1918: Die Revolution, die bis heute wirkt

Schwarz-Blau ist dabei, den „revolutionären Schutt“ von 1918 zu beseitigen.
Sonja Grusch

Kaum ein Bericht kommt ohne eines der bekanntesten Bilder von 1918 aus: Während am 12. November im Parlament die Republik beschlossen wurde, versammelten sich die Massen vor dem Parlament am Ring. Auf der Ballustrade verlasen sozialdemokratische Politiker den Text der neuen Verfassung – nur wenige Meter daneben das Transparent „Hoch die sozialistische Republik“.

Zum 100. Jahrestag amtiert in Österreich eine ÖVP-FPÖ Koalition. Beide Parteien stehen in der Tradition jener, denen schon die Gründung der Republik mit ihren bürgerlich-demokratischen Rechten zu weit ging. Doch deren reaktionäres Weltbild war durch die revolutionäre Welle, die über Europa in Folgen des Völkermordens des 1. Weltkrieges hereinbrach, gewaltig in der Defensive.

Auch in Österreich gab es eine Revolution und diese, bzw. die Angst der herrschenden Klasse vor ebendieser, hatte gewaltige Veränderungen zur Folge. Es sind Veränderungen, die bis heute von zentraler Bedeutung sind: Das Ende der Monarchie, die Abschaffung des Adels und die Enteignung der Habsburger. Die Republik inklusive Verfassung und allgemeinem gleichen Wahlrecht. Die Bildung der Arbeiterkammer (als Instrument gegen die von den ArbeiterInnen selbst organisierten Räte). Unmittelbar nach der Ausrufung der Republik waren Bürgerliche und die kapitalistische Klasse auch gezwungen, einer Reihe von weitreichenden Sozialreformen zuzustimmen: 8-Stundentag, Betriebsräte, Arbeitslosenversicherung und Pensionen, Einführung eines Urlaubsanspruchs für Beschäftigte, die Anerkennung von Kollektivverträgen, Sonn- und Feiertagsruhe, Verbot von Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche, Ausbau der Kranken- und Unfallversicherung. Schon unter der Angst vor dem wachsenden Unmut während des 1. Weltkrieges kam es zu Anfängen im Mietrecht, welches dann in der 1. Republik noch verstärkt wurde. Im Bildungswesen wurde die Macht der kaiserlichen Verwaltung durch pädagogische ExpertInnen ersetzt, Mädchen bekamen erstmals Zugang zu öffentlichen höheren Schulen. Ziel war, dass alle Kinder unabhängig von Geschlecht und sozialer Lage Zugang zu optimaler Bildung erhalten sollen.

Insbesondere im Roten Wien gingen die Reformen noch viel weiter, umfassten auch Kinderbetreuung, Sexualaufklärung, Gesundheits- und Bildungswesen sowie Sport und Freizeit. Hinzu kam ein geistiges Klima, das den Mief des Konservativismus hinwegschleuderte und in Kultur, Kunst und Wissenschaft zu großartigen Leistungen führt. Acht Nobelpreise zeugen davon ebenso wie unsterbliche Werke von u.a. Kafka, Roth, Zweig, Werfel, Schnitzler, Schönberg, Lehar, Kokoschka, Loos, Schütte-Lihotzky und vielen mehr.

Für das Kapital und seine politische Vertretung war all das „revolutionärer Schutt“. Und sobald sich die Kräfteverhältnisse änderten, ging man auch daran, diesen zu beseitigen. Das geschah, indem Reformen einfach wieder zurückgenommen wurden, oder auch, indem man auf Diktatur und Faschismus setze. Zwar wurde vieles nach 1945 wieder eingeführt, doch wenn man die Liste der obigen Sozialreformen ansieht, kommt einem sehr viel aus der aktuellen politischen Debatte bekannt vor. Kaum eine Maßnahme, die damals zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse eingeführt wurde, steht heute nicht auf der Abschussliste der Regierung. Statt acht sollen wir 12 Stunden pro Tag arbeiten. Statt Kollektivverträgen soll wieder der/die Einzelne dem Unternehmen gegenüber stehen. Überhaupt sollen alle Elemente der Mitbestimmung der Beschäftigten – die ohnehin sehr beschränkt sind – abgeschafft werden. Auch das Mietrecht will die Regierung aufweichen und Versicherungen sollen wieder dem privaten Markt überlassen werden. Kurz und Strache haben die Ärmel hochgekrempelt, um den „revolutionären Schutt“ zu beseitigen. Das betrifft soziale ebenso wie demokratische Rechte – mit allen negativen Folgen für das Leben der Mehrheit in diesem Land. 100 Jahre nach 1918 geht es deswegen heute darum, die Fäden der ausgebremsten Revolution wieder aufzugreifen und diese endlich zu vollenden. Denn anders werden die Errungenschaften von 1918 auf Dauer nicht zu verteidigen sein.