Geschichte und politische Theorie

Antikapitalismus statt Tirolympia!

Olympia wird die Profite einiger weniger ankurbeln. Der „öffentlichen Hand“ bleiben immerhin die Schulden.
Franz Neuhold

Es hat sich über die Jahre weltweit herumgesprochen, dass die Austragung Olympischer Spiele keineswegs zur Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung führt. Auch der Sport wird durch den Kapitalismus ver- und entwertet. In Schweden, der Schweiz und Deutschland haben sich Mehrheiten gegen die jeweiligen Olympia-Bewerbungen gewandt. Es scheint nun auch in Tirol die Opposition in der Bevölkerung gegen die Bewerbung 2026 Fahrt aufzunehmen.

ÖVP-Landeshauptmann Platter merkt bereits, dass es eng wird. Er kommt um eine Abstimmung wohl nicht herum. Die Stimmung widerspiegeln dürfte auch die Stellungnahme der „Liste Fritz“ - einer ÖVP-Abspaltung, die Opposition spielt und der man schwerlich systemkritische Meinungen unterstellen kann. Doch sie muss scheinbar zu geradewegs sozialrevolutionären Tönen greifen, um punkten zu können. So ist zu lesen: „... Solange in den Pflegeheimen das Geld für genug Personal für die alten Menschen fehlt und solange 132.000 Tiroler, darunter 39.000 Kinder, armutsgefährdet sind und solange sich tausende Tiroler mit den niedrigsten Einkommen bei den gleichzeitig höchsten Kosten fürs Wohnen und Leben herumschlagen müssen, passen und gehören Olympische Spiele nicht nach Tirol. …“ Selbst auf die negativen ökologischen Folgen wird an anderer Stelle hingewiesen.

Die Benennung der wirklichen Probleme (Armutsgefährdung, Niedrigeinkommen) weist auf den vorhandenen Unmut hin; doch es braucht mehr: eine Bewegung von unten, die solchen Zuständen UND dem zugrunde liegenden System den Kampf ansagt. ArbeitnehmerInnen, Erwerbsarbeitslose und Jugendliche, egal welcher Herkunft, könnten in Tirol eine solche Kampagne mit klaren sozialen Forderungen und Zielen entwickeln und so dem gesamten Polit-Establishment (inkl. seiner Schein-Opposition) eine Alternative entgegenstellen. Eine Abfuhr in der Olympia-Frage für Platter & Co. wäre ein erster Schritt. Vielleicht möchten LeserInnen dieser Zeitung in Tirol dies mit uns gemeinsam versuchen?

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

20 Jahre Harry Potter: Rowling vs. Dumbledore

Nadine Zalto

Millionen inspirierte J.K. Rowling mit ihren Harry Potter Büchern. Für viele ist sie ein Vorbild. Sie gilt als eine der reichsten Frauen der Welt. Auch auf Twitter ist sie stets tätig. Dort äußert sie sich nicht nur zu alltäglichen Dingen, sondern beteiligte sich auch an der Hetzjagd gegen den linken Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn: „Corbyn ist nicht Dumbledore. Ich vergaß, dass Dumbledore Hogwarts zerstörte, sich geweigert hat zurückzutreten und dann in den Wald lief um Reden vor wütenden Trollen zu halten“. Immer wieder postet sie gegen Corbyn. Auch schrieb sie, dass er Labour auslöschen wolle. Zu den Beiträgen äußerte sich auch Frank Field, ein Parlamentarier des rechten Labour-Flügels: er bedankte sich bei ihr, für ihren „gesunden Realitätssinn“. Corbyn-UnterstützerInnen waren nicht erfreut. Rowling äußerte sich dazu: „Ich gehe nirgends wo hin! Ein kleiner Fakt über die schmutzigen bürgerlichen neoliberalen Zentristen. Wir sind härter als ihr denkt ;)“.
Ihre Bücher bestärken Jugendliche darin, sich gegen Unterdrückung zu stellen, auch wenn es aussichtslos erscheint. Rowlings eigene Politik passt nicht zu dem rebellischen Geist der Bücher. Riddikulus!

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Rote Seitenblicke

Was tut eine Partei, deren kultureller Horizont bei Hundebildern und dem Christkindl endet, wie diverse Titelblätter der Partei-Zeitschrift "Uhrturm" nahelegen? Sie setzt deren Chefredakteur Ernst Brandl in den Aufsichtsrat des Kulturfestivals "Steirischer Herbst".

Erinnern wir uns „besserer Zeiten“: 1998 hat Christoph Schlingensief Obdachlose aus ganz Europa eingeladen, in der ‚Sandlerhauptstadt‘ Graz einen Wettbewerb abzuhalten. Der 2010 verstorbene Künstler würde wohl im Grab rotieren, wenn er mitbekäme, welche Figuren nun jenes Projekt mitbestimmen, welches in der Vergangenheit mit wohltuenden und angemessenen Angriffen gegen die herrschenden Verhältnisse, rechte Geschichtsklitterung, die "Normalität" der Armut sowie zum Elend der menschlichen Existenz ("Sex und Todessehnsucht, Kunst und Krieg, Kaffee und Kuchen" (c) Werner Schwab) schockierte. Apropos Elend: Brandl gehört zur Riege um den deutschnationalen Vorbeter Andreas Mölzer. Deren ideologische Ausdünstungen enden des Öfteren im Schönreden der Nazi-Zeit. Selbst Vertreter der steirischen Kirchen kritisieren das Schmuddelblatt angesichts rassistischer "Berichterstattung" über Flüchtende.

Doch richtig gute Kunst ist ohnehin jene, die nicht geordneten Bahnen folgt, eine heile Welt vorspielt oder rückschrittliche Wahnvorstellungen zementiert. Somit werden wir hoffentlich auch dann entsprechende Aktionen und Performances erleben dürfen - selbst wenn Brandl auf die Idee käme, landesweit ein Leni-Riefenstahl-Festival zu organisieren. Und nebenan vielleicht eine Hunde-Schau?

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Die Geschichte der Französischen Revolution

Fabian Lehr

Vortrag gehalten auf der "Eine Welt zu gewinnen"-Diskussion am 7.7.2016

Vorgeschichte

Die französische absolute Monarchie des 18. Jahrhunderts war, von außen betrachtet, ein imponierendes, glanzvolles Gebilde. Frankreich war das bevölkerungsreichste Land Europas mit ca. 18 Millionen Einwohnern zu Beginn des Jahrhunderts und ca. 27 Millionen in den 1780er Jahren. Zum Vergleich: Frankreichs Erzrivale Großbritannien hatte damals etwa 7 Millionen Einwohner. Die französische Monarchie hatte unbestritten die schlagkräftigste Landarmee Europas und die nach England stärkstechthin . Es war unter Ludwig XVI. neben England das einzige Land, in dem es bereits Keime einer Industrialisierung gab: Rund um Paris und in anderen großen Städten entstanden in den 1780er Jahren schon einige große Fabriken, in denen hunderte IndustrieproletarierInnen im modernen Sinne arbeiteten. Paris war mit etwa 600.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Europas und das unbestrittene intellektuelle und kulturelle Zentrum der ganzen westlichen Welt. Und einige Kilometer außerhalb der Metropole residierte der König in seinem riesigen Versailler Schloss mit einem Prunk und Luxus, den alle anderen europäischen Höfe nachzuahmen versuchten. Französisch war von Nordamerika bis Moskau DIE Kultursprache der Oberschichten schlechthin und französische Literatur und Philosophie das Maß der Dinge im westlichen Geistesleben.

 

Aber hinter dieser glanzvollen Fassade schlitterte die Monarchie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in eine immer tiefere Krise. Zunächst außenpolitisch: Frankreich hatte den jahrzehntelangen Kampf mit seinem Hauptfeind England um die Rolle der dominanten westlichen Weltmacht unbestreitbar verloren und musste sich mit dem zweiten Platz begnügen. Schon Anfang des 18. Jahrhunderts war die drohende Hegemonie Ludwigs XIV. über ganz Europa durch eine von England geführte Allianz in einem furchtbaren Krieg verhindert worden, und der siebenjährige Krieg von 1756-1763, in dem England und Frankreich in Europa, in Nordamerika,in Indien und auf allen Weltmeeren gegeneinander kämpften, brachte endgültig die Entscheidung für England. Das erschöpfte Frankreich, das den Krieg ökonomisch nicht länger durchhielt, musste Indien und den Großteil Nordamerikas England überlassen und behielt als wirklich profitable Kolonien eigentlich nur noch einige Karibikinseln. Und die horrenden Kosten des Krieges stürzten das Land in eine schwere Staatsschuldenkrise, die von nun an immer schlimmer wurde. In den 1780er Jahren gelang Frankreich zwar noch einmal ein großer Coup, als die amerikanischen Rebellen es durch massive finanzielle, logistische und militärische Unterstützung Frankreichs schafften, die Unabhängigkeit der USA zu erkämpfen und England aus den 13 Kolonien zu verjagen, aber der Preis für diesen außenpolitischen Triumph war der endgültige Kollaps der Staatsfinanzen.

Auch in seiner ökonomischen Entwicklung geriet Frankreich gegenüber England ins Hintertreffen. Zwar gab es wie gesagt einige Ansätze einer französischen Industrialisierung, aber die vollzog sich viel zögerlicher und langsamer als jenseits des Kanals. Eine Modernisierung der Monarchie im bürgerlichen Interesse, wie sie die englische Bourgeoisie im 17. Jahrhundert in zwei Revolutionen, einem Bürgerkrieg und einer revolutionären Diktatur erzwungen hatte, war in Frankreich ausgeblieben, die ökonomische und gesellschaftliche Struktur des Feudalismus blieb bestehen und behinderte die kapitalistische Entwicklung, zumal das Bürgertum von politischer Partizipation ausgeschlossen blieb und die Beschwichtigung der Aristokratie dem Königtum mehr am Herzen lag als die Förderung der Bourgeoisie. Die Unzufriedenheit mit dem politischen System Frankreichs wuchs in den 1770er und 1780er Jahren immer mehr, und zwar sowohl seitens der Aristokratie als auch seitens der Bourgeoisie.

Schauen wir uns kurz an, wie dieses System beschaffen war. Frankreich war im 17. Jahrhundert unter Ludwig XIII. und Ludwig XIV. zu einer absoluten Monarchie geworden. Was bedeutet dieser Begriff? Die Macht mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Könige war ständisch gebunden und vom auf seinen Ländereien quasi unabhängigen Adel stark beschränkt worden. Ein solcher mittelalterlicher König war oft eher ein in den Streitigkeiten verschiedener Adelsfraktionen vermittelnder Moderator als ein unumschränkter Herrscher gewesen. Ludwig XIII. und sein hochbegabter Premierminister, der Kardinal Richelieu, bauten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht nur die Macht Frankreichs in Europa aus, sondern gingen auch im Inneren an die politische Entmachtung des Hochadels und die Umwandlung des Staates in eine Art modernerer, zentralisierterer königlicher Diktatur. Der Adel leistete diesem Projekt in einer Kette von Verschwörungen und Aufständen bis in die Jugend Ludwigs XIV. hinein erbitterten Widerstand, aber gestützt auf die Städte und das aufstrebende Bürgertum hatte der König sich schließlich durchsetzen können. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts war die politische Souveränität der Aristokratie gebrochen und mussten die Adligen akzeptieren, nur noch - freilich sehr privilegierte - Untertanen der gefestigten königlichen Zentralregierung zu sein. Allerdings bemühten sich die Bourbonenkönige, den Aristokraten ihre bescheidenere neue Stellung zu versüßen. Der Hochadel bekam jedes Jahr immense Geldgeschenke aus der Staatskasse. Alle Führungsposten in Armee, Diplomatie und Verwaltung gingen an Adlige. Die bedeutendsten Adelsfamilien wurden an den Versailler Hof herangezogen, wo sie das prunkvolle Leben des Königs teilten. Und natürlich setzte die Staatsgewalt ggü. ungehorsamen Bauern die Leistung der den Adligen auf ihren Gütern geschuldeten Frondienste und Feudalabgaben mit allen Mitteln durch. Das absolute Königtum, scheinbar unabhängig über den Klassen stehend, musste allerdings auch der Bourgeoisie, ohne deren Hilfe es gar nicht hätte entstehen können und ohne dessen Unterstützung der Adel sich seine alten Freiheiten zurücknehmen würde, einige Konzessionen machen, und so gab es immer wieder halbherzige Ansätze liberaler Reformen in bürgerlichem Sinne und wurden immer mehr gutausgebildete, kompetente Bourgeoissöhne für staatliche Führungsposten herangezogen, gab es immer häufiger bürgerliche Offiziere und Minister. Aber dieser Versuch, die Balance zwischen adligen und bürgerlichen Interessen zu wahren, befriedigte keine Seite. Dem bürgerlichen Ehrgeiz gingen diese Reförmchen nicht weit genug, den reaktionären Teilen der Aristokratie ZU weit.

Die bürgerliche Opposition gegen dieses System fand seinen Ausdruck in der Philosophie der französischen Aufklärung. Die gemäßigten Aufklärer der ersten Generation wie Montesquieu und Voltaire dachten noch nicht an einen Sturz des Königtums, sondern an seine Reform im konstitutionellen Sinne. Ihr großes Vorbild war England, wo am Ende der jahrzehntelangen Klassenkämpfe zwischen Bürgertum und Aristokratie nach 1689 schließlich ein Kompromiss zwischen Adel und Großbürgertum stand, die sich im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie die Macht im Staat teilten. Es gab dort nun ein Parlament aus zwei Kammern, einer Kammer aus Adligen, die dort auf Lebenszeit saßen, und eine Kammer für das reiche Großbürgertum, das sich seine Abgeordneten wählte. In diesem System trat bald eine gewisse Verschmelzung zwischen Adel und Großbürgertum ein. Der Adel zeigte sich bereit, eine liberale, kapitalistische Wirtschaftspolitik zu fördern, so bei der Auflösung der alten Dorfgemeinschaften durch das System der enclosures, bei denen das bisherige Gemeindeland in umzäunten Privatbesitz umgewandelt wurde, wodurch den ärmeren Bauern die Lebensgrundlage entzogen wurde und sie als proletarisierte LohnarbeiterInnen in die Städte mit ihrer entstehenden Industrie abwandern mussten, während die Adligen zu einer Art kapitalistischer Agrarunternehmer wurden. Und das Großbürgertum imitierte die Lebensformen des Adels, bemühte sich, in die Aristokratie einzuheiraten oder geadelt zu werden. Kurz: Adel und Großbürgertum gingen in England nach 1689 Hand in Hand den Weg einer langsamen bürgerlich-kapitalistischen Transformation des Landes, mit einem König mit stark beschränkten Machtbefugnissen als Schiedsrichter.

Die meisten Philosophen der Aufklärung sahen diesen englischen Weg nun als Vorbild für Frankreich, nur dass sie ihn ohne die blutigen revolutionären Erschütterungen wollten, die dafür in England nötig gewesen waren und stattdessen von einem gütlichen Übereinkommen zwischen vernünftigen, einsichtigen Aristokraten und der Bourgeoisie träumten, sich die Macht aufzuteilen. Sie wollten Königtum und Adel nicht vernichten, sondern nur das Missverhältnis zwischen der ständig steigenden sozioökonomischen Macht und der fortbestehenden politischen Rechtlosigkeit des Bürgertums korrigieren. Stärker als gegen den Adel, den man für seine Reformpläne gewinnen wollte, richteten sich Spott und Häme der Aufklärer gegen die katholische Kirche und ihren Klerus mit ihren abstrusen theologischen Dogmen und ihrer Einmischung in das aufgeklärte Geistesleben, in dem ein freigeistiger Atheismus vorherrschte. Gegen den Klerus als ideologischer Stütze des Absolutismus richteten die Literaten und Philosophen der Aufklärung die ganze Macht von Feder und Druckerpresse. Sie suchten nachzuweisen, dass die Religionsstifter nur geschickte Betrüger gewesen seien, dass die Kirche eine Einrichtung zur Verdummung und Knebelung der Bevölkerung sei, ein Hort der Ignoranz und des düsteren Fanatismus, deren Macht den gesellschaftlichen Fortschritt blockiere. Während einige Aufklärer wie la Mettrie, Holbach, Helvetius und Diderot bis zu einem gänzlichen Atheismus und Materialismus vorstießen, vertraten gemäßigtere Köpfe einen aufgeklärten Deismus, der die Religion von einem theologischen Dogmensystem in eine mit pantheistischen Phrasen verbrämte Tugendlehre verwandeln wollten. Und der berühmteste Aufklärer von allen, der schwerreiche Großbürger Voltaire, der die Masse der armen und ungebildeten Bevölkerung verachtete und nur als "Kanaille" bezeichnete, verbat sich zwar jede Einmischung der Kirche in die Angelegenheiten der wohlhabenden, gebildeten Leute seiner Kreise, stellte aber gleichzeitig fest, man brauche die Religion dennoch, um den Pöbel gefügig zu halten, der für Vernunft unzugänglich sei.

Freilich gab es auch Außenseiter, die aus dieser feinen Gesellschaft aufgeklärter Großbürger und Adliger herausstachen und die sich abzeichnende kapitalistische Gesellschaft in England nicht als Vorbild, sondern im Gegenteil als abschreckendes Beispiel sahen. Der berühmteste davon ist der aus ärmlichen Verhältnissen stammende, exzentrische, in den bourgeoisen und adligen Salons immer unbeholfen und fremd wirkende schweizerische Autodidakt Jean-Jacques Rousseau, der in seinem "Gesellschaftsvertrag" und seinen philosophischen Romanen republikanische Ideen vertrat und das Idyll einer egalitären Gesellschaft einfacher, bescheidener Kleinproduzenten zeichnete, unter denen es weder Armut noch Luxus und keine Standesunterschiede geben sollte. Dieser von der Gleichheit träumende Kauz, der seine Verachtung der verfeinerten, snobistischen aufgeklärten Intellektuellen demonstrierte, indem er in ungewaschenen, unförmigen Pelzmänteln in den literarischen Salons von Paris aufkreuzte und stolz damit prahlte, mit einer Analphabetin zusammenzuleben, wurde bissig verspottet vom elitären Multimillionär Voltaire - und glühend verehrt von einem unbekannten Rechtsanwalt aus der Provinz namens Maximilien Robespierre.

Aber sowohl die Aristokraten als auch die Bourgeois bildeten nur kleine Minderheiten der Bevölkerung. Am Vorabend der Revolution gehörten in Frankreich etwa 350.000 Menschen dem Adel an, unter 100.000 dem Klerus, und vielleicht 2-3 Millionen kann man dem Bürgertum zuordnen, dazu kamen einige hunderttausend städtische ProletarierInnen und LumpenproletarierInnen. Die restlichen knapp 25 Millionen FranzösInnen gehörten lebten auf dem Land und gehörten der Bauernschaft an. Deren Lebensbedingungen waren ziemlich differenziert. Es gab eine Schicht wohlhabender grundbesitzender Bauern, die zwar ebenfalls den Kirchenzehnten an den Klerus entrichten mussten, aber ganz oder weitgehend unabhängig von Feudalherren waren. Die meisten Bauern waren Pächter, die gegen eine Geldgebühr und/oder Abgabe eines Teils ihrer Ernte einen Teil des in adligem oder kirchlichem Besitz befindlichen Landes bestellten (Wobei es zunehmend auch bürgerliche Großgrundbesitzer gab), wobei sich die Adligen eine ganze Reihe mittelalterlicher Feudalrechte bewahrt hatten, die von Provinz zu Provinz variierten. So war der Mahl- Back- und Kelterzwang noch weit verbreitet, also die Verpflichtung der Bauern, ihre Erzeugnisse nur in den Mühlen, Backöfen und Keltern ihres Grundherrn verarbeiten zu dürfen und dafür saftige Gebühren zahlen zu müssen. Brücken- und Wegegeld mussten sie für die Nutzung der Straßen und Brücken zahlen, und besonderen Hass unter den Bauern erregte das adlige Jagdrecht, das nicht nur den Bauern die Jagd in den Wäldern verbot, sondern den Adligen erlaubte, auf den Parzellen der Bauern uneingeschränkt jagen zu dürfen. Mit ohnmächtiger Wut mussten die Bauern zusehen, wie adlige Müßiggänger zu ihrem Vergnügen mit ihren Pferden und Jagdhunden ihre Ernte niedertrampelten, und die Bauern durften Rehe und Wildschweine, die ihre Feldfrüchte fraßen, nicht einmal vertreiben, denn die Adligen wünschten, dass das Wild für ihre Vergnügungsjagden sich kräftig vermehren konnte. Erhebliche Sonderabgaben mussten die Bauern auch beim Tod ihres bisherigen Herrn und dem Antritt seines Nachfolgers zahlen. Wenn man dazu noch den Kirchenzehnten und die an die königliche Zentralregierung zu leistenden Steuern berücksichtigt, kann man sich leicht vorstellen, wie schlimm es um die wirtschaftliche Situation der Bauern in Jahren mit schlechter Ernte stand. Ein erheblicher Teil der Landbevölkerung schließlich besaß gar kein Land oder nur so wenig, dass es für den Lebensunterhalt nicht ausreichte, sodass sie sich als ärmliches Landproletariat als Erntehelfer und mit Hilfsarbeiten aller Art durchschlagen mussten. Dieses Landproletariat, das seine Lebensmittel nicht selbst produzierte und sie gegen Geld kaufen musste, war in Krisenjahren mit steigenden Brotpreisen ebenso wie die städtische Plebs von Hunger bedroht. Halbwegs über die Runden kamen diese Ärmsten der Armen nur durch das Fortbestehen der Dorfgemeinschaft, mit ihrem Gemeindeland, ihrem allgemeinen Weiderecht und dem gemeinsamen Nutzungsrecht an Wald und Gewässern. In den Jahren vor der Revolution verschärfte sich nun die feudale Ausbeutung erheblich in dem Maße, in dem in die feudale Gesellschaft kapitalistische Elemente eindrangen. Die Aristokraten wurden zunehmend für einen internationalen Markt produzierende Agrarunternehmer, die die Einnahmen aus ihren Gütern bis aufs Äußerste zu steigern suchte. Es entstand der Beruf des Feudisten, dessen Aufgabe darin bestand, aus den Archiven Nachweise irgendwelcher längst vergessenen Pflichten und Abgaben der Bauern auszugraben, die man nun reaktivierte.Und es kam zu tastenden Versuchen, nach englischem Vorbild die Dorfgemeinschaft aufzulösen und die Gemeindeländereien in Privatbesitz umzuwandeln, der an den Meistbietenden verkauft würde, sodass die Adligen die Chance hatten, durch deren Erwerb zusammenhängende Großgüter zu schaffen, auf denen man moderne, rationale Landwirtschaft treiben konnte. Es gärte unter den Bauern, und in den 1780er Jahren mehrten sich die anfangs noch lokalen, kontrollierbaren Bauernrevolten.

In den 1780er Jahren vereinten sich also drei große Strömungen der Opposition gegen die absolute Monarchie. Erstens die reaktionäre Opposition der Aristokratie, die ihre verlorenen ständischen Privilegien zurückgewinnen und den König stärkerer adliger Kontrolle unterwerfen wollte. Zweitens die progressive Opposition der Bourgeoisie, die eine konstitutionelle Monarchie liberalen, bourgeoisfreundlichen Charakters anstrebte. Und drittens die konservative Opposition der Bauern, die sich gegen die Verschärfung der feudalen Ausbeutung und die drohende Zersetzung der Dorfgemeinschaft wehrte. Nur der Klerus war mit der Lage zufrieden.

Es war die reaktionäre Opposition der Aristokratie, die den Stein ins Rollen brachte und den Weg einschlug, der in die große Revolution und die Vernichtung von Adel und Monarchie münden sollte. Die ohnehin schon lange sehr angespannten Staatsfinanzen waren, wie schon erwähnt, durch die extrem kostspielige Förderung des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes und eine darauffolgende Wirtschaftskrise in den 1780ern endgültig außer Kontrolle geraten. Wenn man den Staatsbankrott noch abwenden wollte, musste man sehr bald zu durchgreifenden Reformen schreiten. Die königlichen Minister Turgot und Calonne wollten die Staatskasse durch Besteuerung der Aristokratie sanieren. Adel und Klerus machten zusammengenommen rund 1,5% der französischen Bevölkerung aus, besaßen aber ca. 40% des gesamten Landes - und diese riesigen Besitzungen brachten dem Staat gar nichts ein, weil diese Stände beide von der Steuerpflicht komplett befreit waren (Der Klerus zahlte an die Staatskasse nur einen gewissen selbst festgelegten freiwilligen Beitrag, den "don gratuit"). Ja, mehr noch: Der Adel zahlte nicht nur keine Steuern, sondern erhielt auch noch ständig enorme Geldrenten aus der Staatskasse. Die Reformer wollten nun diese Renten stark beschneiden und die Steuerfreiheit des Adels aufheben. Gegen diese Pläne brauste die Empörung der Aristokratie auf. Die politische Entmachtung des Adels seit Ludwig XIII. war nicht ganz vollständig gewesen, es gab immer noch zwei Gremien, in denen sich die ständische Opposition des Adels artikulieren konnte. Erstens die in einigen Provinzen fortbestehenden Provinzialversammlungen, vom Adel dominierte konservative Notabelnversammlungen. Zweitens die "parlements", die trotz ihres Namens nichts mit Parlamenten zu tun hatten, sondern ebenfalls adlig dominierte Gerichtshöfe waren mit vererbten, lebenslangen Richterposten und die vom König erlassene Gesetze registrieren mussten, ehe sie rechtskräftig wurden. Üblicherweise war das eine Formalität, aber nun wurden die parlements Zentren der sogenannten "Adelsrevolte", die jede gesetzgeberische Tätigkeit blockierten und den normalen Ablauf der Staatsgeschäfte lahmlegten. Ludwig XVI. hatte daraufhin die Wahl, entweder einen gegen den Adel gerichteten Staatsstreich von oben zu unternehmen oder sich zu beugen und den Forderungen der Aristokratie nachzugeben. Er entschied sich für die zweite Option: Die Reformer wurden entlassen und ihre Pläne begraben, nachdem der König schon vorher in anderen Bereichen der adligen Reaktion nachgegeben hatte, so 1782 beim Ausschluss von Bürgerlichen aus der Offizierslaufbahn. Aber die erdrückende Finanznot war nicht verschwunden, auf irgendeine Weise musste eine Reform der Staatsfinanzen zuwege gebracht werden. Auf Druck der adligen Reaktion erklärte sich der König 1788 schließlich bereit, für das darauffolgende Jahr die Generalstände einzuberufen. Das war ein vorabsolutistisches ständisches Beratungsgremium, das seit 1614 nicht mehr zusammengetreten war und in dem der Adel hoffte, einen Teil seiner ständischen Privilegien zurückgewinnen und eine Steuerreform durchsetzen zu können, die seiner Stellung keinen Abbruch tat, d.h. auf Kosten des Bürgertums erfolgte. Aber eben dieses Bürgertum witterte Morgenluft, als Ludwig XVI. zur Wahl von Abgeordneten der drei Stände für die erste Sitzung der Generalstände im Mai 1789 aufrief. Mochten die Generalstände auch ein altertümliches, konservatives Gremium sein - warum sollte man die Gelegenheit nicht nutzen, sie zur Bühne bürgerlich-liberaler parlamentarischer Opposition umzufunktionieren? Als sich die gewählten Repräsentanten der Stände in Versailles versammelten, hatten sie sehr verschiedene Hoffnungen. Der hohe Klerus wollte einfach nur seine bisherige Stellung bewahren. Die Mehrheit des Adels wollte eine reaktionäre Rückkehr zu einem vom Adel kontrollierten Königtum. Und die bürgerlichen Abgeordneten des dritten Standes sahen ihre Chance, den König und die aufgeschlossenen Teile der ersten beiden Stände für ihre Vision vom adlig-bourgeoisen Klassenkompromiss in einer konstitutionellen Monarchie zu gewinnen. Frankreich wurde überschwemmt von einer Flut von Denkschriften und Pamphleten, in denen Philosophen, Literaten und Journalisten ihre Reformideen ausbreiteten, deren Verwirklichung sie sich von den Generalständen erhofften. Die so lange niedergehaltene politische Öffentlichkeit erwachte.

 

Die Einberufung der Generalstände und der Sturm auf die Bastille

Die Generalstände, die sich am 5. Mai 1789 zur Eröffnungssitzung in Versailles einfanden, setzten sich aus 1165 Abgeordneten zusammen: 300 Repräsentanten des Adels, 300 des Klerus und 565 des dritten Standes. Ursprünglich hatte auch der dritte Stand nur 300 Abgeordnete bekommen sollen, aber der König hatte sich dem Druck der bürgerlichen Öffentlichkeit gebeugt und einer annähernden Verdoppelung ihrer Abgeordnetenzahl zugestimmt. Freilich war das angesichts des Abstimmungsmodus ein eher symbolischer Triumph, denn in den Sitzungen sollte nicht nach Köpfen, sondern nach Ständen abgestimmt werden, sodass jeder bedeutende Reformvorschlag der Abgeordneten des dritten Standes scheitern musste, wenn jeweils mehr als 50% der adligen und klerikalen Abgeordneten dagegen stimmten, womit zu rechnen war. Die Abgeordneten des dritten Standes wurden von allen nichtadligen- bzw. klerikalen männlichen Franzosen über 25 gewählt, die über einen festen Wohnsitz verfügten und in die Steuerliste eingetragen waren. Üblicherweise bekam ein gewählter Kandidat von den Wählerversammlungen seines Wahlkreises Denkschriften mit auf den Weg nach Versailles, in denen seine Wähler darlegten, welche Forderungen er auf der Versammlung für sie vertreten sollte. Über 60.000 dieser "cahiers de doléances" sind erhalten. Die häufigsten Forderungen in diesen Beschwerdeheften sind die nach Kontrolle des Königs durch ein ständiges gewähltes Gremium, steuerliche Entlastung des dritten Standes und stattdessen Besteuerung der Privilegierten sowie Aufhebung besonders empörender Feudalabgaben. Oft gibt es auch die Forderung, in den Generalständen solle nicht nach Ständen, sondern nach Köpfen abgestimmt werden, was dem dritten Stand die Führungsrolle verschaffen musste. Radikale Kritik an König und Adel, gar Republikanismus findet sich dagegen noch kaum.

Die Ansprache Ludwigs XVI. an die Abgeordneten bei der Eröffnungssitzung war mit großer Spannung erwartet worden, die bürgerlichen Abgeordneten hofften auf die Ankündigung bedeutender Reformen. Stattdessen gab es nur nichtssagende Phrasen, gefolgt von einem dreistündigen Bericht von Finanzminister Jacques Necker über die Haushaltslage des Königreichs, dessen Tenor dahin ging, man werde die Krise notfalls schon ohne Mitwirkung der Generalstände meistern können. Die Enttäuschung saß tief. Und nicht nur gegenüber dem König setzte sehr bald unter den Abgeordneten des dritten Standes Ernüchterung ein, auch die künstliche Interessengemeinschaft zwischen Bürgertum und reaktionärem Adel in ihrer Opposition gegen den Absolutismus zerbrach fast sofort. Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die Mehrheit der Adligen, die die Einberufung der Generalstände überhaupt erst erzwungen hatten, hoffte, dort eine zumindest teilweise Wiederherstellung der adligen Souveränität gegenüber der königlichen Zentralregierung durchzusetzen, die bürgerlichen Abgeordneten dagegen ein liberales konstitutionelles System nach englischem Vorbild. Der Adel beharrte deshalb auf der Abstimmung nach Ständen, die ihm und dem Klerus immer das Übergewicht geben musste und ernste Reformen im bürgerlichen Sinne unmöglich machte. Die Abgeordneten des dritten Standes hingegen verlangten die Abstimmung nach Köpfen. Treibende Kraft war dabei Abbé Emmanuel Joseph Sieyés, der sich trotz seiner Zugehörigkeit zum Klerus als Abgeordneter des dritten Standes hatte wählen lassen und Anfang 1789 durch seine Flugschrift "Was ist der dritte Stand?" berühmt geworden war, in der er scharfe Kritik an den Privilegien des Adels übte und die berühmten Worte schrieb "Der dritte Stand umfasst also alles, was zur Nation gehört. Und alles, was nicht Dritter Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation betrachten. Was also ist der Dritte Stand? Alles."

Wie nicht anders zu erwarten, lehnte die Mehrheit der Abgeordneten von Adel und Klerus den Antrag auf Abstimmung nach Köpfen ab. Wenn die Abgeordneten des dritten Standes das einfach akzeptierten, bedeutete das ihre politische Abdankung. Stattdessen entschied sich die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten des dritten Standes unter Führung des Abbé Sieyés für eine revolutionäre Antwort auf die adlige und klerikale Blockade: Am 17. Juni erklärten sich die Abgeordneten des dritten Standes zur Nationalversammlung, die die riesige Mehrheit der französischen Bevölkerung repräsentiere und daher die einzig legitime Vertretung der Nation sei. Alle Abgeordneten von Adel und Klerus, die sich in diese neugebildealversammlung einfügen und ihre Spielregeln zu akzeptieren bereit wären, seien herzlich willkommen, aber alle außerhalb der Nationalversammlung gefassten Beschlüsse betrachte man fortan als null und nichtig. Mit einer knappen Mehrheit beschlossen die Abgeordneten des Klerus, sich der Nationalversammlung anzuschließen. Das ist gar nicht so überraschend, wie es zunächst klingt. Bei den Wahlen der klerikalen Abgeordneten waren alle Geistlichen gleichermaßen wahlberechtigt, ein kleiner Dorfpfarrer ebenso wie ein Bischof. Darum waren überwiegend einfache Pfarrer gewählt worden, die im Gegensatz zu ihren in Reichtum und fürstlichem Luxus lebenden Bischöfen überwiegend arme Leute waren, die nicht viel anders lebten als die Bauern in ihren Gemeinden und mit den Anliegen der Massen sympathisierten. Nur die adligen Abgeordneten weigerten sich, die Nationalversammlung anzuerkennen und erklärten ihre Konstituierung für einen Akt der Rebellion. Als am 20. Juni der Nationalversammlung der Zugang zum Sitzungssaal versperrt wurde, bemächtigte sie sich stattdessen des nahegelegenen Balhhauses, einer Halle für Federballspiele, und leistete dort unter allgemeiner Begeisterung den berühmten Ballhausschwur, auf ihrem Posten zu bleiben und nicht auseinanderzugehen, bevor sie Frankreich eine Verfassung gegeben hätte. Drei Tage später erklärte sie die Immunität der Nationalversammlung und jeden Übergriff gegen einen ihrer Abgeordneten zum Angriff auf die Souveränität der Nation.

Der König stand dieser völlig unerwarteten parlamentarischen Revolte zunächst ratlos gegenüber. Dann, im Juli, reagierte er: Rund um Paris wurden Truppen zusammengezogen, und am 11. Juli wurde der liberale Finanzminister Necker entlassen, der im Bürgertum hohes Ansehen genoss. Offensichtlich sollte die Nationalversammlung mit militärischer Gewalt auseinandergejagt und ein reaktionäres neues Kabinett gebildet werden, um wieder für Ordnung zu sorgen. In Paris kochte die Stimmung unter der Masse der Kleinbürger, Proletarier und Lumpenproleten, die sich auf die Seite der Nationalversammlung stellten. Weiter angeheizt wurde die Lage durch die Agrarkrise: Die Ernte des Jahres 1788 war sehr schlecht ausgefallen, und die gute Ernte von 1789 noch nicht eingebracht. Die Lebensmittelpreise stiegen, und Mitte Juli erreichte der Brotpreis in Paris den höchsten Stand des ganzen 18. Jahrhunderts. Mit dem Anstieg der Lebensmittelpreise sank die für andere Ausgaben verfügbare Kaufkraft der Massen, sodass eine allgemeine Absatzkrise in Handwerk und Industrie einsetzte, die wiederum mit Entlassungen und Lohnkürzungen gegensteuerten. Die proletarischen und lumpenproletarischen Schichten der Hauptstadt hungerten, und ihre Wut auf die politische Blockade der Privilegierten wurde zweifellos noch angeheizt vom Anblick gutgenährter- und gekleideter Aristokraten, für die es gegen entsprechende Kaufkraft weiterhin alles im Überfluss gab. Am 14. Juli entlud sich die Wut der hauptstädtischen Massen über die Blockade von König und Adel und den befürchteten reaktionären Staatsstreich von oben. Angefeuert vom Rechtsanwalt und Journalisten Camille Desmoulins, stürmte die Masse die Waffenmagazine der Armee, erbeutete dabei 32.000 Gewehre und setzte sich in Marsch gegen die Bastille, eine düstere mittelalterliche Festung, in der ein Staatsgefängnis für politische Häftlinge untergebracht war und die als Symbol des absolutistischen Despotismus galt. Der Kommandant der Festung, der Marquis de Launay, eröffnete zunächst das Feuer auf die Angreifer, aber insbesondere aus dem nahegelegenen Arbeiterviertel Faubourg St. Antoine strömten immer mehr Menschen zusammen, die sich der Belagerung anschlossen, und als die Aufständischen fünf Kanonen herbeischafften, erkannte Launay die Aussichtslosigkeit seiner Situation und kapitulierte. Der Marquis de Launay und ein Adliger, der ihn hatte schützen wollen, wurden von der Menge gelyncht, ihre Köpfe abgeschlagen und auf Spießen im Triumph durch die Straßen von Paris getragen. Die ganze Nacht hindurch feierte die Hauptstadt ausgelassen ihren Sieg über den Despotismus. Gleichzeitig wurde aus Pariser Bürgern eine improvisierte Nationalgarde zum Schutz der Nationalversammlung aufgestellt. Sie stand unter dem Kommando des Marquis de la Fayette, der in Frankreich wie den USA ein Volksheld war, sr in der Führung der französischen Expeditionsarmee im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg entscheidend zum Sieg der amerikanischen Rebellen über England beigetragen hatte. Obwohl selbst aus einer alten Adelsfamilie stammend und im Offiziersdienst für die Monarchie hochgekommen, hatte la Fayette in Amerika demokratische Ideen angenommen und sich von Anfang an auf die Seite der Abgeordneten des dritten Standes gestellt.

Und Ludwig XVI.? Der König hatte am 14. Juli einen seiner geliebten Jagdausflüge unternommen und sich danach zum Mittagsschlaf hingelegt. Der Herzog von Rochefoucauld-Liancourt weckte ihn auf und überbrachte ihm die Nachricht vom Pariser Aufstand. "Aber das ist ja eine Revolte!", rief der König erschrocken aus. "Nein Sire", wurde er korrigiert, "das ist eine Revolution."

Ludwigs Pläne eines reaktionären Staatsstreichs von oben waren nach diesen Ereignissen offensichtlich nur noch durch einen großen Bürgerkrieg realisierbar, wenn überhaupt. Der König, ein schwacher, risikoscheuer Charakter, gab resigniert nach: Necker wurde in sein Amt zurückberufen, die Nationalversammlung als ständiges Parlament anerkannt, die Abgeordneten des Adels zum Eintritt gezwungen, damit er dort überhaupt noch Fürsprecher hätte, und die auf revolutionärem Weg vom Pariser Bürgertum gegründete Nationalgarde erhielt die königliche Billigung. Die revolutionäre Intervention der Massen hatte die parlamentarische Revolte der Nationalversammlung gerettet.

Die Nachrichten aus der Hauptstadt hatten sich wie ein Lauffeuer auch auf dem Land ausgebreitet und die Bauern ermutigt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. In ganz Frankreich bewaffneten sie sich, stürmten die Schlösser ihrer Grundherren und zwangen sie zur Herausgabe der Urkunden, auf denen die feudalen Rechte verzeichnet waren, die sie anschließend in Freudenfeuern verbrannten. Die bürgerliche Nationalversammlung in Paris reagierte darauf erschrocken - zum ersten mal tat sich innerhalb des dritten Standes eine Kluft auf zwischen wohlhabenden und gebildeten Bourgeois, die die parlamentarische Revolte angeführt hatten, und den armen Massen, bei denen der Aufstand gegen den Absolutismus in einen viel breiteren Aufstand gegen die Besitzenden umzuschlagen drohte, zum Entsetzen der in Versailles tagenden Abgeordneten, die mit solchen sozialrevolutionären Exzessen des von ihnen losgetretenen Prozesses nichts zu tun haben wollten. Die Nationalversammlung reagierte in ihrer berühmten nächtlichen Sitzung vom 4. auf den 5. August 1789, wo zur Besänftigung der aufständischen Bauern die Aufhebung aller Feudalrechte beschlossen wurde. Liberale HistorikerInnen haben diesen auch von zahlreichen reformwilligen adligen Abgeordneten mitgetragenen Entschluss als einen Akt beispielloser Großherzigkeit gepriesen. Tatsächlich aber wurde in dieser Nacht nichts beschlossen, was die Bauernaufstände draußen auf dem Land nicht ohnehin schon vollzogen hatten. Ja, im Gegenteil: Die Nationalversammlung träumte in ihrer Mehrheit immer noch von einer langsamen Verschmelzung von reformbereitem Adel und liberalem Großbürgertum wie in England und hoffte, dass der Adel sich der historischen Entwicklung beugen und seiner Eingliederung in die Bourgeoisie zustimmen werde. Entsprechend wurde nicht einfach die ersatzlose Abschaffung der Feudalrechte beschlossen, sondern deren Ablöse, d.h. die Bauern mussten sich von den bisherigen Feudalabgaben freikaufen, und zwar gegen einen sehr hohen Betrag. Für die Bourgeoisie war das eine vorzügliche Lösung: Das Feudalsystem, das die Entfaltung einer bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaft behinderte, wurde überwunden, aber auf eine Weise, die dem Adel das nötige Kapital verschaffte, sich in unternehmerische Großbürger zu verwandeln, die geneigt sein mochten, die durch eine so üppige Abfindung versüßte neue Ordnung der Dinge zu akzeptieren. Die Bauern freilich hatten sich die Sache anders gedacht, und als sie in den darauffolgenden Monaten begriffen, dass die Nationalversammlung nicht einfach ihre Befreiung ausgesprochen hatte, sondern erwartete, sie möchten dafür die Adligen reichlich bezahlen, kam es zu neuen Bauernaufständen, diesmal nicht mehr gegen den Absolutismus, sondern gegen das bourgeoise Parlament und niedergeschlagen von der bürgerlichen Nationalgarde.

Aber vorerst zurück nach Versailles. Unter dem Eindruck des Pariser Juliaufstandes hatte Ludwig XVI., wie erwähnt, seine Putschpläne gegen die rebellische Nationalversammlung fallen lassen, sie als legitimes Parlament anerkannt und die bereits vollzogene Gründung einer bürgerlichen Nationalgarde abgesegnet. Vor der Öffentlichkeit spielte er nun die Rolle des konstitutionellen Monarchen, der die auf revolutionärem Weg erzwungenen neuen Gegebenheiten akzeptierte. Hinter den Kulissen aber bildete sich eine adlige reaktionäre Hofkamarilla um den König, die nach Möglichkeiten suchte, die Uhr wieder vor den 14. Juli zurückzudrehen. Ein flandrisches Regiment wurde nach Versailles beordert, und seine adligen Offiziere richteten im königlichen Schloss ein Festbankett für Ludwig und Königin Marie Antoinette aus, auf dem die betrunkenen Adligen die Nationalversammlung beschimpften, die blau-weiß-rote Kokarde, das Symbol der Revolution, auf den Boden warfen und mit ihren Stiefeln zertrampelten und das Königspaar hochleben ließen. Marie Antoinette dankte ihnen gerührt für diese schöne Geste und versprach, ihnen diesen Abend niemals zu vergessen. Als die Nachrichten von diesem Versailler Bankett in die Hauptstadt drangen, lösten sie unter den hungernden und zunehmend königsfeindlichen Massen die nächste Explosion aus. Am 5. Oktober versammelten sich in Paris hunderte arme Marktfrauen und marschierten ins nahegelegene Versailles, um vom König Brot und die Unterzeichnung der bisherigen Dekrete der Nationalversammlung zu verlangen, vor der er sich gedrückt hatte. Unterwegs schlossen sich ihnen tausende Nationalgardisten an, trotz der Versuche ihres Kommandanten la Fayette, die Menge zur Mäßigung zu bewegen. In Versailles stürmten die Demonstranten am nächsten Tag gewaltsam das Schloss und zwangen den König nicht nur, sofortige Brotlieferungen an die Hauptstadt und Respekt vor der Nationalversammlung zu schwören, sondern auch nach Paris umzuziehen, wo er der ständigen Kontrolle durch die hauptstädtischen Massen, die Nationalgarde und die Nationalversammlung unterstand. Zum zweiten mal hatte die Intervention der Massen die drohende Konterrevolution abgewendet und den König, der fortan nicht mehr in Versailles, sondern im Tuilerienpalast im Zentrum von Paris residierte, gezwungen, sich den neuen Verhältnissen zu beugen.

Mit dem erzwungenen Umzug der königlichen Familie in die Hauptstadt ebbte die erste Hochphase der Revolution ab. Ludwig war zwar zum Verzicht auf seine absolute Stellung gezwungen und zum parlamentarisch kontrollierten Staatsoberhaupt mit begrenzter Machtfülle degradiert worden, aber an eine gänzliche Abschaffung der Monarchie und die Umwandlung Frankreichs in eine Republik dachte man zumindest in der Nationalversammlung immer noch kaum. Das Ziel der Bourgeoisie, Frankreich in eine liberale konstitutionelle Monarchie zu verwandeln, schien erreicht, und auch Ludwig machte Miene, sich nun endlich mit seiner neuen Rolle abgefunden zu haben.
Die Nationalversammlung bildete eine Reihe parlamentarischer Kommissionen, die mit der Ausarbeitung einer Verfassung begannen, und unterdessen musste diese neue bürgerliche Autorität sich erstmals der Tagespolitik stellen. Das dringlichste Problem, zu dessen Lösung man überhaupt erst die Generalstände einberufen hatte, war nach wie vor die erdrückende Schuldenlast des Staates. Dieses Problem wurde auf radikale und erfolgreiche Weise gelöst, indem das Parlament die Beschlagnahmung aller kirchlichen Güter beschloss, die als Deckung für die Ausgabe großer Mengen Papiergeld, der Assignaten, diente. Die Klöster wurden sämtlich für aufgelöst und ihr Besitz zu Staatseigentum erklärt, die Priester zu staatlich besoldeten Beamten, die von ihren Gemeinden zu wählen waren und ihre Loyalität gegenüber Parlament und Verfassung zu bekunden hatten. Und in Verwaltung und Justiz wurden innerhalb weniger Monate die Grundlagen eines modernen bürgerlichen Staates gelegt. Die alten feudalen Territorien wurden aufgelöst und Frankreich in 83 Verwaltungseinheiten mit einheitlicher Verwaltungsstruktur gegliedert, die Départements, die von einem gewählten Départementausschuss mit einem Präsidenten an ihrer Spitze verwaltet wurden und in ihrer Namensgebung jeden Bezug auf die historischen Provinzen vermieden - der Bruch mit dem alten feudalen Frankreich und seine Wiedergeburt als moderner Nationalstaat sollte auch symbolisch zum Ausdruck kommen. Der Ämterkauf im Justizwesen wurde abgeschafft und stattdessen die Wahl der Richter unter Kandidaten mit einem Jusstudium eingeführt, die Prozessordnung grundlegend reformiert und jedem Angeklagten ein Pflichtverteidiger zugestanden.
In den Beratungen über die neue Verfassung einigte man sich bald darauf, kein allgemeines Männerwahlrecht einzuführen wie es noch zu den Wahlen für die Generalstände angewandt worden war, sondern ein Zensuswahlrecht. Wahlberechtigt waren nur männliche Franzosen über 25, die über ein bestimmtes Mindestvermögen verfügten. Um Wahlmann zu werden, brauchte man ein noch größeres Vermögen, und um von den Wahlmännern zum Abgeordneten gewählt werden zu können wiederum ein zehnmal so großes wie für das Amt des Wahlmannes. Somit war sichergestellt, dass ins Parlament nur gutsituierte Bourgeois einziehen konnten, die gewiss keine Neigungen hatten, die erfolgreiche politische Revolution in eine soziale Revolution der Habenichtse zu verwandeln. Nur wenige Stimmen erhoben sich gegen diesen Beschluss. So bspw. ein junger Abgeordneter aus der nordfranzösischen Provinzstadt Arras namens Maximilien Robespierre, der am 22. Oktober 1789 in einer Rede vor der Nationalversammlung sagte:

"Alle Bürger, wer auch immer sie seien, haben das Recht, Anspruch auf alle Stufen politischer Vertretung zu erheben. Nichts entspricht besser eurer Erklärung der Rechte, vor der jedes Privileg, jede Unterscheidung, jede Ausnahme verschwinden müssen. Die Verfassung stellt fest, dass die Souveräntität beim Volk liegt, bei allen Individuen des Volkes."

Bei der Erklärung der Rechte, die Robespierre erwähnt, handelte es sich um die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die auf Antrag des Marquis de la Fayette schon im August 1789 von der Nationalversammlung beschlossen worden war und folgendermaßen lautete:

"1.) Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.

2.) Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.

3.) Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volke. Keine Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht.

4.) Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss ebendieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden.

5.) Das Gesetz darf nur solche Handlungen verbieten, die der Gesellschaft schaden. Alles, was durch das Gesetz nicht verboten ist, darf nicht verhindert werden, und niemand kann gezwungen werden zu tun, was es nicht befiehlt.

6.) Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken. Es muss für alle gleich sein, mag es beschützen oder bestrafen. Da alle Bürger vor ihm gleich sind, sind sie alle gleichermaßen, ihren Fähigkeiten entsprechend und ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Eigenschaften und Begabungen, zu allen öffentlichen Würden, Ämtern und Stellungen zugelassen.

7.) Niemand darf angeklagt, verhaftet oder gefangengehalten werden, es sei denn in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und nur in den von ihm vorgeschriebenen Formen. Wer willkürliche Anordnungen verlangt, erlässt, ausführt oder ausführen lässt, muss bestraft werden; aber jeder Bürger, der kraft Gesetzes vorgeladen oder festgenommen wird, muss sofort gehorchen; durch Widerstand macht er sich strafbar.

8.) Das Gesetz soll nur Strafen festsetzen, die unbedingt und offenbar notwendig sind, und niemand darf anders als aufgrund eines Gesetzes bestraft werden, das vor Begehung der Straftat beschlossen, verkündet und rechtmäßig angewandt wurde.

9.) Da jeder solange als unschuldig anzusehen ist, bis er für schuldig befunden wurde, muss, sollte seine Verhaftung für unumgänglich gehalten werden, jede Härte, die nicht für die Sicherstellung seiner Person notwendig ist, vom Gesetz streng unterbunden werden.

10.) Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört.

11.) Die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte: Jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen.

12.) Die Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte erfordert eine öffentliche Gewalt; diese Gewalt ist also zum Vorteil aller eingesetzt und nicht zum besonderen Nutzen derer, denen sie anvertraut ist.

13.) Für die Unterhaltung der öffentlichen Gewalt und für die Verwaltungsausgaben ist eine allgemeine Abgabe unerlässlich; sie muss auf alle Bürger, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten, gleichmäßig verteilt werden.

14.) Alle Bürger haben das Recht, selbst oder durch ihre Vertreter die Notwendigkeit der öffentlichen Abgabe festzustellen, diese frei zu bewilligen, ihre Verwendung zu überwachen und ihre Höhe, Veranlagung, Eintreibung und Dauer zu bestimmen.

15.) Die Gesellschaft hat das Recht, von jedem Staatsbeamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen.

16.) Eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.

17.) Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem genommen werden, es sei denn, dass die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit dies eindeutig erfordert und vorher eine gerechte Entschädigung festgelegt wird."

Allerdings: In der Praxis war es mit dieser vielbeschworenen Gleichheit oft nicht weit her. So waren Frauen von jeder politischen Partizipation weiterhin ausgeschlossen, und als in der Nationalversammlung die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung diskutiert wurde, konnte sich dieses Projekt vorerst nicht durchsetzen. Wieder profilierte sich dabei Robespierre als prominenter werdender Kopf der parlamentarischen Linken und hielt am 23. Dezember eine eindrucksvolle Rede für die Gleichberechtigung der Juden.

Einer der wichtigsten Punkte der Verfassungsberatungen betraf die staatsrechtliche Stellung des Königs. Durch das Prinzip der Wählbarkeit dieser Ämter hatte er jeden direkten Einfluss auf das Justiz- und Verwaltungspersonal verloren, und auch in der Armee durfte er nur noch die höchsten Ränge ernennen. Beschlüsse der Nationalversammlung konnten vom König nicht aufgehoben, sondern ihr Inkrafttreten nur durch ein aufschiebendes Veto für die Dauer von zwei Legislaturperioden verzögert werden. Auf dem Föderationsfest 1790, am ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, schwor Ludwig XVI. vor einer Menschenmasse von hunderttausenden auf dem Pariser Marsfeld feierlich den Eid auf die neue Verfassung. Wenn er diesen Eid hielte und sich mit seiner neuen Stellung als konstitutioneller Monarch in einem bürgerlich dominierten Staat arrangierte, so hofften gemäßigt liberale Reformer wie la Fayette und Mirabeau, dann war die Revolution an diesem Punkt glücklich abgeschlossen.

 

Der Aufstieg der Jakobiner

Aber es sollte anders kommen. Wieder knüpften Ludwig und Marie Antoinette Verbindungen mit adligen Reaktionären, die über Plänen brüteten, die Revolution zu untergraben. Ja, von den Tuilerien gingen Briefe heraus nach Deutschland an die dorthin emigrierten französischen Aristokraten, die in ihrem Hauptquartier bei Koblenz Geld und Truppen sammelten für einen Krieg gegen das revolutionäre Frankreich, mit dem sie nichts mehr anfangen konnten, und Marie Antoinette schrieb an ihren Bruder, Kaiser Leopold II. in Wien und forderte ihn auf, in Frankreich einzumarschieren, um den Absolutismus mit Waffengewalt wiederherzustellen. Im Juni 1791 flieht die königliche Familie aus Paris, um sich mit den adligen Emigranten und den alliierten Truppen der reaktionären Monarchien zu vereinigen, die sich seit Frühjahr im Krieg mit dem revolutionären Frankreich befinden, an der Spitze ihrer Bajonette nach Frankreich zurückzukehren und den Absolutismus wiederherzustellen. Ludwig wurde allerdings in der ostfranzösischen Kleinstadt Varennes vom örtlichen Postmeister erkannt, ehe er die Grenze überschreiten konnte und nach Paris zurückgebracht, wo die Masse die Absetzung und Bestrafung des Hochverräters forderte, die im Parlament immer noch tonangebenden liberalen Bourgeois aber das Märchen verbreiteten, der König sei gegen seinen Willen von Reaktionären entführt worden, die ihn als Maskottchen der Konterrevolution missbrauchen wollten. Niemand schenkte dieser Notlüge Glauben, auf die die Liberalen und insbesondere la Fayette verfallen waren, um die konstitutionelle Monarchie doch noch zu retten, die sie als Bollwerk gegen den Übergang zur sozialen Revolution der Armen ansahen. Wieder brauchte es die Intervention der Massen, um die Revolution zu radikalisieren und auf eine neue Stufe zu heben. Im Sommer 1792 übernehmen in Paris de facto die nach Stadtteilen gegliederten Sektionen die Macht, in denen Handwerker, Arbeiter und städtische Arme den Ton angeben und die eigenmächtig Überwachungsausschüsse zur Kontrolle mutmaßlicher Konterrevolutionäre einsetzen. Im August schließlich werden von den Sansculotten in den Sektionen Aufstandspläne ausgearbeitet, den König loszuwerden und das Parlament nach links zu ziehen. Am 10. August stürmten tausende bewaffnete Pariser Sansculotten, unterstützt von angereisten Revolutionären aus der Provinz, die Tuilerien und eroberten den Sitz des Königs in einer erbitterten Schlacht gegen dessen Garden, bei der bis zu 5000 Menschen den Tod finden. Unter dem Druck der Straße sieht sich die Nationalversammlung gezwungen, Ludwig für abgesetzt zu erklären, die Republik zu proklamieren und den ehemaligen König, der jetzt nur noch Louis Capet und nicht mehr Ludwig XVI. ist, unter Anklage des Verrats zu stellen. Ein neues Parlament wird gewählt, jetzt nicht mehr nach Zensus- sondern nach allgemeinem Männerwahlrecht: Der Konvent. Die Septembermassaker, in denen die Pariser Massen, aufgewühlt vom Vormarsch der Alliierten und den beginnenden weißen Aufständen, über tausend inhaftierte mutmaßliche Revolutionsfeinde in den Gefängnissen lynchen, sowie die öffentliche Hinrichtung des als Verräter verurteilten ehemaligen Königs im Januar 1793 sind Marksteine dieser Radikalisierung der Revolution, die nun nach dem Intermezzo der girondistischen Vorherrschaft ihrem dramatischen Höhepunkt zustrebt: Der jakobinischen Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses.

Die Jakobiner und insbesondere Robespierre werden bis heute als Schreckgespenster der französischen Revolution präsentiert, die nach deren guter, vernünftiger girondistischer Phase einen Hexensabbat aus Wahnsinn und Blut entfesselt hätten, ehe Frankreich sich im Thermidor wieder von der finsteren Tyrannei befreite. Besonders unter guten staatstragend-verfassungspatriotischen DemokratInnen und in deren Schulgeschichtsbüchern und TV-Dokus werden diese Schauermärchen als historische Tatsachen verkauft und Robespierre und Co als tiefschwarzer Gegenpol zu demokratischer Vernunft und Mäßigung dargestellt. Tatsächlich vertraten die Jakobiner zur Zeit des Wohlfahrtsausschusses als erste regierende Gruppe in der Geschichte ein System, das fast alle wesentlichen Elemente heutiger demokratisch-liberaler Sozialstaaten enthielt. Robespierre und der Wohlfahrtsausschuss sind die Ahnen aller heutigen liberaldemokratischen Staaten. Die knapp ein Vierteljahrtausend später verbrauchte, konservativ und hohl gewordene liberale Demokratie, für die jede revolutionäre Bewegung der Gegenwart nur noch eine Gefahr und keine Chance mehr sein kann, schämt sich dieser revolutionären Herkunft allerdings und versucht ihre Großväter zu leugnen und zu diffamieren, um jede energische revolutionäre Bewegung als Teufelszeug darzustellen, und sei es auch diejenige, in der sie selbst geboren wurde.

Schauen wir uns ein wenig an, wie diese ca. 13 Monate jakobinischer Herrschaft über Frankreich (Juni 1793 bis Juli 1794) tatsächlich aussahen, welche Leistungen sie erreichte und woran sie scheiterte.

Zunächst einmal muss man differenzieren zwischen dem, was der Jakobinerklub in der Frühphase der Revolution und was er zur Zeit der Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses war. Der Jakobinerklub war 1789 gegründet worden und trug seinen Namen aufgrund seines Vereinslokals, des säkularisierten Jakobinerklosters in Paris, wo sich seine Mitglieder seit Oktober dieses Jahres regelmäßig trafen (Bald gab es allerdings jakobinische Ortsgruppen in jeder nennenswerten Stadt Frankreichs). Der offiziell den Namen "Gesellschaft der Verfassungsfreunde" tragende Klub war anfangs ein politisch diffuses Sammelbecken von Reformern verschiedener Schattierungen, zunächst durchaus gemäßigt, nur für eine konstitutionelle Monarchie und gütlichen Kompromiss zwischen König, Adel und Bürgertum und noch nicht für eine Republik eintretend. Es gab sogar einen ziemlich beträchtlichen Mitgliedsbeitrag, um zu verhindern, dass radikale Habenichtse eintreten. In dem Maße, in dem sich die Revolution selbst radikalisierte, gingen die führenden Köpfe des Jakobinerklubs allerdings immer weiter nach links, insbesondere die beeindruckende Gestalt Maximilien Robespierres, eines Rechtsanwalts aus Arras.
 

Es folgten Rechtsabspaltungen aus dem Jakobinerklub: 1791 die der Feuillants unter Leitung des Marquis de la Fayette, die weiterhin für eine konstitutionelle Monarchie und einen Klassenkompromiss zwischen Adel und Großbürgertum eintraten, im Herbst 1792 die der Girondisten, die zwar überzeugte Republikaner waren, in dieser aber für eine Vorherrschaft des wohlhabenden und gebildeten Bürgertums eintraten und darum in der Zeit ihrer de facto-Regierung von Ende 1792 bis Juni 1793 eine Aufhebung des Zensuswahlrechts ablehnten und liberale Wirtschaftspolitik im Interesse der Bourgeoisie trieben. In dieser Zeit konnten sich die Jakobiner, gereinigt von ihren ausgetretenen monarchistischen und girondistischen Elementen, als radikale demokratische Opposition gegen die Girondisten und ihre antisoziale Politik profilieren und gewannen die Unterstützung der Sansculotten, der kleinbürgerlichen, proletarischen und lumpenproletarischen radikalen Revolutionäre der großen Städte und insbesondere von Paris, die durch ihren bewaffneten Sturm auf die Tuilerien im August 1792 das Ende der konstitutionellen Monarchie und die Proklamierung der Republik erzwungen hatten.

Während die Girondisten abstrakte politische und juristische Freiheiten (Erste allerdings auch nur für begüterte Bürger) hochhielten, scherten sie die sozialen und ökonomischen Rechte der Massen wenig, die unter ihrer liberalen Wirtschaftspolitik schrecklich litten. Robespierre prangerte diese Politik in einer flammenden Rede vor dem Konvent am 2. Dezember 1792 an:

"Das erste gesellschaftliche Recht ist dasjenige, das allen Mitgliedern der Gesellschaft die Existenzmittel garantiert; alle anderen sind diesem untergeordnet[...] Kein Mensch hat das Recht, Getreide aufzuspeichern, wenn sein Nächster verhungert. Alles, was für die Existenzsicherung der Menschen notwendig ist, gehört der Gesellschaft, allein der Überschuss kann ein Handelsobjekt sein.[...] Und ihr, Gesetzgeber, erinnert euch, dass ihr nicht die Vertreter einer privilegierten Kaste seid, sondern die des französischen Volkes, vergesst nicht, dass die Gerechtigkeit die Quelle der Ordnung ist, dass der sicherste Garant der Ruhe das Glück der Bürger ist und dass die langen Zuckungen, die die Staaten zerreißen, nur der Kampf der Vorurteile gegen die Prinzipien sind, des Egoismus gegen das allgemeine Interesse, des Stolzes und der Leidenschaften der Mächtigen gegen die Rechte und Bedürfnisse der Schwachen."

Ein anderer großer Streitpunkt zwischen Jakobinern und Girondisten war die Frage des revolutionären Krieges. Die späteren Wortführer der Girondisten, besonders ihr prominentester Kopf Brissot, waren noch während ihrer Mitgliedschaft im Jakobinerklub für einen aggressiven außenpolitischen Kurs eingetreten, für den gewaltsamen Export der Revolution durch energische Kriegführung gegen die umgebenden Monarchien - angeblich, um einerseits den anderen Völkern Europas die Freiheit zu bringen, andererseits um das revolutionäre Feuer im Inneren anzufachen, tatsächlich aber wohl eher zur imperialistischen Ausplünderung der eroberten Gebiete im Interesse der ans Ruder gelangten französischen Bourgeoisie. Noch innerhalb des Jakobinerklubs hatte Robespierre gegen diesen Kurs angekämpft: Frankreich solle alles tun, um revolutionäre Bewegungen in Europa zu ermutigen, aber die Eroberung durch französische Armeen werde wohl eher als Besatzung denn als Befreiung empfunden werden und damit die Popularität revolutionärer Ideen eher senken als steigern. Im Januar 1792 entgegnete Robespierre Brissot:

"Die absonderlichste Idee, die dem Kopf eines Politikers entsteigen konnte, ist es zu glauben, dass es für ein Volk genügt, mit bewaffneter Macht bei einem fremden Volk einzufallen, um es zur Annahme seiner Gesetze und seiner Verfassung zu bringen. Niemand liebt bewaffnete Missionare, und der erste Rat, den Natur und Vorsicht einem eingeben ist der, sie als Feinde zurückzudrängen."

Nachdem er mit seinem Standpunkt bei der Abstimmung im Parlament unterlegen war und Frankreich zunächst Österreich, bald so ziemlich allen Monarchien Europas den Krieg erklärte, verkündete Robespierre, dass er den Krieg zwar abgelehnt habe, er jetzt, da Frankreich sich im Kampf mit fast ganz Europa befand, aber zu einer Überlebensfrage der Republik geworden sei und man ihn folglich mit fanatischer Entschlossenheit führen müsse, um die Freiheit vor dem Sieg der Konterrevolution zu retten. Die Girondisten dagegen (Die, wie oben schon erwähnt, unter Führung Brissots im Herbst 1792 endgültig mit dem Jakobinerklub brachen und sich als eigene Partei konstituierten) würden den Krieg inkompetent und nachlässig führen, sich um die Plünderung der besetzten Gebiete mehr kümmern als um den Sieg, ihre Generäle seien korrupt und oft Verräter, die zu den Alliierten überliefen. Gewinnen könne Frankreich gegen diese erdrückende alliierte Übermacht nur, indem die Revolution sich radikalisiere und die Interessen der Armen offensiv vertrete: Während die Revolutionstruppen nur halbherzig für die inkompetente, korrupte Bourgeoisregierung der Girondisten kämpften, würden sie sich mit voller Leidenschaft für einen Staat einsetzen, der wirklich auf ihrer Seite steht und ihnen das Gefühl vermittelt, auf dem Schlachtfeld für ihre eigenen Interessen zu kämpfen.

Ein weiterer Streitpunkt war die Kolonialfrage. Die Girondisten als großbürgerliche frühe Imperialisten traten für die Verteidigung der Kolonien, die Aufrechterhaltung des Sklavenhandels (Unter den führenden Girondisten waren etliche große Sklavenhändler) und den Ausschluss der Schwarzen vom Bürgerrecht ein. Robespierre dagegen hielt eine Reihe kraftvoller Parlamentsreden für die Aufgabe der Kolonien, das Verbot jeder Sklaverei und die volle Emanzipation der Schwarzen, womit er zur Hassfigur Nr. 1 unter den girondistischen Vertretern von Kolonialinteressen wurde.

In dem Maße, in dem die regierenden Girondisten sich durch schreckliche militärische Misserfolge und ihre liberale Wirtschaftspolitik diskreditierten, die durch ungehinderte Spekulation der Kaufleute zu Hunger und Elend unter den Massen führte, wuchs die Popularität der sich als entschlossene demokratische Opposition präsentierenden Jakobiner und ihres Wortführers Robespierre, um den sich unter den Armen spontane Anflüge von Personenkult bildeten. Als die bedrängten Girondisten die Lage durch Verhaftung bekannter Radikaler in den Griff bekommen wollten, explodierte der angestaute Unmut: Die Festnahme des radikalen Demokraten Hébert im Mai 1793 löste einen Aufstand der Pariser Sansculotten aus. Als sich die Nationalgarde auf die Seite der Aufständischen schlug und ihre Truppen das Parlament umstellten, waren die Girondisten mattgesetzt. Ihre Abgeordneten wanderten, soweit sie nicht fliehen konnten, in Haft und wurden vor ein Revolutionstribunal gestellt. Im Oktober 1793 wurden 21 führende Girondisten, darunter Brissot, mit der Guillotine öffentlich hingerichtet, wobei der girondistische Abgeordnete Vergniaud vor seinem Tod die berühmt gewordenen Worte sprach: "Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder." Damit begann der dramatische Höhepunkt der Revolution - die Herrschaft der Jakobiner und des Wohlfahrtsausschusses.

Freilich: Der Begriff der "Herrschaft" muss etwas relativiert werden. Die Jakobiner haben das parlamentarische System keineswegs aufgehoben. Keine wichtige Maßnahme konnte ohne Zustimmung des Konvents beschlossen werden, und in diesem Konvent waren die jakobinischen Abgeordneten (Deren Fraktion man wegen ihrer Sitze auf den oberen Rängen des Plenarsaals "den Berg", "la montagne", nannte) nur eine Minderheit. Die deklarierten girondistischen Abgeordneten waren vom Volksaufstand vom Mai/Juni 1793 aus dem Parlament gefegt worden, aber der allergrößte Teil der Abgeordnete bestand aus fraktionslosen Abgeordneten, dem "Sumpf", die von den wortgewaltigen jakobinischen Parlamentsrednern jedesmal überzeugt werden mussten, ihren Gesetzesanträgen zuzustimmen, und es gab dabei durchaus viele Gegenstimmen. Im Laufe der jakobinischen Vorherrschaft verschob sich die Machtkonzentration zwar von der Legislative zur jakobinisch dominierten Exekutive, aber das Parlament wurde trotzdem nicht bedeutungslos, und so konnte der Konvent auch 1794 die Jakobiner wieder entmachten.

Den Mittelpunkt der Exekutive bildete der Wohlfahrtsausschuss (Comité du salut public), der schon im April 1793 gegründet worden war, aber erst nach der jakobinischen Machtübernahme im Juni 1793 den Charakter einer Revolutionsregierung annahm. Seit 27. Juli 1793 war Robespierre de facto das Haupt des Wohlfahrtsausschusses und damit quasi Regierungschef. Ihm standen vier politisch nahestehende Jakobiner zur Seite: Louis Antoine Saint-Just, George Auguste Couthon, André Jeanbon Saint-André und Pierre Louis Prieur. Zwei Mitglieder standen links des von Robespierre repräsentierten jakobinischen Zentrums , unterstützten aber meistens Robespierre, nämlich Jean Nicolas Billaud-Varenne und Jean Marie Collot d'Herbois. Drei Mitglieder standen weiter rechts und vertraten oft girondistisch anmutende Positionen: Robert Lindet, Lazare Nicolas Carnot und Claude Antoine Prieur-Duvernois. Bertrand Barére und Marie Jean Hérault de Séchelles waren Opportunisten, die vorsichtig die eindeutige Bindung an eine bestimmte Gruppe vermieden. Beschlüsse des Wohlfahrtsausschusses mussten mit einfacher Mehrheit seiner Mitglieder gefasst und dann vom Konvent bestätigt werden. Eine formalisierte jakobinische Diktatur gab es nie, ihre Macht beruhte auf ihrer Vorherrschaft im Wohlfahrtsausschuss und ihrer zunächst bestehenden Autorität im Konvent, gestützt auf die Massen draußen auf der Straße, die den de facto-Regierungsantritt der Jakobiner als ihren Sieg feierten.

Was taten die Jakobiner nun mit ihrer starken Stellung? Erstens eine umfassende Sozialpolitik und staatliche Regulation der Wirtschaft einleiten. Mit dem girondistischen laissez faire-Liberalismus war nun Schluss. Im Juli 1793 wurde ein Gesetz gegen den Lebensmittelwucher verabschiedet, das die Hortung von Lebensmitteln und anderen wichtigen Gütern des täglichen Bedarfs zur Profitsteigerung zur drakonisch geahndeten Straftat erklärte. Lebensmittel mussten von ihren Besitzern täglich öffentlich und zu einem mäßigen Preis zum Verkauf angeboten werden. Wer beim Lebensmittelhorten und Spekulationsgeschäften erwischt wurde, wurde vor das Revolutionstribunal gestellt und konnte zum Tode verurteilt werden. Anfang 1794 trat das Gesetz über das Preismaximum in Kraft, das für wichtige Konsumgüter moderate Höchstpreise festlegte, deren Überschreitung zur Straftat wurde. Demonstrative öffentliche Hinrichtungen von Lebensmittelspekulanten bewirkten das Wunder: Plötzlich waren nach der girondistischen Hungerzeit wieder genug Lebensmittel zu günstigen Preisen erhältlich. Außerdem wurden die Pariser Börse geschlossen und in ganz Frankreich Aktiengesellschaften verboten - Ausdruck der sich im Jakobinismus artikulierenden kleinbürgerlichen Opposition gegen die Bedrohung durch das große Kapital.

Diese Maßnahmen nützten vor allem den städtischen Armen sowie den kleinen Handwerkern und Ladenbesitzern. Aber auch für die kleinen Bauern wurden wichtige Gesetze beschlossen. Im Juni und November 1793 wurden zwei Gesetze erlassen, die den Verkauf der Nationalgüter neu regelten, d.h. der schon in einer früheren Phase der Revolution konfiszierten Ländereien aus einstigem adligem und kirchlichem Besitz. In girondistischer Zeit waren diese meistens ziemlich großen Güter nur in großen Parzellen verkauft worden, sodass sie nur für reiche Bourgeois mit großem verfügbarem Vermögen erschwinglich waren, die sich durch deren Aufkauf zu einer Art Agrarkapitalisten mausern konnten. Die Jakobiner teilten die Parzellen der Nationalgüter nun in zahlreiche viel kleinere Teilstücke auf, die sich angesichts der geringen Preise auch ein durchschnittlicher kleiner Bauer leisten konnte. Von Hungerleidern wurden nun Millionen kleiner Bauern zu in bescheidenem Wohlstand lebenden Landbesitzern, die einen guten Lebensunterhalt fanden und bis in die napoleonische Zeit aus Dankbarkeit für diesen Fortschritt zu den glühendsten Verteidigern der neuen Ordnung gegen die konterrevolutionären Aliierten wurden. Die Ventose-Dekrete von März 1794 schließlich sahen vor, die eingezogenen Vermögen von Feinden der Republik an die Familien armer Leute zu verteilen, die sich im Einsatz für die Republik ausgezeichnet hatten.

Auch ein anderes altes jakobinisches Anliegen wurde umgesetzt: Im Februar 1794 wurde die Sklaverei abgeschafft und die volle Gleichberechtigung der Schwarzen verkündet. Toussaint Louverture, ein schwarzer ehemaliger Sklave, der in der französischen Kolonie Haiti den Sklavenaufstand gegen die weißen Pflanzer und die in der Kolonie befindlichen royalistischen Konterrevolutionäre führte, wurde vom Wohlfahrtsausschuss zum General der französischen Republik ernannt und mit staatlichen Ehrungen ausgezeichnet.

Freilich: Robespierre und sein jakobinisches Zentrum vertraten keinen Sozialismus. Ihr von Rousseau geprägtes Ideal war keine zentrale Planwirtschaft, sondern eine Gesellschaft kleiner Eigentümer, in der optimalerweise jeder als Bauer, Laden- oder Werkstattbesitzer seinen Lebensunterhalt fand, in der es weder üppigen Reichtum noch Armut gab - ein nicht realisierbares kleinbürgerliches Idyll. Der Spagat, den Robespierre zwischen (klein)bürgerlichen Interessen und den ihn zunächst stützenden Sansculotten vollführte, zeigte sich in Gesetzen wie dem Lohnmaximum, in dem den Höchstpreisen Höchstlöhne zur Eindämmung der Inflation an die Seite gestellt wurden, oder darin, dass das Chapelier-Gesetz, das Streiks und die Bildung gewerkschaftsartiger Zusammenschlüsse verbot, von den Jakobinern nach ihrer Machtübernahme nicht aufgehoben wurde. Anders als Jean-Paul Marat, der schon in den 1770er Jahren protosozialistisch zu nennende Konzepte entwickelt hatte, ging Robespierre von einem abstrakten, moralisierenden Rousseauismus aus, der nicht nach Klassen unterscheidet, sondern eine Einteilung in Tugendhafte und Verdorbene, in wahrhafte Patrioten und Verräter vornimmt und kaum versteht, welche objektiven sozioökonomischen Gründe weite Teile des Bürgertums zur Opposition gegen die Jakobiner trieben, wenn diese sich auf die Seite der Sansculotten stellten (Was, wie man betonen muss, eben keineswegs immer der Fall war). Aber mag Robespierre den Klassencharakter seiner Politik auch niemals ausgesprochen und selbst kaum verstanden haben, er war trotzdem vorhanden und musste das lockere Bündnis der verschiedenen jakobinischen Fraktionen sprengen - in der ersten Hälfte der Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses trieb er eine sozialstaatliche Politik im Interesse der Armen, in der zweiten Hälfte dann, als die Opposition von rechts vernichtet war, wandte er sich gegen die Sansculotten und musste feststellen, keine soziale Basis mehr zu haben.

Die Jakobiner waren keine frühen Kommunisten, sondern radikale kleinbürgerliche Demokraten. Das zeigt sich in der von ihnen ausgearbeiteten neuen Verfassung von 1793, die mit ihrem auf dem allgemeinen gleichen (Männer-)Wahlrecht beruhenden Parlamentarismus das Muster aller modernen liberaldemokratischen Verfassungen bildet. In die Verfassung wurde auch ein umfassender Rechtekatalog aufgenommen, der über die Menschenrechtserklärung von 1789 weit hinausging. So bekamen Versammlungsfreiheit und Petitionsrecht Verfassungsrang, ebenso das Recht auf freie Bildung für alle, und vor allem: Das Recht auf eine für den Lebensunterhalt ausreichende Arbeit bzw. bei Arbeitslosigkeit- oder unfähigkeit ausreichende staatliche Unterstützung. Erstmals war das Recht aller BürgerInnen auf einen gesicherten Lebensunterhalt als Prinzip eines Staates verkündet worden. Aber diese demokratische Musterverfassung trat zunächst nicht in Kraft. Robespierre argumentierte, dass erst die Alliierten und die Konterrevolution durch eine straffe Revolutionsregierung (Er nannte diese temporäre autoritäre Phase der Revolution "Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei") abgewehrt werden müssten, ehe man die volle Freiheit einführen könne - und in diesem Kampf sah es bei der jakobinischen Machtübernahme sehr düster aus.

Nach Anfangserfolgen waren die französischen Armeen im Kampf mit den Alliierten (Die wichtigsten Kriegsparteien im Landkrieg waren dabei Österreich und Preußen) in die Defensive geraten und erlitten im März 1793 bei Neerwinden in Belgien eine schwere Niederlage, woraufhin ihr Oberbefehlshaber Dumouriez desertierte und zu den Alliierten überlief. Bis April waren alle deutschen Eroberungen mit Ausnahme der Festung Mainz verloren und drohte wieder die Invasion Frankreichs. Im Süden drohten Invasionen der von England finanziell und logistisch kräftig unterstützten spanischen und italienischen Alliierten, und im Mittelmeer führte die britische Flotte einen erfolgreichen Seekrieg gegen die Republik. Im französischen Mittelmeerhafen Toulon, wo royalistische Konterrevolutionäre im Bund mit geflüchteten Girondisten die Macht übernommen hatten, unterhielt die britische Marine einen Flottenstützpunkt und drohte die Landung englischer Truppen. Die Alliierten, deren Oberbefehlshaber, der Herzog von Braunschweig, schon im Sommer 1792 die Einäscherung von Paris, die Hinrichtung der Revolutionäre und die Wiederherstellung der absoluten Monarchie in einem Manifest proklamiert hatte, frohlockten über ihren offensichtlich bevorstehenden Sieg und das Erlöschen des ganz Europa schüttelnden revolutionären Unruheherds.

Und im Inneren waren massive weiße Revolten ausgebrochen. In der Vendée im Westen Frankreichs brach ein großer Bauernaufstand aus, an dessen Spitze sich prompt republikfeindliche Adlige und Priester stellten, die die Wiederherstellung der Monarchie forderten und mit massiver finanzieller Unterstützung aus England einen erbitterten Guerillakrieg gegen die Pariser Revolutionsregierung führten, republikanische Amtsträger und Sympathisanten der Jakobiner massakrierten, wo sie ihnen in die Hände fielen. In bedeutenden Handelsstädten wie Lyon und Bordeaux hatte die Bourgeoisie, oft im Bündnis mit Adligen und Klerikern, die jakobinischen Behörden gestürzt und die örtlichen Jakobiner umgebracht. Ein großer Teil des Landes befand sich 1793/94 in offener, bewaffneter Rebellion.

Auf diese lebensbedrohliche Krise reagierte der Wohlfahrtsausschuss energisch, vor allem mit zwei Maßnahmen. Erstens mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, der "levée en masse". Bisher waren europäische Kriege mit recht kleinen Berufsarmeen geführt worden, mit Söldnern aus aller Welt, geführt von aristokratischen Offizieren, die diese zusammengewürfelten Haufen von gescheiterten Existenzen nur durch harten Drill und barbarische Disziplinarstrafen halbwegs im Zaum halten konnten. Nun musste jeder männliche Franzose zwischen 18 und 25 Jahren in den Kampf für die Republik ziehen und wurde mit Reden und Proklamationen auf seine heilige Pflicht eingeschworen, auch in seinem eigenen Interesse die Freiheit (Und die neuen Besitzverhältnisse) gegen die Konterrevolution zu verteidigen. Die Armee der Republik schwoll an auf rund eine Million Soldaten, eine ungeheuerliche Zahl im Vergleich zu den aus einigen zehntausend Mann bestehenden Söldnerarmeen der Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts, und dieses Massenheer machte seinen Mangel an Erfahrung durch leidenschaftlichen Kampfeseifer wett, all diese Söhne kleiner Bauern und städtischer Armer spürten, dass sie in diesem Kampf gegen die Alliierten, die emigrierten Aristokraten und die weißen Rebellen ihr Leben für ihre eigene Sache wagten. Staatliche Kriegswirtschaftsbehörden wurden eingerichtet, die ohne Rücksichten auf Eigentumsrechte alles konfiszierten, was für maximale Kriegsproduktion notwendig war, und in den Stadtvierteln sammelten die Sansculotten alles ein, was für die Rüstungsproduktion nur irgendwie wiederverwertbar sein mochte. Die ganze Nation sollte alle Kraftreserven für den Kampf gegen Adel, Priester und die europäischen Monarchien mobilisieren, wie es der Aufruf des Wohlfahrtsausschusses formulierte:

"Die jungen Männer werden in den Kampf ziehen, die verheirateten werden Waffen schmieden, das Heer versorgen und den Unterhalt der Nation sichern. Die Frauen werden Uniformen und Zelte nähen und in den Lazaretten Dienst tun. Die Kinder werden Leinen zupfen und ihre reinen Hände zum Himmel erheben. Die Greise werden das Beispiel der alten Völker nachahmen, sich auf die öffentlichen Plätze tragen lassen, den Kriegern Mut und Hass gegen die Könige zu predigen. Die Republik ist nur noch eine belagerte Festung. Frankreich darf nur noch ein einziges Zeltlager sein."

Das Wunder geschah: Im Kampf gegen nahezu ganz Europa behaupteten sich die von revolutionärer Begeisterung erfüllten Massenheere der Republik, brachten den alliierten Vormarsch zum Stehen und erstickten nach und nach die weißen Aufstandsherde im Inneren. Als die Jakobiner im Sommer 1794 gestürzt wurden, war die Republik militärisch gerettet. Bei der Rückeroberung Toulons hatte sich ein aufstrebender 24-jähriger Artillerieoffizier ausgezeichnet, der trotz seiner ärmlichen, glanzlosen Herkunft angesichts der Desertion der meisten erfahrenen Offiziere aus königlicher Zeit schnell aufstieg und besonders von Robespierres Bruder Augustin gefördert wurde, der ihn nicht nur als begabten Offizier, sondern auch als guten, jakobinischen Republikaner einschätzte. Sein Name war Napoleone Buonaparte.

 

„Terreur“ und Sturz der Jakobiner-Herrschaft

Die zweite Maßnahme zur Rettung der Republik war die berüchtige "terreur", die Repressivmaßnahmen gegen die Konterrevolution. Drakonische staatliche Bestrafung von Oppositionellen war Robespierre und den Jakobinern vor 1793 nie in den Sinn gekommen, im Gegenteil: Robespierre hatte sich im Parlament energisch für die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt, die er als ein barbarisches Relikt primitiver gesellschaftlicher Zustände sah. An die Macht gelangt und mit der drohenden Zerstörung der Republik durch die Konterrevolution konfrontiert, sahen sich die Jakobiner allerdings gezwungen, zu harten, abschreckenden Strafmaßnahmen zu greifen. Am 17. September 1793 wurde das "Gesetz über die Verdächtigen" verabschiedet, das neueingerichteten Überwachungsausschüssen das Recht gab, in ihrem Gebiet Listen von Verdächtigen aufzustellen, die der aktiven Unterstützung der weißen Aufständischen oder antirepublikanischer Propaganda beschuldigt wurden und denen vor dem Revolutionstribunal der Prozess gemacht wurde. Rund 50.000 Verdächtige wurden bis zum Sturz Robespierres als "Feinde der Freiheit" zum Tode verurteilt und hingerichtet. Gewiss gab es dabei viel Denunziantentum aus niederen Motiven und viele Willkürurteile, aber bei der Masse der Verurteilten handelte es sich ohne Zweifel um echte Konterrevolutionäre: In denjenigen Départements, in denen es keine weißen Aufstände gab, wurden auch kaum Hinrichtungen vollzogen, in den Zentren der Rebellion dagegen sehr viele. In Lyon, der Hochburg der aufständischen Girondisten, wurden nach der Rückeroberung der Stadt im Oktober 1793 knapp 1700 Aufständische und Sympathisanten in Massenerschießungen hingerichtet und als Mahnmal die prächtigen Häuser der antijakobinischen Bourgeois abgerissen. Im zurückeroberten Nantes ließ der Konventskommissar Jean-Baptiste Carrier mehrere tausend Weiße ohne Gerichtsurteil in der Loire ertränken.

Waren die Repressivmaßnahmen zunächst ein Akt der Notwehr gegen die schließlich in 60 von 80 Départements tobende Konterrevolution, so geriet die "terreur" in den letzten Monaten der jakobinischen Herrschaft außer Kontrolle. Das Gesetz vom 22. Prairial des Jahres 2 (10.6.1794) ermöglichte auf vagen Verdacht hin ganz willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen, die kaum noch irgendeiner Kontrolle unterstanden.

Und mittlerweile fiel das Fallbeil immer häufiger auch auf den Nacken von linken statt rechten Gegnern der Jakobiner. Die jakobinische Herrschaft war anfangs von den Massen als ihr Sieg über die von den Girondisten repräsentierten Bonzen bejubelt worden, und die ersten sozialpolitischen Maßnahmen und die neue demokratische Verfassung des Wohlfahrtsausschusses fanden den Beifall der Sansculotten. In zunehmendem Maße wurden aber die Diskrepanzen zwischen den kleinbürgerlich-demokratischen Jakobinern und den protosozialistischen Sansculotten spürbar, besonders krass bei der Kontroverse um das Lohnmaximum als Ergänzung des Preismaximums, das de facto eine staatlich verordnete Reallohnsenkung vieler Gruppen bedeutete. Radikale Sansculotten forderten die Jakobiner auf, über ihr Gesetz über den Verkauf der Nationalgüter hinauszugehen und das Land an alle Bedürftigen zu verschenken, die es bebauen wollen - eine Forderung, die offensichtlich so viel Anklang fand, dass der Wohlfahrtsausschuss ihre Propagierung unter harter Strafandrohung verbot.

Die jakobinische Verfassung von 1793 war von den Sansculotten zwar begrüßt worden, sie forderten aber deren sofortiges Inkrafttreten statt bis zum Frieden zu warten und kritisierten außerdem die dominante Rolle des Jakobinerklubs als einer Art Staatspartei in Embryonalform, die zugunsten von mehr direkter Demokratie in den verschiedenen politischen Klubs und den nach Stadtvierteln gegliederten Sektionen zurückgefahren werden sollte. Ein weiterer Konfliktpunkt war die jakobinische Entchristianisierungskampagne. Die Jakobiner, die anfangs wesentlich auf der Unterstützung der radikalen unterbürgerlichen Sansculotten aufbauten, hatten auf deren Drängen eine schärfere Gangart gegen die politisch und ökonomisch längst entmachtete Kirche eingeschlagen und eine Entchristianisierungskampagne begonnen: Die Zeitrechnung nach Christi Geburt wurde durch die Zeitrechnung nach Proklamation der Republik ersetzt, der alte Kalender durch einen neuen Revolutionskalender mit poetischen Monatsnamen, die meisten Kirchen wurden geschlossen, besonders symbolträchtige (Wie Notre-Dame in Paris) zu "Tempeln der Vernunft" umfunktioniert. Robespierre, der fürchtete, die gläubige Landbevölkerung gegen sich aufzubringen, wenn die Kampagne zu weit ginge und der den Atheismus ohnehin als "aristokratische", mit Arroganz und Verachtung ggü. den ungebildeten Massen einhergehende Erscheinung angeprangert hatte, distanzierte sich vom radikalen Atheismus der überwiegend städtischen Sansculotten und propagierte stattdessen einen aufgeklärten Pantheismus, in dem nicht mehr dem christlichen Gott, sondern einem diffus bleibenden "höchsten Wesen" gehuldigt werden sollte - ein Einfall, der ihm Spott und Häme von den sansculottischen Radikalen der Hauptstadt eintrug. Und schließlich gab es wachsende Kritik, die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen des Wohlfahrtsausschusses seien zwar ein guter erster Schritt, aber längst nicht ausreichend, ja, es kamen sozialistische, planwirtschaftliche Ideen in der äußersten Linken auf.

Robespierre, der an seinem Ideal der kleinbürgerlichen Demokratie der ehrlichen, bescheidenen Kleinbesitzer festhielt, wusste sich gegen diese wachsende Opposition von links nicht anders als durch verstärkte Repression zu helfen. Als im September 1793 ein von den protosozialistischen "Enragés" imspirierter Tumult in Paris ausbrach, wurde ihr Wortführer Jacques Roux vor Gericht gestellt und beging in der Haft Suizid, um der sicheren Hinrichtung zuvorzukommen. Im März 1794 wurde die Gruppe der sogenannten Hébertisten (Nach ihrem führenden Kopf Jacques-René Hébert), links der Jakobiner stehender Demokraten mit sansculottischen Neigungen, vor das Revolutionstribunal gestellt und guillotiniert, darunter auch Hébert.

Mehr und mehr bröckelte angesichts dieser Entwicklung die Unterstützung für die Jakobiner unter den sansculottischen städtischen Armen weg. In Paris nahmen die ArbeiterInnen und Armen ein kühles, oft schon ein feindseliges Verhältnis zum Wohlfahrtsausschuss ein, der sie mit seinen unmöglichen Versuchen eines Interessenausgleichs zwischen Bürgertum und armen Massen zunehmend enttäuschte. "Die Revolution ist erfroren", sagte Saint Just bezüglich des damals erlahmenden Elans der Massen. Die schwankenden Fundamente seiner Macht versuchte der Wohlfahrtsausschuss durch immer mehr und immer willkürlichere Hinrichtungen von rechten wie linken Oppositionellen zu stabilisieren, und mit den wachsenden militärischen Erfolgen gegen die Alliierten und die Weißen wurde der revolutionäre Terror nicht etwa zurückgefahren, sondern intensiviert. In den letzten 49 Tagen von Robespierres Herrschaft fällte das Revolutionstribunal fast so viele Todesurteile wie in den vorherigen 15 Monaten seines Bestehens zusammengenommen. Die Schaukelpolitik der Jakobiner wurde unhaltbar, und im Konvent rumorte es unter den fraktionslosen Abgeordneten des "Sumpfes", die angesichts des außer Kontrolle geratenden Terrors um ihr Leben fürchteten, wenn sie nur von irgendwem einmal verdächtigt werden mochten.

Als Robespierre am 26. Juli 1794 in einer Rede vor dem Konvent von Verrätern sprach, deren Namen er bald aufdecken werde, um sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen, also recht offen eine neue Säuberungswelle ankündigte, gab er der aufgeschreckten Parlamentsmehrheit damit das Signal zum Handeln. Am darauffolgenden Tag, nach dem neuen Revolutionskalender der 9. Thermidor, stellten - nach fiebrigen vorbereitenden nächtlichen Besprechungen - Abgeordnete des "Sumpfes" den Antrag auf die sofortige Verhaftung von Robespierre, Saint-Just und Couthon, dem die Mehrheit des Konvents zustimmte. Allerdings gelang ihm knapp die Flucht aus dem Sitzungssaal. Robespierre, die jakobinische Führung und einige hunderte treue Anhänger verschanzten sich nun bewaffnet im Pariser Stadthaus. Als ihrem Aufruf, zu ihrer Verteidigung herbeizueilen, kaum jemand aus der erschöpften, desillusionierten Pariser Plebs folgte und die Nationalgarde sich für die Konventsmehrheit gegen Robespierre erklärte, war das Spiel verloren. In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1794 stürmte die Nationalgarde das Stadthaus und nahm Robespierre gefangen. Noch am selben Tag wurden er und 20 weitere führende Jakobiner ohne Prozess guillotiniert, es folgten weitere 83 Hinrichtungen in den nächsten Tagen. Überall in Frankreich wurden jakobinische Amtsträger ihres Amtes enthoben, verhaftet und vor Gericht gestellt, manchmal spontan gelyncht.

 

Germinal und Prairial

Mochten die Sansculotten und andere Linke dem Sturz Robespierres zunächst gleichgültig oder sogar positiv gegenüberstehen, dauerte es nicht lange, bis der Charakter dieses Umsturzes sichtbar wurde. Bald wurde der Jakobinerklub verboten, der Konvent blieb noch eine Weile, von der "Montagne" gesäubert, weiterbestehen und wurde dann aufgelöst, nachdem eine neue Verfassung ausgearbeitet worden war, in der ein Fünferdirektorium regierte, kontrolliert von einem Parlament, das wieder nach Zensuswahlrecht indirekt gewählt wurde, sodass die Armen ihre politischen Rechte wieder verloren. 

Die große Ernüchterung in den Monaten nach dem Thermidor, als sich zeigte, dass die tatsächlichen Folgen von Robespierres Sturz nur den Wünschen der Rechten, nicht aber der Linken nützten. Der Konvent läutete nun in bester liberaler Manier die ungehemmte freie Marktwirtschaft ein, schaffte das Preismaximum für Lebensmittel ab und beseitigte fast alle von Robespierre eingeführten Staatskontrollen über das Wirtschaftsleben.
Die alte und neue Bourgeoisie - die Revolutionsphase hatte eine ganz neue Schicht von Bourgeois aus Kriegsgewinnlern, Spekulanten und oft atemberaubend korrupten Politikern geschaffen, die sich freimütig aus der Staatskasse bedienten - hatte auch schon unter dem robespierreschen Wohlfahrtsausschuss mit seiner unsicher schwankenden Haltung zwischen den Klassen gute Geschäfte gemacht, musste sich damals aber noch zurückhalten. Offiziell stand das robespierresche Regime immerhin auf der Seite der Armen und kam es immer wieder zu demonstrativen Hinrichtungen von Spekulanten und besonders dreisten Ausbeutern, es war also besser, sich etwas zu ducken und seinen Reichtum zu verbergen. Nun aber, unter der Herrschaft des vom linken Flügel weitgehend gesäuberten thermidorianischen Konvents, fiel bei der Bourgeoisie jede Zurückhaltung, wurden wieder opulente Feste, Bankette, Bälle und Feuerwerke veranstaltet wie zur Zeit der Monarchie, protzten die extravagant gekleideten, schmuckbehangenen Neureichen öffentlich mit ihrem Reichtum und zogen die Banden der "Muscadins" oder "Goldenen Jugend" durch die Straßen, reiche Bourgeoissöhne, die mutmaßliche Jakobiner oder einfach nur irgendwelche Arbeiter unter wohlwollender Duldung der Polizei zusammenschlugen und demütigten oder manchmal sogar lynchten. Überall wurden die jakobinischen Lieder geächtet und hörte man stattdessen den "Reveil du peuple", die Hymne der Thermidorianer. In einigen Provinzstädten kam es zu ungestraften Massenmorden an Robespierre-Sympathisanten. Gleichzeitig führte die Aufhebung des Preismaximums und die Einführung der freien Marktwirtschaft zu ökonomischem Chaos, einem drastischen Preisanstieg für Lebensmittel und infolgedessen einer entsetzlichen Hungersnot trotz recht guter Ernte im Vorjahr. Während Millionen unterernährt waren - im Frühjahr 1795 betrug die durchschnittliche Tagesration der Pariser Bevölkerung noch etwa 200 Gramm Brot - stapelten sich in den Lagerhäusern die Vorräte, weil die Produzenten und Händler auf noch höhere Preise spekulierten oder ihre Produkte an weit entfernte, kaufkräftigere Märkte exportierten, was nun wieder vollkommen legal war. Während in den Zeitungen Berichte erschienen über Mütter, die zusammen mit ihren kleinen Kindern Suizid begingen, weil sie den Hunger nicht mehr aushalten konnten, bekamen die Reichen gegen entsprechende Preise alles in unbegrenzter Menge und wurden in Restaurants und Konditoreien Delikatessen angeboten. Und um diesen schönen Zustand zu zementieren, begannen die Vorbereitungen für eine neue Verfassung mit Zensuswahlrecht, die die Masse der Armen von jeder politischen Mitbestimmung ausschloss und humorvoll als endliche Verwirklichung wahrer Demokratie angekündigt wurde.

Der erste Aufstand des Jahres 1795, im Germinal, war ein ungeplanter, elementarer Verzweiflungsausbruch, ein unkoordiniertes Aufbegehren einer vor Hunger, Wut und Verzweiflung halb wahnsinnigen Masse, die zwar zehntausende unter Waffen stellen und den Konvent besetzen konnte, sich mangels jeder Führung und eines klaren Programms aber ebenso schnell wieder zerstreute, als die bedrängten Abgeordneten einen Kurswechsel versprachen und die Milizen der wohlhabenden innerstädtischen Sektionen dem Konvent zu Hilfe eilten. Hier zeigte sich die Schwäche der Bewegung, die sich im Prairial wiederholen sollte: Anders als am 10. August 1792, als sich die Jakobiner an die Spitze der aufständischen Massen der Arbeitervorstädte stellten, hatten die imposanten, aber planlosen Heerscharen aus den proletarischen Vierteln Saint-Antoine und Saint-Marcel diesmal keinerlei übergeordnete Führung. Zwar saßen im Konvent immer noch einige Dutzend Jakobiner, "die letzten Montagnards". Diese Leute, die inzwischen ihre Unterstützung des Thermidor bitter bereuten und wünschten, das Ruder wieder herumreißen zu können - ihre prominentesten Köpfe waren Romme, Duquesnoy, Bourbotte und Goujon - begrüßten zwar den Volksaufstand und hofften, er werde für sie die Macht erobern, aber sie unternahmen keine Anstrengungen, aktiv eine Verbindung zu den aufständischen Sektionen der Vorstädte aufzubauen, ihr Vertrauen zu gewinnen und aus dem Hungeraufstand eine erfolgreiche Revolution zu machen. Sie hätten diesen von Hunger und Elend zermürbten Menschen wahrscheinlich auch wenig sagen können - der Demokratismus auch dieser letzten Jakobiner blieb vorwiegend politisch, klare ökonomische und soziale Forderungen hatten sie kaum, auch wenn bei ihnen langsam der Groschen fiel, sie die Bedeutung der sozialen Frage erkannten, nach einer etwaigen Machtübernahme nur das Preis- und nicht mehr das Lohnmaximum wiedereinführen wollten und den Konflikt zunehmend als einen Konflikt der Armen gegen die Reichen begriffen statt wie Robespierre in nebulösen Wolken der "guten, tugendhaften Republikaner" gegen die "schlechten, unpatriotischen Schurken" zu verharren. Die Tragödie des Germinal wie später des Prairial bestand darin, dass die machtvolle, aber unkoordinierte Opposition der vorstädtischen Massen und die parlamentarische Opposition der letzten Jakobiner keinen Weg zueinander fanden und die Aufständischen Romme und Co gar nicht kannten, den Konvent als einen geschlossenen feindlichen Block angriffen und seine inneren Konflikte gar nicht registrierten.

Die Wochen zwischen Germinal- und Prairialaufstand zeigen jedoch eine erstaunliche Schärfung des Klassenbewusstseins. Die bürgerliche Presse auf der einen wie die ArbeiterInnen auf der anderen Seite sprechen nun ganz direkt von einem KLASSENkonflikt, vom Krieg der "Arbeiterklasse" ("la classe ouvriére", ein, wie Tarle in seiner Dokumentenauswahl zeigt, damals schon ganz geläufiger Begriff) gegen die Reichen, die "hônnetes gens" der wohlhabenden Innenstadtviertel, und entsprechend beginnt man damit, die Sektionen der proletarischen Viertel zu entwaffnen und gleichzeitig staatlicherseits Waffen an zuverlässige Leute mit ausreichend hohem Einkommen oder Vermögen AUSZUTEILEN. Aber das alles hat noch nicht weit geführt, als der Aufstand am 1. Prairial erneut ausbricht, diesmal mit noch größerer Wucht und unter der Losung "Brot und die Verfassung von 1793". Die bewaffneten Massen der Vorstädte erobern erneut praktisch ohne Widerstand den Konvent, die bürgerlichen Milizen der Innenstadtviertel und die "Goldene Jugend" verkriechen sich, Paris befindet sich praktisch in der Hand der Sansculotten. Mit einer tatkräftigen Führung wäre es ein Kinderspiel gewesen, die Regierungsausschüsse aufzulösen, die Bourgeoisie zu entwaffnen und eine Revolutionsregierung einzusetzen - aber diese Führung fehlt eben, und so wird die einmalige Chance nicht genutzt. Im Inneren des Konvents hat die rechte Mehrheit kapituliert, nachdem die Aufständischen den Sitzungssaal gestürmt, einen protestierenden Abgeordneten ermordet und seinen abgetrennten Kopf im Triumph auf einer Pike durch den Saal getragen hatten. Die jakobinische Minderheit der Abgeordneten sieht sich schon als Sieger und bringt neue Gesetzesanträge robespierristischer Art ein, die von der verschüchterten Mehrheit angenommen werden.

Aber die Verbindung mit den sansculottischen Massen, die diese Leute bisher kaum oder gar nicht kannten, kommt wieder nicht wirklich zustande. Statt die in einen Vorort geflohenen Regierungsausschüsse zu verhaften, die bürgerlichen Sektionen zu entwaffnen oder überhaupt irgendwelche energischen Maßnahmen durchzuführen, zerstreuen sich die Aufständischen bald im Glauben, gesiegt zu haben und nichts mehr fürchten zu müssen. Am Abend hat sich die Masse weitgehend aufgelöst, und in den darauffolgenden zwei Tagen kann die Regierung bürgerliche Milizen und zuverlässige Teile der Armee konzentrieren und den Gegenschlag wagen, der gelingt und seinen Höhepunkt in ihrer Expedition gegen das Arbeiterviertel Saint-Antoine findet. Nun werden die proletarischen Sektionen schnell entwaffnet und ein Militärgericht eingesetzt, das einerseits die jakobinische Opposition liquidiert, andererseits zur Abschreckung zahlreiche in irgendeiner Form mit dem Aufstand verbundene ArbeiterInnen auf die Guillotine oder in die Verbannung schickt. Erst nach dieser erneuten doppelten Niederlage ist der Widerstandsgeist der revolutionären Massen wirklich gebrochen und eine neue, höhere Phase der französischen Revolution abgewendet. Von nun an wird sich der Konvent und dann das Direktorium ernsthaft nur noch mit Feinden von RECHTS auseinandersetzen müssen: Während noch die Schauprozesse gegen die Aufständischen vom Prairial laufen, landen an der französischen Westküste tausende von England bewaffnete und transportierte adlige Emigranten, deren Konterrevolutionsversuch in einem regelrechten Feldzug niedergeworfen werden muss. Bald folgt der royalistische Aufstand vom Vendemiaire - und vier Jahre nach dem Prairial beseitigt Napoleons Militärputsch den konstitutionellen Rahmen und gründet die Herrschaft der Bourgeoisie unverhüllt auf Säbel und Bajonett.

Vorher allerdings gab es noch ein letztes Aufbäumen des untergehenden Jakobinismus, der hier die Schwelle eines dezidiert kommunistischen Aufstandes erreichte: Die von Babeuf geleitete Verschwörung der "Gesellschaft der Gleichen".
Babeuf ist eine in mehrfacher Hinsicht historisch besonders interessante Gestalt. Erstens, weil sein Aufstandsversuch die letzte Zuckung der linken Opposition gegen die Thermidorbourgeoisie darstellte, nachdem im Germinal und Prairial 1795 noch zwei sansculottische Massenbewegungen besiegt worden waren (Siehe dazu auch meine Rezension von Tarles "Germinal und Prairial" ). Zweitens, weil Babeuf und seine Gesellschaft der "Gleichen" große Bedeutung für die linke Theoriegeschichte besitzen als erste explizit kommunistische und sich selbst auch als solche bezeichnende Bewegung, die versuchte, aus dem Stadium der utopistischen Träumerei zur revolutionären politischen Aktion überzugehen, wobei Babeuf inhaltlich wie methodisch teilweise schon eine erstaunliche politische Reife zeigt, die über der der kommenden utopischen Sozialisten Fourier, Saint-Simon und Owen lag und eher schon an Blanqui erinnert.

 

Die Verschwörung von Babeuf

Babeufs Verschwörung lag nicht nur chronologisch am Ende der "heißen Phase" der Revolution, ehe sie im späten Direktorium und dann unter Napoleons Diktatur endgültig erstarrte, auch in seiner Person repräsentierte er quasi das letzte, proletarisch-protosozialistische Stadium, das über Robespierre und selbst Marat noch hinauswuchs. Während die führenden Köpfe der Jakobiner ausnahmslos Bourgeois waren - vor allem Anwälte, kleine und mittlere Kaufleute, gehobene Handwerksmeister usw. - die aus patriotischen Erwägungen mit den unteren Schichten sympathisierten, aber immer in einer paternalistischen Weise von oben herab, so kommt Babeuf selbst ganz von unten. 1760 als Sohn eines ehemaligen Soldaten geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, leistet er im Alter von 12-18 Jahren körperliche Schwerstarbeit beim Kanalbau in seiner picardischen Heimat, besucht niemals eine Schule und erhält auch sonst nie eine systematische Bildung, wohingegen die girondistischen wie jakobinischen Führer der ersten Phasen der Revolution überdurchschnittlich oft die Zöglinge der staatlichen Eliteinternate wie des Collége Louis le Grand waren.

Mit 18 Jahren bietet sich Babeuf ein Ausweg aus dem perspektivlosen Elend lächerlich bezahlter Knochenarbeit, und er beginnt die wahrscheinlich ungewöhnlichste Ausbildung, die man sich für einen späteren kommunistischen Revolutionär vorstellen kann: Er macht eine Lehre als Feudist. Die Feudisten waren ein Berufsstand, der vor allem in der letzten Phase des ancien régime florierte - Leute, die von Adligen engagiert wurden, wenn es um die Feststellung früherer, inzwischen vergessener Feudalrechte- und abgaben ging, die den Bauern von neuem abgepresst werden sollten mit dem Nachweis, dafür immer noch gültige alte Dokumente vorweisen zu können. Der Beruf der Feudisten bestand also darin, den Adligen juristisch haltbare Legitimationsgründe dafür zu liefern, die feudale Ausbeutung auf ihren Gütern zu verschärfen, folglich waren sie quasi Juristen, Rechtshistoriker und Feldmesser in einer Person.

Der gewissenhaft arbeitende Babeuf absolviert diese Ausbildung glänzend und kann sich bald als in der ganzen Region gefragter Feudist selbstständig machen. Aber während dieser Arbeit kommen ihm immer schwerere Zweifel an der Gerechtigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung. GERADE durch seine Arbeit mit ihren Dienstreisen und Studien der landwirtschaftlichen Verhältnisse entwickelt er ein lebhaftes Bewusstsein einerseits des Elends der kleinbäuerlichen Massen, zweitens der durchweg räuberischen, usurpatorischen Ursprünge der adligen Privilegien. Babeuf, der nun endlich genug Zeit und Geld dazu hat, beginnt sich autodidaktisch weiterzubilden, verschlingt historische, philosophische, juristische und agrarwissenschaftliche Werke, tritt in befruchtende Korrespondenz mit Intellektuellen der Aufklärung und brütet erste utopische Entwürfe für eine brüderliche und freie Zukunftsgesellschaft aus. Sein Ausgangspunkt ist dabei Rousseau und sein "Contrat social", den er zunächst ähnlich vergöttert wie Robespierre. Aber im Gegensatz zu Robespierre und den anderen späteren rousseauistischen Jakobinern erkennt Babeuf schon vor Ausbruch der Revolution Rousseaus schwache Seiten. Erstens: Anders als Rousseau denkt Babeuf gar nicht daran, die Ursache der Ungleichheit und des Elends der Massen im Fortschreiten von Kultur und Technik zu sehen - Babeuf will nicht die Zivilisation beseitigen und ein archaisches Jäger- und Hirtenidyll errichten, sondern im Gegenteil die Annehmlichkeiten von Technik und Kultur erhalten, allen zugänglich machen und weiter ausbauen. Zweitens: Babeuf ist die rechtliche und gesellschaftliche Gleichheit nicht Zweck an sich, sondern nur Voraussetzung für die eigentlich, die MATERIELLE Gleichheit. Drittens: Babeuf kritisiert, dass Rousseau nur schöne Nebelgebilde einer besseren Gesellschaft zeichnet, ohne darüber nachzudenken, durch welches politische Handeln sie tatsächlich realisierbar sein könnte. Babeuf dagegen macht sich bald sehr konkrete Gedanken darüber, wobei - man darf nicht vergessen, dass Frankreich damals erst ganz zarte Anfänge der Industrialisierung erlebte - ihm die Aufteilung des Bodens das Ausschlaggebende schien. Der Boden und sein Ertrag sollte gleichmäßig unter alle Bürger aufgeteilt werden, allerdings schwankte er noch, ob der Boden gleichmäßig unter Einzelfamilien aufgeteilt werden oder nicht besser gleich die Familie aufgelöst und die Menschen in Agrarkommunen zusammenleben und alles gemeinsam bewirtschaften und teilen sollten.

Als 1789 die Revolution ausbrach, spielte Babeuf dabei zunächst keine prominente Rolle. Immer unterstützte er die äußerste Linke des aktuellen politischen Spektrums und übernahm kleinere revolutionäre Posten, zuerst in der Picardie, dann in Paris in der staatlichen Lebensmittelverwaltung der Jakobiner während Robespierres Diktatur. Diese jakobinische Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses hatte Babeuf von links kritisiert und den Thermidor zunächst begrüßt als einen Akt der Befreiung. Später erkannte er diesen Irrtum und schrieb über seinen damaligen Fehler:

"Ich zürne mir selbst, das gebe ich heute offen zu, dass ich seinerzeit sowohl die revolutionäre Regierung als auch Robespierre, Saint-Just u.a. negativ beurteilt habe. Ich glaube, dass diese Männer für sich allein genommen mehr wert waren als alle Revolutionäre zusammen und dass ihr diktatorisches Regierungssystem ungemein gut ausgedacht war. Meine Behauptung wird vielleicht am besten durch das unterstützt, was sich in Frankreich alles ereignet hat, seitdem diese Männer und diese Regierung nicht mehr existieren. Ich bin keineswegs der Meinung, dass sie große Verbrechen begangen und viele Republikaner beseitigt haben. Nicht sehr viele, glaube ich; die Thermidor-Reaktion dagegen hat viele umgebracht. Ich will nicht auf die Frage eingehen, ob Hébert und Chaumette unschuldig waren. Auch wenn das der Fall wäre, würde ich Robespierre noch verteidigen. Dieser konnte sich stolz und mit gutem Recht als den einzigen ansehen, der fähig war, den Streitwagen der Revolution zu seinem wahren Ziel zu lenken. Leute, die er als Wirrköpfe, als Halbbegabte ansah und die das in Wirklichkeit vielleicht auch waren, solche Männer wie ein Chaumette, ich sage es voller Ehrgeiz und Selbstüberschätzung, konnten bei unserem Robespierre den Eindruck erwecken, dass sie ihm die Lenkung des Wagen streitig machen wollten. Er, der als erster die Entschlüsse zu fassen hatte und seine überragenden Fähigkeiten erkannte, musste dabei klar sehen, dass diese lächerlichen Rivalen, auch bei guten Absichten, das Ganze hemmen und verderben würden. Ich nehme an, dass er sich sagte: Blasen wir diesen unbequemen Wichtigtuern mit ihren guten Absichten das Licht aus. Ich bin der Meinung, er tat gut daran. Das Wohl und Wehe von 25 Millionen Menschen kann nicht um der Schonung einiger zweifelhafter Individuen willen aufs Spiel gesetzt werden. Ein Erneuerer des Staatswesens muss die großen Dinge sehen. Er muss alles niedermähen, was ihn hemmt, was seinen Weg versperrt, alles, was ihn hindert, schnell an das Ziel zu gelangen, das er sich gesteckt hat. Ob das Spitzbuben oder Dummköpfe, Wichtigtuer oder Ehrgeizige sind, das ist gleich. Sie haben eben Pech gehabt. Warum stellen sie sich ihm in den Weg? Robespierre wusste das alles, und das ist einer der Gründe, warum ich ihn bewundere, warum ich in ihm ein Genie sehe, den Mann, der wirklich neue, schöpferische Ideen besaß. Es ist richtig, dass diese Ideen dich oder mich in den Abgrund reißen können. Aber was hätte das geschadet, wenn das Glück allerletzten Endes erreicht worden wäre?"

Eine Weiterentwicklung seiner Gesellschaftsutopien folgte erst während eines Gefängnisaufenthaltes, den ihm nach Robespierres Sturz seine scharfe, in einer eigenen Zeitung vertretene Kritik an der Thermidorbourgeoisie eintrug .Im Gefängnis traf er andere Vertreter der äußersten Linken wie seinen späteren Biographen Buonarroti und Germain, mit denen das Konzept einer Geheimgesellschaft entworfen wurde, die die Thermidorbourgeoisie stürzen und eine Revolutionsregierung schaffen sollte, die aus den Fehlern der Jakobiner und der Aufstände vom Germinal und Prairial 1795 lernte. Den Hauptfehler der Jakobiner sah Babeuf ganz richtig darin, dass sie mit ihrer Fixierung auf die JURISTISCHE Gleichheit die MATERIELLE Gleichheit vernachlässigten und sich damit von den sansculottischen Massen entfremdeten. Folglich stellte er diese materielle Gleichheit ganz in den Mittelpunkt und entwarf eine kommunistische Gesellschaft, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wäre und eine staatliche Planwirtschaft dafür sorge, dass alles für die Bedürfnisse der Menschen Nötige in ausreichender Menge produziert und gleichmäßig unter alle verteilt werde - die Versorgung der gewaltigen Revolutionsarmeen mit über einer Million Mann habe schließlich bewiesen, dass eine solche staatliche Wirtschaftsplanung und Verteilung möglich sei. Allerdings, und das zeigt Babeufs bemerkenswerten Realismus, sei dieser Kommunismus ohne schweren Konflikt mit den Massen der kleinen Eigentümer nicht auf einen Schlag realisierbar, sondern brauche es zunächst ein längeres Übergangsstadium, in dem eine mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Revolutionsregierung zunächst die Einführung eines umfassenden Sozialstaates, die energische Niederwerfung aller Konterrevolutionäre und die Verstaatlichung der erstrangigen Wirtschaftsbereiche sichere, um von dieser Basis aus weiter voranzuschreiten. Die Schwäche der sansculottischen Aufstände vom Prairial und Germinal 1795 wiederum sah er ebenso richtig in deren Fehlen einer energischen Führung, und das eben solle durch die Bildung seines Revolutionskomitees verhindert werden, das den Aufstand systematisch vorbereiten und planen solle. Das führte denn auch zu einem Konflikt mit dem bisher sympathisierenden Sylvain Maréchal, dem einstigen Herausgeber der radikaldemokratischen Wochenzeitung "Révolutions de Paris", der innerhalb der Gesellschaft der Gleichen eine Linksabweichung vertrat, auf die Spontaneität der Massen vertrauen wollte, eine starke zentrale Revolutionsregierung ablehnte und das Unternehmen verließ, als Babeuf zur Verbreiterung der sozialen Basis des Aufstandes ein Bündnis mit den Resten der Jakobiner mit ihrem autoritären Politikverständnis schloss.

Die "Gesellschaft der Gleichen" entfaltete nun eine intensive propagandistische Untergrundtätigkeit, ernannte Beauftragte für jedes Pariser Arrondissement, um dort die kommunistischen Ideen zu verbreiten, potentielle Kader für die Bewegung aufzuspüren und besonders unter den ärmsten Schichten Stimmung gegen die Thermidorianer zu machen. Auch in die Armee wurden Agitatoren geschickt, für die man eigens linke, stramm antithermidorianische Soldaten anwarb, die in der Truppe die politische Gärung schüren und sie reif machen sollten, im entscheidenden Moment auf die Seite der Aufständischen überzugehen. Babeufs Kräftekalkulation war nicht verkehrt: Für einen Erfolg war es notwendig, a.) die Sympathien der proletarischen und subproletarischen Massen zu gewinnen und b.) die Loyalität der Armee zur Regierung zu erschüttern.

Zunächst ließ das Direktorium diese Aktivitäten mehr oder weniger passieren - in ihrer Schaukelpolitik zwischen links und rechts neigten die Thermidorianer nach dem royalistischen Vendemiaireaufstand der äußersten Rechten gerade eher nach links und versuchten, die Sansculotten als Stütze gegen den Royalismus auf ihre Seite zu ziehen. Ja, Barras versuchte sogar, Babeuf durch Bestechungsversuche dazu zu verleiten, seine inzwischen nicht unerhebliche Popularität unter den Armen der Hauptstadt für die Stützung der Regierung zu verwenden - immerhin säßen ja nun alle Republikaner im selben Boot bei der Abwehr der royalistischen Konterrevolution und könne man über alle ökonomischen Differenzen später diskutieren. Aber für Babeuf waren diese ökonomischen Differenzen eben kein Nebenaspekt, sondern das Zentrum jeder Politik und die Thermidorbourgeoisie genauso ein unversöhnlicher Feind wie der aristokratische Royalismus.

 

Napoleons bürgerliche Restauration

Als die Aufstandsplanungen schon sehr weit gediehen waren und die Spitze der "Gleichen" und der verbündeten Jakobiner schon einen Termin für das Startsignal festlegen wollten, scheiterte das Unternehmen durch Verrat: Ein Offizier namens Grisel, der sich der Gesellschaft angeschlossen hatte, um in der Armee zu agitieren, bekam kalte Füße und lief erzählfreudig zum Direktorium, das, schockiert von den Fortschritten der Verschwörung, in einer großen Polizeiaktion Babeuf und mehrere dutzend weitere Verschwörer verhaften ließ und einen Schauprozess gegen sie inszenierte, der im Frühjahr 1797 mit der Hinrichtung Babeufs und des Jakobiners Darthé endete, woran auch der gescheiterte Versuch einer Militärinsurrektion im Lager Grenelle nichts ändern konnte, und die hauptstädtischen Massen blieben ruhig und indifferent - das revolutionäre Feuer war seit Frühjahr 1795 erloschen und konnte auch von Babeuf nicht wieder entfacht werden.

Das Direktorium lavierte noch zwei Jahre herum, mal nach rechts und mal nach links schlagend, um ihre wacklige Macht zu verlängern, ehe das französische Bürgertum, der ständigen politischen Wirren müde, seinen starken Mann in Gestalt des Generals Bonaparte fand.
Napoleon, der an die Spitze der von der Revolution geschaffenen neuen Gesellschaft gelangen sollte, spielte in deren revolutionärer Formierungsphase keine bedeutende Rolle. Als in Paris die Nationalversammlung konstituiert und die Bastille gestürmt wurde, war er namenloser kleiner Leutnant in einer Provinzgarnison.

Napoleon trat erst prominent auf die Bühne, als die Revolution sich in der Phase des Direktoriums nach dem Sturz Robespierres konsolidiert hatte, aber auch in einer Sackgasse angelangt schien. Die feudale alte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war vernichtet, ihre führenden Repräsentanten zum größten Teil physisch liquidiert oder ins Exil getrieben, der feudale und klerikale Grundbesitz zerschlagen und an zahllose kapitalistisch wirtschaftende freie Bauern umverteilt, ein modernes bürgerliches Rechtssystem im Rahmen einer Republik geschaffen, in der auf dem Papier alle erwachsenen männlichen Einwohner gleiche und freie Bürger waren, tatsächlich aber das große Kapital unumschränkt das Heft in der Hand hatte. Die Thermidorianer, die Robespierre und den Wohlfahrtsausschuss gestürzt und hingerichtet hatten, und die Männer des Direktoriums, die ihnen nachfolgten, wollten diese Errungenschaften der Revolution nicht beseitigen, sie wollten nicht zurück in die Feudalgesellschaft und die Monarchie. Sie waren durchaus keine Reaktionäre. Aber: Sie wollten über das erreichte großbürgerlich-republikanische Stadium der Revolution auch nicht mehr wesentlich hinausgehen, und sie hatten Robespierre beseitigt, weil sie diesen angesichts seiner Flirts mit den sansculottischen Schichten in Paris verdächtigten, über dieses bürgerliche Stadium hinausgehende sozialrevolutionäre Neigungen zu besitzen.

Die Bourgeoisrepublik der Thermidorianer und des Direktoriums zeigte nun ein doppeltes Gesicht gegenüber den zwei gesellschaftlichen Kräften, die sie angriffen: Revolutionär gegenüber den feudal-monarchistisch-klerikalen Kräften der Rechten, die die Revolution rückgängig machen wollten, konservativ gegenüber den protosozialistisch-proletarischen Kräften der Linken, die die Revolution auf eine neue Stufe heben wollten. In diesem doppelten Kampf rieb sich die Bourgeoisrepublik auf. Mal musste sie wiederaufflammende monarchistisch-klerikale Aufstände in der Vendée niederwerfen und dann besonders ihre revolutionäre, "linke" Seite herauskehren. Davon ermuntert, regten sich dann - bspw. mit Babeuf und seinem Verschwörerzirkel oder in den Pariser sansculottischen Aufständen vom Germinal und Prairial - wieder die protosozialistischen Kräfte der Linken, die ebenso niedergekämpft werden mussten und wobei man dann wieder seine konservative, "rechte" Seite herauskehren musste. Das ermunterte wieder die Reaktion, führte zu rechten, monarchistischen Staatsstreichversuchen, die man wieder unter Betonung seiner "linken" Seite niederschlagen musste usw.

In dieser Atmosphäre einer ständigen doppelten Bedrohung der Bourgeoisrepublik von links und rechts reifte in ihren politisch führenden Kreisen der Wunsch nach einem "starken Mann" heran, der sie mit autoritären, von rechtsstaatlichen Zimperlichkeiten nicht übertrieben behinderten Methoden gegen alle Seiten hin verteidige. Der führende Kopf hinter der Verschwörung war der schon 1789 als glänzender Propagandist der Revolution an die Öffentlichkeit getretene Abbé Sieyès. Der von Sieyès und seinem Verschwörerkreis zuerst als künftiger Militärdiktator Erkorene war der General Barthélemy-Catherine Joubert, der allerdings das Pech hatte, kurz vor dem geplanten Staatsstreich in einer Schlacht gegen die Alliierten zu fallen (Die nach wie vor versuchten, das revolutionäre Frankreich zu vernichten und das Ancien regime wiederherzustellen). Als zweite Wahl entschied man sich ersatzweise für einen politisch wenig profilierten korsischen General, der sich aber in den letzten Jahren einerseits durch glänzende Siege über die Alliierten, andererseits durch die Niederwerfung eines Volksaufstands in Paris für das Direktorium einen Namen gemacht hatte: Den Korsen Napoleone Buonaparte, nun Napoléon Bonaparte.

1799 gelang der Staatsstreich, Napoleon putschte unter Anleitung Sieyès' gegen das widerspenstige Parlament und wurde als "Erster Konsul" Diktator Frankreichs. Zwar erwies er sich als weniger lenkbar als von Sieyès und seinem Kreis erwartet, wuchs ihnen bald allen über den Kopf und errichtete ein autokratisches Regiment, gekrönt durch die Annahme des Kaisertitels 1804, aber was seinen politischen Kurs angeht, erfüllte er die in ihn gesetzten Erwartungen, wurde die der Bourgeoisherrschaft von rechts wie von links drohende Gefahr liquidiert. Die Reste des Jakobinertums wurden ebenso vernichtet wie die reaktionär-monarchistischen Verschwörerzirkel, der bourbonische Herzog von Enghien ebenso vors Erschießungskommando gestellt wie die proto-sozialistischen Aufrührer in der Nachfolge Babeufs.

Als Napoleon sich die Kaiserkrone aufs Haupt setzte, ein Konkordat mit dem Papst abschloss, seinen Generälen und Vertrauen neue Ehrenämter gab und sie Adel spielen ließ, da mochte es oberflächlich so aussehen, als habe er die Revolution liquidiert und einfach die Stelle Ludwigs XVI. übernommen. Als Napoleon anlässlich des Abschlusses des Konkordats ein glänzendes Fest veranstaltete und einen alten republikanischen General fragte, wie ihm die Feierlichkeiten gefallen hätten, gab ihm dieser die bittere Antwort: "Oh, es war ein sehr schönes Fest. Es fehlt nur die Million Männer, die gestorben sind, um all das zu zerstören, was Sie wieder einführen."

Aber eine teilweise Rückkehr zum ancien regime gab es nur an der Oberfläche - die von der Revolution geschaffene neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung blieb intakt. Napoleon mochte seinen Generälen und Günstlingen irgendwelche Phantasie-Adelstitel geben, ein "Adel" im alten gesellschaftlichen Sinne wurden sie nicht, sondern nur privilegierte reiche Bourgeois mit altertümelnden Ehrentiteln. Die Leibeigenschaft, die Frondienste, die Feudalabgaben, all das blieb abgeschafft, die Millionen nun freier Bauern blieben im Besitz ihrer kapitalistisch bewirtschafteten Parzellen aus altem adligem und klerikalem Gut, die neue bürgerliche Rechtsordnung wurde erhalten und durch den Code civil in mustergültiger Form festgehalten, und politische Privilegien bekam man nicht durch die funktionslosen neuen Phantasie-Adelstitel, sondern mittels Zensuswahlrecht durch Geldvermögen. Napoleon fror die sozialen, ökonomischen und juristischen Errungenschaften der Revolution auf dem Niveau ein, das Mitte der 1790er Jahre erreicht worden war, wehrte alle Versuche einer sozialrevolutionären Weiterentwicklung ebenso ab wie solche einer Konterrevolution, und unter der Oberfläche einer neuen Monarchie blieb die neue bürgerliche Gesellschaftsordnung des Direktoriums unangetastet. Und was den Kaiser Napoleon so lange an der Macht hielt, bis er sich außenpolitisch ruiniert hatte, war die Unterstützung der Millionen von der Revolution zu freien Besitzern gemachten Bauern und ihrer Söhne, die die entschlossensten und loyalsten Soldaten der großen napoleonischen Armee stellten, wussten sie doch, dass der Sieg der Alliierten und des von ihnen protegierten aristokratischen französischen Emigrantengesindels ihre eigene rechtliche und ökonomische Stellung bedrohte, dass sie in den Kämpfen gegen die Alliierten für ihr unmittelbares Eigeninteresse fochten.

Und in der Außenpolitik war dieses im Inneren konservative, erstarrte napoleonische Empire nach wie vor revolutionär und der Schrecken der noch bestehenden feudalen Staaten. Wo immer die napoleonischen Armeen ein weiteres Land besetzten, wurden dort die Feudalrechte beseitigt, ein freies, kapitalistisch wirtschaftendes Bauerntum geschaffen, die Befugnisse der Kirche stark eingeschränkt, ein modernes bürgerliches Rechtssystem eingeführt und eine rationale moderne Verwaltung und ein modernes Bildungswesen geschaffen. Die napoleonische Eroberung katapultierte die einverleibten Gebiete in die bürgerlich-kapitalistische Moderne, und aus Perspektive der feudalen Regime in Wien, Berlin und Petersburg blieb das napoleonische Frankreich ein ebenso teuflisches, gottloses Gebilde wie das jakobinische. Die grundlegenden bürgerlichen Errungenschaften der Revolution hatten sich unter Napoleon erhalten, und auch nach seinem Sturz 1814/15 tasteten die zurückgekehrten Bourbonen sie nicht grundsätzlich an, aber dieses 1789 noch so revolutionäre und frische System war gealtert, konservativ geworden und zeigte seine hässlichen Züge. Es begann das Zeitalter der Revolutionen, die sich GEGEN die entzauberte bürgerliche Gesellschaft richten.

Literaturverweise:
Albert Soboul, "Die große französische Revolution"
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, "Die große französische Revolution 1789-1793"
Francois Mignet, "Geschichte der französischen Revolution von 1789 bis 1814"
Axel Kuhn, "Die französische Revolution"
Georges Lefebvre, "Napoleon"
Albert Sacharowitsch Manfred, "Napoleon"
Soboul/Labrousse/Lefebvre, "Die Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789"
Gustav Landauer (Herausgeber), "Briefe aus der französischen Revolution"
Jean Massin, "Robespierre"
E.W. Tarle, "Germinal und Prairial"
Katharina und Matthias Middell, "Francois Noel Babeuf. Mäyrter der Gleichheit"

 

ArbeiterInnenbewegung und LGBTQ-Selbstbestimmung

Nikita Tarasov

Der Kampf für LGBTQ-Rechte ist ein Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse

Am 17. Juni fand in Wien die Regenbogenparade statt. Gut so! Die Errungenschaften des Kampfes um LGBTQ-Rechte (Lesbian, Gay, Bixesual, Transgender, Queer) gehören gefeiert. Vor allem, weil der Kampf noch lange nicht vorbei ist: Zwar gibt es Erfolge zu feiern wie in den USA und Irland, aber auch verstärkte und massive Angriffe auf Rechte und Leben von LGBTQ-Personen wie in Tschetschenien.

 

Kapitalismus und LGBTQ-Rechte stehen grundsätzlich im Konflikt. Die klassische Hetero-Kernfamilie (Vater-Mutter-Kind) mit dem Mann als Haupt ist eine wirtschaftliche Einheit im Kapitalismus. Hier spiegelt sich auch die kapitalistische Unterdrückung wider. Der Mann bestimmt – beim Vater lernt man, dass man dem Chef gehorchen soll. Währenddessen verrichtet die Frau reproduktive Arbeit (z.B. Putzen, Kochen, Kinderbetreuung). Sie sorgt im Privaten und unbezahlt dafür, dass der Mann am nächsten Morgen für den Kapitalisten arbeiten kann, und dass das Kind, die nächste Generation von ArbeiterInnen, herangezogen wird. MarxistInnen wie Friedrich Engels, Wilhelm Reich oder Alexandra Kollontai haben sich eingehend mit diesen Themen befasst. LGBTQ-Lebensarten stellen die Kernfamilie und ihre Grundannahmen (Herrschaft vom Mann, Reproduktionsarbeit im Privaten, Privateigentum etc) in Frage. SozialistInnen tun das auch!

Homophobie gibt es in allen gesellschaftlichen Klassen und Schichten. Wer die Ideologie der Kernfamilie als „Keimzelle der Gesellschaft“ (und nicht vielmehr als Ergebnis einer Klassengesellschaft) sieht und verteidigt, der wird sie gegen andere Formen des Zusammenlebens „verteidigen“. Für die ArbeiterInnenklasse war und ist dieses bürgerliche Familienideal jedoch größtenteils nicht voll umsetzbar – es waren immer Menschen aus der ArbeiterInnenklasse, die als sexuelle „Abweichler“ Stoff konservativer Schauergeschichten waren. Im Gegensatz zum Bürgertum hat die ArbeiterInnenklasse ein Interesse daran, Freiheit für alle Formen des Zusammenlebens zu erkämpfen.

Homophobie wird auch gezielt als Spaltungsmechanismus verwendet. So schreiten zum Beispiel in Russland die Angriffe von oben gegen alle, die der Heteronorm nicht entsprechen, voran. LGBTQ-Personen werden oft am Arbeitsplatz gemobbt, auf der Straße gejagt und vom Gesetz weiter unterdrückt. So soll von den Folgen der Wirtschafts- und Regierungskrise in Russland abgelenkt werden: Die Einheit des Volkes und der Familie wird beschworen. Schuld an sozialen Missständen sei nicht das herrschende System, sondern diejenigen, die es in Frage stellen. Auch in Österreich gibt es z.B. die FPÖ, die gegen die vermeintliche „Homolobby“ hetzt, die ÖVP, die für die Vater-Mutter-Kind-Familie plädiert, und regelmäßige Übergriffe von Rechten auf LGBTQ-Personen. Gleichzeitig wird für die nationale Einheit plädiert, um den „Wirtschaftsstandort“ profitabel für die Reichen zu halten.

Der Kampf gegen sexuelle Unterdrückung und der Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung sind untrennbar miteinander verbunden. Ein Beispiel dafür ist die Russische Revolution. Im zaristischen Russland war Homosexualität illegal. Doch der Sieg der Revolution und die Umwälzung der alten Gesellschaftsnormen brachten unterdrückten Gruppen Rechte und Möglichkeiten, die es bis heute in modernen Staaten nicht gibt. Von 1917 bis 1926 waren alle, unabhängig von Sexualität oder Gender, gesetzlich gleichgestellt. Geschlechtsangleichende Operationen wurden staatlich finanziert. 1926 war es möglich, ohne irgendwelche Voraussetzungen in offiziellen Dokumenten sein angegebenes Geschlecht zu ändern. Georgiy Tschitscherin, 1918-1930 Kommissar für Außenangelegenheiten, war offen homosexuell.

Die Praxis zeigt, dass der Kampf um LGBTQ-Rechte ein Kampf der ArbeiterInnenklasse ist. Beispiel Irland: im Mai 2015 fand in Irland das Referendum zur Legalisierung von gleichgeschlechtlichen Ehen statt. Mit 62,1% und einer Wahlbeteiligung von 60,5% wurde für JA gestimmt – trotz der Kampagne von Kirche, Medien und Regierung dagegen. Die höchsten Ergebnisse für „Ja“ gab es in den ärmsten ArbeiterInnenbezirken (Dublin Coolock 88%, Jobstown 87%)! Das ist darauf zurückzuführen, dass zeitgleich die Regierung eine Wassersteuer durchpeitschen wollte. Dagegen organisierte u.a. unsere Schwesterorganisation (Socialist Party) breiten Widerstand. Heterosexuelle, die durch die Bewegung gegen die Wassersteuer politisiert und mobilisiert wurden, erklärten sich solidarisch mit dem Kampf der LGBTQ-Personen für mehr Gleichberechtigung – auch, weil sie alle gemeinsam gegen die Wassersteuer kämpften. Sobald die ArbeiterInnenklasse anfängt, an einem Balken des kapitalistischen Unterdrückungsgerüsts zu rütteln, geraten auch die anderen schnell ins Schwanken!

Durch vereinten Klassenkampf kann Druck auf die Herrschenden aufgebaut werden, um Rechte (z.B. Adoptionsrecht) zu erzwingen. Doch diese Errungenschaften geraten unter Beschuss, sobald die wirtschaftliche Lage Konformität verlangt. Um mit den Ursachen der Unterdrückung aufzuräumen, muss mit dem kapitalistischen System gebrochen werden. An seiner Stelle braucht es ein sozialistisches System, wo die Bedürfnisse von allen, und nicht die Profite von wenigen, im Mittelpunkt stehen - unabhängig von Gender, Sexualität, Nationalität oder Hautfarbe. 

 

 

 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Zehn Jahre DIE LINKE

Eine kritische Würdigung
von Lucy Redler, Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE, Mitglied im BundessprecherInnenrat der Antikapitalistischen Linken (AKL) und Bundessprecherin der SAV (der deutschen Schwesterorganisation der SLP)

Zum Jahrestag der LINKEN wird es viele Artikel geben, die das Bestehen der Partei würdigen und die Bedeutung der Partei hervorheben. DIE LINKE ist heute die einzige linke Opposition gegen Militarisierung, Krieg und Sozialabbau im deutschen Bundestag. Sie hat die Einführung des Mindestlohns, auch wenn dieser noch viel zu niedrig ist, mit vorangetrieben. DIE LINKE ist die einzige Partei, die KollegInnen in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen tatkräftig in ihrem Kampf für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen unterstützt und an der Seite streikender Belegschaften steht.

 

Der zehnte Jahrestag sollte aber auch genutzt werden, um einen kritischen Blick zurück nach vorn zu richten und zwei Fragestellungen in den Blick zu nehmen:

1. Was waren die Erwartungen zum Zeitpunkt der Fusion 2007 an die neue Partei und wie sieht die Bilanz davon aus?

2. Welche Konflikte und Fragestellungen gab es 2007, mit denen wir uns auch noch heute beschäftigen? Wie können diese gelöst werden?

Erwartungen und Bilanz

Die Parteigründung wurde von den meisten Beteiligten mit großer Euphorie und hohen Erwartungen vollzogen. Endlich schien eine starke und stärker werdende Partei links der Sozialdemokratie eine realistische Chance. Wie sieht die Bilanz konkret aus? Ein Überblick über einige wichtige Bereiche ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Mitgliederentwicklung:

2007 hatte die Partei 71.711 Mitglieder, Ende März 2017 sind es knapp 59.000, davon 36,8 Prozent Frauen und acht Prozent unter 25 Jahren. Das Durchschnittsalter liegt bei 58 Jahren mit großen Unterschieden zwischen Ost und West. In den ostdeutschen Bundesländern liegt es außer in Berlin überall bei über 65 Jahren (in Berlin bei 60 Jahren) und in den westdeutschen Bundesländern zwischen 46 und 50 Jahren.i Die Partei gewinnt derzeit mehr Menschen unter 36 Jahren, was sehr positiv ist. Es reicht aber nicht, um die Überalterung der Partei aufzuhalten. Linksjugend [solid] und SDS erleben einen deutlichen Mitgliederzuwachs. Doch gerade die Politik des Linksjugend-Bundesverbands entspricht so wenig dem Bedürfnis vieler lokaler Gruppen und links-aktiver Jugendlicher, dass der Jugendverband weit davon entfernt ist, sein Potential auszuschöpfen.

Viele Aktivistinnen und Aktivisten der ersten Stunde, vor allem aus der WASG, haben sich aus der aktiven Parteiarbeit zurückgezogen oder sind gar aus der Partei ausgetreten. Im Osten verliert die Partei jährlich eine große Zahl von Mitgliedern durch Tod. Es sind auch viele neue Mitglieder dazu gekommen, aber der große Aufbruch zu einer neuen starken und einheitlichen Linken ist irgendwo und irgendwann stecken geblieben.

Verankerung in Betrieben, Gewerkschaften und Bewegungen:

Vor allem VertreterInnen der WASG machten sich bei der Fusion dafür stark, ein hohes Augenmerk auf die betriebliche und gewerkschaftliche Verankerung der Partei zu legen. In einzelnen Bereichen hat sich die Partei ein Standing erarbeitet, wie zum Beispiel im Krankenhausbereich. Hier ist DIE LINKE erste Ansprechpartnerin für Kolleginnen und Kollegen.

Die Kampagne der Partei für mehr Personal im Krankenhaus ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Partei an der Seite von KollegInnen für Verbesserungen kämpfen kann: durch Unterstützung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Kämpfe, durch Infotische auf der Straße, durch Anträge und Anhörungen im Bundestag. Auch in anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, bei den Streiks im Einzelhandel oder auch bei den Sozial- und Erziehungsdiensten war DIE LINKE am stärksten präsent. Das ist der Verdienst vieler Parteimitglieder, der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft und auch des Vorsitzenden Bernd Riexinger. Auch die Linksfraktion hat zu verschiedenen Themen wertvolle Konferenzen für betrieblich Aktive und Betriebs- und Personalräte angeboten. Eine gute Rolle spielte die Partei ebenfalls in der Auseinandersetzung um TTIP und CETA und bei Blockupy. Leider prägen diese Beispiele nicht die Gesamtpartei (und -fraktion).

Gemessen an ihrem Apparat, ihren finanziellen Möglichkeiten und ihrer Größe bleibt die Partei weit unter den Möglichkeiten. Sie hat zudem eine deutlich geringere Verankerung im Bereich der Metall- und Elektroindustrie als im Bereich des Öffentlichen Dienstes. Und in letzterem ist sie stärker im Bereich der Daseinsvorsorge als beispielsweise in der Verwaltung, Telekom etc präsent. Natürlich spielt der Bewusstseinsstand der KollegInnen in den verschiedenen Sektoren und auch die Politik der verschiedenen Einzelgewerkschaften eine Rolle dafür, welche Möglichkeiten DIE LINKE ausschöpfen kann. Doch der subjektive Grund für die unzureichende Verankerung ist die starke parlamentarische Ausrichtung der Gesamtpartei.

Beim Bundesparteitag in Magdeburg 2016 berichtete die Mandatsprüfungskommission, dass von 579 Delegierten nur eine Minderheit von 234 Mitglied einer Gewerkschaft ist. Gleichzeitig sind 244 Delegierte entweder MandatsträgerInnen auf Bundes- Landes- oder kommunaler Ebene oder arbeiten hauptamtlich für die Partei (bei Fraktionen, Abgeordneten oder in der Bundesgeschäftsstelle).ii Das ist alles andere als ein gutes Verhältnis.

Es gibt eine Schieflage zwischen den Ressourcen, Zeit und Nerven, die die Partei insgesamt in lokale und bundesweite Kämpfe und Kampagnen steckt und dem, was sie in parlamentarische Arbeit investiert. In vielen Bundesländern und auch auf kommunaler Ebene wird die nötige Bewegungsorientierung oftmals der parlamentarischen Arbeit untergeordnet anstatt die MandatsträgerInnen in den Dienst des Aufbaus von Bewegungen und Widerstand zu stellen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass es in der LINKEN stark unterschiedliche Ansichten gibt, ob grundlegende dauerhafte Verbesserungen im Rahmen des Kapitalismus oder nur mittels seiner Überwindung durchgesetzt werden können, woraus sich direkt die Frage ergibt, ob Verbesserungen vor allem durch Widerstand, Streiks, Proteste und Bewegungen oder vor allem durch parlamentarische Arbeit erreicht werden können.

Die meisten Bewegungen finden heute lokal statt. Vor allem hier kann DIE LINKE beim Aufbau von Widerstand und Protesten einen Unterschied machen. Positive Beispiele hierfür sind unter anderen die erfolgreiche langfristige Mieterkampagne der LINKEN in Bad Cannstatt, die Arbeit in Solidarität mit Geflüchteten der LINKEN in Bochum, die Kampagnearbeit der LINKEN Neukölln, die auch immer wieder die Grundlage für sehr gute Wahlerfolge liefert und die Kampagne der hessischen LINKEN gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens.

Wahlergebnisse:

Vor der Fusion waren WASG und Linkspartei.PDS (wie die PDS inzwischen hieß) beim gemeinsamen Wahlantritt 2005 mit 8,7 Prozent in den Bundestag eingezogen, nachdem die PDS im Jahr 2002 die Fünf-Prozent-Hürde nicht mehr erreicht hatte. 2009 erreichte die Partei stolze 11,9 Prozent bei den Bundestagswahlen, um dann 2013 wieder auf 8,6 Prozent zu fallen. Zum Zeitpunkt des zehnten Jahrestages liegt die Partei in den Umfragen auf ähnlichem Niveau wie 2013. Das entspricht einer Stagnation auf Bundesebene im Vergleich zum Fusionszeitpunkt.

In den ostdeutschen Bundesländern hat die Partei bei den letzten Landtagswahlen außer in Thüringen und Berlin überall mehr oder weniger stark an Zuspruch verloren. iii

In den westdeutschen Bundesländern ist es der Partei nur in Hessen, dem Saarland und den Stadtstaaten Bremen und Hamburg gelungen, erneut in die Landesparlamente einzuziehen. In anderen Bundesländern scheiterte der erneute Einzug entweder knapp wie in NRW mit 4,9 Prozent oder der Wieder- oder erstmalige Einzug in die Landtage wurde deutlich verfehlt. Damit hat die Hoffnung vieler, DIE LINKE in Westdeutschland als starke Kraft zu etablieren, einen Dämpfer bekommen.

„Ohne uns wäre die Rechte stark“

Dieser richtige Satz stammt von Oskar Lafontaine beim Gründungsparteitag der LINKEN 2007: „Zu einem historischen Auftrag, den wir haben, möchte ich etwas sagen, weil er in der Öffentlichkeit immer wieder vergessen wird. Wir sind die einzige Stimme im Parlamentsbetrieb und im politischen Leben, die denen Hoffnung wieder gibt, die bisher nicht mehr zur Wahl gingen, weil sie gesagt haben, es lohnt sich ja nicht mehr, sie entscheiden ja doch immer gegen uns. Ohne uns wäre die Rechte in Deutschland stark. Das ist bereits ein historisches Ergebnis der neuen LINKEN.“iv

Lange konnte die Existenz der LINKEN den Aufstieg einer rechtspopulistischen Kraft, die wir in vielen anderen Ländern beobachtet haben, bremsen. Das hat sich mit der Gründung der AfD im Jahr 2013 geändert. DIE LINKE gewinnt zunehmend Mitglieder und WählerInnen in urbanen, jungen, gut gebildeten Milieus und verliert solche unter den abgehängten und ausgebeutetesten Schichten, die teilweise gar nicht mehr zur Wahl gehen und zum Teil der AfD ihre Stimme geben.

Die Analyse, warum Letzteres der Fall ist, ist stark umstritten. Während Gregor Gysi und andere die AfD dadurch bekämpfen möchten, dass neue rot-rot-grüne Regierungen gebildet werden, sieht ein Großteil des linken Parteiflügels und auch die Autorin dieses Textes ein erhebliches Problem darin, dass die LINKE durch Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen als angepasste parlamentarische Ergänzungspartei wirkt und dadurch nicht in der Lage ist, der berechtigten Wut vieler Menschen Ausdruck zu verleihen.

Fragestellungen und Konflikte damals und heute

Ein Grundproblem der Partei seit der Fusion bis heute besteht darin, dass es zu zentralen Fragestellungen qualitative Differenzen gibt.

Das gilt vor allem für:

• Wie werden gesellschaftliche Verbesserungen durchgesetzt: vor allem parlamentarisch oder durch Druck durch Bewegungen und Proteste?

• Gibt es ein linkes Lager von LINKE, SPD und Grünen oder ist es Aufgabe der LINKEN Veränderungen aus der Opposition durchzusetzen bis sich linke parlamentarische Mehrheiten ergeben?

• Will die Partei den Kapitalismus wirklich überwinden oder geht es um kleine Verbesserungen im Bestehenden?

• Wer entscheidet in der Partei vor allem? Die Basis, die Vorstände oder die Fraktionen?

In Wirklichkeit gehören all diese Fragen zusammen. Einige in der Partei betonen das hohe Gut des Pluralismus. Die stellvertretende Parteivorsitzende Janine Wissler schreibt in einer kurzen Bilanz in der Disput im Mai 2017: „Diese Pluralität macht die Partei so spannend – und oft auch anstrengend. Weil man sich miteinander auseinandersetzen und einen Konsens finden muss oder manchmal auch nur eine Sprachregelung.“vNatürlich muss DIE LINKE vor dem Hintergrund des heutigen Bewusstseinsstand und der gesellschaftlichen Ausgangslage verschiedene Traditionen und ideologische Positionen in sich vereinen. Aber Pluralismus darf nicht zuBeliebigkeit führen. In der LINKEN sollte die Basis dafür die Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten und eine antikapitalistische Perspektive sein.

Das Problem ist heute zum einen, dass manche Positionen so unterschiedlich sind, dass sie die Partei lähmen und zum anderen, dass die notwendigen Debatten selten offen so geführt werden, dass sich Mehrheitspositionen in der Partei herausbilden können. Es werden viel zu viele „Sprachregelungen“ gefunden, anstatt wichtige Fragestellungen zu klären. Das ist aber notwendig für jede demokratische Partei, die sich weiterentwickeln will. Die Formelkompromisse zu inhaltlichen Themen wie der Regierungsfrage, der EU, der NATO und anderen Fragen bedeuten im Endeffekt, dass oftmals führende Mitglieder mit Apparat und Medienpräsenz im Gepäck die reale Position der Partei in der Öffentlichkeit prägen.

Das gilt vor allem für die Regierungsfrage. Der in Erfurt gefundene Kompromiss lautet, dass sich die Partei an keiner Regierung beteiligt, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Dienstes verschlechtert. Diese Positionierung findet erstens auf Landesebene in der Praxis keine Anwendung. Das aktuellste und extrem bittere Beispiel hierfür ist die Zustimmung der Landesregierungen, in denen die LINKE mitregiert, zur Möglichkeit der Autobahnprivatisierung am 2. Juni im Bundesrat. Zweitens bildet der Erfurter Kompromiss eine Vielzahl von Aspekten der Arbeit in Regierungen gar nicht ab: Er erfasst weder den Sozialabbau und Privatisierungen der Vergangenheit noch aktuelle zentrale Themen wie Abschiebung von Geflüchteten, prekäre Arbeit, steigende Mieten oder Freihandelsabkommen. Drittens wird er vom Spitzenpersonal unserer Partei mal so und mal so ausgelegt. Will man diese Position aber bei Bundesparteitagen schärfen, wird einem entgegen gehalten, man wolle Kompromisse aufmachen, die die Partei an den Rand der Spaltung bringen könnten. Wenn sich FunktionsträgerInnen in den Ländern nicht an diese Kompromisse halten, ist diese Kritik selten zu vernehmen. Die Parteilinke wäre gut beraten, an der Stelle um Mehrheiten zu ringen.

Natürlich kann und muss es auch Kompromisse und nicht nur Mehrheitsentscheidungen geben. Was nötig ist, hängt von der politischen Bedeutung der Themenfelder ab. Das Problem ist derzeit, dass vorauseilende Kompromisse unter FunktionsträgerInnen der Taktgeber der Partei geworden sind und nicht lebendige Debatten an der Basis, in der sich Mitglieder eine Meinung bilden können. Ein schönes Beispiel dafür, wie es anders laufen kann, war die von der AKL beim Bielefelder Parteitag 2015 angestoßene Debatte über Kommunalpolitik. In dieser Debatte wurden zwei unterschiedliche Linien in der Partei (Politik der Sachzwänge oder kämpferische Kommunalpolitik) deutlich und Mitglieder konnten sich eine Meinung bilden.

Im April 2016 veröffentlichten die Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger ihren Text „Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“vi. Vieles darin ist positiv, vor allem die Aussage, es gäbe kein linkes Lager von LINKE, SPD und Grünen. Claus Ludwig, Sprecher der LINKEN Köln-Kalk und aktiv in AKL und SAV, und ich schrieben in einer Antwort auf den Text: „Es wird nicht gelingen, DIE LINKE als kämpfende, ‚revolutionäre‘ Kraft darzustellen, eine ‚neue Kultur der Selbstermächtigung und Beteiligung durch Organisierung an der Basis‘ zu schaffen, ohne kontroverse Debatten offen zu führen, den Konflikt mit dem auf Regierungsbeteiligungen und ‚Realpolitik‘ orientierten Flügel einzugehen und für klar antikapitalistische Mehrheitsverhältnisse zu kämpfen. Ohne solche haben wir am Ende nicht einmal eine Reform der Partei, geschweige denn die Revolution.“vii

Geburtsfehler der LINKEN

Im Buch „Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden – Die Linke und das Regieren“ schreibt Sascha Staničić, Bundessprecher der SAV, treffend, dass die Akzeptanz von Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien so etwas wie der Geburtsfehler der Partei DIE LINKE ist. Im Gegensatz zur PDS lehnte die WASG „kategorisch eine Regierungsbeteiligungen ab, die zu Sozialkürzungen, Privatisierungen und Personalabbau führt. Unter den damaligen Bedingungen der Agenda 2010-Politik der SPD und den Erfahrungen mit der rot-roten Koalition in Berlin war das gleichbedeutend mit einer Absage an rot-rote oder rot-rot-grüne Koalitionsgedanken. Das war der entscheidende Unterschied zur politischen Praxis der PDS und das sollte zur Hauptkontroverse in der Fusionsdebatte werden. Der neuen Partei wurde ein Grundwiderspruch in die Wiege gelegt, der seit neun Jahren eine massive Bremse für ihren Aufbau und ihre Stärkung darstellt.“viii

Einerseits will die Partei an der Seite von Bewegungen Verbesserungen gegen alle etablierten Parteien durchsetzen, andererseits orientiert sie auf Bündnisse mit SPD und Grünen und untergräbt damit in der Praxis ihre eigenen Forderungen. Der Widerspruch ist Ausdruck davon, dass ein Teil der Partei die Perspektive sozialistischer Veränderung aufgegeben hat und darauf setzt, die kapitalistischen Verhältnisse mit zu verwalten und etwas besser zu gestalten, was zur Fokussierung auf eine Politik des (parlamentarischen) kleineren Übels führt.

Das führt dann zu solch kuriosen Situationen, dass DIE LINKE einen wichtigen Beitrag leistet, die gesellschaftliche Stimmung zum Thema Privatisierungen zu drehen und in Ländern oder Kommunen, in denen DIE LINKE mit SPD (und Grünen) regiert, Privatisierungen mit durchsetzt (Ausgründung der CFM in Berlin, Privatisierung von über 100.000 Wohnungen in Berlin, Verkauf der WoBa in Dresden, Zustimmung zur Möglichkeit der Autobahnprivatisierung im Bundesrat).

Im Gegensatz zur Autorin dieses Textes hatten einige in der neu gegründeten Partei wie beispielsweise Klaus Ernst (Mitbegründer der WASG und Parteivorsitzender der LINKEN von 2010 bis 2012) die Illusion, mit der Gründung der LINKEN die SPD nach links zu treiben. Klaus Ernst zieht in der Mitgliederzeitschrift Disput im Mai 2017 folgende Bilanz: „Auch die einstige Hoffnung, die SPD nach links zu treiben, bewahrheitete sich nicht. Hartz IV wurde nicht abgeschafft, Kriegseinsätze, Altersarmut sowie eine wachsende Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen sind Realität.“ix Trotzdem wird von großen Teilen der Partei diese falsche Orientierung beibehalten.

Der Berliner Landesparteitag der WASG am 4.11. 2006 formulierte zu Recht politische Mindestbedingungen für eine Neugründung der Linken. Die WASG forderte unter anderem die Absage an Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Beendigung von Regierungsbeteiligungen, die zu Sozialabbau, Privatisierungen und Stellenstreichungen führen. Heute müsste man die Kriterien noch schärfer formulieren. Damals richteten sie sich eindeutig gegen die Praxis der Regierungsbeteiligungen der LINKEN mit der SPD in Berlin (2002-2011) und Mecklenburg-Vorpommern (1998-2006). Die WASG Berlin war gegen eine schnelle Fusion im Top-down-Verfahren. Sie wollte auch Kräfte der politischen Linken einbeziehen, die nicht Teil von WASG und Linkspartei.PDS waren, forderte eine Trennung von Amt und Mandat und den Aufbau außerparlamentarischen Widerstands zur Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Sie warnte davor, dass die Regierungsbeteiligung in Berlin ein Präzedenzfall für die neue Linke wird, wenn die Frage nicht vor einem Zusammenschluss der beiden Parteien geklärt würde.x

Weil diese Punkte nicht zur Basis für die Fusion wurden, sprachen sich die Mitglieder der WASG Berlin und auch die Autorin dieser Zeilen gegen die Fusion aus. Die Warnungen haben sich bestätigt. Die politischen Konflikte, die damals eine Rolle gespielt haben, sind heute noch aktuell.

Glaubwürdigkeit

Durch den Widerspruch von richtigen Forderungen auf Bundesebene und der Zustimmung der Politik vermeintlicher Sachzwänge auf Landesebene, wird die Glaubwürdigkeit der Partei beschädigt. Oskar Lafontaine hatte beim Gründungsparteitag angemahnt:

„Wenn wir wissen, dass viele Menschen in Deutschland sagen, die da oben machen ja doch, was sie wollen, es lohnt sich doch gar nicht mehr, dann müssen wir dagegen halten mit direkter Demokratie, mit Mitgliederentscheiden, mit Generalstreik usw. Aber wir müssen auch dagegen halten mit Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit ist das Schwerste. Lasst uns alles versuchen, dass diese Glaubwürdigkeit bei allen Fehlern und Irrungen, die unvermeidlich sind, zum Markenzeichen der neuen LINKEN wird! Und wenn wir das wollen, liebe Freundinnen und Freunde, dann lasst mich schließen mit einem Wort eines Dichters der Oktoberrevolution, mit einem Wort Majakowskis. Der sagte einmal: Wir werden dann Glaubwürdigkeit haben, ‚wenn wir dem eigenen Lied niemals auf die Kehle treten‘. In diesem Sinne: Glück auf!“xi

Davon ist DIE LINKE leider weit entfernt.

Sascha Staničić führt in seinem Beitrag außerdem aus, weshalb die Akzeptanz von Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen als konstitutives Element der neuen Partei auch wichtige Folgen für ihre innere Verfasstheit hat: „Denn das verstärkt eine Fokussierung auf parlamentarische Arbeit, eine Stärkung der Macht der Parlamentsfraktionen, die Entstehung materieller Eigeninteressen bei einer wichtigen Schicht der ParteifunktionärInnen und MandatsträgerInnen etc. In den Augen vieler Menschen ist DIE LINKE der linke Teil des Establishments. Niemand würde in der Politprofi-Partei darauf kommen, den Slogan aus WASG-Gründungstagen ‚Jetzt wählen wir uns selbst‘ zu verwenden. Regierungsbeteiligungen und eine auf Regierungsbeteiligungen ausgerichtete Politik führt unter den gegenwärtigen Verhältnissen geradezu zwangsläufig zu einer Schwächung der Parteibasis, zu Top-Down-Prozessen und dazu, dass Positionen häufiger durch ParteiführerInnen in den Medien deklariert als auf Parteitagen erarbeitet werden.“xii

Was tun?

Auch wenn es wichtig ist, die Ursachen für Entwicklungen zu verstehen, geht es heute vor allem darum, Maßnahmen zu ergreifen, die in die richtige Richtung weisen.

Als wichtigstes erscheint mir das, was Claus Ludwig und ich vor einem Jahr schrieben:

„DIE LINKE muss ihre Verbindungen zu Establishment und bürgerlichen Parteien bewusst und erkennbar kappen, um an Glaubwürdigkeit und Handlungsfreiheit zu gewinnen. Sie muss als eindeutig oppositionelle, kämpferische, sozialistische, klassenbasierte Kraft erkennbar sein. (…) Die Partei muss sich ändern, nicht hier und da ein bisschen, sondern in ihrem ganzen Auftreten, ihrer Schwerpunktsetzung, ihrer inneren Verfasstheit – sie braucht nicht weniger als eine Revolutionierung. So lange bei Parteitagen ein Großteil der Delegierten Mandatsträger, MitarbeiterInnen und Vorstandsmitglieder sind, hilft das Beschwören von mehr Bewegungsorientierung und Selbstorganisation in Strategiepapieren nur wenig. So lange in Thüringen abgeschoben wird, ist die Forderung nach einem ‚gesellschaftlichen Lager der Solidarität‘ von innen hohl.“xiii

Um diese Fragen sollte die Parteilinke entschlossen ringen und gleichzeitig eigene positive Beispiele setzen: durch erfolgreiche lokale Kampagnen, durch engagierte Solidaritätsarbeit für KollegInnen im Betrieb, durch beispielhafte antirassistische Initiativen. Nur wenn wir einen Beitrag leisten, die Partei zu verankern und ihr spezifisches Gewicht zu erhöhen, kann es uns wirksam gelingen, in innerparteilichen Debatten Gehör zu finden.

Unsere Perspektive sollte nicht weniger als der Aufbau einer sozialistischen Massenpartei sein. Eine Partei, die in der Zukunft Hunderttausende organisiert und eine starke Verankerung in der Arbeiterbewegung hat. Erinnern wir uns an die Entwicklung der SPD im 19. Jahrhundert zu einer Partei von einer Million Mitgliedern, Dutzenden Tageszeitungen und einer Basis in den Betrieben – alles übrigens aus der Opposition heraus.

DIE LINKE ist kein Selbstzweck. Aber sie ist es wert, um sie zu kämpfen.

 

iAlle Zahlen aus der dem Parteivorstand vorgelegten Mitgliederstatistik zum Ende des ersten Quartals 2017

iihttps://archiv2017.die-linke.de/partei/organe/parteitage/magdeburger-par...

iiiIn Berlin erreichte die PDS im Jahr 2002 vor ihrem Einritt in die erste rot-rote Regierung 22,6 Prozent. Nach zehn Jahren in der Regierung hatte sie ihre Unterstützung halbiert und erreichte in 2011 nur noch 11,7 Prozent. In 2016 schaffte sie es auf 15,6 Prozent, liegt damit aber weiterhin deutlich unter dem Ergebnis der Zeit vor dem Regierungseintritt.

ivhttps://archiv2017.die-linke.de/partei/organe/parteitage/archiv/gruendungsparteitag/reden/oskar-lafontaine/

vDisput, Mai 2017, Seite 9

vihttps://archiv2017.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/artikel/...

viihttps://www.sozialismus.info/2016/05/revolution-der-sozialen-gerechtigke...

viiiS. Staničić: Die Regierungsfrage als Geburtsfehler der Linken, in: Gleiss/Höger/Redler/Stanicic (Hrsg): Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden, S. 152

ixDisput, Mai 2017, Seite 8

xBeschluss des 8. Landesparteitags der WASG Berlin am 4.011.2006, zitiert nach: L- Redler: Das Verschwinden der WASG, S. 38

xihttps://archiv2017.die-linke.de/partei/organe/parteitage/archiv/gruendungsparteitag/reden/oskar-lafontaine/

xiiS. Staničić, a.a.O., S. 154f

xiiihttps://www.sozialismus.info/2016/05/revolution-der-sozialen-gerechtigke...

 

     

    Marx aktuell: Was ist eigentlich Sozialismus?

    Nicolas Prettner

    Eine Frage, die schwerer zu beantworten ist, als es auf den ersten Blick scheint. Utopische SozialistInnen wie Fourier oder Saint-Simon hatten ein idealistisches Bild einer sozialistischen Gesellschaft. Angeekelt vom Elend der Menschen im Kapitalismus setzten sie sich Gerechtigkeit und Gleichheit zum Ziel, ohne die Gesetze des Kapitalismus ausreichend zu untersuchen. Die Ursachen der Missstände suchten sie eher im Individuum als im Wirtschaftssystem. Fourier z.B. verband seine Kritik an Finanzspekulation mit Antisemitismus. Bei anderen beinhaltete Sozialismus eine bestimmte Menge Zucker pro Person oder Tanzunterricht – weil man selbst das gerne wollte.

    Marx und Engels stellten den Kampf um Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage. Sie setzten sich mit den notwendigen wirtschaftlichen und politischen Grundlagen für eine sozialistische Gesellschaft auseinander. Im „Manifest der kommunistischen Partei“ formulierten sie 1848: “Wenn das Proletariat ... die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt sie mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Die demokratischen Räte-Strukturen der Pariser Commune 1871 sahen sie als Vorbild für die Demokratie im Sozialismus. Nach einem detaillierten Bild von Sozialismus wird man bei ihnen aber vergeblich suchen: sie wollten und konnten kommenden Entwicklungen nicht vorausgreifen, die durch eine Entfesselung der technischen und menschlichen Möglichkeiten erst möglich sein werden.

    Im Gegensatz zum grundlegenden, aber undogmatischen Umgang von Marx und Engels hat der Stalinismus ein sehr starres Bild vom Sozialismus. Der von ihnen so genannte „real existierende Sozialismus“ wurde unterschieden von einer künftigen sozialistischen Gesellschaft. Und Kernstück der stalinistischen Ideologie war die Idee, dass Sozialismus in einem Land möglich wäre. So wurde Nationalismus, Mangel und Diktatur gerechtfertigt und auf eine ferne Zukunft verwiesen, in der ein „neuer Mensch“ entstanden sein sollte. Man war wieder beim Idealismus gelandet und schuf ein pseudoreligiöses Bild, um die Leiden und Schrecken der stalinistischen Diktatur als zeitbedingt und begrenzt erträglich zu machen.

    Heute müssen wir betonen, was Sozialismus alles NICHT ist: Weder ein schaumgebremster Kapitalismus sozialdemokratischer Prägung noch die Diktaturen des Stalinismus. Sozialismus setzt der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen ein Ende und ersetzt sie durch eine klassenlose Gesellschaft. Diese neue Gesellschaft schafft keinen einheitlichen Menschen, sondern gerechte und gleiche Ausgangsbedingungen zur vielfältigen Entwicklung aller Menschen. Bis wir dort ankommen, ist noch viel zu tun. Es gilt eine revolutionäre Bewegung zur Überwindung des kapitalistischen Systems aufzubauen. Denn wie es Rosa Luxemburg vor 100 Jahren schon richtig sagte, stehen wir vor der Wahl: „Sozialismus oder Barbarei“.

     

    Erscheint in Zeitungsausgabe: 

    Von Dummheit und Überheblichkeit

    Jan Millonig

    Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“ - Wer wählt die FPÖ?

     

    Trumps Wahlsieg, der Siegeszug von Le Pen, AfD oder FPÖ etc. - all das lässt Viele verzweifeln und die Hoffnung auf eine positive Zukunft verlieren. Wenn „die Leute“ so rechts, so voller Neid und Hass sind - wie soll dann eine Bewegung für eine bessere Welt entstehen? Wie sollen wir den Rassismus der etablierten Parteien und Medien bekämpfen, wenn „die Mehrheitsgesellschaft“ dem sowieso zustimmt? Wann werden Frauen in dieser Gesellschaft voller Alltagssexismus und übergriffigen Männern sicher sein?

    Von „seriöser“ Seite wie auch auf Facebook & Co. sind die Schuldigen rasch gefunden: Das Wahlvolk, insbesondere „die Arbeiter“ sind einfach zu ungebildet oder schlichtweg „dumm“. Abgesehen davon, dass z.B. ein wesentlicher Teil der WählerInnen der extremen Rechten aus der Mittelschicht kommt, gibt es mehrere Gründe für dieses recht simple Erklärungsmuster. Neben bewusster Einseitigkeit und Vereinfachung zeigt sich hier ein Weltbild, indem „die Massen“ (und die sind weitgehend deckungsgleich mit „den Arbeitern“) der Elite halt nicht das Wasser reichen können. Wer was und wen aber warum wählt, wird in diesem Erklärungsmuster, das über eine moralische Ebene nicht hinausgeht, nicht erklärt.

    Gleichzeitig mit der Wahl Trumps fanden auch diverse Volksabstimmungen in den USA statt, wo weitgehend linke, fortschrittliche Themen gewannen. Vor und nach der Wahl gab es eine Reihe von Bewegungen für soziale Verbesserungen, eine Massenkampagne für den linken Kandidaten Bernie Sanders und riesige Proteste gegen Rassismus, Sexismus und Trumps Präsidentschaft. In Österreich unterstützten 2015 über 100.000 Menschen Geflüchtete und forderten von der Regierung einen menschlichen Umgang mit ihnen. Weniger als ein Jahr danach erhielt Hofer fast 50% der Stimmen. Die Polarisierung findet rechts und links statt bzw. spiegelt das durchaus verwirrte Bewusstsein wider.

    Bewusstsein existiert nicht im luftleeren Raum. Wenn es in der ArbeiterInnenklasse Rassismus und Sexismus gibt, dann ist das Ausdruck für die Schwäche der ArbeiterInnenbewegung in den letzten Jahrzehnten. Auch Regierungsparteien, große Medien und sogar der ÖGB tun so, als ob Flüchtlinge und MigrantInnen schuld an Arbeitslosigkeit und sozialen Problemen wären. Die Sozialdemokratie ist schon lange selbst zur Speerspitze rassistischer und neoliberaler Politik geworden und die Gewerkschaften tragen die „Österreich zuerst“-Konkurrenzlogik mit. Auch in Frauenbranchen ist der Vorsitzende ein Mann. Wenn hier keine starke ArbeiterInnenbewegung dagegen hält, setzen sich diese ebenso simplen wie falschen Erklärungsmuster durch. Es fehlen die Antworten von links. Es fehlt eine Kraft, die der neoliberalen Agenda etwas entgegenzusetzen hat. Keine Partei stellt Forderungen im Interesse der arbeitenden und armen Bevölkerung auf, gibt Antworten auf die wahren Probleme oder setzt sich in sozialen Bewegungen für die Rechte der Menschen ein. Dieses Vakuum füllt der Rechtspopulismus. Kämpferische Gewerkschaften, Parteien mit einem wirklich linken Programm und soziale Bewegungen könnten das Kräfteverhältnis verschieben, auch das Bewusstsein der Menschen. So verzögerte die Partei DIE LINKE in Deutschland die Entwicklung des Rechtspopulismus um Jahrzehnte.

    Solidarität ist ein Grundprinzip der ArbeiterInnenbewegung und umso stärker, je stärker diese ist. Es geht nicht darum, dass die Menschen der ArbeiterInnenklasse prinzipiell bessere Menschen wären, sondern um ihre sozialen Interessen und deren Durchsetzbarkeit. Aufgrund ihrer Position in der Gesellschaft und gemeinsamen Lage in der Arbeitswelt liegt es für ArbeiterInnen und sozial Schwache in der Natur der Sache, sich zusammenzuschließen und zu organisieren.

    In den Betrieben und Firmen kann nur der gemeinsame Kampf der KollegInnen gegen Verschlechterungen zum Erfolg führen. Solidarität wird zur Notwendigkeit. Was andere auf politischer Ebene erlernen, ist für ArbeiterInnen eine gemeinsame Erfahrung am Arbeitsplatz. Klar wird auch bald, dass es gemeinsame Interessen von „uns hier unten“ im Gegensatz zu „denen da oben“ gibt. Zahllose Beispiele zeigen, dass rassistische, sexistische oder homophobe Vorurteile unter ArbeiterInnen im Zuge von gemeinsamen Kämpfen überwunden werden. Weil sich im gemeinsamen Kampf gegen Entlassungen oder für höhere Löhne zeigt, dass einem der türkische Kollege oder die serbische Kollegin weit näher steht, als der österreichische Chef. Während für die KapitalistInnen Konkurrenz und Ellenbogendenken nützlich ist, steht beides im Widerspruch zu den Interessen der ArbeiterInnenklasse.

    Solidarität ist lernbar. Aufklärung und Information an Schulen etc. ist nichts Falsches, aber absolut unzureichend. Die gemeinsame Erfahrung in sozialen Bewegungen und Klassenkämpfen ist das Mittel, um die Spaltung der Gesellschaft entlang religiöser, ethnischer oder geschlechtermäßiger Trennungen zu überwinden.

     

     

    Mehr zum Thema: 
    Erscheint in Zeitungsausgabe: 

    Zahlen und Fakten: Meinungen zu Sozialismus und Kapitalismus

    Karin Wottawa

    Das Pew Research Center gibt zu einer weltweiten Umfrage von rund 26.000 Befragten in 21 Ländern an: nur jedeR vierte ist mit der Wirtschaftslage im eigenen Land zufrieden. In 11 der Länder ist nur jedeR Zweite der Meinung, dass freie Marktwirtschaft zu mehr Wohlstand führe. Der „Glaubenssatz“, harte Arbeit führe zu mehr Wohlstand hat ausgedient, da er sich in der Wirklichkeit überholt hat.

    • Laut einer Emnid-Umfrage können sich 80% der Ostdeutschen und 72 % der Westdeutschen vorstellen, in einem sozialistischen Staat zu leben. In einer aktuellen You-gov-Umfrage wird Sozialismus insgesamt von 45% gegenüber dem Kapitalismus favorisiert und nur 26% der Befragten finden das keine Option. Bei der gleichen Frage lehnen 47 % Kapitalismus ab.
    • In der gleichen Umfrage bevorzugen in Britannien 36 % Sozialismus und 39 % lehnen Kapitalismus ab. Und sogar im angeblichen Mutterland des Kapitalismus, den USA, gibt es eine Zustimmung von 29 % für Sozialismus und sind 27% gegen Kapitalismus. 71 % der Bevölkerung sind hier überzeugt davon, dass die Macht der Banken und soziale Ungleichheit Proteste notwendig machen. 48 % stimmen der Aussage zu, dass Kapitalismus nicht mehr in diese Welt passe. Eine Harvard-Umfrage unter 18 bis 29 jährigen setzt dem noch eines drauf: 51 % „halten nichts vom Kapitalismus“.
    • In einer breiter angelegten Studie von „Statista“ in mehreren Ländern zur Frage „Welche der folgenden Aussagen gibt Ihre Meinung zum Kapitalismus am besten wieder?“ sehen in Frankreich 43 % den Kapitalismus als „ruiniert“, in Italien und Spanien 29 % und in Russland und Polen 22 % bzw. 23 %, sogar in China wird das von 18 % so gesehen.
    • Kapitalismus wird mit Gier, sozialer Ungleichheit, Gewinnstreben verbunden. Dass Kapitalismus „Freiheit“ bedeutet, meinten 1992 noch 48 % - heute nur mehr 27 %. Dass er „Fortschritt“ bedeutet, glauben 38 % (1992:  69 %). Dass er „Ausbeutung“ bedeutet, meinen heute 77 % (1992: 66 %). Bei „Gerechtigkeit“ rasselt der Prozentsatz mit 5% in den Keller.
    • Und sogar in Österreich geben 81 % an, dass das „jetzige System an seine Grenzen“ stößt.

     

     

    Erscheint in Zeitungsausgabe: 

    Ist der Mensch zu schlecht für den Sozialismus?

    Manuel Schwaiger

    Die tägliche Praxis zeigt, dass der Kapitalismus zu schlecht für den Menschen ist!

    Spätestens seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 wird immer mehr Menschen klar, dass der Kapitalismus nicht funktioniert. Viele suchen nach einer Alternative, und immer öfter kommt „Sozialismus“ ins Spiel. Doch da kommen Argumente wie: “Der Sozialismus ist eine schöne Idee – aber er funktioniert nicht.” Aber stimmt das tatsächlich?

    Die herrschenden KapitalistInnen versuchen, ihr System zu legitimieren – genau wie SklavenhalterInnen, Kirchenfürsten, KönigInnen und KaiserInnen auch versuchten, ihre jeweiligen Systeme als alternativlos darzustellen, bis sie dann doch gestürzt wurden. Die abschreckenden Beispiele der stalinistischen Staaten machen es ihnen leichter, den Kapitalismus als bestes System zu präsentieren. Wir zeigen in unserer Broschüre “Ist der Mensch zu schlecht für den Sozialismus?”, dass Sozialismus den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen weit mehr entspricht und greifen gängige Vorurteile auf. Hier ein kurzer Überblick:

    Das wohl häufigste Argument ist, Menschen seien zu gierig oder zu egoistisch, um in einer solidarischen Gesellschaft zu leben. Menschen schließen sich in Gruppen (Gesellschaften) zusammen, um bestimmte Bedürfnisse befriedigen zu können. Der Stand der Naturbeherrschung und die Form, wie Gesellschaften die Güter produzieren, die sie benötigen, stellen somit die Rahmenbedingungen für das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder dar. Keine „menschliche Natur“ bestimmt unser Verhalten, sondern die Strukturen, die wir vorfinden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Der Versuch, sich anderen gegenüber einen Vorteil zu verschaffen entsteht dort, wo es nötig ist, wo Mangel herrscht. So würde in Österreich niemand auf die Idee kommen, massenhaft Wasser zu horten, während solche Handlungen in trockeneren Staaten bewaffnete Konflikte auslösen können. Die technische Entwicklung hat uns längst in die Lage versetzt, alle lebenswichtigen Güter für alle im Überfluss zur Verfügung zu stellen. Im Kapitalismus ist das jedoch nicht der Zweck der Produktion von Gütern – sondern der Verkauf von Waren, also der Profit. So schafft der Kapitalismus künstliche Mängel. Diese Mängel und nicht die menschliche Natur führen auch zur Anwendung von Gewalt. Kriege etwa werden nicht durch die Bösartigkeit einzelner Personen verursacht, sondern stehen im Zusammenhang mit dem imperialistischen Wettstreit um Ressourcen und Absatzmärkte. Menschen werden auf allen Ebenen in Konkurrenz zueinander gedrängt: Firma gegen Firma, Staat gegen Staat, AusländerInnen gegen InländerInnen, Männer gegen Frauen usw. Dieses „Alle gegen alle“-System bringt Egoismus und Gewalt hervor. Rassismus, Sexismus und Homophobie werden als Antworten gesehen, um im allgemeinen Hauen und Stechen nicht selbst unter die Räder zu kommen. Das nützt den herrschenden Eliten. Sie stehen zwar selbst in Konkurrenz zueinander, haben jedoch das gemeinsame Interesse, jene, die die Profite für sie erarbeiten, unten zu halten. Die Aussicht, keinen Job und keine Zukunft zu haben, macht zu recht wütend. Gibt es kein Angebot, diesen Zustand durch eine starke ArbeiterInnenbewegung zu verändern, reagieren manche Menschen auf diese Verzweiflung mit Gewalt oder schließen sich terroristischen Gruppen an, die scheinbar Antworten auf ihre Probleme liefern. Die kapitalistische Ausbeutung und die imperialistischen Kriege erzeugen sowohl Flüchtlinge als auch Terrorismus. Der Kampf gegen Gewalt und Terrorismus muss daher letztlich auch immer ein Kampf gegen Kapitalismus sein.

    Trotz all dieser gesellschaftlichen Zwänge handeln unzählige Menschen in zahlreichen Bereichen sozial, etwa durch ehrenamtliche Aktivität bei sozialen Projekten, Gewerkschaften und Parteien, freiwilligen Feuerwehren oder bei der Flüchtlingshilfe. Gerade diese Beispiele zeigen auch, dass Menschen keineswegs von Natur aus „faul“ sind und zur Arbeit gezwungen werden müssen. Menschen arbeiten gerne und viel - wenn sie Sinn und Nutzen, sowohl persönlichen als auch gesellschaftlichen, in ihrer Arbeit sehen. Arbeit im Kapitalismus ist oft sinnlos, schlecht organisiert, mies bezahlt, gefährlich und unangenehm. In einer sozialistischen Gesellschaft kann durch demokratische und deswegen effizientere Planung der Wirtschaft und den Einsatz aller technischen Möglichkeiten bei gleichzeitiger Abschaffung von z.B. schadhaften, unnötigen oder gefährlichen Produkten die Arbeitszeit stark reduziert werden. Wirtschaftlicher Fortschritt würde steigenden Lebensstandard bedeuten – nicht Profite. Unter solchen Bedingungen wäre Arbeit deutlich weniger unangenehm und ein Zwang zur Arbeit, wie er heute existiert, nicht mehr notwendig. Heute wird die Verschiedenheit von Menschen und ihren Bedürfnissen ignoriert, alle müssen “leisten” und “funktionieren”. Wenn aber die Menschen und ihre Bedürfnisse im Zentrum stehen, dann sind wir alle in unserer Verschiedenheit gleichwertig und können Potentiale entfalten, die im Kapitalismus z.B. durch Armut behindert werden.

    Der Sturz des Kapitalismus durch die ArbeiterInnenklasse ist immer noch notwendig und möglich. Zwar mag der typische Industriearbeiter immer seltener werden. Aber auch Angestellte, prekär Beschäftigte und viele der „Freien DienstnehmerInnen“ sind ArbeiterInnen, die dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen. Oft sind gerade diese „neuen“ Schichten der ArbeiterInnenklasse am kämpferischsten: In den USA erkämpfen ArbeiterInnen von Fast-Food und Einzelhandelsketten den $15-Mindestlohn, in Deutschland und Österreich brodelt es ständig im Sozial- und Gesundheitsbereich. Auch revolutionäre Massenbewegungen brechen immer wieder aus. Aber wie der arabische Frühling gezeigt hat, können sie geschlagen werden, wenn es in diesen Bewegungen keine starken und organisierten Kräfte mit sozialistischer Perspektive gibt – mit all den schrecklichen Konsequenzen, die wir gerade sehen.

    Die stalinistischen Staaten dienen den Herrschenden als abschreckendes Beispiel gegen sozialistische Ideen. Doch die Analyse der Entwicklung in Russland in den 1920er Jahren zeigt, dass es ein unterentwickeltes und armes Land war, das sich bereits seit Jahren im Krieg befand. Die Verwüstungen von Krieg und Bürgerkrieg zerstörten große Teile der Wirtschaft des Landes. Der massive Mangel war die Grundlage für die Entstehung einer abgehobenen Bürokratie, die sozialistische Konzepte brutal mit Füßen trat. Aufgrund der technischen Entwicklung und auch der Erfahrungen sind die Grundlagen für eine erfolgreiche sozialistische Revolution und die Errichtung einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft heute weit besser.

    Es werden in der Zukunft wieder revolutionäre Situationen kommen – ob wir dann den Kapitalismus endgültig stürzen können hängt auch von Dir ab! Denn nicht der Mensch ist zu schlecht für den Sozialismus, sondern der Kapitalismus ist zu schlecht für den Menschen!

    Erscheint in Zeitungsausgabe: 

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