Frauen und LGBT

Südafrikas Queer-Community wird angegriffen.

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 wurden mindestens 14 offen lebende Schwule, Lesben und Transgender in Südafrika Opfer von gewalttätigen Übergriffen - alle endeten tödlich.
Von Talia Coetzee, Workers and Socialist Party (WASP) (ISA in Südafrika)

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 wurden mindestens 14 offen schwul, lesbisch und transgender lebende Menschen in Südafrika Opfer von gewalttätigen Angriffen - alle endeten tödlich. Dieser erschreckende Trend deutet auf ein Problem der südafrikanischen Gesellschaft hin, das nicht die Aufmerksamkeit erhält, die es verdient: den Hass auf Mitglieder der LGBTQI+ Community.

Verstorbene Opfer der brutalen Attacken

  • Bonang Gaelae, 12. Februar 2021

  • Nonhlanhla Kunene, 5. März 2021

  • Sphamandla Khoza, 29. März 2021

  • Nathaniel “Spokgoane” Mbele, 2. April 2021

  • Khulekani Gomazi, 3. April 2021

  • Andile ‘Lulu’ Nthuthela, 10. April 2021

  • Lonwabo Jack, 18. April 2021

  • Lucky Kleinboy Motshabi, 24. April 2021

  • Phelokazi Mqathana, weekend of 1. Mai 2021

  • Lindokuhle Mapu, 9. Mai 2021

  • Aubrey Boshoga, 29. Mai 2021

  • Masixole Level, 6. Juni 2021

  • Anele Bhengu, 13. Juni 2021

  • Lulama Mvandaba, Juni 2021

Man könnte sich fragen, wie man herausfinden soll, ob all diese Menschen wirklich ermordet wurden, nur weil sie queer waren, aber die unglaubliche Brutalität dieser Verbrechen ist nicht zu leugnen. Auf Masixole Level wurde 16 Mal eingestochen. Sphamandla Khozas Leiche wurde in einem Graben gefunden, mit Messerstichen und durchgeschnittener Kehle, nachdem eine durchzechte Nacht mit Nachbarn damit endete, dass er wegen seiner Sexualität gedemütigt und schließlich ermordet wurde. Khulekani Gomazi wurde zu Tode geprügelt, ihr Körper wies ebenfalls Spuren auf, die darauf hindeuteten, dass sie hinter einem Auto hergeschleift worden war. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Täter nicht unbedingt von Hass motiviert sind, sondern eher von Angst.

Es ist unmöglich, den Anstieg dieser besonderen Form von geschlechtsspezifischer Gewalt zu analysieren, ohne die Auswirkungen des Covid-19-Virus auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft im Allgemeinen zu berücksichtigen. In ähnlicher Weise sehen wir eine Zunahme fremdenfeindlicher Hetze und Angriffe sowie einen Anstieg der Gewalt gegen Frauen und Kinder. Wir sind mit der ständigen Notwendigkeit zu überleben konfrontiert, jetzt mit dem zusätzlichen Stress durch massive Arbeitsplatzverluste, Haushaltskürzungen, Korruption und fortgesetzte Sparmaßnahmen, die von der ANC-Regierung durchgeführt werden. Dies verdeutlicht das fortgesetzte Versagen des Kapitalismus, der marginalisierte Gruppen nachweislich nicht nur ausgrenzt, sondern auch lebensfeindliche Lebens- und Arbeitsbedingungen für sie schafft.

Die Tatsache, dass die genannten Opfer Schwarze sind und überwiegend aus der Arbeiter*innenklasse stammen, kann nicht ignoriert werden. Es ist kein Geheimnis, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, aufgrund der Bedingungen, in denen sie sich befinden, nicht nur leichter Opfer von Unterdrückung, sondern auch von Gewalt werden. Da der Staat die Mittel, das Personal und die Löhne in den Bereichen Bildung, Gesundheit und anderen sozialen Diensten kürzt, haben die Armen und die Arbeiter*innenklasse zunehmend keinen Zugang zu den notwendigen Diensten und Ressourcen für psychische und physische Gesundheitsbedürfnisse, angemessenen Wohnraum und die Flucht aus potenziell gewalttätigen und lebensbedrohlichen Situationen. Das entschuldigt zwar nicht die Taten der Täter, zeigt aber einmal mehr die Katastrophe, die der Kapitalismus aufgrund seiner Unfähigkeit, Reichtum und Ressourcen zu regulieren, unweigerlich mit sich bringt.

Pride ist ein Protest - die Stonewall Aufstände von 1969 in den USA haben den Weg frei gemacht für die weltweiten Pride-Märsche, die eigentlich politische Proteste für queere Rechte waren. Im Laufe der Zeit wurden diese Märsche von der Kapitalist*innenklasse kooptiert, aber wir sehen wieder, wie die junge Generation die radikalen Anfänge zurückfordert, während sie zunehmend die Schlussfolgerungen zieht, dass das kapitalistische System Teil des Problems ist. Während sich der Pride-Monat dem Ende zuneigt, ist es wichtig, dass wir betonen, dass wir für die Befreiung der Queers nicht nur in einem Akt der Einheit zusammenstehen müssen, um Gewalt und Diskriminierung zu bekämpfen, sondern auch unaufhörlich das System bekämpfen müssen, das hilft, diese Ungleichheit zu erhalten.

WASP unterstützt den Kampf für LGBTQI+-Rechte, nicht nur auf dem Papier, sondern im wirklichen Leben, und fordert die Arbeiter*innenbewegung, kämpfende Communities und die organisierte Jugend auf, den Kampf gegen Queerphobie aufzunehmen.

Wir sagen

Ein wahres Ende der Queer-Unterdrückung kann nicht durch ein System erreicht werden, das Ungleichheit benötigt, um sich selbst zu erhalten. Der Kampf gegen queere Unterdrückung muss mit anderen Kämpfen der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten verbunden und darauf ausgerichtet werden, für eine sozialistische Umstrukturierung der Gesellschaft zu kämpfen.

  • Ein Ende des Kapitalismus wird nicht sofort die jahrhundertelange Transphobie und Homophobie auslöschen, aber es würde schnell gegen die spürbarsten Ungleichheiten wirken und die Grundlage für eine Gesellschaft schaffen, die geschlechts- und sexualitätsbedingte Diskriminierung vollständig abschaffen könnte.
  • Alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung, müssen gemeinsam für die Gleichstellung der Geschlechter in allen Bereichen der Gesellschaft kämpfen.
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit - von Lohndiskriminierung profitieren nur die Bosse.
  • Kostenlose, staatlich finanzierte und qualitativ hochwertige Bildung auf allen Ebenen für alle.
  • Verstaatlichung des Gesundheitssystems, keine Zwei-Klassen-Gesundheitsapartheid mehr. Jeder Mensch, unabhängig von Klasse, Rasse, Geschlechtszugehörigkeit und sexueller Orientierung, muss freien Zugang zu hochwertigen psychischen und physischen Gesundheitsdiensten haben.
  • Schutzräume und Wohnungen, um allen die Freiheit zu geben, missbräuchliche Beziehungen zu verlassen
  • Null-Toleranz gegen sekundäre Viktimisierung von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt durch Polizei und Gerichte - Säuberung der Polizei von Tätern
  • Schulungen über geschlechtsspezifische Gewalt für alle Polizei- und Justizbeamt*innen.
  • Communities, Arbeiter*innen und Jugendliche vereinen, um Hassverbrechen gegen LGBTQI+ Menschen zu bekämpfen

MOXiE!. Zeit, zurückzuschlagen

Netflix goes Feminism: Moxie schlägt zurück, bleibt dabei aber auch ein bisschen brav
Kajal Valad

Der feministische Film Moxie erzählt die Geschichte einer High School, an der sexistische Sprüche und Belästigungen auf der Tagesordnung stehen. Darüber empört beschließt Vivian dagegen vorzugehen. Sie erstellt eine feministische Zeitung, inspiriert von der Zeitung ihrer Mutter, welche selbst in ihrer Jugend feministisch aktiv war, und verteilt diese heimlich an der Schule. Begeistert vom Inhalt, wird sie schnell zum Hit an der Schule und es findet sich schon bald eine Gruppe von Mädchen zusammen, die sich gemeinsam unter dem Namen MOXIE! (Slang für “Mut“) organisieren. Auch Jungs schließen sich an und der Rest des Films folgt dieser Gruppe junger Menschen, die gegen Sexismus und den Status Quo an ihrer Schule kämpfen.

Moxie zeigt die Brisanz des Themas und das Potenzial von Bewegungen, welche beschließen sich zu organisieren und zu wehren sehr gut. Es wird deutlich, dass die Zeitung, die Vivian zunächst herausgibt, zum zentralen Mittel der Organisation der Mädchen wird und ihnen hilft, Forderungen zu formulieren und zu verbreiten. Man sieht auch, dass die Aktivist*innen sich erst durch ihre gemeinsame Organisierung mit einem Schulstreik Gehör verschaffen können und so ernst genommen werden müssen. Schade (aber Netflix-logisch), dass der Film endet, wo es spannend wird: Bei nächsten Schritten und Zielen.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Kein Film: ROSA in Echt

Am 13. März fand unsere ROSA (bisher: Nicht mit mir) Konferenz mit verschiedenen Workshops und Diskussionen statt. Wir konnten die Konferenz wegen aktueller Pandemie leider nur Online abhalten – und doch haben wir uns „ganz echt“ getroffen. Mehr als ein Film, sondern eben die reale Diskussion und Organisierung.

Gestartet hat die Konferenz mit einem Workshop zu „110 Jahre Internationaler Frauentag und seine proletarischen Wurzeln – was können wir für heute lernen?“ Nach den Einleitungen gab es eine spannende Diskussion über die Relevanz des Frauenkampftags heute, Parallelen zu den Kämpfen damals und was wir uns für eine sozialistisch-feministische Bewegung abschauen können.

Vor allem für den Workshop zum Thema „Queerfeminismus vs. Radikalfeminismus und marxistische Antworten“ gab es großes Interesse. Es waren viele neue Interessent*innen und Gesichter dabei und es folgte ein spannender inhaltlicher Input, der die Geschichte der verschiedenen feministischen Strömungen nachzeichnete und unsere Position als ROSA dabei deutlich machte.

Der letzte Teil handelte von „Frauen im Klassenkampf“ bzw. Frauen in der Arbeitswelt. Dazu hat eine Aktivistin, welche eine Ausbildung im Pflegebereich macht und dort auch arbeitet, von ihrem Arbeitsalltag und den Kämpfen rund um den Pflegebereich berichtet. Danach folgten viele persönliche Erfahrungsberichte von Teilnehmer*innen über die Situationen in den Berufen, in denen sie tätig sind. Es war eine gute Möglichkeit, sich mit anderen zu vernetzen, zu solidarisieren und von Kämpfen zu lernen. Es wurde deutlich, dass die Bedingungen am Arbeitsmarkt für Frauen aus der Arbeiter*innenklasse immer noch sehr schlecht und prekär sind. Von sexueller Belästigung über niedrige Löhne bis zu unfairen Arbeitszeiten war bei den Erfahrungen der Teilnehmer*innen alles dabei.

Die Konferenz folgt einer Reihe von Aktionen auf der Straße und hat gezeigt, dass es ein großes Interesse gibt, sich feministisch zu vernetzen und aktiv zu werden. Unser Angebot wurde sehr positiv aufgenommen und wir organisieren bereits die nächsten Veranstaltungen und Straßenaktionen. Mach auch du das nächste Mal mit und werde mit uns aktiv gegen Sexismus, Ungerechtigkeit und Kapitalismus!

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Erfolgreiche sozialistisch-feministische Konferenz der ISA

Am 10. und 11. April trafen sich 80 Sozialist*innen aus 22 Ländern bei der online Konferenz des internationalen Frauenbüros der International Socialist Alternative ISA. Es war die erste sozialistisch-feministische Konferenz unserer Internationalen in dieser Form. Wir haben die weltweiten Frauenbewegungen analysiert, ein marxistisches Programm, den Aufbau von ROSA und die Stärkung unserer weiblichen und LGBTQI+ Mitglieder diskutiert. Berichte aus verschiedenen Ländern haben gezeigt, dass Frauen sich immer mehr gegen Gewalt, staatliche Repression und Unterdrückung wehren. Entscheidend wird es sein, auch in Österreich diese Bewegungen mit Programm und Methoden zu bewaffnen, mit denen wir echte Verbesserungen gewinnen und das kapitalistische System als Ursache von Sexismus bekämpfen können.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

GPA-Bundesforum: Druck von unten!

Christoph Glanninger

Von 6.-7. Juli findet das nächste Bundesforum (eine Art Konferenz) der Gewerkschaft GPA statt, das angesichts von Corona besondere Bedeutung hat (die GPA vertritt u.a. Beschäftigte in Handel, Gesundheits- und Sozialbereich). In den letzten Monaten hat die GPA darin versagt, tatsächlich für ihre Mitglieder zu kämpfen. Viele Kolleg*innen sind wütend und es ist klar: Wir brauchen dringend eine völlig andere Gewerkschaft, um zu verhindern, dass die Folgen der Krise weiter auf uns abgeladen werden. 

Natürlich werden Anträge den Charakter der Gewerkschaft nicht verändern. Aber wenn sie von einer öffentlichen Kampagne begleitet werden, können sie kämpferische Gewerkschaftsmitglieder und Beschäftigte organisieren und Druck von unten auf die Gewerkschaftsspitze aufbauen. 

Im Gesundheits- und Sozialbereich gärt es gewaltig. Von hier kommen Anträge für eine verpflichtende Urabstimmung (nach dem Ausverkauf des Streiks im Sozialbereich durch die Gewerkschaftsführung Anfang 2020) sowie für einen Corona-Bonus und mehr Personal. Für den zweiten Antrag sammelt “Wir sind sozial aber nicht blöd” Unterschriften: “Mit einer aktiven Kampagne, beginnend mit Betriebsrätekonferenzen und Betriebsversammlungen, öffentlichen Aktionen und anderen Kampfmaßnahmen bis zu Streiks müssen wir gemeinsam nötige Verbesserungen erkämpfen”.

Zusätzlich bereiten Mitglieder der SLP und Aktivist*innen der sozialistisch feministischen Initiative Rosa einen Antrag vor, der die GPA dazu auffordert, die Initiative für einen Streik für Frauenrechte am 8. März 2022 zu setzen. Die Corona-Krise trifft Frauen überproportional (z.B. in systemrelevanten Berufen) und es ist die Aufgabe der Gewerkschaften, von schönen Worten zu Taten zu wechseln.

Als SLP unterstützen wir diese Anträge, wollen Vorbereitung sowie Bundesforum insgesamt nutzen, um klarzumachen, dass wir eine kämpferische, demokratische und antikapitalistische Gewerkschaft brauchen. Um das zu erreichen, müssen wir uns an der Basis organisieren, Druck aufbauen und perspektivisch die lahme Führung der Gewerkschaft herausfordern - die Anträge und Aktionen rund um das GPA-Bundesforum können ein kleiner Schritt in diese Richtung sein. Melde dich bei uns zum Mitmachen!

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Nein zu Gewalt an Frauen und Rassismus!

Sarah Moayeri

Der Mord an einer 13-Jährigen in Wien, mutmaßlich durch mehrere junge Männer wird aktuell sowohl von der Regierung als auch von rechten und rechtsextremen Kräften massiv für rassistische Hetze instrumentalisiert. Die schon zuvor entstandene Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan innerhalb der Bundesregierung wurde dadurch noch mehr befeuert. Sebastian Kurz machte klar: “Mit mir wird es definitiv keinen Abschiebestopp nach Afghanistan geben”.

Der Argumentation von Abschiebungen im Falle von Straffälligkeit etc. folgen alle Parteien, Werner Kogler (Grüne) sagte kürzlich: "Wer bei uns Schutz vor Gewalt und Verfolgung sucht und auch braucht, soll ihn bekommen. Wer aber bei uns schwere Gewaltverbrechen begeht, muss dieses Land wieder verlassen.”, auch die SPÖ stimmte mit ein.

 

Das und die massive Hetze durch die Boulevardmedien in den vergangenen Tagen ist Wasser auf die Mühlen der neofaschistischen Identitären: Am Freitag organisierten sie vor einem Asylzentrum der Caritas in Wien einen Protest, bei dem aber eine Handvoll Rechte auf wesentlich mehr Antifaschist*innen und Feminist*innen trafen. Das zeigt die begrenzte Wirkmacht dieser rassistischen Hetze auf die Mehrheit der Bevölkerung, nachdem in den vergangenen Monaten die Debatte rund um die dramatische Zunahme von Gewalt an Frauen und Femiziden eher solidarisch und von links beantwortet wurde. Nichtsdestotrotz stellt die rassistische Instrumentalisierung dieses Mordfalls eine große Gefahr dar, der wir mit entschlossenen Antworten begegnen müssen. 

 

Pandemie der Femizide

 

Dieser Mord war der 15. Femizid in Österreich 2021. Seit 2014 hat sich die Zahl der Frauenmorde pro Jahr nahezu verdoppelt. Sie sind dabei nur die Spitze des sexistischen Eisbergs: Gewalt, sexuelle Belästigung, Catcalling (gemeint ist das Hinterherrufen von sexistischen Bemerkungen, getarnt als “Komplimente”), Übergriffe am Arbeitsplatz und auf der Straße - all das gehört für Frauen und Mädchen zum Alltag. Dabei spielt die Nationalität, Herkunft oder Religion der Täter keine Rolle - siehe andere Femizide in 2021. Sexismus und Gewalt an Frauen existiert überall auf der Welt, in allen Kulturen, Ländern und Regionen. Das Problem ist eine Gesellschaft, in der Frauen systematisch unterdrückt werden und in der damit die kapitalistische Ausbeutung und patriarchale Rollenbilder untrennbar verbunden sind. 

 

Es ist bezeichnend, dass viele der Kräfte, die sich jetzt heuchlerisch empören, beim letzten Mordfall mutmaßlich durch den “Bierwirt” im 20. Bezirk in Wien geschwiegen haben. Dieser Mord war Ausdruck des Zusammenhangs einer sexistischen Kultur, in allen Poren der österreichischen Gesellschaft, mit Femiziden. Der Ausspruch “Frauenhass beginnt mit Beleidigung und endet mit Mord” hat bei dem Fall einen Nerv getroffen. Die feministischen Proteste in Folge dessen, sowohl am Wiener Karlsplatz als auch direkt im 20. Bezirk haben gezeigt, was für eine Antwort notwendig sein wird: Eine entschlossene auf der Straße, aber auch eine Organisierung in den Nachbarschaften, Betrieben und Schulen gegen Gewalt an Frauen und Sexismus aber auch für soziale Verbesserungen, für höhere Löhne, niedrigere Mieten etc um echte Unabhängigkeit für Frauen überhaupt möglich zu machen.

 

Ablenkungsmanöver der Bundesregierung

 

Es ist nichts Neues, dass FPÖ, ÖVP und Co das Thema Gewalt an Frauen versuchen rassistisch aufzuladen. Frauenministerin Susanne Raab sprach im Zusammenhang mit Gewaltprävention immer wieder von “kulturell bedingter Gewalt”. Krone, Österreich und andere Medien greifen bei jeder Gelegenheit, die zu ihrer Agenda passt, die Nationalität von Täter*innen auf, um für eine noch restriktivere Asypolitik zu werben, während Mord durch “österreichische” Täter mit Formulierungen wie “Beziehungstat” verharmlost wird.

 

Die Bundesregierung versucht mit dieser Instrumentalisierung vom eigenen Versagen im Kampf gegen Gewalt an Frauen aber auch ganz allgemein vom Korruptionssumpf der ÖVP abzulenken. Die letzten Monate waren geprägt von viel Empörung und warmen Worten durch die Herrschenden bei dem Thema und wenig Taten: Nicht einmal ein Neuntel von dem was mindestens an zusätzlichen Mitteln beim Gewaltschutz notwendig wäre wurde zur Verfügung gestellt. Immer noch arbeiten Gewalt Schutzeinrichtungen, Notrufe usw. personell und finanziell weit unter dem nötigen, inklusive Verschlechterungen wie aktuell in Salzburg.

 

Ausgerechnet die Parteien, die meinen Frauenhäuser bräuchten wir nicht, weil sie "Familien zerstören" würden (FPÖ); die eine Gebühr in oberösterreichischen Kindergärten einführten und damit Frauen weiter hinter den Herd drängen (ÖVP); die jeden Sozialabbau der letzten Jahrzehnte mitgetragen oder selber vorangetrieben haben (SPÖ); die in Salzburg Frauenhäuser zuerst auflösen und dann defacto privatisieren (NEOS); die bereit waren die Corona-Krise auf dem Rücken von Frauen auszutragen (Die Grünen), missbrauchen jetzt diesen Fall um ihre rassistische Logik zu verbreiten und zu spalten.

 

Bleiberecht für alle! 

 

Wer sich nur dann über sexualisierte Gewalt und Femizide empört, wenn sie von Migrant*innen oder Geflüchteten verübt werden, ist Rassist*in - auch weil sie gleichzeitig keinen besonderen Schutz für geflüchtete Frauen fordern. Abschiebungen lösen das Problem von Sexismus und Gewalt nicht: Das tut nur der Kampf um mehr Geld für Gewaltschutz, Prävention und für ein unabhängiges Leben für Frauen durch soziale Verbesserungen. Wir wissen, dass die meisten Fälle von Femiziden und Gewalt in den eigenen vier Wänden und durch Bekannte/Familienmitglieder/Partner*innen/Kolleg*innen usw. verübt werden. Alle Fakten widersprechen der Erzählung vom “importierten Sexismus”. 

 

Als sozialistische Feminist*innen stellen wir uns gegen jeden Versuch der Spaltung und Entsolidarisierung der Arbeiter*innenklasse: Wir kämpfen für ein Bleiberecht für alle von Krieg, Verfolgung und Ausbeutung betroffene und für den Stopp aller Abschiebungen, weil sie Menschen in Tod und Verfolgung führen. Die rassistische Instrumentalisierung von Femiziden lenkt die Debatte weg von den wahren Problemen. Sexismus ist untrennbar verbunden mit dem verrotteten kapitalistischen System, das die doppelte Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen braucht. Solange es dieses System gibt, wird es auch Gewalt an Frauen geben. Deswegen organisieren wir mit unserer Kampagne ROSA Aktionen, die nicht nur unmittelbare Verbesserungen fordern, sondern zum Ziel haben das Übel an der Wurzel zu packen.

 

Die SLP und ROSA fordern unter anderem:

  • Stopp aller Abschiebungen

  • Frauenhäuser ausbauen

  • 228 Million Euro für Gewaltschutzeinrichtungen

  • Solidaritätskampagnen an Schulen, in Universitäten und Betrieben, um sexistische und rassistische Spaltung zu kontern

  • eine sozialistische Alternative zum kapitalistisch-spaltenden Wirtschaftssystem, das Rassismus und Sexismus hervorbringt

 

ROSA auf der Straße!

Kajal Valad

Die letzten Wochen waren geprägt von den verschiedensten Aktionen, die von Aktivist*innen der sozialistisch-feministischen Initiative Rosa auf die Straße getragen wurden. Nach dem Mord an einer Frau am 29.4. in Wien-Brigittenau haben wir mit Rosa beschlossen, eine Aktion vor Ort zu planen, um die Nachbarschaft zu mobilisieren. Dazu haben wir im Gemeindebau, in dem der Femizid stattgefunden hat, mit Rosa Material geflyert und unsere Kundgebung ankündigt.

Am Tag der Kundgebung waren dann viele aus der Nachbarschaft anwesend, die sich entschlossen unserer Aktion angeschlossen haben. Es gab laute Sprechchöre und kämpferische Reden. Viele, darunter auch eine enge Angehörige der ermordeten Frau teilten uns mit, wie wichtig sie es finden, „dass wir die Kundgebung und unsere Forderungen in den Bezirk und an den Ort tragen, wo die Tat passiert ist“ und dass sie dankbar für unsere Aktion sind.

Wir konnten bei der Kundgebung außerdem eine Reihe an neuen Aktivisten*innen kennenlernen, die mittlerweile in der Rosa Arbeit eingebunden sind.

Nachdem die Resonanz der ersten Kundgebung so positiv war, haben wir beschlossen, regelmäßige Aktionen vor Ort zu organisieren. Jedes Mal begegnen wir Anwohner*innen, die uns wiedererkennen, aber auch neuen Leuten, vor allem jungen Frauen, viele davon erfreut über unser Angebot. Wir halten kämpferische Reden, verkaufen unsere Zeitung und kommen mit Passant*innen ins Gespräch. Um das zu trainieren, haben wir letzte Woche ein Argumentationstraining mit Rosa Aktivist*innen organisiert, wo wir das Entkräften von sexistischen Argumenten geübt haben.

Insgesamt zeigt sich, wie groß das Interesse für Themen wie Gewalt an Frauen ist und dass viele dagegen etwas unternehmen wollen. Mit Rosa bieten wir diese Möglichkeit, indem wir offen und niederschwellig ein Angebot der Organisierung schaffen.

Aber auch bei anderen Themen und Aktionen ist Rosa vor Ort. Am 23.5. organisierten wir gemeinsam mit der SLP einen Protest vor der chinesischen Botschaft in Wien, um Solidarität mit den Aktivist*innen in Hong-Kong zu zeigen. Außerdem haben wir einen lauten, dynamischen Block auf der BLM Demo am 5.6. gestellt, wo wir mit Flyern zum Thema Rassismus und Kapitalismus unsere Forderungen reingetragen haben. 

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

VORWÄRTS-Schwerpunkt zu Identitätspolitik

Christoph Glanninger, Sarah Moayeri, Sebastian Kugler, Sonja Grusch

Schubumkehr oder Kurswechsel?

Hintergrund der Debatten um “Identitätspolitik”: Starke soziale Bewegungen & Schwäche der Linken.

In den letzten Jahren haben sich international beeindruckende Bewegungen gegen spezifische Unterdrückung entwickelt: Proteste gegen Sexismus, Rassismus und nationale Unterdrückung nehmen weltweit zu. Gleichzeitig entwickelt sich in der deutschsprachigen Linken eine Diskussion, ob sich “die Linke nur noch um Identitätspolitik kümmert”. In diesem Schwerpunkt zeigen wir den marxistischen Zugang im Kampf gegen Unterdrückung auf.

Spätestens seit der Krise 2008 ist das Versprechen des Kapitalismus, langfristigen Fortschritt in Richtung einer gerechteren Welt zu bringen, als Lüge entlarvt, Ungleichheit und Unterdrückung nahmen sogar zu. Doch Arbeiter*innenbewegung und Linke sind bis heute nicht in der Lage, diesen Erfahrungen die gesamtheitliche Perspektive eines Kampfes für eine Systemalternative zu geben. Mangels dieser Alternative haben sich seit 2008 viele Bewegungen rund um konkrete Unterdrückungserfahrungen entwickelt. Obwohl #metoo von Promis angestoßen wurde, haben es Millionen Frauen weltweit genutzt, um auf ihre Sexismus-Erfahrungen im Alltag und am Arbeitsplatz aufmerksam zu machen - inklusive Streiks gegen Sexismus. Die Black Lives Matter (BLM) Bewegung 2020 war der größte Massenprotest in der US-Geschichte und führte zu einer weltweiten Protestwelle.

Proteste und Politisierung rund um spezifische Unterdrückung fließen aus der realen Unterdrückung, die Frauen, Migrant*innen, LGTBQ-Personen und andere (vor allem aus der Arbeiter*innenklasse) täglich erfahren. Frauen halten durch unbezahlte Haus- und Carearbeit und systemrelevante aber unterbezahlte Arbeit das System am Laufen und sind gleichzeitig mit immer stärkerer Objektifizierung durch Medien und Sexindustrie konfrontiert. Migrant*innen werden in allen Bereichen des Lebens benachteiligt, von Schule über Arbeitssuche bis hin zum Wohnungsmarkt. Niemand will für das, was man “ist”, diskriminiert werden. Aus dem Wunsch, nicht schlechter behandelt zu werden, kommt als eine Reaktion oft eine verständliche “Schubumkehr”: Die tägliche Erfahrung mit Diskriminierung und das Gefühl, auf Herkunft, Religion, Aussehen, Geschlecht oder sexuelle Orientierung reduziert zu werden, kann dazu führen, dass genau diese Merkmale ins Zentrum des Denkens und der politischen Aktivität rücken. 

Vor diesem Hintergrund hat sich auch die Popularität und Diskussion rund um “Identitätspolitik” entwickelt. Rechte (und leider auch einige Linke) nutzen das Wort als Kampfbegriff gegen jeden Widerstand von Unterdrückten und versuchen, den Kampf an sich dadurch lächerlich zu machen. Wir verstehen unter Identitätspolitik unterschiedliche Theorien, die ab den 1980ern in linken und v.a. akademischen Kreisen im Zuge der Enttäuschung vom etablierten “Marxismus” stalinistischer oder sozialdemokratischer Prägung entstanden. Aber erst durch die allgemeine gesellschaftliche Politisierung als Folge der Krise 2008 hat Identitätspolitik Bedeutung bekommen. Das ist keine Überraschung: Identitätspolitik konzentriert sich auf die Darstellung und Beschreibung der Unterdrückung, die Menschen tagtäglich erfahren. Sie entspricht so auch bis zu einem gewissen Grad der ersten Phase der Politisierung und Entwicklung von vielen Bewegungen gegen spezifische Unterdrückung.

Die Popularität von identitätspolitischen Ideen drückt auf verzerrte Art und Weise das gestiegene Bewusstsein rund um spezifische Unterdrückung aus. Trotzdem können identitätspolitische Ideen keine tatsächliche Perspektive für die Kämpfe gegen Unterdrückung aufzeigen und hindern sie sogar daran, ihr volles Potential zu entfalten. Sie gehen nicht wirklich über das Beschreiben und Anklagen bestimmter Zustände hinaus. Die Lösungsvorschläge bleiben bei Aufrufen zur individuellen Reflexion, Tipps für besseres Verhalten und Symbolpolitik stecken. Mit der Entwicklung von Bewegungen werden auch die Grenzen von Identitätspolitik sichtbar, denn dann rückt die Frage in den Vordergrund, wie wir tatsächlich Verbesserungen erkämpfen und Unterdrückung überwinden können. Vor allem aufgrund der großen Beteiligung aus der Arbeiter*innenklasse greifen Bewegungen in den letzten Jahren auch immer stärker Kampfformen der Arbeiter*innenbewegung auf. Bei BLM zeigt sich diese Entwicklung des Bewusstseins daran, dass die konkrete Forderung nach “defund the police” (sinngemäß: weniger Geld für die Polizei) ins Zentrum der Bewegung gerückt ist. Auch die feministische Bewegung greift immer stärker zum Mittel des Streiks, in Lateinamerika, Spanien aber z.B. auch in der Schweiz, richtet sie sich gegen das gesamte System und lernt international von Kämpfen. 

Diese Entwicklungen zeigen: Je konsequenter der Kampf gegen spezifische Unterdrückung geführt wird, desto allgemeiner muss er das ganze kapitalistische System ins Visier nehmen. Die Mobilisierung der gesamten Arbeiter*innenklasse gegen jede Unterdrückung im Kampf um eine sozialistische Alternative ist entscheidend, um Unterdrückung nicht nur wirkungsvoll bekämpfen, sondern auch beenden zu können. 

 

Identitätspolitik: Was bedeutet Was?

Idealismus: Idealist*innen führen die Welt und die Gesellschaft auf allgemeine abstrakte Begriffe (z.B. “Gott”, “die Vernunft”, aber auch “die Biologie” oder “die Materie”) zurück. Was in einer Gesellschaft passiert, ist dann immer nur die “Verwirklichung” dieser Ideen. Gesellschaftliche Widersprüche sind in der Folge nur Konflikte zwischen “Prinzipien”. Gelöst werden sie dadurch, dass die andere Seite vom eigenen Prinzip überzeugt wird.

Materialismus: Materialist*innen erklären die Ideen, die in einer Gesellschaft existieren, ausgehend von der gesellschaftlichen Praxis, also der Art, wie diese Gesellschaft sich produziert und erhält. Folglich sind selbst die allgemeinsten Ideen, Werte und Vorstellungen historisch-gesellschaftliche Produkte: Also abstrakte Gedankenformen, in denen sich eine bestimmte reale Erfahrung der Welt ausdrückt. Gesellschaftliche Widersprüche analysieren Materialist*innen folglich als Ausdrücke gegensätzlicher konkreter Interessen. Überwunden werden können diese Widersprüche demnach nicht einfach durch “Überzeugung”, sondern nur durch die praktische Umgestaltung des Gesellschaftssystems.

Klasse: Eine gesellschaftliche Klasse ist durch ihre Stellung im Produktionsprozess definiert. Im Kapitalismus besitzen Kapitalist*innen Produktionsmittel (Unternehmen, Maschinen usw.) und verkaufen Waren am Markt, Arbeiter*innen haben nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft und müssen deshalb für Kapitalist*innen arbeiten. Klassenverhältnisse sind also immer Herrschaftsverhältnisse. Herrschende und beherrschte Klassen haben entgegengesetzte konkrete Interessen. Um Rollstuhlfahrer*innen von Diskriminierung zu befreien, müssen andere Menschen nicht aufhören, zu Fuß zu gehen. Um Arbeiter*innen aus dem Joch der Lohnarbeit zu befreien, müssen Kapitalist*innen aufhören, Kapitalist*innen zu sein. Gelingt es der Arbeiter*innenklasse, die gesellschaftliche Produktion dem Kapital zu entreißen und eine demokratisch geplante Wirtschaft einzuführen, in der niemand von der Ausbeutung anderer profitiert, gibt es auch keine gesellschaftlichen Klassen mehr, deren entgegengesetzte Interessen die Grundlage für Unterdrückung sind. Nur wenn ihnen so der materielle Boden entzogen ist, können unterdrückerische Ideologien auch im Reich der Ideen wirklich absterben.

Postmoderne: Sammelbegriff für Theorien, die sich nach der Enttäuschung über die gescheiterte Revolution von 1968 und in Abgrenzung zu stalinistischen Dogmen zunächst vor allem in Frankreich herausgebildet haben. Die Kritik am Dogmatismus schlug jedoch zunehmend ins andere Extrem um: Jeder Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen und verändern zu wollen wurde als weitere zum Scheitern verurteilte “große Erzählung” (Jean-Francois Lyotard) abgetan. Übrig blieb nur der Rückzug auf das individuelle Bewusstsein, an dem man zu arbeiten habe. So kippten diese Theorien zurück in den Idealismus, weg von kollektiven und gesellschaftlichen Lösungen hin zu individuellen.

 

Kümmert sich die Linke nur noch um Identitätspolitik?

Der Identitätspolitik fehlen Antworten darauf, wie spezifische Unterdrückung beendet werden kann.

Für Marxist*innen ist der Kampf gegen spezifische Unterdrückung integraler Bestandteil des Kampfes um eine sozialistische Welt. Der Unterschied zwischen Marxist*innen und identitätspolitischen Ideen besteht in der Analyse, woher Unterdrückung kommt - und das wirkt sich auch entscheidend auf die politische Praxis aus. Während der Marxismus materialistisch erklärt, wie die Klassengesellschaft Unterdrückung entlang von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität usw. hervorbringt, konzentriert sich Identitätspolitik idealistisch auf die Bedeutung von Bewusstsein, Ideen, Ideologien usw.

Genau dadurch bleibt die Identitätspolitik aber auch der idealistischen bürgerlichen Ideologie verhaftet: Identität wird als Eigenschaft eines autonomen Individuums verstanden, Gesellschaft als Summe der Individuen und ihrer Identitäten. Marxist*innen sehen dies genau umgekehrt: Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen leben, bringen diese erst als Individuen mit bestimmten gesellschaftlichen Rollen, die als “Identität” gefühlt werden, hervor. Das heißt in diesem Zusammenhang: Erst durch Unterdrückung wird die “Identität”, auf die sich Identitätspolitik stützt, überhaupt erst geschaffen. Die gemeinsame Erfahrung von Ausbeutung und Rassismus migrantischer Arbeitskräfte schafft die Identität als “Migrant*in”, Abtreibungsverbote oder Kinderzwang, ungleiche Löhne oder Zwang zur unbezahlten Hausarbeit schaffen die Identität als “Frau”. Dasselbe gilt auch für nationale Identität unterdrückter Nationen: Die Geschichte von durchgehender Verfolgung und Unterdrückung schafft die Identität als “Kurd*in”, die Besatzungspolitik der israelischen Regierung schafft die Identität als “Palästinenser*in” usw.

Der Kampf gegen spezifische Unterdrückung war zwar in der Theorie von Anfang an Bestandteil des Marxismus - das heißt aber nicht, dass die Arbeiter*innenbewegung auch  immer die beste Rolle darin gespielt hätte. Die Entwicklung der zweiten Welle der Frauenbewegung zum Beispiel und die spätere Dominanz kleinbürgerlicher Ideen in ihr hing eng damit zusammen, dass die Führung der Arbeiter*innenbewegung und Linke diese Themen unzureichend aufgegriffen hatte. Die Entstehung von “Identitätspolitik” reiht sich darin ein. Der Zusammenbruch des Stalinismus, eine fehlende Systemalternative zum Kapitalismus und der Niedergang der internationalen Arbeiter*innenbewegung legten die Basis für postmoderne Ideen und damit für die Ablehnung kollektiver Gesellschaftsveränderungen und einer Analyse der Gesellschaft als “ganzes System”, wie sie Marxist*innen vertreten. 

Auch die herrschende Klasse nutzt Identitätspolitik, um die zunehmende Radikalisierung innerhalb der Arbeiter*innenklasse und Jugend gegen Rassismus und Sexismus in “harmlose” Bahnen zu lenken und damit echte Veränderung zu vermeiden. Joe Bidens Kabinett wurde aufgrund der hohen Anzahl an Frauen und PoC (People of Colour) als historisch einzigartig bezeichnet. Dass das jedoch nichts an der realen Politik der US-Regierung, an der rassistischen Polizeigewalt, an der imperialistischen Kriegspolitik und an den sozialen Verwerfungen des US-Kapitalismus ändert, ist vielen Menschen, die sich in den letzten Jahren in Bewegungen wie #metoo oder Black Lives Matter radikalisiert haben, bewusst. Damit zusammenhängend haben sich viele identitätspolitische Ansätze von dieser Form der “Repräsentationspolitik” abgegrenzt. Was ihnen dennoch bleibt, ist der starke Fokus auf das Individuum. Daraus folgt dann wiederum ein Fokus auf individuelle Lösungsansätze: Check deine Privilegien, reflektier dein Verhalten - achte vor allem darauf, was du in deinem alltäglichen Leben anders machen kannst. Es geht viel um das “Sichtbarmachen” von Diskriminierung und wie durch verändertes Verhalten, Erziehung usw. die Gesellschaft verändert werden kann.

Genau hier liegt nicht nur die Attraktivität dieser Ideen, sondern auch ihre Perspektivlosigkeit. Denn die kapitalistische Gesellschaft ist nicht einfach die Summe der Individuen und ihrer Ideen, sondern ein System, das durch die Profitlogik und -Notwendigkeit der herrschenden Klasse bestimmt ist. Rassistische oder sexistische Diskriminierung werden bei Identitätspolitik nicht als Aspekte der kapitalistischen Klassengesellschaft begriffen, sondern davon abgetrennt. Mangels einer Analyse des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs können sie auch keine reale Kampfstrategie gegen systematische Unterdrückung entwickeln. In der Praxis können solche Ansätze das Potential von antirassistischen und antisexistischen Bewegungen sogar gefährden: So wird etwa Menschen, die eine Unterdrückungsform nicht unmittelbar am eigenen Leib erleben, abgesprochen, im Kampf dagegen theoretisch wie praktisch etwas beitragen zu können. Dadurch wird auf der praktischen Ebene Solidarisierung erschwert. 

Doch auch die prominenten “Kritiker*innen” der Identitätspolitik befinden sich letztlich auf dem gleichen Boden wie sie. Wenn Sahra Wagenknecht von “skurrilen Minderheiten” spricht, die sie von den “normalen” kleinen Leuten unterscheidet, tut sie damit zwei Dinge: Einerseits polemisiert sie bewusst gegen Migrant*innen und LGBTQ+ Personen. Andererseits erschafft sie selbst ein identitätspolitisches Bild einer homogenen Schweinsbraten-und-Sauerkraut-“Arbeiterklasse”, die es so nicht gibt und nie gegeben hat. Wenn sie dann noch zwar etwas mehr Almosen für dieses zusammenfantasierte Konstrukt fordert, aber gleichzeitig die angebliche Interessensgleichheit von Kapitalist*innen und Arbeiter*innen propagiert, hat das mit echter Klassenpolitik nichts zu tun. Diese müsste dabei ansetzen, die unterdrücktesten Schichten der Klasse zu organisieren und jene Schichten, die bestimmte Unterdrückungsformen nicht direkt am eigenen Leib spüren, davon zu überzeugen, dass auch sie in diesen Kämpfen nicht etwas zu verlieren, sondern zu gewinnen haben. Nationalismus, Rassismus und Sexismus nachzugeben anstatt sie herauszufordern schadet letztlich der gesamten Klasse, weil es gemeinsame Kämpfe um ein Ende der Klassenherrschaft erschwert. Denn es ist dasselbe kapitalistische System und es sind dieselben Verantwortlichen, die Sexismus und Rassismus befördern und davon profitieren, unter denen die gesamte Arbeiter*innenklasse zu leiden hat. 

Lenin schrieb 1902 in “Was tun?” über die Notwendigkeit, als revolutionäre Sozialist*innen Antworten auf alle Ausprägungen von Ungleichheit und Unterdrückung zu formulieren und alle Formen der Ungerechtigkeit, die aus dem System erwachsen, anzuprangern, weil sie die tägliche Realität der Arbeiter*innenklasse darstellen. Letztlich geht es also darum: Nicht ob, sondern mit welchen Forderungen, mit welchem Programm und mit welchen Kampfmethoden Linke und Marxist*innen für ein Ende von spezifischer Unterdrückung und Diskriminierung kämpfen.

 

Intersektionalität ist nicht die Brücke zum Marxismus

In Debatten um Identitätspolitik fällt oft der Begriff Intersektionalität. Damit soll beschrieben werden, wie verschiedene Unterdrückungsformen sich „überkreuzen“ (englisch: „intersection“ = Kreuzung). In der politischen Praxis wird darunter meistens zunächst verstanden, dass es keine isolierten Kämpfe nur gegen Rassismus oder nur gegen Kürzungspolitik geben sollte, sondern dass diese Kämpfe „verbunden“ werden sollten. Überwindet Intersektionalität also die Probleme der Identitätspolitik?

Marxist*innen teilen die Ansicht, dass alle Unterdrückungsformen gemeinsam bekämpft werden müssen, vorbehaltlos. Im intersektionalen Bild verschiedener Kämpfe, die „verbunden“ werden sollten, ist jedoch auch die zentrale theoretische Schwäche benannt: Zwar können konkrete Erfahrungen als „Koordinaten“ in einem Raster verschiedener Unterdrückungs“achsen“ beschrieben werden – woher allerdings diese „Achsen“ (Rassismus, Sexismus usw.) selbst kommen, bleibt dabei offen. Es bleibt nur, sie als Bewusstseinsformen zu problematisieren. Die Grundprobleme der Identitätspolitik kann die Intersektionalität also nicht lösen, weil sie auf demselben Boden wie diese steht.

Marxist*innen meinen, dass Rassismus, Sexismus usw. nicht einfach Vorurteile sind, die man “weg-reflektieren” kann: Die Unterdrückungs”achsen” schweben nicht im luftleeren Raum. Sie müssen aus der Organisation des materiellen Lebens einer Gesellschaft erklärt werden, um sie - durch eine Umwälzung dieser Verhältnisse - wirklich überwinden zu können. Genau diese Gesamtheit von Produktion und Reproduktion – das, was eine Gesellschaft erst möglich macht – ist das Terrain, das mit einem besonderen Unterdrückungsverhältnis zusammenfällt: Klasse.

Klasse ist damit keine weitere Unterdrückungs„achse“, sondern das Verhältnis, welches die materiellen Bedingungen dafür schafft, dass Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen unterdrückt werden. Die historischen Ursprünge verschiedener Unterdrückungsverhältnisse lagen in erzwungenen Rollen bestimmter Gruppen in klassengesellschaftlich organisierten Arbeitsteilungsprozessen: Die Verbannung der Frauen in die Reproduktionsarbeit beschreibt Engels als Zusammenfallen „der ersten Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“ (Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884). Sklaverei, Feudalismus und Kolonisation wiesen ganzen Völkern bestimmte Rollen im Gesamtprozess gesellschaftlicher Produktion zu. Unterdrückungsverhältnisse wie Patriarchat und Rassismus haben ihre Wurzel in der nach Klassen organisierten Arbeitsteilung. Auch wenn sie sich längst zu Ideologien verselbständigt haben, ist ihnen hier der materielle Boden zu entziehen. Es geht also nicht darum, separate Kämpfe zu „verbinden“, sondern alle Kämpfe als Klassenkämpfe zu führen. Klassenkampf ist also auch weit mehr als Kämpfe um Löhne usw. – er ist ein Kampf ums Ganze, also gegen jede Unterdrückung.

Zum Weiterlesen: Laura Fitzgerald: Jede Unterdrückung bekämpfen - ein marxistischer Blick

 

Gemeinsam weil Gleich & Verschieden

“Positive Diskriminierung” bleibt an der Oberfläche - am gemeinsamen Kampf führt kein Weg vorbei!

Der Kampf gegen die verschiedensten Formen von Diskriminierung ist enorm wichtig. Uns geht es aber nicht um symbolischen Widerstand oder nur darum, Missstände aufzuzeigen. Wir wollen Diskriminierungen und ihre Ursachen beseitigen.

In Folge der Bürgerrechtsbewegung in den USA entstanden seit den 1970er Jahren verschiedenste, oft auch per Gesetz fixierte, Formen “positiver” Diskriminierung. Die gezielte Bevorzugung einer sonst benachteiligten Gruppe sollte einen Ausgleich schaffen. Zwar kann so Ungerechtigkeit sichtbarer gemacht und auch die eine oder andere Verbesserung erreicht werden, aber sie ändert nichts an den zugrundeliegenden Ursachen für Unterdrückung und kann das Problem daher bestenfalls für Einzelfälle “lösen”. Aber macht eine Partei eine bessere “Frauenpolitik”, wenn mehr Frauen in führenden Positionen sind? Die aktuelle Bundesregierung zeigt: Hier besteht kein automatischer Zusammenhang. Im Gegensatz dazu waren im Zentralkomitee der Bolschewiki 1917 nur wenige Frauen. Aber die Sowjetunion hatte nach der Revolution die international weitreichendsten Maßnahmen für Frauen: Neben dem Wahlrecht auch die einfache Ehescheidung, das Recht auf Abtreibung und v.a. soziale Rechte, Wohnungen und Jobs sowie öffentliche Einrichtungen für Kinderbetreuung und Pflege, um Frauen ein unabhängiges (und auch politisch aktives) Leben zu ermöglichen.

Dass der eine Kampf nicht ohne den anderen geht und beide nur gemeinsam gewonnen werden können, ist nichts Neues. Schon im 19. Jahrhundert gab es Debatten darüber, welche Kämpfe zentral wären und welche angeblich nicht. Schon damals haben jene Teile der Arbeiter*innenbewegung, die auf reformistische Lösungen gesetzt haben (“Schritt für Schritt”) betont, dass “leider” jetzt noch nicht die Zeit wäre, um sich um die spezifischen Unterdrückungen von Teilen der Arbeiter*innenbewegung zu kümmern. So wurden z.B. im Kampf ums Wahlrecht in Österreich Frauen von der sozialdemokratischen Führung auf später vertröstet. Ähnlich setzte derselbe Flügel auch eine nationalistisch-rassistische “unsere Leute zuerst”-Politik gegen migrantische Arbeiter*innen durch und unterstützten im 1. Weltkrieg “ihre” herrschende Klasse. 

Ganz anders der Zugang von Revolutionär*innen wie Clara Zetkin, Karl Liebknecht & Co.: Die Einheit der Arbeiter*innenklasse in ihrer Vielschichtigkeit war für sie zentral und unerlässlich für den erfolgreichen Kampf der ganzen Klasse. 

Es ist daher auch kein Zufall, dass Liebknecht einer der Gründer der Sozialistischen Jugendinternationale war und sich für volle und gleiche Rechte migrantischer Arbeiter*innen einsetzte. Auch in der heutigen Zeit trennen Revolutionär*innen nicht künstlich zwischen verschiedenen Kämpfen: Socialist Alternative, die US-Schwesterorganisation der SLP, war etwa führend beim aktuellen “Union drive” bei Amazon in Alabama. Die dortige Belegschaft ist überwiegend schwarz, weiblich und viele hatten sich durch die Black Lives Matter Proteste weiter politisiert. Bei den Kampagnen zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Vertretung ging es nicht um entweder “soziale Rechte” oder “Antirassismus” oder “Frauenrechte”. All das war und ist untrennbar verbunden. Der gemeinsame Kampf der Beschäftigten hat zwar (noch) keine gewerkschaftliche Vertretung erreicht, aber eine besser organisierte und vereintere Belegschaft. Es gibt zahllose weitere Beispiele dafür, wie Einheit durch gemeinsamen Kampf entstehen kann: Beim Tekel-Streik in der Türkei 2009/10 wurden durch viele Diskussionen, die gemeinsamen Proteste und eine Zeltstadt, die gemeinsam betreut wurde, die Spaltung in Türk*innen, Kurd*innen und andere Volksgruppen sowie in Frauen und Männer im Zuge des Kampfes überwunden. In Ägypten, einem Land, in dem sexualisierte Gewalt gegen Frauen alltäglich ist, spricht man von den 18 Tagen der Revolution von 2011 als einer Periode ohne diese Übergriffe. Es war die Periode, als dem alten Regime, das massiv auf Sexismus setzte, die Macht entglitt und sie de facto in den Händen der einfachen Menschen, der Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen lag. Der Film Pride zeigt auf, wie LGBTQ+-Aktivist*innen durch den Bergarbeiter*innenstreik in Britannien politisiert wurden und ihrerseits das Bewusstsein der Bergleute veränderten. Auch hier waren es nicht die offiziellen Strukturen der Gewerkschaft, die in der reformistischen “später dann!”-Politik stecken blieben, sondern Aktivist*innen an der Basis, die für diese Entwicklung verantwortlich waren und auch die Gewerkschaft in die richtige Richtung gedrückt haben. Identitätspolitik ist dem Reformismus in der Arbeiter*innenbewegung letztlich recht ähnlich. Wenn man aber alle Unterdrückungsmechanismen überwinden will, dann muss der Kampf gegen jede Unterdrückung als Kampf für die Einheit der Unterdrückten im Klassenkampf geführt werden. Das ist die Herangehensweise sozialistischer Revolutionär*innen - Join in the fight!

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Pride: Voller Stolz, aber bitte politisch

Der kapitalistisch missbrauchte Pride-Monat braucht dringend Politisierung inklusive konkreter Forderungen!

Wie jedes Jahr seit dem Stonewall-Aufstand 1969 in New York wird der Pride-Monat auch diesjährig begangen. Doch leider hat er wie auch die Pride-Parade an jeglicher politischer Kampfansage verloren. Das Hauptaugenmerk wird, identitätspolitisch angehaucht, vor allem auf „Sichtbarkeit“ gelegt, anstatt das herrschende kapitalistische System in Frage zu stellen. Denn, auch wenn der Kapitalismus die Kleinfamilie als Wirtschaftseinheit zum Überleben benötigt, haben Kapitalist*innen den Goldtopf beim Regenbogen längst entdeckt. Bunter Merchandise lässt die Kassen klingeln und Forderungen nach echten Veränderungen verblassen. Pride soll und darf Spaß machen und gefeiert werden - aber „Pride“ muss auch als Kampfansage zurückerobert werden! Ähnlich dem 8. März, der vom blumenlastigen 2. Muttertag zurückgewonnen wird und wieder von Protesten und Streiks begleitet wird, müssen auch die Prides eine Kampfansage sein, um echte Verbesserungen erkämpfen zu können.  

 

ROSA organisiert vom 13.7 - 17.8. eine Schulungsreihe über sozialistischen Feminismus: U.a. zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung & marxistische Antworten auf Identitätspolitik.

 Ort und Zeit: Jeden Dienstag in Wien, 17 Uhr, Brigittenauer Lände Höhe Pappenheimgasse

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

"Social Reproduction Theory" - Eine Auseinandersetzung

Erschienen am 26.5. auf der Website der Schwesterorganisation der SLP in Schweden https://www.socialisterna.org/offensiv/
Elin Gauffin

Zu den feministischen Theorien, die heute viel diskutiert werden, gehört die Social Reproductive Theory, SRT, die sich mit Hausarbeit, Pflege, Wohlfahrt und mehr beschäftigt. Dies ist zum Teil eine Folge des großen Pflegenotstands, den zuletzt die Pandemie aufgedeckt hat, und der Rückschläge gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter, die auf der ganzen Welt zu beobachten sind. Während des feministischen Aufschwungs der letzten Jahre gab es auch ein verstärktes Interesse am SRT-Feminismus. Der SRT-Feminismus stellt einen antikapitalistischen Fortschritt gegenüber der bisher dominierenden Postmoderne dar, obwohl der marxistische Feminismus noch einiges zu kritisieren und hinzuzufügen hat. 

Letzte Woche hörte ich mir einen Vortrag von Silvia Federici an, die in den 1970er Jahren die internationale Kampagne für “Löhne für Hausarbeit” anführte und diese Bewegung in die USA brachte. Ihr 2018 erschienenes Buch über die Hexenprozesse wurde viel gelesen. Federici charakterisierte das Hauptmerkmal der heutigen Situation als eine “Krise der sozialen Reproduktion”. Sie ging selbst nicht näher darauf ein, aber es gibt alarmierende Berichte, dass aktuell weltweit Jahrzehnte des Kampfes um Gleichberechtigung ausradiert werden. Frauen stellen weltweit 39% der Arbeitskräfte, aber 54% der verlorenen Arbeitsplätze dar. Männer haben einen größeren Anteil an der wirtschaftlichen Erholung, was bedeutet, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit ihren Arbeitsplatz zurückerhalten. Nach Angaben der EU, die sich auf Daten von April/Mai letzten Jahres stützen, hat die Pandemie die Kluft bei ungleicher und unbezahlter Arbeit vergrößert. Frauen verbringen heute 62 Stunden pro Woche mit der Betreuung von Kindern, verglichen mit 36 Stunden bei Männern, und 23 Stunden pro Woche mit Hausarbeit, verglichen mit 15 Stunden bei Männern in der EU. Oxfam hat vor etwas mehr als einem Jahr aufgezeigt, dass weltweit mehr als 75 % der Haus- und Pflegearbeit von Frauen geleistet wird und dass das einen bedeutenden Teil der Wirtschaft ausmacht, auch wenn diese Arbeit nicht zum BIP gezählt wird. Der Wert der unbezahlten Arbeit von Frauen im Haushalt beläuft sich auf 10,8 Billionen Dollar pro Jahr, das ist dreimal mehr als die Tech-Industrie. 

Im Vorwort zu “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates schreibt Friedrich Engels: "Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens." Was ist Produktion und was ist Reproduktion? Unter Produktion versteht man die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen durch menschliche Arbeitskraft, die auf dem Markt konsumiert werden können. Reproduktion bezieht sich auf die “Produktion” von uns Menschen selbst. Neben dem Gebären von Kindern gehören dazu also auch Kochen, Putzen, Sport, Kinderbetreuung, Gesundheitspflege, Fürsorge für andere und mehr. Das kann bezahlte Arbeit sein - wie im Gesundheitswesen und in Schulen - oder unbezahlte, wie im Haushalt. In der Produktion gibt es ein besonderes Gut, das sich von allen anderen abhebt. Das ist der/die Arbeiter*in selbst. Es ist die einzige Ware, die in sich selbst die Fähigkeit enthält, neuen Wert zu schaffen. Die Ausbeutung der Arbeiter*innen funktioniert, wie Marx gezeigt hat, so, dass Arbeitergeber*innen den Arbeiter*innen nicht den vollen Wert bezahlen, den diese in eine Ware gesteckt haben, sondern immer nur einen kleineren Anteil. Die Differenz wird in den Gewinn umgewandelt, der die Kapitalist*innen so reich macht. Während es also die unbezahlte Arbeit ist, die die Profite der Kapitalist*innen schafft, ist es die unbezahlte Arbeit im Haushalt (die hauptsächlich von Frauen verrichtet wird), die Arbeiter*innen - die Arbeitskraft - schafft.

Die Grundlage der Social Reproduction Theory besteht gerade darin, zu sehen, wie abhängig das Kapital von der unbezahlten Arbeit von Frauen ist. Dass es ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Systems ist. SRT-Feministinnen argumentieren, dass sie die Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion untersuchen. Zum Beispiel schreibt Titti Bhattacharya (eine der Autorinnen des Manifests “Feminism for the 99%”) in Monthly Review vom Jänner 2020, dass es marxistische Werkzeuge braucht, um Hausarbeit zu untersuchen und um zu erkennen, warum diese absichtlich auf einem vorindustriellen Niveau gehalten wurde. Wie bereits erwähnt, verrichten Frauen weltweit drei Viertel der unbezahlten Arbeit im Haushalt. Eine Gruppe, die so viel unentgeltliche Arbeit nebenbei macht, verliert auch auf dem Arbeitsmarkt an Wert. Im Durchschnitt verdienen Frauen nur 84% des Lohns von Männern. Dies deutet darauf hin, dass der Kapitalismus die Unterdrückung von Frauen auf zwei Arten nutzt: Erstens durch die Früchte ihrer Arbeit in Form der Schaffung neuer Arbeitskräfte im Haushalt und zweitens durch die Tatsache, dass dies die Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt legitimiert. Dieser Teil der Analyse wurde von Feminist*innen der 1970er Jahre wie Margaret Benston vorgebracht und wird seit langem von Marxist*innen geteilt.  

Bhattacharya/Benston argumentieren, dass die Lösung darin liegt, dass die Gesellschaft die Verantwortung für die Kinderbetreuung usw. übernimmt, eine Vergesellschaftung der Hausarbeit, eine "Umwandlung der privaten Produktion in eine öffentliche Produktion", was zwar noch unkonkret, aber im Grunde ein Weg nach vorne ist. Silvia Federicis Kampagne für einen Hausfrauenlohn (Lohn nicht nur für Hausfrauen, sondern für alle Hausarbeiten) ist dagegen eine Sackgasse. Die utopische Idee war, dass, wenn der Staat die Frauen für die Hausarbeit bezahlen müsste, es so teuer wäre, dass sie die Unternehmen sehr stark besteuern müssten, was das Kapital schwächen würde. Ein wichtiger Einwand dagegen ist, dass die Bezahlung von Hausarbeit in gewisser Weise die traditionellen Geschlechterrollen zementiert, bei denen der Mann draußen in der Welt ist und Geld verdient und die Frau zu Hause ist und sich um die Kinder kümmert. Die Frau als Hausangestellte bleibt isoliert und verliert dann die kollektive Gemeinschaft, die man an einem Arbeitsplatz hat, wo man die Bedingungen mit anderen teilt und direkt gegen den Arbeitgeber/die Arbeitgeberin streiken und so echten Druck aufbauen kann.

SRT-Feminist*innen haben einen ständigen Einwand gegen Marxis*innen, die ihrer Meinung nach angeblich die Reproduktion vernachlässigt hätten und den ganzen Fokus auf die Emanzipation der Frauen gelegt haben, solange diese in den Arbeitsmarkt eintraten. Oben wurde nur kurz anhand von Engels gezeigt, dass das ein leerer Vorwurf und eine Verfälschung des Marxismus ist. Wie Federici bei dem Vortrag sagte, ist es klar, dass die Unterdrückung der Frauen fortbesteht, obwohl Frauen in den letzten Jahrzehnten massiv aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind und der Kapitalismus das Problem der Reproduktion nicht gelöst hat. Es ist wahr, dass verschiedene Strömungen, die sich selbst Sozialist*innen nennen, die Bedeutung der Reproduktion vernachlässigt haben, wie z.B. Stalinist*innen oder die Sozialdemokratie. Andererseits war die Tatsache, dass Frauen für das Recht auf Arbeit und das Recht auf einen existenzsichernden Lohn gekämpft haben, die Hauptforderung von Millionen von Frauen in der zweiten Welle der Frauenbewegung (in den 1960er und 70er Jahren). Und es war auch eine Tatsache, dass das Kapital sah, dass es davon profitieren konnte. Da die Frage der öffentlich finanzierten Wohlfahrt dann aber ausschließlich innerkapitalistisch gelöst wurde, blieben die unterdrückerischen Strukturen in Form von Lohndiskriminierung, geschlechtergetrennten Arbeitsmärkten, Kürzungen und Knappheit bestehen.

Die Stärken der Social Reproduction Theory liegen darin, dass sie, anders als z.B. der Individualismus der Postmoderne, großen Wert auf das Wirtschaftssystem legt. Sie betont, dass die meisten Frauen Arbeiterinnen sind und zur Arbeiter*innenklasse gehören, im Gegensatz zu den Stalinist*innen, die nicht selten Frauen, die nicht arbeiten, nicht als “echte” Arbeiterinnen ansahen. Es ist gut, dass die SRT verschiedene Sektoren zu beleuchten versucht, wie das Prekariat, kolonisierte Teile der Welt und auch die Rolle von Rassismus und Imperialismus. Sie betont, dass die Revolution umfassend sein und das häusliche Leben einschließen muss, um eine echte Revolution zu sein. Schwächen, wo SRT-Feminist*innen oft Lücken lassen, sind eine Klassenanalyse des Staates und wie wichtig die Rolle des Staates als Instrument der herrschenden Klasse ist. Sie spielen auch die ideologische Seite der sexuellen Unterdrückung herunter, z.B. wenn sie die Sexindustrie glorifizieren. Oft verblasst bei ihnen die konkrete revolutionäre Perspektive und vor allem unterschätzen sie die Stärke, die zentrale Rolle und die historische Aufgabe der organisierten Arbeiter*innenklasse. Gerade weil die Produktion innerhalb der Familie auf dem vorindustriellen Niveau belassen wird, wirkt es sich nicht so sehr auf den Kapitalismus aus, wenn z.B. Frauen bei der Hausarbeit streiken. Diese Schwäche der SRT wurde sehr klar, als Federici bei dem Vortrag die Frauen als “eine Einheit” beschrieb und überhaupt nicht über den Kampf von Arbeiter*innen sprach. Aber wenn die Arbeiter*innenklasse in den Streik tritt und es schafft, sich revolutionär zu erheben und den Kapitalismus zu stürzen - dann erst können wir die dringende Notwendigkeit des Kapitals, die es in die Familie trägt, nämlich fügsame Arbeiter*innen zu liefern, wirklich beenden. In einer sozialistischen Demokratie gehören uns die großen Unternehmen und Banken als Arbeiter*innenklasse, und die gesamte Produktion kann neu ausgerichtet werden, auch um gesellschaftlich das zu tun, was die Reproduktion im “Privaten” heute tut. Nur so einem sozialistischen System wäre also eine allgemeine Vergesellschaftung der Hausarbeit möglich.

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