abgeordnete für soziale Kämpfe und Bewegungen, etwa, um Streiks zu unterstützen. In den Sitzungen agieren sie als Sprachrohre des Widerstands und geben Initiativen und Kämpfen eine zusätzliche Plattform. Nur auf diese Weise macht die Arbeit in solchen Gremien auch tatsächlich Sinn – denn einzelne Gegenstimmen werden z.B. Kürzungsmaßnahmen nicht verhindern oder rückgängig machen. Nur der Widerstand außerhalb der Gremien kann solche Maßnahmen stoppen. Claus Ludwig, Aktivist der SAV, der deutschen Schwesterorganisation der SLP, brachte es in einer Rede am Parteitag der LINKEN im Juni 2015 auf den Punkt: In den zehn Jahren, in denen ich Ratsmitglied der Stadt Köln war, habe ich gelernt, dass die zentralen kommunalpolitischen Auseinandersetzungen nicht im Ratssaal und den Fraktionsbüros stattfinden, sondern in den Stadtteilen. Unsere wichtigste und vornehmste Aufgabe ist es, die lokalen Themen aufzugreifen, bei denen sich Menschen bewegen, Widerstand leisten, sich organisieren, unabhängig davon, ob diese sich auch im Stadt- oder Gemeinderat widerspiegeln. Wenn Mieterinnen und Mieter Gerichtsvollzieher blockieren, um Zwangsräumungen zu verhindern, dann ist das Kommunalpolitik und die Mitglieder unserer Partei müssen aktiv dabei sein. Wenn die Erzieherinnen und Erzieher streiken, um Druck auf die Städte und Gemeinden auszuüben, endlich ihre Tätigkeit aufzuwerten, dann ist das Kommunalpolitik und wir müssen bei den Streikposten stehen. Wenn Nazis und Rassisten marschieren, ist der Platz linker Kommunalpolitiker auf der Straße, in der Blockade.“

Doch was, wenn es Linken gelingt, die Mehrheit in Gemeinden zu erlangen und am Drücker zu sein? In so einem Fall ist es umso wichtiger, dem Sparzwang, der von oben kommt, nicht nachzugeben. Auch das geht nicht alleine in den Rathäusern. Konsequente linke Politik in den Gemeinden führt unvermeidlich zu einem Kollisionskurs mit Ländern und Bund. Manche Linke orientieren sich am „Marinaleda-Modell“. Marinaleda ist ein kleines spanisches Dorf, das eine Art antikapitalistische Oase in einer kapitalistischen Wüste ist. Arbeitslosigkeit gibt es praktisch keine, gewirtschaftet und entschieden wird im Kollektiv. Marinaleda entstand aus radikalen Kämpfen spanischer LandarbeiterInnen Ende der 1970er Jahre – doch anstatt die Errungenschaften auszuweiten, hat sich die Gemeinde auf ihren 3.000-EinwohnerInnen-Horizont begrenzt, was nun das Erreichte aufs Spiel setzt: Denn Marinaleda ist von EU-Agrarsubventionen abhängig – ohne die würde die Kommune zusammenbrechen. Sollte das genossenschaftlich produzierte Olivenöl vom Markt verdrängt werden, sieht es genauso düster aus. Dem Ansturm an Menschen, die aufgrund der Wirtschaftskrise nach Marinaleda kommen wollen, kann das kleine Dorf ebenfalls nicht standhalten. Die Isolation setzt die erkämpften Errungenschaften aufs Spiel und macht Marinaleda abhängig von EU und Marktlaunen.

Einen anderen Weg schlug die sozialistische Stadtregierung in Liverpool 1983-87 ein: Damals war Margaret Thatcher, der personifizierte Neoliberalismus, am Höhepunkt ihrer Macht. Dennoch beschloss die Labour-Stadtregierung, die zu einem großen Teil aus UnterstützerInnen der britischen Schwesterorganisation der SLP, der Militant Tendency (heute Socialist Party), bestand, ein „illegales“ Budget. Denn es enthielt keine Kürzungen, dafür die Pläne zum Bau und der Renovierung tausender Wohnhäuser, Arbeitszeitverkürzung und die Schaffung von tausenden Jobs im öffentlichen Sektor, den Bau von Schulen, Krankenhäusern und Parks, sie fror die Mieten ein und vieles mehr. Ihr Motto war: „It’s better to break the law than to break the poor!“ („Es ist besser, das Gesetz zu brechen, als die Armen!“) Konfrontiert mit der Bundesregierung, mobilisierten die „RebellInnen von Liverpool“ die lokale Bevölkerung und banden sie aktiv in die Umsetzung der Pläne ein. Sogar ein stadtweiter Generalstreik wurde organisiert. Die Stadtregierung gewann die Machtprobe mit Thatcher und konnte Verbesserungen für zehntausende ArbeiterInnen und Arme erreichen. Man gab sich alle Mühe, den Kampf auszuweiten und andere Städte „anzustecken“ – doch die Führung der Labour Party verhinderte dies mit allen Kräften. Mit ihrer Hilfe gelang es Thatcher, die Liverpooler Stadtregierung wegzuputschen und die anderen rebellischen Gemeinden einzuschüchtern. Doch die Gemeindebauten, Schulen und Krankenhäuser konnte sie nicht mehr abreißen.

Die Erfahrung aus Liverpool zeigt: Sozialistische Gemeindepolitik ist möglich, doch sie muss mit aller Konsequenz durchgeführt werden. Sie muss danach trachten, Widerstand auf der Straße, in Betrieben, Ausbildungsstätten usw. zu organisieren und andere Kommunen in den Kampf zu integrieren. Alleine bleibt man der Übermacht des kapitalistischen Staates ausgeliefert. Schlussendlich gibt es keine Probleme, die auf rein kommunaler Ebene gelöst werden können. Kämpfe in den Gemeinden können jedoch wichtige Anstöße zu größeren, bundesweiten und sogar internationalen Bewegungen gegen den Sparterror und den kapitalistischen Wahnsinn werden.

 

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75 Jahre Trotzki Ermordung: Trotzkismus heute

Die Bedeutung der Ideen Leo Trotzkis für das 21. Jahrhundert
von Sascha Stanicic

Hat sich die Bedeutung der Ideen Leo Trotzkis mit dem Zusammenbruch des Stalinismus vor zwanzig Jahren erschöpft? Gibt es folglich keinen Grund eine politische Bewegung aufzubauen, die sich als trotzkistisch versteht? Bedeutet das Festhalten am Trotzkismus gar rückwärtsgewandte Politik, Dogmatismus und eine Barriere für die Schaffung sozialistischer Einheit?

Diese Haltung nehmen nicht nur GegnerInnen von Trotzki und seinen Ideen ein, sondern auch so mancher frühere Trotzkist, wie zum Beispiel der Franzose Alain Krivine, der eine Rolle dabei spielte die sich als trotzkistisch verstehende Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR) mit der Gründung der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) aufzulösen. Dieser Artikel soll erklären, warum sich der Trotzkismus nicht nur durch seinen antistalinistischen Inhalt definiert und auch im 21. Jahrhundert die beste Anleitung zur Entwicklung einer sozialistischen Politik und Perspektive ist.

Trotzki gehört zweifellos zu den größten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Neben Lenin war er der wichtigste Führer des bedeutendsten Ereignisses in der bisherigen Menschheitsgeschichte: der russischen Oktoberrevolution. Allein diese Rolle würde ihm einen Platz im Olymp der Arbeiterbewegung sichern. Aber er war nicht nur ein revolutionärer Führer, Redner, Organisator, er hat nicht nur die Rote Armee aus dem Nichts geschaffen und zum Sieg im Bürgerkrieg gegen die konterrevolutionären und imperialistischen Truppen geführt. Er hat vor allem den entscheidenden Beitrag im 20. Jahrhundert geleistet, den Marxismus auf eine sich verändernde Welt anzuwenden.

Trotzkismus als marxistische Methode

Nichts anderes ist Trotzkismus: die Anwendung der marxistischen Methode in modernen Zeiten. In einigen der wichtigsten neuen Fragen, die sich der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert stellten, hat Trotzki die klarsten Antworten formuliert – und das früher als jeder andere. Er hat die Texte von Marx, Engels und Lenin nicht als in Stein gemeißelte Dogmen verstanden, sondern die ihnen zugrunde liegende Denkweise angewendet und somit den Marxismus entscheidend weiter entwickelt. Auf dogmatische MarxistInnen angesprochen soll Marx selber einmal gesagt haben, er sei kein Marxist. Trotzki würde sicher ähnlich reagieren, wenn er sehen könnte, wie einige seiner selbst ernannten Erben nur seine Worte wiederholen, anstatt seine Methode anzuwenden. Die Ideen Trotzkis, die in unzähligen Büchern, Artikeln und Briefen formuliert wurden und bis heute leider keine Zusammenfassung in einer kompletten Werkausgabe gefunden haben, müssen auch heute als Leitlinie aufgefasst und weiter entwickelt werden. Sie formulieren aber gleichzeitig zentrale Erkenntnisse und Prinzipien des Marxismus, die verteidigt werden müssen. Manche dieser Ideen waren neue Antworten auf neue Situationen, andere waren weitgehend die Verteidigung marxistischer Prinzipien gegen deren Aufgabe in den dominierenden Strömungen der Arbeiterbewegung, der reformistischen Sozialdemokratie und dem, in seiner Politik nicht minder reformistischen, Stalinismus.

Es können einige wesentliche Ideen benannt werden, die den Trotzkismus ausmachen und heute weiterhin von großer Bedeutung sind.

Die bahnbrechenden Beiträge Trotzkis zum Marxismus sind erstens die Analyse des Stalinismus und daraus ableitend Grundsätze einer sozialistischen Demokratie und zweitens die so genannte Theorie der Permanenten Revolution, die höchste Aktualität für die Aufgaben der Arbeiterbewegung in Afrika, Asien und Lateinamerika hat. Darüber hinaus sind folgende wichtigen Merkmale des Trotzkismus zu nennen: Drittens Trotzkis Faschismusanalyse und seine Vorschläge zum antifaschistischen Kampf. Viertens seine Analyse der so genannten Volksfronten, der Regierungsbündnisse von Arbeiterparteien mit bürgerlichen, pro-kapitalistischen Parteien. Fünftens das Übergangsprogramm und die diesem zugrunde liegende Methode ein Programm auszuarbeiten, das eine Brücke zwischen dem heutigen Bewusstsein der Arbeiterklasse und der sozialistischen Revolution darstellt. Sechstens das Organisationsverständnis, die Notwendigkeit revolutionäre, marxistische Organisationen aufzubauen. Siebtens der Internationalismus, sowohl im Sinne der Notwendigkeit einer internationalen sozialistischen Revolution als Teil der Theorie der Permanenten Revolution, als auch als internationalistisches Organisationsprinzip – der Schaffung einer marxistischen Internationale.

Antibürokratischer Marxismus

Ab den frühen 1920er Jahren war Trotzkis Leben vom Kampf gegen die Bürokratisierung der jungen Sowjetunion und den aufkommenden Stalinismus geprägt. Dies war ein völlig neues historisches Phänomen, das von den großen marxistischen Lehrmeistern nicht voraus gesehen werden konnte. Es ist Trotzkis größtes theoretisches Verdienst eine marxistische Analyse des Stalinismus entwickelt zu haben, die in jeder Hinsicht den Test der geschichtlichen Ereignisse bestanden hat.

Heute stellen bürgerliche Historiker Trotzki als den Verlierer eines persönlichen Machtkampfes dar und auch AnarchistInnen behaupten, wäre Trotzki erfolgreich gewesen, wäre er an Stalins Stelle zum Diktator geworden. Trotzki selber hat diese Thesen politisch und praktisch widerlegt. In seiner unvollendeten Stalin-Biographie schrieb er: “Weder Stalin noch ich sind zufällig in unsere heutigen Positionen geraten. Wir haben diese Positionen nicht erschaffen. Jeder von uns ist in dieses Drama als Vertreter bestimmter Ideen und Prinzipien hineingezogen worden. Diese Ideen und Prinzipien wiederum sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben tiefe soziale Wurzeln. Deshalb muss man nicht von der psychologischen Abstraktion von Stalin als Menschen ausgehen, sondern von seiner konkreten historischen Persönlichkeit als Führer der sowjetischen Bürokratie. Man kann die Taten Stalins nur verstehen, wenn man von den Bedingungen der Existenz der neuen privilegierten Schicht ausgeht, die gierig nach materiellem Komfort, besorgt um ihre Positionen, ängstlich vor den Massen ist und jede Opposition tödlich hasst.”

Aus dem Verständnis, dass die Bürokratie Ausdruck der sozialen Entwicklungen in der Sowjetunion war, lehnte Trotzki es ab, seinen Einfluss in der Roten Armee für ein militärisches Vorgehen gegen Stalin und seine Gefolgsleute zu nutzen. Er war sich bewusst, dass nur die unabhängige Aktion der Arbeiterklasse die Bürokratie schlagen könnte und wollte nicht einen Beitrag dazu leisten, die Parteibürokratie durch eine Militärbürokratie zu ersetzen.

Einschränkungen demokratischer Freiheiten, die Trotzki während und kurz nach dem Bürgerkrieg mitgetragen hatte, wurden von ihm, Lenin und den Bolschewiki als vorübergehende Notmaßnahmen zur Verteidigung des jungen und schwachen Arbeiterstaates verstanden, nicht als kommunistische Prinzipien. Deshalb stellte er in den Mittelpunkt des Kampfes gegen die Bürokratie die Forderung nach freier Debatte in der Kommunistischen Partei und nach der Wiederbelebung der Räte als Organe der Arbeiterdemokratie.

Seine Opposition gegen den Stalinismus fußte auf einem Klassenstandpunkt. Er verteidigte die durch die Oktoberrevolution erreichten Errungenschaften – die Verstaatlichung der Wirtschaft, die ökonomische Planung und das Außenhandelsmonopol. Er argumentierte dafür, dass Staat und Wirtschaft wieder unter die Kontrolle und Leitung der Arbeiterklasse geraten. Dies war, spätestens ab Beginn der 1930er Jahre, nur durch einen revolutionären Sturz der herrschenden Bürokratie möglich, die eine politische Konterrevolution – die politische Entmachtung der Arbeiterklasse – durchgeführt hatte. Trotzki sagte voraus, dass ohne eine solche politische Revolution, die eine sozialistische Entwicklung der Sowjetunion hätte einleiten können, eine Wiederherstellung des Kapitalismus drohe, die das Land weit zurück werfen würde. Später als vorhersehbar war, hat sich diese Perspektive 1989 bis 1991 bestätigt. Die Restauration des Kapitalismus stellte und stellt für die russischen Massen und die Bevölkerungen in den anderen ehemals stalinistischen Staaten eine soziale Katastrophe dar.

Trotzkis Stalinismusanalyse ist nicht nur von historischem Interesse. Abgesehen davon, dass sie auf die heutige Situation in Kuba anwendbar ist, bietet sie auch eine Leitlinie in Bezug auf die Bürokratisierung der venezolanischen Gesellschaft unter Hugo Chávez, auch wenn dort die kapitalistischen Verhältnisse bisher nicht abgeschafft wurden. Vor allem aber gibt sie eine Vorstellung von der sozialistischen Demokratie, die MarxistInnen anstreben. Sie führt zur Unterstreichung sozialistischer Prinzipien, die in der Pariser Kommune und der Oktoberrevolution ausgearbeitet wurden und wichtige Grundpfeiler für eine Arbeiterdemokratie darstellen müssen: die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionären, die Begrenzung von Funktionärsgehältern auf einen durchschnittlichen Arbeiterlohn, die Rotation von Ämtern, den Aufbau demokratisch strukturierter bewaffneter Staatsorgane (Milizen als Umsetzung der klassischen sozialistischen Forderung nach Volksbewaffnung) statt eines von der Gesellschaft abgehobenen stehenden Heers. Heute würden MarxistInnen aufgrund der Erfahrungen mit dem Stalinismus eine grundsätzliche Opposition gegen einen Ein-Parteien-Staat hinzufügen und das Recht zur Bildung von freien Gewerkschaften und Parteien fordern – selbstverständlich mit Ausnahme solcher faschistischer und konterrevolutionärer Parteien, die mit Waffengewalt gegen einen Arbeiterstaat vorgehen wollen.

Permanente Revolution im 20. und 21. Jahrhundert

Trotzki entwickelte aus den Erfahrungen der Russischen Revolution von 1905 und einer Analyse der russischen Gesellschaftsstruktur die These, dass in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung nicht die nationale Kapitalistenklasse die offenen Aufgaben der bürgerlichen Revolution lösen kann, sondern nur die Arbeiterklasse dies erreichen kann. Diese könne aber in einem revolutionären Prozess nicht bei den bürgerlichen Aufgaben verharren, sondern müsse zur Festigung ihrer Macht und zur Durchsetzung ihrer Interessen unmittelbar an die Aufgaben der sozialistischen Revolution gehen (siehe dazu den Artikel von Sebastian Förster auf Seite 20). Diese Revolutionskonzeption ist als Theorie der Permanenten Revolution bekannt geworden und wurde von Trotzki später verallgemeinert auf ökonomisch unterentwickelte Länder angewendet. Sie ist auch heute noch zutreffend.

Die ehemals koloniale Welt befindet sich heute in einem Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten und ihren Institutionen, wie IWF und Weltbank. Der klassische Kolonialismus wurde von einem Neokolonialismus abgelöst, der zwar formelle Unabhängigkeit bedeutet, aber real nur eine neue Form der Abhängigkeit eingeführt hat. In Ländern wie Pakistan, Nigeria oder Kolumbien gibt es keine stabilen bürgerlichen Demokratien, es herrschen weiterhin halbfeudale Zustände auf dem Land, die nationale Frage ist (wo sie existiert) ungelöst. Offensichtlich haben sich die Kapitalistenklassen in diesen Ländern als zu schwach, unfähig und unwillig zur Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution gezeigt. Das hat seine Gründe in der enormen wirtschaftlichen und militärischen Dominanz der imperialistischen Staaten, aber auch darin, dass Kapitalistenklassen und Großgrundbesitzer in solchen Ländern weitgehend eine Personalunion bilden. Die Kapitalisten haben auf dem Land investiert und die Großgrundbesitzer haben in der Industrie investiert. Es gibt kein Interesse der Kapitalisten die Landfrage zu lösen. Mehr noch: die Angst vor der Arbeiterklasse hält das schwache Bürgertum in diesen Ländern davon ab, an die Lösung dieser Fragen heranzugehen. Denn würde die Arbeiterklasse mobilisiert, gäbe es für sie keinen Grund bei den bürgerlichen Aufgaben stehen zu bleiben. Sie würde ihre sozialen Interessen zur Geltung bringen und ihre eigenen Forderungen nach höherem Lohn, menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, freien Gewerkschaften, Streikrecht, Sozialversicherungen etc. aufstellen und dafür kämpfen. Das würde sie in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu den Interessen der einheimischen Kapitalisten bringen und die Frage der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung setzen. Genau das konnte man in vielen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts beobachten.

Als die iranischen Massen 1978/79 gegen die Diktatur des Schah Reza Pahlavi aufbegehrten, spielte die Arbeiterklasse durch einen wochenlangen Generalstreik die entscheidende Rolle, das verhasste Regime zum Sturz zu bringen. In ihren Mobilisierungen gegen den Schah stellte sie aber nicht nur demokratische Forderungen auf, sondern auch soziale. Räte entstanden und Forderungen nach Verstaatlichung, zum Beispiel der Ölindustrie, wurden erhoben. Eine Republik der Armen wurde gefordert, die nur erreichbar gewesen wäre, wenn die Revolution den bürgerlich-kapitalistischen Rahmen verlassen hätte. Um das zu verhindern, musste der Kapitalismus Zuflucht zu den Islamisten um Ayatollah Khomeini nehmen, der die Revolution von innen zerstören und die Arbeiterbewegung unterdrücken konnte. Ähnliche Phänomene konnte man in Indonesien in den 1960er Jahren oder in der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 beobachten. Eine künstliche Beschränkung der sozialen Kämpfe auf bürgerlich-demokratische Forderungen entspricht nicht der gesellschaftlichen Situation und der Dynamik der Arbeiterkämpfe. Die Politik der an verschiedenen Schattierungen des Stalinismus orientierten Kräfte, auf Bündnisse mit bürgerlichen Kräften zur Erkämpfung einer kapitalistisch-demokratischen Etappe zu setzen, war zum Scheitern verurteilt. Diese auf der so genannten Etappentheorie basierende Politik verkennt, den schwachen und abhängigen Charakter des Bürgertums in diesen Ländern und schreibt diesem ein revolutionäres Potenzial zu, was es nicht hat.

Tatsächlich hat sich die Theorie der Permanenten Revolution auch in den Ländern bestätigt, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg der Kapitalismus abgeschafft wurde – wenn auch in verzerrter Form. In China, Kuba und anderen Ländern entwickelten sich aufgrund der Politik der die Arbeiterbewegung dominierenden stalinistischen und kleinbürgerlichen Kräfte zwar keine klassischen Arbeiterrevolutionen nach dem Vorbild der Oktoberrevolution, aber die Tatsache, dass der Kapitalismus unfähig war, diese Länder sozial und ökonomisch zu entwickeln, führte zu einem Vakuum, in das die Guerillas von Mao und Castro hinein stoßen konnten und das diese dazu zwang weiter zu gehen, als sie ursprünglich vor hatten (denn Mao war ein Anhänger der Etappentheorie und Castro nicht mehr als ein kleinbürgerlicher Demokrat) und die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse zu überwinden und Staaten nach dem Vorbild der stalinistischen Sowjetunion zu schaffen.

Heute sehen wir, wie revolutionäre Bewegungen in Nepal oder Venezuela in die Sackgasse geraten können, wenn sie nicht bereit sind, die Grenzen des Kapitalismus zu sprengen. Die Politik der Maoisten in Nepal, die zum Sturz der Monarchie in eine bürgerliche Regierung eintraten, zeigt keine Perspektive auf, die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen und muss zu einer Entfremdung der Massen mit ihnen führen. Unter den nepalesischen Maoisten hat das mittlerweile zu einer Debatte über die Ideen Trotzkis und über die Theorie der Permanenten Revolution geführt.

In Venezuela hatte Chávez eine Zeit lang einen positiven Bezug auf Trotzki und die Permanente Revolution propagiert, seine Ideen aber tatsächlich entstellt. Trotz einer Reihe zu unterstützender Sozialreformen und einiger Verstaatlichungen ist die Politik der venezolanischen Regierung nicht auf einen Bruch mit dem Kapitalismus ausgerichtet. Das führte in den letzten Jahren nicht nur zu einer Reduktion der Sozialprogramme aufgrund der Auswirkungen der kapitalistischen Krise, sondern auch zu einem Rückgang der Unterstützung für Chávez in der Bevölkerung. Insbesondere die stark gewachsene staatliche Bürokratie führt zu großem Unmut. Eine marxistische Politik für Venezuela und Nepal würde die selbständige Organisierung der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt rücken und für ein Programm der Verstaatlichung der entscheidenden Wirtschaftsbereiche und der Bildung einer auf Fabrik- und Nachbarschaftskomitees basierenden Arbeiterregierung kämpfen.

Trotzkis Faschismustheorie und antifaschistische Taktik

Trotzki erkannte wie kein Anderer die Gefahr, die in den 1920er und 1930er Jahren von den faschistischen Bewegungen für die Arbeiterklasse und die ganze Menschheit ausging. Immer wieder versuchte er auf die deutsche Arbeiterbewegung Einfluss zu nehmen, um die drohende Katastrophe abzuwenden.

Zwei Gedanken standen bei ihm im Mittelpunkt. Erstens, dass der Faschismus keine normale Form der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion war. Mittels seiner Massenbasis im Kleinbürgertum (kleine Gewerbetreibende, Bauern, Beamte etc.) bauten die Faschisten eine terroristische Bewegung auf, deren Ziel die völlige physische Vernichtung jeglicher Formen von Arbeiterorganisationen war. Deshalb sah er im Kampf gegen Hitler die höchste Priorität für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung. Er wies die Haltung der Kommunistischen Partei zurück, die den Faschismus-Begriff inflationär benutzte und ihn sowohl auf die halb-bonapartistischen Regierungen vor Hitler (Brüning, Papen, Schleicher) als auch auf die Sozialdemokratie anwendete. Damit wurde die besondere Gefahr, die von den Nazis ausging, relativiert und die Arbeiterklasse nicht auf die nahende Entscheidungsschlacht vorbereitet. Zweitens erkannte Trotzki, dass der Faschismus nur an die Macht gelangen kann, wenn die Kapitalistenklasse ihm dazu verhilft – wenn die Bosse und Bänker also auf die totale Vernichtung der Arbeiterbewegung setzen, um ihre Profitaussichten zu sichern und die drohende sozialistische Revolution abzuwenden. Daraus schlussfolgerte er, dass der Kampf gegen die Nazis auf einer proletarischen Klassenbasis und mit einer sozialistischen Perspektive geführt werden musste. Tatsächlich war die historische Alternative im Deutschland der frühen 1930er Jahre Sozialismus oder Faschismus . Darauf aufbauend argumentierte er für eine Einheitsfront der Arbeiterorganisationen zur Abwehr der Nazis (siehe Artikel auf Seite xx) und lehnte zum Beispiel ab, sich auf die Institutionen des bürgerlichen Staates, wie die preußische Polizei, im Kampf gegen Hitler zu verlassen.

Was können wir für den heutigen Kampf gegen NPD und Nazi-Kameradschaften daraus lernen? Natürlich ist die heutige Situation in vielerlei Hinsicht nicht mit den 1930er Jahren zu vergleichen. Weder steht der Kapitalismus kurzfristig vor der Notwendigkeit (noch wäre er dazu in der Lage) zu brutalen diktatorischen Herrschaftsmethoden zu greifen, noch besteht heute eine vergleichbare soziale Basis für eine faschistische Massenbewegung, denn das Kleinbürgertum ist in Deutschland heute viel kleiner als damals. Die Nazis haben dementsprechend keine aktive Massenbasis und erreichen in der Regel nur dann beachtliche Wahlerfolge, wenn sie ihre tatsächlichen Ziele verstecken und sich ein demokratisches Mäntelchen umlegen. Tatsächlich ist daraus das Phänomen rechtspopulistischer Parteien entstanden, die zwar extrem rassistisch und nationalistisch sein können, aber keine einer faschistischen Bewegung vergleichbare physische Bedrohung für die Arbeiterbewegung darstellen. Dass eine solche auch durch kleinere Nazi-Organisationen besteht, zeigten aber die Angriffe auf GewerkschafterInnen im letzten Jahr. Und doch sind wichtige Gedanken Trotzkis auf heute anwendbar. Zum einen der Gedanke, dass der Faschismus keine normale Form der bürgerlichen Reaktion ist und deshalb auch nicht mit normalen Mitteln bekämpft werden kann. Daraus ergibt sich eine Politik der Konfrontation der Nazis: für die Verhinderung ihrer Aufmärsche und Versammlungen. Ihnen sind demokratische Rechte zu verwehren, weil sie diese nur dazu ausnutzen, Terror zu verbreiten und die Abschaffung demokratischer Rechte vorzubereiten. Zum anderen der Gedanke, dass der Faschismus nicht gemeinsam mit den Vertretern des Kapitalismus zu bekämpfen ist. Nazis ziehen ihre Unterstützung aus dem Image, die Interessen des kleinen Mannes zu vertreten. Sie präsentieren sich als Gegner des Establishments, der Politikerkaste und oftmals auch des kapitalistischen Systems. Wie soll es da möglich sein, gemeinsam mit Vertretern dieses Establishments Menschen, die sich wegen genau dieser Ablehnung von den Faschisten angezogen fühlen oder bereit sind, ihnen eine Chance zu geben, gegen diese zu mobilisieren? Nur wenn der Kampf gegen die Nazis mit einem Kampf gegen die gesellschaftlichen Ursachen, die ihr Wachstum ermöglichen, verbunden wird, kann er auch dauerhaft erfolgreich sein.

Für unabhängige Arbeiterpolitik

Trotzkis Verdienst war nicht zuletzt die Verteidigung von Prinzipien, die die marxistische Arbeiterbewegung über viele Jahrzehnte von Kämpfen und Debatten entwickelt hatte. Rosa Luxemburg führte schon um die Jahrhundertwende den Kampf gegen den so genannten Millerandismus – die Beteiligung von SozialistInnen an bürgerlichen, pro-kapitalistischen Regierungen. Das Mitglied der französischen Sozialistischen Partei Millerand war damals als Minister in die dortige Regierung eingetreten. Luxemburg erklärte, dass man als Mitglied einer Regierung Mitverantwortung für das gesamte Handeln der Regierung übernimmt und es nicht die Aufgabe von SozialistInnen sein kann, an der Verwaltung des Kapitalismus teilzunehmen. Die Bolschewiki verfolgten im Revolutionsjahr 1917 dieselbe Politik als sie sich weigerten in die Provisorische Koalitionsregierung aus bürgerlichen Kadetten, Sozialrevolutionären und Menschewiki einzutreten und diese auch nicht von außen unterstützten. Dieses Prinzip fußte auf der Einschätzung eines unüberbrückbaren Interessengegensatzes zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse und der Unfähigkeit des Kapitalismus, auch bei so genannten Mitte-Links-Regierungen, eine dauerhafte fortschrittliche Entwicklung im Interesse der Masse der Bevölkerung zu ermöglichen. In pro-kapitalistischen Regierungen mussten die Arbeiterparteien zwangsläufig Kompromisse eingehen, die sie ihres sozialistischen und revolutionären Charakters berauben mussten, schließlich stand die Geschäftsgrundlage einer solchen Regierung im Widerspruch zum Sozialismus. Deshalb war eine unabhängige Organisierung und Politik der Arbeiterklasse notwendig und die Arbeiterparteien sollten eine solche betreiben und propagieren, nicht zuletzt um die Massen zu einem Klassenbewusstsein zu erziehen und eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft vorzubereiten.

Die stalinisierte Kommunistische Internationale brach dieses Prinzip nachdem ihre ultralinke Politik der so genannten Dritten Periode in der nahezu widerstandslosen Machtergreifung der Nazis geendet war. Nun schüttete sie das Kind mit dem Bad aus und propagierte im Kampf gegen den Faschismus die Bildung von Koalitionsregierungen mit bürgerlich-demokratischen Parteien zur Verteidigung der kapitalistischen Republik. Die bekanntesten Beispiele für solche Regierungen entstanden in Frankreich und Spanien und wurden Volksfront-Regierungen genannt. Sie spielten eine direkte Rolle bei der Verhinderung einer sozialistischen Revolution. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg traten Kommunistische Parteien in Westeuropa in bürgerliche Koalitionsregierungen ein und leisteten einen Beitrag zu Konsolidierung des Kapitalismus nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die in vielen Ländern zu starken revolutionären Bewegungen führte. Grund für diese konterrevolutionäre Politik der stalinistischen Parteien waren die Interessen der Moskauer Bürokratie. Diese sah in einer Arbeiterrevolution in einem anderen Land eine Bedrohung ihrer Machtposition, denn die Entwicklung von Arbeiterräten und sozialistischer Demokratie hätte auch für die sowjetische Arbeiterklasse ein Beispiel sein können.

Trotzki führte einen erbitterten Kampf gegen diese Volksfrontpolitik. Er erkannte, dass eine Beschränkung des antifaschistischen Kampfes in Zeiten der sozialen Revolte auf die Verteidigung der kapitalistischen Republik, und damit der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse, diesen nicht stärkt, sondern schwächt und prophezeite im Fall Spaniens, dass dies zur Niederlage der Republik führen würde. Und er betonte den konterrevolutionären Charakter solcher Volksfrontregierungen und warb für einen Bruch der Arbeiterparteien mit diesen.

Nun befinden wir uns heute nicht in einer revolutionären Periode, wie im Spanien oder Frankreich der 1930er Jahre. Die Frage der Regierungsbeteiligung von linken bzw. Arbeiterparteien mit bürgerlichen, pro-kapitalistischen Parteien ist aber brandaktuell. In Italien führte die Beteiligung der Partido Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Neugründung) an der pro-kapitalistischen Prodi-Regierung zum Niedergang der Partei, weil sie mitverantwortlich für den Sozialabbau war, von ihr als kommunistischer Partei aber eine grundlegend andere Politik erwartet wurde. Heute gibt es in Italien keinen sozialistischen oder kommunistischen Parlamentsabgeordneten – in dem Land, das einstmals die stärkste Kommunistische Partei Westeuropas vorweisen konnte!

In Deutschland ist die Partei DIE LINKE in Berlin und Brandenburg in Koalitionsregierungen mit der SPD und exekutiert eine Politik des Stellenabbaus, der Privatisierungen und verwaltet den Kapitalismus, statt alle Kraft darauf zu verwenden Selbstaktivität und Selbstorganisation der arbeitenden Bevölkerung gegen Stellen- und Sozialabbau zu fördern. Eine solche Politik, auch wenn sie mit der Motivation betrieben wird, schlimmeren Sozialabbau zu verhindern, ist mit einer sozialistischen Perspektive unvereinbar, entfremdet die bewusstesten Teile der Arbeiterklasse von der LINKEN und schwächt den Aufbau einer Gegenbewegung gegen den Kapitalismus. Sie schwächt auch DIE LINKE, wie man an den Wahlergebnissen der PDS nach den ersten Regierungsperioden in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sehen konnte.

TrotzkistInnen sind scharfe GegnerInnen einer solchen Politik des Klassenkompromisses und fordern den Austritt der LINKEN aus solchen Regierungen. Sollten sie zumindest, wie die SAV es auch tut. Wenn LINKE-PolitikerInnen, die sich als TrotzkistInnen verstehen, eine unklare Haltung zu dieser Frage einnehmen, machen sie einen schweren Fehler. Das gilt zum Beispiel für Wolfgang Zimmermann, dem Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Düsseldorfer Landtag, der sich nach den Wahlen in NRW nicht grundsätzlich gegen eine Koalition mit SPD und Grünen aussprach, sondern die Illusion verbreitete, ein Politikwechsel im Interesse der Arbeiterklasse sei mit diesen Hartz IV-Parteien möglich. Das gilt auch für Janine Wissler, LINKE-Abgeordnete im hessischen Landesparlament und Unterstützerin des aus der sich als trotzkistisch verstehenden Linksruck-Organisation hervorgegangenen Netzwerks marx21, die einer Tolerierung einer SPD/Grüne-Minderheitsregierung zustimmte, was nichts anderes ist, als eine Regierungsbeteiligung ohne Ministerposten (denn auch eine Tolerierung bedeutet einen politischen Block zu bilden, der SPD und Grünen für eine ganze Legislaturperiode die parlamentarische Unterstützung zusichert). Und es gilt für diejenigen Linken in der Berliner LINKEN, die zwar die Regierungsbeteiligung kritisieren, aber davor zurück schrecken, einen Bruch der Partei mit der SPD zu fordern. Kein Wunder, dass vor allem die UnterstützerInnen der SAV den Zorn der LINKE-Führung auf sich ziehen, weil sie nicht bereit sind in dieser entscheidenden Frage, Kreide zu fressen und auf schonungslose Kritik und praktische Opposition zu verzichten.

Für ein sozialistisches Übergangsprogramm

Jede politische Organisation oder Bewegung definiert sich in letzter Instanz durch ihr Programm. Ein Programm hat aber nicht nur die Aufgabe politischen Ziele zu benennen, sondern beinhaltet auch eine Methode, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Programme können Lippenbekenntnisse sein, wenn sie so formuliert sind, dass ihre Zielsetzungen mit der konkreten Politik der jeweiligen Organisation wenig zu tun haben. Wer glaubt der SPD zum Beispiel, dass sie für demokratischen Sozialismus eintritt, obwohl dies Teil ihres Grundsatzprogramms ist?

Ein Verdienst Trotzkis war es zur Gründung der Vierten Internationale einen Programmentwurf vorzulegen, der nicht nur die politischen Ziele und Prinzipien der neu zu gründenden Organisation zusammenfasste, sondern auch die Herangehensweise an die Entwicklung eines marxistischen Programms, wie sie schon von den Bolschewiki 1917 und der jungen Kommunistischen Internationale zu Beginn der 1920er Jahre praktiziert wurde, zu verallgemeinern. Dabei geht es um die Propagierung so genannter Übergangsforderungen, also um das Aufstellen eines Übergangsprogramms. Das Gründungsdokument der Vierten Internationale, das den Titel „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“ trug ging dementsprechend als das „Übergangsprogramm“ in die Geschichte ein.

Das Übergangsprogramm geht von einem Widerspruch zwischen der objektiven Reife der gesellschaftlichen Situation (Krise des Systems einerseits, hoher Entwicklungsstand der Produktivkräfte und von Wissenschaft und Technik andererseits) für eine sozialistische Veränderung und der subjektiven Unreife der Arbeiterklasse (Unklarheit im Bewusstsein, Schwäche und verräterische Führung ihrer Organisationen) aus. Wie schon Rosa Luxemburg sagte, besteht die Aufgabe darin, um die Macht zu erobern, erst einmal die Massen zu erobern. Ein Übergangsprogramm soll dem Rechnung tragen und eine Brücke darstellen zwischen dem aktuellen Bewusstsein und dem bestehenden Stand der Klassenkämpfe und dem Ziel der sozialistischen Revolution. Es beschreibt dementsprechend nicht die aufzubauende sozialistische Gesellschaft, sondern die Aufgaben im Übergang zu dieser und formuliert Forderungen, die dazu dienen sollen, die Arbeiterklasse von der Eroberung der Macht zu überzeugen und dafür zu mobilisieren. So heißt der Untertitel des Gründungsdokuments der Vierten Internationale: „Die Mobilisierung der Massen um Übergangsforderungen als Vorbereitung zur Eroberung der Macht“.

Was bedeutet diese Methode für die heutige Zeit? Der von Trotzki genannte Widerspruch zwischen der objektiven Reife und subjektiven Unreife für den Übergang zum Sozialismus besteht heute in noch weitaus größerer Art als 1938. Damals konnte man die Krise der Arbeiterklasse in der Krise ihrer Führung zusammen fassen, aber immerhin gab es ein weit verbreitetes sozialistisches Bewusstsein unter ArbeiterInnen und es gab starke Arbeiterparteien mit sozialistischem Anspruch, auch wenn sie von sozialdemokratischen und stalinistischen Apparaten besetzt waren. Heute gibt es nicht nur eine Krise der Führung der Arbeiterbewegung, sondern auch eine Krise des Bewusstseins und der Organisation: es gibt in der Masse der Arbeiterschaft in den meisten Ländern, sicherlich in Deutschland, kein sozialistisches Bewusstsein (wenn auch viel Sympathie für sozialistische Ideen, für Marx und große Ablehnung der Banken und Konzerne) und es gibt in den meisten Ländern keine Massenparteien der Arbeiterklasse. Auf diesen Umstand muss in der Formulierung und Präsentation eines sozialistischen Programms Rücksicht genommen werden. Das darf aber nicht so weit gehen, dass dem Programm der sozialistische Inhalt genommen wird. Die zu bauende Brücke muss tatsächlich beide Enden verbinden: das derzeitige Bewusstsein und die Notwendigkeit den Kapitalismus durch eine sozialistische Demokratie zu ersetzen. Halbe Brücken führen in den Abgrund.

Leider haben in den letzten Jahren einige Linke, darunter auch solche, die sich als TrotzkistInnen verstehen, nur halbe Brücken gebaut – und dies auch noch als Übergangsprogramm bezeichnet! Führende ProtagonistInnen der heutigen marx21-Strömung haben sich in der Gründungsphase der WASG dadurch hervor getan, dass sie es explizit ablehnten für die WASG ein sozialistisches Programm vorzuschlagen und erklärten das mit dem fehlenden sozialistischen Bewusstsein in der Bevölkerung. Dies vergaßen sie dann ganz schnell, als im Vereinigungsprozess von WASG und PDS (so gut wie) niemand mehr in Frage stellte, dass das Parteiprogramm einen sozialistischen Bezug haben sollte. Seitdem geht es eher um die spannende Frage, was Sozialismus eigentlich ist und wie er erreicht werden kann. Der Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete der LINKEN, Joachim Bischoff, hat in den letzten Jahren auch für ein Übergangsprogramm argumentiert, so wie der britische Professor und Repräsentant der dortigen Socialist Workers Party, Alex Callinicos, in seinem Antikapitalistischen Manifest von 2003. Doch beide bezeichneten ein Programm als Übergangsprogramm, das in den Grenzen keynesianischer Regulierung und Staatsintervention im Rahmen der Marktwirtschaft verharrte. Ähnliches konnte man in der Erklärung zur Euro-Krise verschiedener europäischer trotzkistischer und antikapitalistischer Organisationen aus diesem Jahr sehen. Statt für die Notwendigkeit der Überwindung der Marktwirtschaft zu argumentieren, forderte die Erklärung die demokratische Kontrolle über die Finanzmärkte – als ob etwas demokratisch kontrolliert werden kann, das blind nach eigenen Gesetzen wütet und dessen wesentliche Institutionen, Banken und andere Finanzinstitute, nicht der Gesellschaft, sondern wenigen Privatkapitalisten und Großaktionären gehören.

Ein sozialistisches Übergangsprogramm muss Rücksicht auf das bestehende Bewusstsein nehmen, darf aber nicht zu einem systemimmanenten, reformistischen Programm degradiert werden. Es muss die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Krisen und Probleme der Welt zu lösen, zum Ausgangspunkt nehmen und davon Forderungen ableiten, die an diese Ursache rangehen. In der heutigen Zeit der größten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise seit achtzig Jahren, der massiven Überkapazitäten und der drohenden profitgetriebenen ökologischen Katastrophe gilt das umso mehr. Deshalb hat kein Programm die Bezeichnung sozialistisch oder Übergangsprogramm verdient, das nicht die Eigentumsfrage als wesentliche Frage aufwirft und die Verstaatlichung unter demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung der Banken und Konzerne und von Unternehmen, die Massenentlassungen planen und Produktionsstätten schließen, fordert.

Doch ein Programm existiert nicht nur auf dem Papier. Es muss im Klassenkampf angewendet werden. TrotzkistInnen sind keine Hinterzimmerrevolutionäre. Sie bringen sich auf allen Ebenen aktiv in Bewegungen und Kämpfe ein, versuchen diese zu stärken, machen Vorschläge für erfolgversprechende Strategien und tragen in diese Kämpfe ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Perspektive.

Revolutionäre Organisation

Nicht selten werden TrotzkistInnen belächelt, weil es relativ viele Organisationen gibt, die sich auf den Trotzkismus beziehen (siehe dazu Wolfram Kleins Artikel auf Seite 34). Ihnen wird Sektierertum, Dogmatismus und Spaltungswut vorgeworfen. Es gibt gute und schlechte Gründe für die Aufspaltung der trotzkistischen Bewegung in viele verschiedene Verbände. Es ist nicht Aufgabe dieses Artikels diese darzulegen. Jedoch kommt in der Existenz dieser Organisationen eine Grundidee Trotzkis zum Ausdruck, die dieser wiederum von Lenin aufgenommen und verteidigt hat: die zentrale Bedeutung einer revolutionär-marxistischen Organisation mit einer klaren politischen Vorstellung, sei sie noch so klein und schwimmt sie noch so sehr gegen den Strom. Die Geschichte des Bolschewismus ist dafür der wichtigste historische Beleg.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von Beispielen für die Bedeutung einer revolutionären Organisation in revolutionären Situationen – bis auf die erfolgreiche Oktoberrevolution leider Negativbeispiele. In unzähligen Situationen haben die Massen unter Beweis gestellt, dass sie Revolution „machen können“. Deutschland 1918/19, Ungarn 1919, Spanien 1936, Ungarn 1956, Iran 1978/79, Frankreich 1968, Portugal 1974 – die Liste ließe sich fortsetzen. Doch Revolution machen ist eine Sache. Sie zu einem dauerhaften Erfolg führen und eine neue staatliche Ordnung schaffen und verteidigen eine andere. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies ohne eine starke, vorbereitete und mit politischer Klarheit ausgestattete revolutionäre Organisation nicht möglich ist. Das war der entscheidende Unterschied in Russland 1917. Hier war die bolschewistische Partei in der Lage die Mehrheit in den Arbeiter- und Soldatenräten zu gewinnen und diese mit einem Programm und einer Strategie zur erfolgreichen Machteroberung zu führen. Die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation ergibt sich daraus, dass die Arbeiterklasse kein monolithischer Block ist. Sie besteht aus verschiedenen Schichten mit unterschiedlichen Erfahrungen und Bewusstsein. Die Zusammenfassung der fortgeschrittensten Teile der Klasse in einer Organisation ist nötig, um ein Programm, eine Strategie und Taktik auszuarbeiten und in revolutionären Situationen zur Anwendung kommen zu lassen. Eine solche Organisation kann nicht in einer Revolution selber geschaffen werden. Ihr Kern muss vorher gebildet, geschult, vorbereitet werden. Das hat nicht zuletzt der tragische Verlauf der deutschen Novemberrevolution gezeigt, als die neu gebildete Kommunistische Partei Deutschlands zu unreif und zu schlecht organisiert war, um im Verlauf der Revolution die Mehrheit der Arbeiterschaft von ihrem Programm zu überzeugen. Die Aufrechterhaltung einer marxistischen Organisation in nicht-revolutionären Zeiten dient aber nicht nur zur Vorbereitung, sondern auch zur Weiterentwicklung der marxistischen Theorie. Ohne eine marxistische Theorie, die auf der Höhe der Zeit ist, kann diese auch keine Anleitung zur Aktion in revolutionären Situationen sein. Sie muss permanent diskutiert, geprüft, getestet werden. Das ist nur in einem kollektiven Prozess der Diskussion und des Handelns möglich und kann nicht die Aufgabe von Einzelpersonen sein, mögen sie auch noch so genial sein. Auch Trotzki brauchte den Austausch mit seinen GesinnungsgenossInnen. In der heute noch komplexeren Welt gilt das umso mehr. Die Beteiligung am Aufbau einer revolutionär-marxistischen Organisation ist deshalb für jeden Trotzkisten und jede Trotzkistin unverhandelbare Kernaufgabe.

Der Aufbau einer solchen Organisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Sektierertum oder Spalterei und steht nicht im Widerspruch zum Aufbau breiter Organisationen der Arbeiterklasse, seien es Gewerkschaften, Aktionskomitees oder auch breite Arbeiterparteien. Die SAV ist seit Mitte der 1990er Jahre für den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei eingetreten. Dies war und ist eine Anerkennung der Tatsache, dass die Arbeiterbewegung nach dem Zusammenbruch des Stalinismus stark geschwächt wurde. Die Schaffung einer Massenpartei von ArbeiterInnen wäre in der heutigen Situation ein großer Fortschritt, auch wenn diese nicht auf einem klaren sozialistischen Programm basieren würde, solange sie die grundlegenden Klasseninteressen der ArbeiterInnen verteidigt. Eine solche Partei böte ein Forum zum gemeinsamen Kampf und zur Debatte über die Frage, wie ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Politik aussehen sollen. Die SAV hat die WASG als einen Schritt in Richtung des Aufbaus einer solchen Partei betrachtet und deshalb haben SAV-Mitglieder von Beginn an energisch die WASG mit aufgebaut. Auch DIE LINKE bietet einen Ansatz zur Schaffung einer Arbeiterpartei, wenn dies auch durch den offen sozialliberalen Flügel der BefürworterInnen von Regierungskoalitionen mit der SPD verkompliziert wird. Deshalb arbeiten SAV-Mitglieder in der LINKEN und ihrem Jugendverband mit und setzen sich gleichzeitig für die Bildung eines starken linken, sozialistischen Flügels als Opposition gegen den Kurs der Regierungsbeteiligung ein.

Internationalismus

Der Marxismus war von Beginn an eine internationalistische Lehre, zusammen gefasst in dem berühmtem Schlusssatz des Kommunistischen Manifests: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Die Organisation, für die dieses Manifest verfasst wurde – der Bund der Kommunisten – verstand sich als eine internationale Verbindung. Diese Einsicht ergab sich aus der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, die einen Weltmarkt geschaffen hat, aber den Nationalstaat nicht überwinden kann. Sie setzt die ArbeiterInnen verschiedener Betriebe und verschiedener Länder, Stichwort „Standortsicherung“, in Konkurrenz zueinander. Nur durch die überbetriebliche und internationale Vereinigung der Beschäftigten kann dieser Versuch der Spaltung gekontert werden. Gleichzeitig kann es keinen Sozialismus in einem Land geben. Sozialismus knüpft an der höchsten im Kapitalismus erreichten Produktivkraftentwicklung an, dazu gehört die Internationalisierung von Produktion und Handel. Eine auf ein Land oder einige Ländern begrenzte Revolution, das zeigt das Beispiel Sowjetrusslands, kann auf Dauer keine sozialistische Entwicklung einleiten. Deshalb ist der Gedanke der internationalen Revolution ein Kernbestandteil der Theorie der Permanenten Revolution. Deshalb ergriffen die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht mit dem Gedanken, dass sie diese nur werden halten können, wenn die Revolution auch im Rest Europas siegen würde.

Dieser Internationalismus der marxistischen Arbeiterbewegung wurde von den Reformisten und Stalinisten verraten. Diese haben sich letztlich auf nationale Standpunkte gestellt. Die reformistischen Sozialdemokraten auf den Standpunkt der eigenen nationalen Kapitalistenklasse, die Bürokratie in den stalinistischen Ländern entwickelten ebenso nationalistische Positionen, was zu Konflikten und Brüchen, zum Beispiel zwischen Moskau und Belgrad und zwischen Moskau und Peking führte.

Es waren Trotzki und die TrotzkistInnen, die am klassischen Internationalismus der Arbeiterbewegung festhielten und das Erbe von Rosa Luxemburg und Lenin, für die die Schaffung einer neuen Internationale nach dem Verrat der sozialistischen Zweiten Internationale die höchste Aufgabe war, retteten.

Trotzkismus bedeutet deshalb immer internationalistische Politik und das Einnehmen einer internationalistischen Perspektive. Kein Zufall, dass es zum Beispiel das Komitee für eine Arbeiterinternationale (englische Abkürzung CWI für Committee for a Workers International) war, das 1992 die Kampagne „Jugend gegen Rassismus in Europa“ anstieß und die erste europaweite Großdemonstration mit 40.000 Menschen gegen Rassismus und Faschismus in Brüssel organisierte. Kein Zufall, dass der irische CWI-Europaparlamentarier Joe Higgins die Initiative in der linken Fraktion des Europaparlaments für die Ausrufung einer internationalen Aktionswoche im Juni gegen die Krise und zur Solidarität mit der griechischen Widerstandsbewegung ergriff. Aber nicht nur das. Trotzkismus bedeutet auch den Kampf um die Schaffung einer Arbeiterinternationale fortzusetzen. Das CWI versteht sich als ein Nukleus einer solchen Arbeiterinternationale. Zu ihm gehören marxistische Gruppen und Organisationen in über vierzig Ländern auf allen Kontinenten der Erde. Es ist eine lebendige und demokratische internationale Gemeinschaft, die mit einem regen internationalen Austausch diskutiert, Positionen entwickelt und handelt.

Fazit

Trotzkismus ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern nichts weiter als moderner Marxismus. Er hat sich mit dem Zusammenbruch des Stalinismus nicht überlebt, sondern bietet weiterhin die entscheidenden Ideen und Anleitungen um den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts richtig zu analysieren und eine Strategie zu seinem Sturz auszuarbeiten. Am Trotzkismus, und auch an der Begrifflichkeit, festzuhalten ist nicht Ausdruck von Rückwärtsgewandtheit oder Dogmatismus, sondern einem Verständnis der historischen Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung und eine Verteidigung der in 150 Jahren erarbeiteten und in zähen Kämpfen verteidigten revolutionären und internationalistischen Grundsätze.

 

Veranstaltung mit Helmut Dahmer: 75 Jahre Trotzki-Ermordung - Sozialismus statt Barbarei

Theorie und Praxis jenseits von Reformismus und Stalinismus

Diskussionsveranstaltung mit Proffesor Helmut Dahmer.

18.8. ab 19:00 Uhr, Piizzeria Delfino Engerthstraße 92 (Nähe Handelskai)

https://www.facebook.com/events/397579900432009/

75 Jahre nach der Ermordung von Leo Trotzki bleiben seine Ideen hochaktuell für eine Periode, die von wirtschaftlichen Krisen und sozialen Kämpfen geprägt ist. Eine Sommerdebatte der Sozialistischen LinksPartei mit Professor Helmut Dahmer, Herausgeber der Schriften Leo Trotzkis und Autor zahlreicher Bücher über Marxismus und Psychoanalyse. Im Rahmen der Debatte werden auch die Theorien von Walter Benjamin, dessen Tod sich ebenfalls zum 75. Mal jährt beleuchtet und die Gemeinsamkeiten der beiden herausgearbeitet.

„Die Welt steht auf keinen Fall mehr lang“ - was bei Nestroy noch satirisch gemeint war, klingt heute nach bitterem Ernst. Im Osten Europas ist der imperialistische Krieg zurück. Im Süden werden ganze Bevölkerung dem Spardiktat geopfert – wer, wie in Griechenland, versucht, sich zu wehren, bekommt die volle Härte des Systems zu spüren. Im Nahen und Mittleren Osten breitet sich der Terror und die Barbarei des „Islamischen Staates“ aus. Mörderische Konflikte zwingen Hunderttausende zur Flucht. Die wenigen, die es nach Europa schaffen, werden wie Tiere behandelt und sehen sich einer Welle von Rassismus ausgesetzt. Unterdessen kracht es weiter in der Weltwirtschaft, in China erscheint die nächste Mega-Krise am Horizont. In Zeiten der sich immer verschärfenderen wirtschaftlichen und sozialen Krisen, des Aufschwungs von Klassenkämpfen, des Ausbruchs revolutionärer Bewegungen und blutiger Konterrevolutionen müssen Linke Theorie und Praxis sowie Erfahrungen aus der Vergangenheit und der Gegenwart gekonnt verbinden. Dafür bietet es sich an, sich anlässlich der 75. Todestage von Leo Trotzki und Walter Benjamin mit den Gedanken und Methoden des kritischen, revolutionären Marxismus auseinanderzusetzen. Dazu wollen wir mit dieser Veranstaltung beitragen. Wir laden sowohl EinsteigerInnen als auch Fortgeschrittene ein, mitzudiskutieren und aktiv zu werden. Denn nur mit einer radikalen (also an die Wurzel des Problems gehenden) Kritik des Kapitalismus und einer systemüberwindenden, sozialistischen Perspektive kann dem Strudel der kapitalistischen Barbarei entkommen werden.

Am 21.8.1940 starb der russische Revolutionär Leo Trotzki an den Folgen eines Mordattentats am Vortag. Der Täter, Ramón Mercader, war ein Geheimagent Stalins. Die Ermordung Trotzkis stellte den Höhepunkt einer jahrelangen erbarmungslosen Kampagne gegen revolutionäre SozialistInnen durch den Stalinismus dar. Der lange Arm der stalinistischen Konterrevolution, welche jedes Aufbäumen für eine weltweite demokratische und sozialistische Gesellschaft niederhalten wollte, reichte bis nach Mexiko, wo sich Trotzki im Exil befand.
Die Ideen der beiden sind für Linke besonders heute hochaktuell. Trotzki verteidigte auch in einer scheinbar aussichtslosen Periode energisch die Möglichkeit und die Notwendigkeit eines weltweiten Sturzes des Kapitalismus - ein System, welches auch heute immer deutlicher zeigt, dass es dem Großteil der Menschheit nichts zu bieten hat außer Armut, Arbeitslosigkeit, Krisen und Kriege. Seine Theorie der Permanenten Revolution bietet unverzichtbares Handwerkszeug zur Analyse der verhinderten Revolutionen im Nahen und Mittleren Osten. Seine Anstöße zum Aufbau, dem Programm und dem Zugang sozialistischer Organisationen sind heute angesichts des riesigen Spalts zwischen der Notwendigkeit einer starken Linken und der realen Schwäche der ArbeiterInnenbewegung so wichtig wie selten zuvor.

„Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf. [...] Ob recht oder schlecht, aber auf der Berechnung der Veränderungen des Massenbewußtseins begründet die revolutionäre Partei ihre Taktik. Der historische Weg des Bolschewismus zeigt, daß eine solche Berechnung, wenigstens in ihren gröbsten Zügen, möglich ist.“ - Leo Trotzki

Einen Monat nach Trotzkis Ermordung, am 26.9.1940, nimmt sich der deutsche marxistische Philosoph Walter Benjamin auf der Flucht vor dem Faschismus das Leben. Auch er stand für einen kritischen Marxismus, der sich gegen die versteinerten Dogmen der Sozialdemokratie einerseits und des Stalinismus andererseits wandte. Benjamins Auseinandersetzung mit Technik und Kultur, ihrem fortschrittlichen Potential und ihrer zerstörerischen Wirkung im Kapitalismus bietet für das Zeitalter des Internets und der Drohnen zahlreiche wichtige Erkenntnisse. Seine radikale Kritik bürgerlicher Ideologie und sein Beharren auf dem Klassenkampf als einziger Ausweg aus der Barbarei ist heute, wo wir uns gegenseitig im Namen von Religionen und Vaterländern wieder die Köpfe einschlagen sollen, von großer Bedeutung.

„Der imperialistische Krieg ist in seinen grauenhaftesten Zügen bestimmt durch die Diskrepanz zwischen den gewaltigen Produktionsmitteln und ihrer unzulänglichen Verwertung im Produktionsprozeß (mit anderen Worten, durch die Arbeitslosigkeit und den Mangel an Absatzmärkten). Der imperialistische Krieg ist ein Aufstand der Technik, die am »Menschenmaterial« die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat. Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt sie den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen [Flugzeugen, Anm.] zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin.“ - Walter Benjamin

 

Permanente Revolution im 21. Jahrhundert

Von Rojava bis Sozialabbau: 75 Jahre nach dem Mord in Mexiko bleibt Leo Trotzki nach wie vor aktuell
Jan Rybak

Veranstaltung am 18. August:

 https://www.slp.at/termine/mit-helmut-dahmer-75-jahre-trotzki-ermordung-sozialismus-statt-barbarei

Kurz vor seiner Ermordung durch einen Agenten der stalinistischen Geheimpolizei schrieb Leo Trotzki 1940: „Die Rache der Geschichte ist schrecklicher als die des mächtigsten Generalsekretärs. Ich wage zu glauben, dass das tröstlich ist.“ Auch wenn sich die stalinistische Diktatur in der Sowjetunion und anderen Ländern länger halten konnte als erwartet, so erwies sich letztlich die Analyse ihres schärfsten Kritikers als zutreffend. Aber Leo Trotzki ist nicht nur Analytiker und Gegner der stalinistischen Degeneration sowie historische Figur der Russischen Revolution und Personalisierung ihrer politischen Kontinuität. Viele seiner Positionen sind nach wie vor brandaktuell.

Trotzki – und implizit auch Lenin – hatten aus der gescheiterten Revolution 1905-7 eine zentrale Schlussfolgerung gezogen: dass in einem Land, in dem die kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen noch unterentwickelt sind und v.a. keine starke, selbständige bürgerliche Klasse existiert, es letztlich die ArbeiterInnen und Armen sein müssen, die, ausgehend von bürgerlichen Forderungen (demokratische Rechte, nationale Selbstbestimmung etc.) zur Überwindung kapitalistischer Eigentums- und Herrschaftsform selbst übergehen. Die Richtigkeit dieser Theorie zeigt sich heute etwa in Rojava (Syrisch-Kurdistan): Der regionale Zusammenbruch des syrischen Machtapparats, mit dem das hochkonzentrierte nationale Kapital aufs Engste verbunden ist und die massive Kapitalflucht im Zuge des Bürgerkriegs, lassen keinen Raum für eine selbständige bürgerlich-demokratische Entwicklung. Es sind entweder die ArbeiterInnen und Armen Rojavas, die sich für nationale Selbstbestimmung und demokratische und ökonomische Entwicklung einsetzen, oder es ist niemand. Das Entstehen von Komitees in Stadtteilen und Betrieben, Resultate aus der Schwäche der nationalen Bourgeoisie, können perspektivisch Elemente sozialistischer Vergesellschaftung darstellen. Die Widersprüchlichkeit der Situation in Rojava kann letztlich nur in einer sozialistischen Gesellschaft aufgelöst werden, da für die Erfüllung vermeintlich simpler bürgerlich-demokratischer Forderungen (die alte, stalinistische Etappentheorie) keine sozioökonomische Grundlage besteht. Daher besteht letztlich keine andere Möglichkeit, als an das Konzept der Permanenten Revolution anzuknüpfen und den direkten Übergang zu einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft zu organisieren.

Auf einer praktischen Ebene – für MarxistInnen vor Ort – besteht die Aufgabe darin, an tagtäglichen Forderungen und Bedürfnissen der Menschen anzuknüpfen, diese in Verbindung mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zu setzen und ihre Erfüllung an die Überwindung dieser zu knüpfen. Was im „Großen“ (etwa in Rojava) gilt, steht auch im „Kleinen“ auf der Tagesordnung. Viele soziale Errungenschaften der 60er und 70er Jahre, die oft als Selbstverständlichkeit angesehen werden (8-Stunden-Tag, Arbeitslosen-, Gesundheits- und Krankenversorgung etc.), stehen heute unter Beschuss. Was in der Vergangenheit im Kontext eines langen wirtschaftlichen Aufschwungs erreicht wurde, wird heute mit dem Vorwand, man könne sich dies „nicht mehr leisten“ abgebaut. Es liegt nicht an individueller Gier oder Bösartigkeit, sondern in der dem Krisenkapitalismus und seiner Verwaltung innewohnenden Logik, dass man sich viele Sozialleistungen tatsächlich nicht mehr leisten KANN, wenn man die Profite erhalten will. Das ist nicht zynisch, sondern bedeutet nur, dass moralische Appelle an ein vermeintliches „soziales Gewissen“ nichts bringen. In Zeiten der Krise können soziale Standards im Rahmen des Kapitalismus letztlich kaum verteidigt und noch weniger ausgebaut werden (im Gegensatz zu allem, was wohlmeinende SozialdemokratInnen behaupten). Daher ist es notwendig, an die tagtäglichen Forderungen zur Verteidigung sozialer Errungenschaften anzuknüpfen und von diesen ausgehend den Kampf zur Überwindung des Kapitalismus zu organisieren; nicht nur weil der uns den ganzen Mist eingebrockt hat, sondern weil in Krisensituationen in seinem Rahmen keine weitreichenden Zugeständnisse mehr möglich sind.

Der Kern liegt in einer unabhängigen Organisation der ArbeiterInnenklasse und einem unabhängigen Standpunkt. Das bedeutet, im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus, im Widerstand gegen Sozialkürzungen etc. sich nicht auf Bündnisse mit vermeintlich „fortschrittlichen“ Bürgerlichen zu verlassen. Denn diese mögen moralisch angewidert sein von Rassismus und Faschismus, verteidigen aber gleichzeitig ein System, das eben jene soziale Misere erzeugt, die die Basis ist, auf der sich die Rechten aufbauen. Es ist unumgänglich, eine unabhängige, sozialistische Position einzunehmen und den Kampf um tägliche Notwendigkeiten mit jenem zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verbinden. Das heißt auch, nicht beim Lesen und der Kritik stehen zu bleiben, sondern die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, sich zu organisieren und eine revolutionäre, sozialistische ArbeiterInnenpartei (mit) aufzubauen.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Otto Bauer: Ein kritischer Nachruf

Fabian Lehr

Otto Bauer wird am 5.9.1881 als Sohn eines aus Nordböhmen stammenden Textilgroßindustriellen geboren. Bauer, das ist für sein späteres Werk wohl nicht irrelevant, verbringt seine ganze Kindheit und Jugend in einem rein großbürgerlichen, überwiegend akademischen Umfeld, und Akademiker zu sein heißt sozial noch einmal etwas anderes in der Welt um 1900, in der etwa 1% eines Jahrgangs studieren. Bauer ist schon als junger Mann finanziell unabhängig, nach heutigem Geldwert beträgt sein Vermögen am Vorabend des ersten Weltkriegs etwa anderthalb Millionen Euro. Das zu konstatieren ist keine Kritik an Bauer - Lenin stammte aus nicht viel ärmlicheren Verhältnissen, aber es prägt Bauers politisches Wirken, dass er mit der sozialen Welt außerhalb des gehobenen gebildeten Bürgertums niemals persönlich kennenlernt. In seinem mit der Promotion 1906 abgeschlossenen Jus-Studium ist Bauer unter anderem Schüler des bürgerlichen Ökonomen Böhm-Bawerk, der sich die ökonomische Widerlegung des Marxismus zum Ziel gesetzt hatte und mit dem der junge Sozialist Bauer sich heftige Kontroversen im Seminarraum liefert. In seine Studienzeit fällt auch der Beginn seines Engagements in der österreichischen Sozialdemokratie, wo er schon 1907 mit seinem Werk über die Nationalitätenfrage auffällt und zusammen mit Max Adler, Rudolf Hilferding und Karl Renner durch Gründung der Zeitschrift "Zukunft" die Grundlagen des Austromarxismus legt. Dieser austromarxistische Zirkel zählt, das muss man gerade in Hinblick auf seine spätere Rolle betonen, unter den Parteitheoretikern anfangs eher zum linken Flügel der Partei, VC wobei es auch innerhalb dieses Kreises große Differenzen gibt, Otto Bauer unter den Austromarxisten tendenziell am weitesten links, Karl Renner am weitesten rechts steht.

Obwohl die österreichische Sozialdemokratie im frühen 20. Jahrhundert einen ähnlichen reformistischen Degenerationsprozess erlebt wie die SPD in Deutschland, gibt es doch einen wichtigen Unterschied: In Österreich gibt es keinen prominenten revolutionär kämpferischen Flügel, es gibt keine österreichische Rosa Luxemburg und keinen österreichischen Karl Liebknecht. Trotzki liefert in seinen Memoiren eine anschauliche, leicht humoristisch gefärbte Schilderung der Atmosphäre im sozialdemokratischen Milieu Vorkriegsösterreichs: "Hilferding brachte mich zuerst mit seinen Wiener Freunden zusammen: Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner. Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wussten als ich. Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer ersten Unterhaltung im Café Zentral zugehört. Doch schon sehr bald gesellte sich zu meiner Aufmerksamkeit ein Erstaunen. Diese Menschen waren keine Revolutionäre. Mehr noch: sie stellten einen Menschentypus dar, der dem Typus des Revolutionärs entgegengesetzt war. Das äußerte sich in allem: in der Art, wie sie an Fragen herangingen, in ihren politischen Bemerkungen und psychologischen Wertungen, in ihrer Selbstzufriedenheit – nicht Selbstsicherheit, sondern Selbstzufriedenheit –; mir war mitunter sogar als vernähme ich schon in der Vibration ihrer Stimmen das Philistertum. Besonders verblüffte mich, dass diese gebildeten Marxisten absolut unfähig waren, die Marxsche Methode anzuwenden, sobald es um große politische Probleme, besonders um deren revolutionäre Wendungen ging. Zuallererst überzeugte ich mich davon bei Renner. Wir blieben lange im Café sitzen, es gab keine Tram mehr nach Hütteldorf, wo ich wohnte, und Renner schlug mir deshalb vor, bei ihm zu übernachten. Dieser gebildete und begabte habsburgische Beamte war damals noch weit entfernt von dem Gedanken, dass das unglückliche Schicksal Österreich-Ungarns, dessen historischer Advokat er war, ihn nach einem Jahrzehnt zum Reichskanzler der österreichischen Republik machen würde. Unterwegs aus dem Café nach Hause sprachen wir über die Perspektiven der Entwicklung Russlands, wo sich zu jener Zeit die Konterrevolution bereits gefestigt hatte. Renner sprach über diese Fragen mit der Höflichkeit und Gleichgültigkeit eines gebildeten Ausländers. Das österreichische Ministerium des Barons Beck beschäftigte ihn viel stärker. Das Wesentliche seiner Ansichten über Russland lief darauf hinaus, dass der Block der Gutsbesitzer mit der Bourgeoisie, der nach der Staatsumwälzung vom 16. Juni 1907 seinen Ausdruck fand in der Stolypinschen Konstitution, der Entwicklung der Produktivkräfte des Landes entspräche und folglich Chancen habe, bestehen zu bleiben. Ich erwiderte ihm, dass nach meiner Ansicht der regierende Block der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie eine zweite Revolution vorbereite, die wahrscheinlich das russische Proletariat an die Macht stellen werde. Ich sehe unter der nächtlichen Straßenlaterne noch den flüchtigen, fassungslosen und herablassenden Blick Renners. Er hielt sicherlich meine Prognose für die Phantastereien eines politischen Analphabeten, etwa in der Art der Prophezeiungen jenes australischen Mystikers der einige Monate vorher an dem internationalen Sozialistenkongress zu Stuttgart Tag und Stunde der kommenden Weltrevolution vorausgesagt hatte. „Glauben Sie’s?“ fragte Renner. „Es ist möglich, dass ich die russischen Verhältnisse nicht genügend übersehe“, fügte er mit vernichtender Höflichkeit hinzu. Wir hatten keinen gemeinsamen Boden für die Fortsetzung des Gesprächs. Mir wurde klar, dass dieser Mensch von der revolutionären Dialektik ebenso weit entfernt war wie der konservativste der ägyptischen Pharaonen. Die ersten Eindrücke vertieften sich in der Folge nur. Diese Menschen wussten viel und waren fähig, im Rahmen der politischen Routine – gute marxistische Aufsätze zu schreiben. Aber es waren mir fremde Menschen. Davon überzeugte ich mich um so stärker, je mehr sich der Kreis meiner Verbindungen und Beobachtungen erweiterte. Im ungezwungenen Gespräch untereinander zeigten sie viel offener als in Artikeln und Reden bald einen unverhüllten Chauvinismus, bald die Prahlsucht des gemeinen Besitzers, bald den heiligen Schauer vor der Polizei, bald das vulgäre Benehmen gegen die Frau. Ich konnte nur erstaunt innerlich ausrufen: „Das sind schon Revolutionäre! „ Ich meinte damit nicht die Arbeiter, bei denen man natürlich ebenfalls nicht wenige spießige Eigenschaften, nur einfachere und naivere, finden konnte. Nein, ich begegnete der Blüte des österreichischen Vorkriegsmarxismus, Abgeordneten, Schriftstellern, Journalisten. Bei diesen Begegnungen lernte ich verstehen, welche verschiedenartigen Elemente die Psyche eines einzigen Menschen zu bergen fähig sein kann und wie weit es ist von der passiven Aufnahme bestimmter Teile eines Systems bis zu dem psychischen Erleben und zur Selbsterziehung im Geiste dieses Systems. Der psychologische Typus des Marxisten kann nur in der Epoche der sozialen Erschütterungen, des revolutionären Bruchs mit den Traditionen und Gewohnheiten entstehen. Der Austromarxist aber erwies sich zu oft als ein Philister, der den einen oder den anderen Teil der Marxschen Theorie studierte, wie man Jus studiert, und von den Prozenten vom Kapital lebt. Im alten, kaiserlichen, hierarchischen, betriebsamen und eitlen Wien titulierten die Marxisten einander wonnevoll mit „Herr Doktor“. Die Arbeiter redeten die Akademiker oft mit „Genosse Herr Doktor“ an. Während der ganzen sieben Jahre, die ich in Wien verlebte, war es mir nicht möglich, auch nur mit einer dieser Spitzen mich offen auszusprechen, obwohl ich Mitglied der österreichischen Sozialdemokratie war, ihre Versammlungen besuchte, an ihren Demonstrationen teilnahm, an ihren Organen mitarbeitete und manchmal meine Referate in deutscher Sprache hielt. Ich empfand die sozialdemokratischen Führer als fremde Menschen, während ich gleichzeitig in Versammlungen oder bei Maidemonstrationen mühelos eine gemeinsame Sprache mit den sozialdemokratischen Arbeitern fand."

Unter diesen Bedingungen kann sich Bauer, der sich in der Theorie gegen den von Bernstein begründeten Revisionismus wehrt und auf der proletarischen Revolution als Endziel beharrt, als linker Kopf der Partei profilieren, ja, er wird oft als dogmatischer orthodoxer Marxist kritisiert. Trotzdem zeigt Bauer schon vor dem ersten Weltkrieg Züge, die zu einem reformistischen Weg einladen. So ist er zwar von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt, aber diese soll erst erfolgen, wenn die Sozialdemokratie die parlamentarische absolute Mehrheit für sich gewonnen hat - ein Ziel, das weder die deutsche Sozialdemokratie noch die österreichische in Monarchie und erster Republik jemals erreichen wird. Auch strebte Bauer in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg nicht etwa die Zerschlagung des Habsburgerreiches an, sondern dessen Reform mit innerer Demokratisierung und größerer Autonomie für die einzelnen Nationalitäten - dass er dabei nicht explizit die Abschaffung der Monarchie forderte, mag man mit Zensurrücksichten erklären, aber auch die Tatsache, dass die große Mehrheit der TschechInnen, SlowakInnen, KroatInnen usw. schon damals unleugbar keine weitere staatliche Union mehr wünschten, wird von Bauer nicht thematisiert, ein Selbstbestimmungsrecht der Nationen bis hin zur Abspaltung gesteht er ihnen nicht zu. Dabei gelingt es Bauer, sein Eintreten für den Fortbestand des Reiches mit einem ausgeprägten Deutschnationalismus zu verbinden, Österreich als deutschen Staat zu bezeichnen und schon in seinem Buch zur Nationalitätenfrage von 1907 die Überlegenheit der deutschen Kultur über die aller anderen Nationalitäten im Habsburgerreich zu betonen. Bei seiner Analyse der Nationalitätenfrage vertritt Bauer eine völlig ahistorische, metaphysische Auffassung von Nationalität, Nationen scheinen für ihn nicht Produkte der modernen bürgerlichen Entwicklung zu sein, sondern etwas Ewiges, von der Wirtschafts- und Gesellschaftsform Unabhängiges, so spricht er von „Nationen“ bzgl. der antiken Germanen. Diese eigenartige Verbindung von Deutschnationalismus und grundsätzlicher Loyalität gegenüber der Habsburgermonarchie war die Brücke, die es Bauer ermöglichte, die auf dem Papier weiterhin anerkannte marxistische Orthodoxie in der Praxis mit revisionistischen, staatsloyalen Positionen zu verbinden. Trotz seiner ständigen Reibereien mit Victor Adler war es darum nicht sehr verwunderlich, als Bauer sich bei Kriegsausbruch 1914 auf dessen kaisertreuen Kurs begab, begeistert als Offizier an die Front zog und vorher noch die ArbeiterInnen folgendermaßen ermahnte: "Zeigt, dass es auch in unseren Reihen keine Fahnenflucht gibt! Dass auch die Männer des Klassenkampfes bis zum letzten Atemzug zu ihrer Fahne stehen!" Anders als viele anfangs kriegsbejahende SozialdemokratInnen, die im späteren Kriegsverlauf unter dem Eindruck der Massenschlächterei umschwenkten (Siehe dazu die USPD in Deutschland), blieb Bauer jahrelang von der Notwendigkeit des Kampfes überzeugter Patriot, der noch 1917 schrieb: "Als im Jahre 1914 der Krieg ausbrach, eilten die Arbeiter aller Länder an die Front, ihr Vaterland zu verteidigen. Mit der Waffe in der Hand schützten sie ihr Vaterland gegen die Gefahr, die die Niederlage im Krieg über sie verhängen konnte. Das war, da der Krieg nun einmal ausgebrochen war, auch nach unserer Meinung das Recht und die Pflicht der Arbeiter aller Länder." Wohlegemerkt: Bauer schreibt nicht einmal, dass es nur für die österreichischen und deutschen Arbeiter eine Pflicht gewesen sei, für Kaiser und Vaterland zu den Waffen zu greifen, weil ihre Seite im Recht sei, sondern: Die Arbeiter ALLER Länder waren laut Bauer verpflichtet, sich als gute patriotische Soldaten verheizen zu lassen, auch wenn, wie auch immer man diesen Begriff definiert, ja kaum beide Kriegsblöcke „im Recht“ gewesen sein können, d.h.: Die Verpflichtung für österreichische Arbeiter, möglichst viele russische Arbeiter zu töten, für deutsche Arbeiter, möglichst viele russische und französische Arbeiter zu töten, für französische Arbeiter, möglichst viele deutsche Arbeiter zu töten usw., ist für Bauer eine ABSOLUTE Verpflichtung, wenn der Staat es befiehlt, ganz gleichgültig, ob er dafür irgendwelche legitimen Gründe vorweisen kann. Erst kommt der bedingungslose Gehorsam gegenüber dem Staat – und sei es auch eine neoabsolutistisch gefärbte Halbautokratie – und dann irgendwann der Klassenstandpunkt. An der Front wird Bauer im Herbst 1914 von russischen Soldaten gefangengenommen und geht nach Sibirien in Kriegsgefangenschaft, die ihm als Offizier allerdings relativ komfortabel gestaltet wird. 1917 ändert sich die politische Lage dramatisch und ermöglicht Bauers vorzeitige Rückkehr nach Österreich. In Russland fegt in der Februarrevolution ein ArbeiterInnenaufstand den Zarismus hinweg und bringt eine instabile republikanische Regierung aus Liberalen und Sozialdemokraten an die Macht. Und auch in Österreich kam die politische Lage in Bewegung: Im bereits vor Kriegsausbruch äußerst fragilen Habsburgerreich lodern mit zunehmender Kriegsdauer und schwindenden Siegesaussichten die politischen und sozialen Konflikte der Vorkriegszeit mit verstärkter Intensität wieder auf. Um die inneren Krisen zu entschärfen, entschließt sich der Habsburgerstaat zu einer mäßigen Liberalisierung, das Parlament wird reaktiviert und insbesondere die Kooperation mit der Sozialdemokratie gesucht, die man trotz aller offiziell revolutionären Rhetorik als eine eher staatstragende, konservative Kraft erkennt, die bei Heraufziehen einer echten Revolution dieser den Wind aus den Segeln nehmen könnte.

Der liberale Intellektuelle Josef Redlich schreibt im April 1917: "Ich glaube noch immer nicht an ein gutes Ende der russischen Revolution. Aber oben bei uns wird man vor lauter Angst ganz sozialdemokratisch." Aus den 20er Jahren gibt es ein nettes Wahlplakat der KPD, die eine wild und furchtbar dreinblickende, mit „SPD“ beschriftete Vogelscheuche zeigt, hinter der sich Kapitalisten, Junker, Generale und Pfarrer verbergen – diese Rolle des Abbremsens der spontanen proletarischen Revolution mit ihrer potentiell kommunistischen Stoßrichtung zur Wahrung des grundlegenden bürgerlich-kapitalistischen Rahmens spielt die Sozialdemokratie 1918 in Wien wie in Berlin und wie sie es 1917 in Petrograd versucht hatte. Das kaiserliche Außenministerium sowie die sozialdemokratische Parteiführung intervenieren bei den in Russland mitregierenden Menschewiki für Bauer, und tatsächlich kommt er frei und kehrt nach Österreich zurück, nach einem einmonatigen Zwischenaufenthalt in Petrograd im Juli/August 1917, wo er regelmäßige Kontakte mit den Menschewiki Julius Martow und Theodor Dan pflegt und von deren Politik offensichtlich schwer beeindruckt ist - nach seiner Rückkehr nach Wien schreibt Bauer eine Broschüre, in der er das alte Dogma wiederholt, eine proletarische Revolution sei im Agrarland Russland noch nicht möglich, nur eine bürgerlich-demokratische Entwicklung sei möglich und der Einsatz für diese mache die provisorische Regierung Kerenskis nun zum glorreichsten Vorkämpfer für die Demokratie in Europa. Die Bolschewiki sind für ihn, unter dem Eindruck der Juliunruhen in Petrograd, realitätsferne Abenteurer. Bauer führt nun einige Monate lang ein kurioses Doppelleben, ist gleichzeitig Repräsentant der Linken innerhalb der immer noch offiziell revolutionären SDAP UND als hoher Beamter im kaiserlichen Kriegsministerium angestellt. Von einem reaktionären Offizier wurde zwar bei der Staatspolizei eine Untersuchung gegen Bauer angestrengt, die Staatspolizei allerdings kam zum Schluss, dass Bauer zwar zu den Parteilinken gehöre, allerdings: "In taktischen Beziehungen ist das Verbleiben der Linken im Parteiverband von mäßigendem Einfluss auf ihre Haltung." Bauer bleibt im Kriegsministerium und die linken SozialdemokratInnen werden weiterhin wohlwollend geduldet. Und tatsächlich plädiert Bauer innerhalb der Parteilinken erfolgreich gegen eine Linksabspaltung nach dem Vorbild der USPD in Deutschland. Aber den Zerfall des Habsburgerreiches im Herbst 1918 kann auch die geeinte Sozialdemokratie nicht verhindern - die nationalistischen Bewegungen in den einzelnen Reichsteilen vollziehen den Bruch mit Wien, als die Kriegslage endgültig hoffnungslos wird, in Wien kommt es zu Massendemonstrationen von ArbeiterInnen und schließlich gibt die kaiserliche Regierung auf und übernehmen die Sozialdemokraten die vakant gewordene Macht. Ganz ähnlich wie die SPD steht auch die österreichische Sozialdemokratie, die ebenfalls die Revolution hatte vermeiden wollen, nach deren Ausbruch vor einer doppelten Aufgabe: Einerseits die einmal geschaffene Situation nutzen, um ihre Vorstellungen einer demokratisch-parlamentarischen Umgestaltung des Staates durchzusetzen, andererseits sich nach links gegen den drohenden Kommunismus zu wehren, die Revolution einzudämmen und zu verhindern, dass aus der politischen auch eine fundamentale soziale Revolution wird, die das ganze Wirtschafts- und Gesellschaftssystem umwirft. Bauer wird nach dem Tod Victor Adlers Außenminister und verfolgt in seiner Amtszeit drei hauptsächliche Ziele:

1.) Der Anschluss Deutschösterreichs an Deutschland. Bauer ist, wie schon erwähnt, glühender deutscher Nationalist, der schon in seinem Buch zur Nationalitätenfrage von 1907 geschrieben hatte "Die Sache der Arbeiterklasse ist die Sache der deutschen Nation". Die Vorstellung, Österreicher seien eine eigene Nation und keine Deutschen, war von Bauer und den meisten anderen SozialdemokratInnen energisch bekämpft worden, und ein selbstständiger österreichischer Staat nach dem Zerfall des Habsburgerreiches schien ihm völlig absurd. Zwar bemüht sich Bauer, marxistisch klingende Argumente für den Anschluss anzuführen - im konservativen Agrarland Österreich mit nur einer einzigen Großstaat sei keine progressive politische Entwicklung möglich, darum müsse man sich ans viel stärker urbanisierte und industrialisierte Deutschland anschließen - aber der emotionale Deutschnationalismus Bauers und der meisten anderen SozialdemokratInnen dürfte entscheidender für ihre Haltung gewesen sein. Immer wieder klagt Bauer darüber, dass ein als bäurischer Zwergstaat dahinvegetierendes selbstständiges Österreich zu einem vom Strom der Weltgeschichte abgeschnittenen engen, provinziellen, tristen Leben verurteilt sei. Im Mai 1919 schreibt Bauer an Kautsky: "Kommt der Anschluss nicht zustande, so wird Österreich ein armseliger Bauernstaat, in dem Politik zu machen nicht der Mühe wert sein wird." Außerdem brauche das Volk, das noch nicht an den Sozialismus glaube, eine andere große Idee, um seinen Lebenswillen zu stärken, also: Deutschnationalismus als ideeller Ersatz für Sozialismus.

2.) Aus der Konkursmasse des Habsburgerreiches sollen alle mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete an die neue Republik Deutschösterreich kommen und dann mit dieser zusammen an Deutschland angeschlossen werden. Insbesondere die deutschsprachigen Gebiete Böhmens sowie Südtirol waren ihm dabei wichtig - über Südtirol erklärt Bauer im Dezember 1918: "Es gibt vielleicht nirgendwo einen Fleck deutscher Erde, der jedem Deutschen so teuer ist, wie gerade dieses deutsche Südtirol. So ist dieses Stück Erde jedem Deutschen heilig geworden und es wäre das ganze deutsche Volk in seinen tiefsten Gefühlen auf das Schmerzlichste verletzt, wenn es dieses Stück Erde verlöre." 3.) Eindämmung der kommunistischen Revolutionswelle, die um Österreich herum tobt. In Deutschland folgen nach dem November 1918 noch drei weitere große, nun kommunistische und gegen die Sozialdemokratie gerichtete revolutionäre Ausbrüche, und direkt an der österreichischen Grenze entsteht in Bayern eine Räterepublik, in der die KPD die Macht übernimmt. Im Osten entsteht gleichzeitig die ungarische Räterepublik unter Bela Kun. Mit seinen beiden ersten Zielen scheitert Bauer vollständig. Die alliierten Siegermächte sind nicht bereit, einen Anschluss Österreichs an Deutschland zu dulden - man hat nicht vier Jahre lang den blutigsten Krieg der bisherigen Geschichte gegen Deutschland geführt, damit es territorial vergrößert aus der Niederlage hervorgehe. Und auch die regierende deutsche Sozialdemokratie reagiert zurückhaltend auf Bauers Anschlussinitiative, um die Alliierten nicht zu provozieren. Die erste Republik, deren erste politische Handlung darin bestand, Österreich zu einem Gliedstaat Deutschlands zu erklären, muss nun kurioserweise gegen den Willen ihrer politischen Führung weiterexistieren. Auch bezüglich Südtirols und des Sudetenlandes ist nichts zu machen: Italien sieht gar keinen Grund, dem besiegten, ruinierten Österreich irgendwelche Zugeständnisse zu machen, und die Tschechoslowakei hat die Rückendeckung Frankreichs, das aus dem Land ein Bollwerk einerseits gegen den Bolschewismus, andererseits gegen ein Wiedererstarken Deutschlands machen will und darum die Tschechoslowakei mit möglichst viel Territorium und Ressourcen ausstatten möchte. Mehr Erfolg hat Bauer bei seinem dritten Anliegen, der Eindämmung der kommunistischen Revolutionswelle.

Am 11. April 1919 erklärt Bauer, dass Österreich sich zu den Räterepubliken in Bayern und Ungarn neutral verhalte, und in der Tat sieht die österreichische Regierung taten- und kommentarlos zu, als die von Noske und Ebert losgeschickten rechtsextremen Freikorps auf der anderen Seite der Grenze die Räterepublik zerschlagen und in München ein Blutbad unter KommunistInnen mit rund 2000 standrechtlichen Erschießungen veranstalten. Und als kurz darauf Frankreich seine neuen Satellitenstaaten Tschechoslowakei und Rumänien auf das kommunistische Ungarn loslässt, da unternimmt die österreichische Regierung nichts dagegen, dass französische Offiziere österreichische Armeebestände beschlagnahmen, um damit in der Tschechoslowakei die antikommunistische Invasionsarmee auszurüsten. Bauers letzte bedeutende Handlung als Außenminister ist die Unterzeichnung des Friedensvertrages von St. Germain, wobei er bezeichnenderweise besonders heftig gegen die Enteignung deutschösterreichischer Banken und Fabrikanten in der Tschechoslowakei protestiert, weil das den Tod des Finanzplatzes Wien bedeute. Im Sommer 1919 gab Bauer, entmutigt von den vielen Fehlschlägen, das Außenministerium ab, wobei der Revolutionär Bauer auch zunehmend von der ganzen anstrengenden Aktivität in Revolutionszeiten ermüdet ist und an Kautsky schreibt: "Ich wollte, man könnte wieder einmal ruhig wissenschaftlich arbeiten. Eigentlich ist es in der Kriegsgefangenschaft doch ganz schön gewesen!" Bis Ende 1919 bleibt Bauer allerdings in der Sozialisierungskommission aktiv, wo er die Rolle zu spielen hat, einerseits die ArbeiterInnen durch gewisse Schritte in Richtung Sozialismus abzubremsen, andererseits nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem grundsätzlich zu gefährden und eine kommunistische Entwicklung zu riskieren. Auf dem Parteitag im Oktober 1919 legt Bauer zuerst theoretisch die Notwendigkeit der Sozialisierung für MarxistInnen dar, um dann aber zu konstatieren, JETZT sei dafür leider nicht der richtige Zeitpunkt, denn die Wirtschaft liege so darnieder, dass sie überhaupt erst einmal wieder in Gang gebracht werden müsse, was ihm nur auf kapitalistischer Basis möglich schien, und außerdem brauche Österreich mit seinen ruinierten Staatsfinanzen ausländische Kredite und dürfe deswegen die Westmächte nicht durch maßlose Angriffe auf das Kapital provozieren. Und überhaupt könne ein kleines Land wie Österreich nicht selbstständig zum Sozialismus voranschreiten, bevor nicht, überspitzt gesagt, erst der ganze Rest der Welt vor ihm sozialistisch geworden ist. Mitten in einer Revolution, mit der unbestrittenen Macht in den Händen und ohne eine organisierte, bewaffnete Konterrevolution wie in Deutschland gegen sich ist alles, in dem Moment also, in dem nichts sie daran hindern würde, ihr seit Jahrzehnten theoretisch proklamiertes Programm umzusetzen - in diesem Moment ist alles, was die SDAP durchsetzt eine maßvolle Vermögenssteuer und der Aufbau von ein paar wenigen Staatsbetrieben. Nachdem die Sozialdemokratie, und Bauer an vorderster Front, alle revolutionär linken Strömungen unter den ArbeiterInnen kanalisiert und abgewürgt haben, ist Österreich um 1920 wieder als kapitalistischer Staat stabilisiert, in dem das Bürgertum wieder fest im Sattel saß und sich wieder offen zu bürgerlichen Parteien bekennen konnte: Bei den Wahlen vom Oktober 1920 triumphieren die Christlichsozialen, die Sozialdemokraten scheiden aus der Regierung aus und bleiben bis zum Ende der 1. Republik in der Opposition, verlieren somit auch die Kontrolle über Armee und Polizei, was sich 1934 als fatal erweisen sollte. Die revolutionäre Chance ist vertan und die Sozialdemokratie darauf beschränkt, in Wien reformistische Kommunalpolitik zu betreiben Bauer, der nun de facto Obmann der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion wurde, schwankt die ganzen 20er Jahre hindurch weiter unentschlossen zwischen Revolution und Reformismus hin und her: Einerseits bekennt er sich nach wie vor zum Ziel der Diktatur des Proletariats, andererseits stellt er in jeder praktischen politischen Situation fest, dass nun aber wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür sei, dafür etwas zu unternehmen. Sozialismus ja, aber in irgendeiner noch nicht absehbaren ferneren Zukunft, heute gehe es erst einmal nur um den Aufbau von Demokratie und Sozialstaat.Dieser unentschlossenen Mittelposition entspricht auch die von Bauer initiierte Gründung der "Internationalen Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Parteien" Ende 1921, in der sich zentristische Parteien links der alten Sozialdemokratien und rechts der Kommunisten sammeln und die darum von den KommunistInnen als "Internationale Zweieinhalb" verspottet wird. Während Bauer sich immerhin theoretisch weiterhin auf die revolutionär sozialistischen Endziele beruft und die marxistische Orthodoxie verteidigt, wie er sie versteht, gehen viele Austromarxisten in den 20er Jahren sehr viel weiter nach rechts, insbesondere Karl Renner, der sich endgültig vom Marxismus auch in der Theorie verabschiedet und 1938 den Anschluss Österreichs ans dritte Reich bejubeln wird. Bemerkenswert ist auch, dass Bauer, der der leninistischen frühen Sowjetunion entschieden feindlich gegenüberstand und den Bolschewismus als Untergang der europäischen Kultur sah, ab den späten 20er Jahren der stalinistischen Sowjetunion zunehmend positiv gegenübersteht, ihre politische Mäßigung lobt und in den 30er Jahren zwar die stalinistischen Massenmorde persönlich erschütternd findet, gleichzeitig aber konstatiert, in einem primitiven Land wie Russland gebe es wahrscheinlich für den historischen Fortschritt keine Alternative zum Terror.

Beispielhaft für Bauers verbalen Radikalismus bei gleichzeitiger praktischer Zahnlosigkeit ist das maßgeblich von ihm gestaltete neue Linzer Parteiprogramm von 1926, in dem das Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats bekräftigt wird, man somit die Christlichsozialen aufschreckt, aber anschließend in der praktischen Politik nichts tut, was die dafür nötige Revolution befördern oder zumindest die drohende Konterrevolution aufhalten könnte, wie sich ein Jahr später beispielhaft zeigt. 1927 werden im burgenländischen Schattendorf zwei SozialdemokratInnen auf einer Demonstration von Rechtsextremen erschossen - die Täter werden freigesprochen. Als daraufhin in Wien hunderttausende ArbeiterInnen, denen klar wird, dass sie nach der Revolution von 1918 immer noch in einem bürgerlichen Klassenstaat leben, auf die Straße gehen und den Justizpalast in Brand setzen, stellt sich die Sozialdemokratie nicht etwa an die Seite dieser Bewegung, um sie in eine politisch wirksame Richtung zu lenken, sondern bemüht sich gemeinsam mit der christlichsozialen Regierung um Eindämmung und empört sich Bauer zunächst über die disziplinlose Roheit der Massen. Die Eindämmung funktioniert nicht, die Polizei schlägt die Revolte gewaltsam nieder, 84 DemonstrantInnen werden erschossen, hunderte verwundet, und alles geht weiter wie zuvor, ohne dass die Sozialdemokratie mit dieser revolutionären Stimmung irgendetwas anzufangen gewusst hätte.

Auch in der Wirtschaftspolitik treiben die Sozialdemokratie im Allgemeinen und Bauer im Besonderen auch in der Opposition eine in den Kernfragen regierungs- und kapitalfreundliche Politik. Schon 1928 hatte Bauer auf einem Gewerkschaftskongress für zurückhaltende Lohnforderungen der ArbeiterInnen plädiert, um die Exportchancen der Industrie nicht zu gefährden, von denen doch das Wohlergehen aller abhänge, und als die christlichsoziale Regierung im Zuge der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre harte Austeritätsmaßnahmen beschließt, da stimmt die Sozialdemokratie 1931 dem Budgetsanierungsgesetz zu und hält Bauer eine große Rede, in der er zuerst die Verbrechen des Kapitals und die unsoziale Politik der Regierung geißelt, um dann festzustellen, dass man aber leider trotzdem nichts machen könne und den Kürzungen zustimmen müsse, weil das Wohl des ganzen Staates davon abhänge. Als schließlich im Laufe des Jahres 1933 unter der Kanzlerschaft von Dollfuß Österreichs schrittweise Umformung in einen klerikalfaschistischen Ständestaat beginnt, um die für das Kapital nötig gewordenen immer härteren Austeritätsmaßnahmen mit den Mitteln der Diktatur durchsetzen zu können, hat die demoralisierte, immer unglaubwürdiger werdende Sozialdemokratie dem außer Phrasen nicht viel entgegenzusetzen. Ihre Basis bröckelt weg - allein in Wien tritt in den letzten Monaten der ersten Republik ein Drittel der Parteimitglieder aus - und einen ernsthaften Plan, dem Machtausbau von Dollfuß Widerstand zu leisten gibt es nicht. Im Gegenteil, Bauer versucht örtliche Leiter von sozialdemokratischen Organisationen ausdrücklich davon abzuhalten, den Behörden bei Übergriffen Widerstand zu leisten. Als die Polizei am 12. Februar 1934 das Linzer Parteiheim der Sozialdemokraten durchsuchen will, eröffnen dortige Schutzbündler trotzdem das Feuer und geben damit das Signal zum Februaraufstand, in dem die einzelnen proletarischen Widerstandszentren ohne jede koordinierte Führung durch die Partei auf eigene Faust handeln und leicht besiegt werden, nachdem es auf Seite der Schutzbündler ca. 200 und auf Seite der Exekutive 128 Tote gegeben hatte. Der Weg zur Vollendung der austrofaschistischen Diktatur ist nun frei. Otto Bauer gelingt rechtzeitig die Flucht in die Tschechoslowakei, wo er in Brünn ein Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie leitet, sich einerseits, nun an der Spitze einer Phantompartei, zunehmend radikalisiert und sich den KommunistInnen annähert, andererseits mehr und mehr den Bezug zur politischen Realität verliert, bspw. von einer gemeinsamen Front der sozialdemokratischen ArbeiterInnen und der "deutschnationalen kleinbürgerlichen Massen" gegen Dollfuß phantasiert. Ja, den Anschluss Österreichs an Nazideutschland 1938 beurteilt Bauer nicht gänzlich negativ, sondern freut sich darüber, dass nun wenigstens die unnatürliche Eigenexistenz Österreichs beendet ist. Mit dem Anschluss und der drohenden Zerschlagung der Tschechoslowakei wird die Lage in Brünn für Bauer zu heikel, er flieht weiter nach Paris, kann dort aber keine bedeutende politische Aktivität mehr entfalten: Am 5. Juli 1938 stirbt Otto Bauer dort an einem Herzinfarkt. Politisch aufmerksame BetrachterInnen, die heute das Leben Otto Bauers Revue passieren lassen, müssen überrascht sein von der Aktualität der Probleme des Austromarxismus, die sich bei zahlreichen modernen linken Formationen wie Syriza gerade in frappierender Ähnlichkeit wiederholen: Varoufakis‘ „erratic marxist“-Rede und seine den in dieser Rede skizzierten Prämissen völlig entsprechende praktische Politik in den vergangenen Monaten klingen wie eine Neuinszenierung von Bauers theoretischem Ziel, den kapitalistischen Rahmen zu überwinden und zum Sozialismus voranzuschreiten bei gleichzeitigem praktischem Defätismus und dem achselzuckenden Eingeständnis, dass da momentan leider nichts zu machen und der Zeitpunkt für sozialistische Maßnahmen leider gerade ungünstig sei – und zwar gerade in einer brodelnden revolutionären Situation wie der im heutigen Griechenland oder in Österreich 1918-20! Wenn man nun aber fünfzig oder hundert Jahre däumchendrehend abwarte, werden sich die Kräfteverhältnisse schon irgendwie völlig verändern, und außerdem platze der Sozialismus keineswegs in Krisenzeiten, sondern nur in besonders stabilen kapitalistischen Boomphasen auf mystische Weise plötzlich aus dem Boden – so im Grunde das gemeinsame Credo von Varoufakis, wenn er meint, die griechische Krise sei der denkbar schlechteste Moment für einen Bruch mit dem Kapitalismus und von Otto Bauer, wenn er nach dem ersten Weltkrieg eine ernsthafte Sozialisierung der Wirtschaft mit dem skurrilen Argument ablehnt, nun gehe es erst einmal darum, die Wirtschaft überhaupt wieder in Gang zu bringen, wobei diesem gebildeten Marxisten verborgen zu bleiben schien, dass er mit dieser Begründung der marxistischen Theorie ein Todesurteil ausstellte, impliziert das doch, dass kapitalistische Wirtschaften grundsätzlich leistungsfähiger und effizienter als planwirtschaftliche seien – wenn dem aber so ist, dann ist der Sozialismus kein Fortschritt, sondern ein unterlegenes Wirtschaftssystem, das sich niemals global gegen den Kapitalismus wird durchsetzen können. In diesem Fall gibt es keinen intellektuell überzeugenden Grund, nicht einfach Liberaler zu werden und das implizit als beste Wirtschaftsordnung anerkannte System offen zu affirmieren.

Der Austromarxismus wie heute Varoufakis und Co stehen vor dem Dilemma, den Sieg des Sozialismus im Grunde für eine Unmöglichkeit zu halten, sich aber trotzdem nicht von ihm als theoretisches Ziel trennen zu können, was zu immer schreienderen Gegensätzen zwischen Theorie und Praxis führt, zur praktischen Übernahme und Durchsetzung einer bürgerlich-kapitalistischen Logik, gegen die man theoretisch polemisiert. So bestand für Bauer kein Widerspruch darin, gleichzeitig harte Austeritätsmaßnahmen für die Sanierung des angeschlagenen österreichischen Kapitals durchzuführen und dabei Essays über marxistische Theorie zu schreiben, wie heute für Varoufakis kein Widerspruch darin besteht, vom Sozialismus zu träumen und gleichzeitig dem Austeritätsdiktat der Troika ein Zugeständnis nach dem anderen zu machen, in der Überzeugung, dass Widerstand sowieso sinnlos ist und die Welt nun einmal bleiben wird wie sie ist. Wenn Syriza die schwelende griechische Revolution noch zu einem glücklichen Ende führen soll, dann wird sie keinen griechischen Otto Bauer brauchen – sondern einen griechischen Lenin.

Andere über uns!

Die Zeitung der Salzburger ÖH „uni:press“ bat SLP-Aktivisten Fabian Lehr und Sebastian Kugler um einen Beitrag . Sie konterten dem zuvor in der Zeitung von stalinistischer Seite gebrachten Argument, die österreichische Linke könnte und sollte „den Patriotismus zurückerobern“ mit einer marxistischen Analyse. Nachzulesen gibt es den Artikel online unter: http://issuu.com/unipress/docs/_up_versionweb

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