Internationales

Die Welle der Trauer um Ashling Murphy markiert einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit männlicher Gewalt

Keishia Taylor, Socialist Party Irland & ROSA-Aktivistin

Socialist Party Irland

ROSA - Socialist Feminist Movement in Irland auf Facebook und Instagram

 

Eine beispiellose Welle von Kummer und Zorn hat das Land nach dem verheerenden Mord an der 23-jährigen Ashling Murphy in Tullamore ergriffen. Zehntausende haben in unzähligen Mahnwachen in jeder Stadt, jedem Ort und jedem Dorf, in Nord- und Süd-Irland, teilgenommen. Auch von irische Communities in London, New York und Australien gab es große Aktionen.

Am Mittwoch, dem 12. Januar, ging Ashling joggen und wurde am helllichten Tag von einem fremden Mann brutal ermordet - der erste Frauenmord des Jahres 2022 im irischen Staat. Als Grundschullehrerin und talentierte Musikerin und Sportlerin war Ashling in ihrer Gemeinde sehr beliebt. Unter dem Hashtag #Shewasgoingforarun wurde in den sozialen Medien darauf hingewiesen, dass sie, wie Sarah Everard, alles "richtig" gemacht hatte, um sich in Sicherheit zu bringen, aber das war nicht genug.

In dieser Stimmung steckt implizit eine Ablehnung der müder, heuchlerischer Opferbeschuldigung. Der Vorschlag von Fine Gael-Juniorministerin Josepha Madigan, dass Frauen Panikknöpfe und Sicherheits-Apps benutzen sollten, und die Forderung der reaktionären Lachnummer, des Parlamentsabgeordnete Michael Healy-Rae, das Tragen von Pfefferspray zu legalisieren, haben Spott und Empörung ausgelöst. Unter Frauen und Menschen aus der Arbeiterklasse ist weithin anerkannt, dass es keine Rolle spielt, was sie getan hat oder hätte tun können - keine Frau oder geschlechtsuntypische Person verdient es, unter männlicher Gewalt zu leiden.

Ein entscheidender Moment

Zehntausende von Frauen und jungen Menschen, aber auch Männer und ältere Menschen, strömten am Freitag auf die Straßen, um an Mahnwachen für Ashling teilzunehmen. Zu diesen Mahnwachen hatten Frauengruppen, Sportvereine, Bürgerinitiativen, feministische und antirassistische Kampagnen sowie alle nur denkbaren Gruppen im ganzen Land aufgerufen, um ihre Solidarität mit den Angehörigen und der Gemeinschaft von Ashling Murphy sowie mit allen Opfern von geschlechtsspezifischem Missbrauch und von Traumata, einschließlich der häufigsten Form, der Gewalt in der Partnerschaft, zum Ausdruck zu bringen. Rund 5.000 Menschen versammelten sich am Freitag vor dem Dáil, und mehrere Tausend füllten den Tullamore Town Park unter Tränen, in Umarmungen, mit Kerzen, Blumen und selbstgebastelten Schildern. Traditionelle Musiker*innen spielten Ashlings Lieblingsstücke, während die Menschenmenge in Stille verharrte. Unter dem Herzschmerz und der Trauer schwangen eine tiefe Wut und der Wunsch zu handeln, um der männlichen Gewalt ein Ende zu setzen, die seit 1996 244 Frauen in Irland das Leben geraubt und unermessliches Leid über unzählige weitere gebracht hat, mit.

Dieses beispiellose Zeichen der Solidarität stellt einen Wendepunkt dar. Sie erinnert an die Reaktion auf den Tod von Savita Halappanavar im Jahr 2012 als Folge des achten Verfassungszusatzes, der 2018 nach jahrelangem Kampf, der durch ihren Tod ausgelöst wurde, aufgehoben wurde. Die "I believe her"- und "this is not consent"-Proteste im Jahr 2018 waren wichtige Momente im Kampf gegen sexuelle Gewalt und Opferbeschuldigung in diesem Staat, aber der Mord an Ashling hat einen Damm gebrochen. Die Weigerung von Frauen und geschlechtsuntypischen Menschen zu akzeptieren, in Angst zu leben, unser Verhalten zu ändern, um Gewalt zu vermeiden, oder gezwungen zu sein, verzweifelt unterfinanzierte Dienste aufzusuchen, spiegelt sich nun in der gesamten Gesellschaft wider.

Jetzt, wie auch 2018, haben ROSA - Socialist Feminist Movement und Ruth Coppinger, ehemalige TD der Socialist Party und Lehrergewerkschafterin, schnell gehandelt und Kundgebungen unter social distancing in Dublin, Belfast, Cork und Limerick einberufen, um eine Arena zu schaffen, in der die von so vielen empfundene Angst zum Ausdruck gebracht und diese Wut in Aktionen umgesetzt werden kann. ROSA-Mitglieder, Gewerkschafter*innen, Frauen und nicht-binäre Aktivist*innen und andere sprachen über ihre Trauer, ihre Erfahrungen mit männlicher Gewalt und die Notwendigkeit eines umfassenden kulturellen und gesellschaftlichen Wandels in Bezug auf Frauenfeindlichkeit und geschlechtsspezifische Gewalt. Als die Redner*innen erklärten, dass wir gegen alle Formen von Sexismus, Rassismus und Transphobie solidarisch sind, ernteten sie einhelligen Beifall. Die Tausenden von Teilnehmer*innen waren sich einig, dass wir jetzt handeln müssen, um das "Nie wieder" Wirklichkeit werden zu lassen.

"Never again" zur Realität machen

Von Gewalt in Paarbeziehungen über Anmachen und Beschimpfungen beim Spazierengehen, Laufen oder Radfahren bis hin zu Online-Belästigung und bildbasiertem Missbrauch sowie sexueller Gewalt und Spiking (unter Drogen Setzen durch Spritzen oder Drinks) - wir müssen dieses Thema aus dem Schatten holen und auf die Straße gehen. Wir müssen ausdrücklich unsere Solidarität mit jedem Opfer von Femizid bekunden, um auszurufen, dass nicht noch ein Leben genommen werden darf - sowie mit allen Überlebenden von männlichem Missbrauch und Gewalt und allen Leidtragenden des Staates, um zu fordern, dass dies nie wieder geschieht.

Um die geschlechtsspezifische Gewalt wirklich zu bekämpfen, müssen wir die unglaubliche Dynamik, die wir in ganz Irland erleben, nutzen und in eine nachhaltige Bewegung kanalisieren, die in jeder Gemeinde, Schule, Hochschule und am Arbeitsplatz organisiert ist. Nur so kann ein grundlegender systemischer und kultureller Wandel herbeigeführt werden, der notwendig ist, um wirklich jede einzelne Form von Sexismus, Frauenfeindlichkeit und LGBTQ-Phobie zu bekämpfen.

Vor zehn Jahren, nach dem Tod von Savita, sagte eine große Bewegung "Nie wieder" und schwor, dass sich ein solcher Tod nie wiederholen würde. Wir wollen das Gleiche jetzt - das einzig angemessene Vermächtnis für Ashling.

Nächste Schritte nach dem Gelöbnis "Never again"

- Eine Woche nach Ashlings Ermordung finden am Mittwoch, dem 19. Januar, um 16 Uhr landesweit weitere Solidaritätskundgebungen statt.

- Der Internationale Frauentag muss zu einem Schwerpunkt werden - Proteste, Demonstrationen und ein kollektiver Streik von Schüler*innen, Student*innen und Arbeiter*innen sollten jetzt diskutiert und vorbereitet werden.

- ROSA Socialist Feminist Movement veranstaltet am Donnerstag, den 20. Januar um 19 Uhr eine Online-Versammlung, um eine Kampagne für eine große Konferenz von Gewerkschafter*innen, Gewerkschaften, Frauen- und LGBTQ-Organisationen, Traveller- und antirassistischen Organisationen, Gemeinschaftskampagnen und mehr zu starten, um eine massive soziale Bewegung zur Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt und insbesondere Aktionen zum Internationalen Frauentag zu starten.

Zu den Forderungen, die auf einer solchen Konferenz und Bewegung diskutiert werden sollten, gehören:

- Sofortige Maßnahmen gegen die Pandemie der geschlechtsspezifischen Gewalt - sofortige Verdreifachung der Mittel für Organisationen, die sich mit häuslicher und sexueller Gewalt befassen. Umfangreiche Investitionen in kostenlose, zugängliche, qualitativ hochwertige psychische Gesundheitsdienste.

- Eine öffentliche Untersuchung der Annullierung von Tausenden von 999-Anrufen durch die Polizei sowie von Sexismus, Rassismus und Vorurteilen gegen die Arbeiterklasse im gesamten Rechtssystem.

- Ein Ende der Opferbeschuldigung und der Vergewaltigungsmythen in den Gerichten. Bildungsangebote zur Bekämpfung von Sexismus und geschlechtsspezifischer Gewalt, sich mit sexueller Einwilligung befasst und LGBTQ+ Personen einschließt.

- Ein Ende der geschlechtsspezifischen Erziehung und der religiösen Kontrolle der Schulen, die dem im Wege stehen. Trennung von Kirche und Staat - Entfernung des kirchlichen Einflusses aus allen öffentlichen Einrichtungen und Institutionen, einschließlich aller Bildungs- und Gesundheitsdienste.

- Ein Sofortprogramm für den Bau von Zehntausenden von Sozialwohnungen auf öffentlichem Grund, um die Wohnungskrise zu beenden, die Frauen in von Missbrauch geprägten Beziehungen gefangen hält.

Die Socialist Party und die Mitglieder der Socialist Party in ROSA setzen sich für den Aufbau einer sozialistisch-feministischen Bewegung ein, die die Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt vereint. Durch die dadurch entstehenden Vision von der Macht, die ein vereinter Kampf der Arbeiter*innenklasse über Grenzen von Geschlecht und Herkunft hinweg mit sich bringen kann, um das System der Unterdrückung und Ausbeutung im Kern zu treffen, bietet dies das Potenzial für systematische Veränderungen für die Menschheit und den Planeten.

Südafrika: Clover-Streik ist ein Kampf gegen das kapitalistische System

Erklärung der Workers and Socialist Party (WASP)

Dieser Artikel erschien zuerst am 5. Jänner 2022 auf der Website der Workers and Socialist Party (WASP), der südafrikanischen Sektion der International Socialist Alternative (ISA) und Schwesterorganisation der SLP.

Mobilisiert für Massenversammlungen am 8. Januar zur Vorbereitung fortlaufender Massenaktionen! 

Als WASP bekräftigen wir unsere Solidarität mit den 5000 Clover-Arbeitern, die seit dem 22. November letzten Jahres streiken. Wir unterstützen die Forderungen der ArbeiterInnen voll und ganz und rufen zu einer Eskalation der Demonstrationen auf, um dieses Jahr des Kampfes zu eröffnen, sowohl von den ArbeiterInnen als auch von den Kräften, die sich mit ihnen solidarisieren - hier in Südafrika und international.

Für den 8. Januar wurde eine Massenversammlung in der Cathedral Hall in Johannesburg und im Community House in Kapstadt einberufen. Alle Gewerkschaften, Gemeinde- und Jugendorganisationen und andere fortschrittliche Gruppierungen müssen ihre Teilnahme zu einer Priorität machen. Vor dem Hintergrund dieser anhaltenden Pandemie, der Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Zerschlagung von Arbeitsplätzen müssen wir das neue Jahr mit einem vereinten Kampf der Arbeiterklasse gegen das neoliberale, von der ANC-Regierung und den Bossen vorangetriebene System der Kürzungen beginnen.

Milco SA investiert, um die Profite zu steigern, nicht die Arbeitsplätze

Die überwiegende Mehrheit der Clover-Beschäftigten verdient weniger als einen existenzsichernden Lohn, obwohl Clover in den letzten Jahren mit steigenden Gewinnen geprahlt hat. Milco SA, ein Konsortium unter Führung der israelischen Central Bottling Company, erwarb 2019 eine Mehrheitsbeteiligung an dem hochprofitablen Unternehmen Clover. Trotz der Einwände der Arbeitnehmer, die sich auf die Solidarität mit dem palästinensischen Volk in seinem Kampf gegen den israelischen Imperialismus stützten, genehmigten die südafrikanischen Behörden die Fusion mit der Begründung, dass im Rahmen des so genannten Masakhane-Projekts "Arbeitsplätze geschaffen" würden. Clover hat nicht nur das Projekt durch Entlassungen von Arbeitnehmern und Managern, die daran beteiligt sind, demontiert - was bedeutet, dass von den 500 versprochenen neuen Arbeitsplätze keiner geschaffen wurde -, sondern durch die Umsetzung des Projekts Sencillo (=Umstrukturierungen) sind über 2 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Clover will 300 Beschäftigte entlassen, außerdem sollen vier Zweigstellen geschlossen werden, was einen weiteren Verlust von 350 Arbeitsplätzen bedeutet, nicht eingerechnet die Beschäftigten, die die freiwilligen Abfindungspakete angenommen haben (die einer Zwangsentlassung gleichkommen). GIWUSA berichtete, dass das Unternehmen seine Zweigstelle in City Deep (Vorort von Johannesburg) nach Boksburg verlagern will, wodurch weitere 812 Arbeitsplätze verloren gehen könnten.

Die Medienpropaganda besagt, dass Clover aufgrund der "anhaltenden Pandemie" und der mangelnden Erbringung von Dienstleistungen an verschiedenen Standorten nicht in der Lage ist, seinen Betrieb fortzusetzen. Clover hatte jedoch von 2019 bis Ende 2020 seine Einnahmen von 462,3 Millionen Dollar (7,4 Milliarden Rand) auf 673 Millionen Dollar (10,8 Milliarden Rand) steigern können. Trotz dieser Zerschlagung von Arbeitsplätzen weigert sich die südafrikanische Regierung, die die letzten Wahlen knapp mit einem Mandat zur Schaffung von Arbeitsplätzen gewonnen hat, Clover zur Verantwortung zu ziehen.

Diese Fusion war nie im Interesse von Investitionen in das Wachstum von Clover und die Arbeitsplatzsicherheit der Arbeitnehmer, sondern vielmehr eine imperialistische Strategie, um mit Waren, die von einem israelischen Unternehmen im besetzten Palästina hergestellt werden, auf die südafrikanischen Märkte zu gelangen.

Der arbeiterfeindliche, extrem ausbeuterische Charakter von Milco wird durch seine Komplizenschaft mit Landraub im besetzten Palästina, wo es Fabriken betreibt, unterstrichen. Aber auch durch die Tatsache, dass die Clover-Beschäftigten seit der Fusion jedes Jahr gezwungen waren, für die grundlegendsten und vernünftigsten Forderungen nach existenzsichernden Löhnen, der Sicherung von Arbeitsplätzen, der Beendigung der Arbeitsvermittlung sowie Transport- und Wohnbeihilfen zu streiken.

Auf früheren Kämpfen aufbauen, um den Streik zu voranzutreiben

Im Oktober 2020 traten die Beschäftigten von Clover in einen Streik, der am 9. Dezember endete. Durch unermüdliche tägliche Streikposten in den Clover-Depots, fliegende Streikposten und Massendemonstrationen am Hauptsitz wurden entscheidende Zugeständnisse wie eine 6,5-prozentige Lohnerhöhung und die Übernahme von fast 400 Beschäftigten erreicht. Zu den Solidaritätsaktionen gehörten ein landesweiter Boykott von Clover-Produkten mit einer starken Kampagne in den sozialen Medien, bei der Unterstützer*innen Aufkleber mit der Aufschrift "Boykottiert Clover" auf Clover-Produkten in strategischen Lebensmittelgeschäften im ganzen Land anbrachten, sowie Demonstrationen vor der israelischen Botschaft in Pretoria und eine Mahnwache vor der Coca-Cola-Fabrik in Bnei Brak, Tel Aviv, die von Mitgliedern von Socialist Struggle (ISA in Israel & Palästina, einer Schwesterpartei der WASP) organisiert wurde. Aber wie wir damals vorausgesagt haben, wird die Milco SA unerbittlich versuchen, diese Siege wieder zunichte zu machen und ihre Verluste zurückzuerobern. Wir müssen die Lehren aus früheren Kämpfen wie diesem ziehen, um herauszufinden, wie wir die aktuellen Streiks am effektivsten eskalieren können.

Bislang hat sich Clover verpflichtet, die fast 800 Beschäftigten, die sie im Laufe dieses Streiks illegal entlassen haben, wieder einzustellen. Sie weigern sich jedoch, bei den anderen vernünftigen Forderungen der Arbeitnehmer nachzugeben, die da wären:

  • Rücknahme aller Sparmaßnahmen
  • Eine Lohnerhöhung von 10%.
  • Die Desinvestition von MILCO/CBC
  • Verstaatlichung von Clover auf der Grundlage einer demokratischen Arbeiter*innenontrolle und -management als Alternative zu einer feindlichen und 
  • imperialistischen MILCO-Übernahme und Zerschlagung von Clover, Fabrikschließungen und Arbeitsplatzverlusten

Als Marxisten wissen wir, dass Unternehmen, um im kapitalistischen System wettbewerbsfähig zu bleiben, immer ihre Gewinne steigern müssen, um ihren Marktanteil zu vergrößern. Für die Arbeiter*innenklasse, die sowohl unter den Lohn-/Arbeitsplatzkürzungen als auch unter den gestiegenen Preisen für Konsumgüter leidet, bedeutet dies einen Wettlauf nach unten und eine Verschärfung der Ungleichheit. Deshalb wird die Forderung nach Verstaatlichung von Clover zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg zur Kontrolle der gesamten Wirtschaft durch die Arbeitnehmer; zur Abschaffung dieses kranken kapitalistischen Systems, das den Profit über den Menschen stellt, und zu seiner Ersetzung durch eine sozialistische Wirtschaft auf der Grundlage der Bedürfnisse.

Die Lage bei Clover ist kritisch und erfordert, dass alle Arbeiter*innenorganisationen ernsthaften Druck auf die ANC-Regierung ausüben, damit diese eingreift. GIWUSA und FAWU (Food and allied Workers Union, Gewerkschaft der Nahrungsmittel- und damit verbundenen Arbeiter*innen) trafen sich in der vergangenen Woche mit dem Minister für Handel und Industrie, Ebrahim Patel, und der Wettbewerbskommission, und die Antwort war, dass sie nichts tun können, außer die Nichteinhaltung der vagen Bedingungen für die Fusion durch die Wettbewerbskommission zu untersuchen. Es ist keine Überraschung, dass der neoliberale, unternehmensfreundliche ANC der Schließung der größten Käsefabrik Afrikas tatenlos zusieht. Vor dem Hintergrund der eskalierenden Arbeitslosigkeit, die sich mittlerweile fast auf die Hälfte der Bevölkerung beläuft, widerspricht dies jedoch dem Versprechen der ANC-Regierung, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten.

 

Ernährung und Arbeitsplatzsicherheit

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Schließung und Umstrukturierung dieser Molkereien auf diese brutale Art und Weise auch die örtlichen Milchbetriebe und den gesamten Agrarsektor hart treffen wird. Es wird der Anfang vom Ende der südafrikanischen Milchwirtschaft sein, die seit 1996 unter dem Druck der Deregulierung des Agrarsektors zugunsten der Anarchie des internationalen freien Marktes gelitten hat. Dies hatte verheerende Folgen für die Kleinbauern, ihre Arbeiter und Gemeinschaften.

Wir haben die Auswirkungen des Hühner-"Dumpings" in Südafrika gesehen - die Praxis, ein Überangebot an Hühnerfleisch in Ländern wie den USA in Südafrika zu Preisen unter dem Marktniveau zu verkaufen, um die Preise in diesen Ländern hoch zu halten. Inzwischen sind Tausende von Arbeitsplätzen in der Geflügel- und Getreidezucht (die die Geflügelfarmen mit Futtermitteln versorgt) verloren gegangen, und nach Angaben des südafrikanischen Geflügelverbands verlassen jedes Jahr 6,1 Mrd. Rand das Land aufgrund von Geflügelimporten. Die lokale Produktion von Geflügel und Getreide wird eingestellt, da sie nicht mit den internationalen Importen konkurrieren kann, die die Preise für Geflügel unterbieten. So werden die Löhne der Arbeiter gekürzt, Arbeitsplätze gehen dauerhaft verloren, und die Produktion wird weiter abgebaut. Sobald die gesamte lokale Produktion verschwunden ist, werden die Preise erheblich steigen, da es keine Konkurrenz mehr gibt.

Im Kapitalismus führt der Wettbewerb zu Monopolen. Dies und feindliche Übernahmen wie Milco, die die Kapitalkonzentration in der Zeit der Wirtschaftskrise beschleunigen, sind im Kapitalismus angelegt. Die gleiche Zukunft erwartet viele Industrien in der gesamten Wirtschaft, wie bei SA Breweries und anderen Unternehmen zu sehen ist, wo Tausende von Arbeitnehmern infolge ähnlicher Übernahmen ebenfalls ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Letztendlich sind es die Arbeiterklasse und die Armen, die dafür bezahlen, nicht die kapitalistischen Eigentümer; bei Clover wird dies deutlich durch die Tatsache illustriert, dass dem CEO 107 Millionen Rand "geliehen" wurden, um Aktien von Milco zu kaufen, während die ArbeiterInnen brutal behandelt werden, um 300 Millionen Rand an Arbeitskosten "zurückzuholen".

Wie wir bereits erwähnt haben, ist dies auch eine Frage der Ernährungssicherheit in Südafrika. Die Covid-Pandemie hat ernste Schwachstellen in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaft aufgezeigt und gezeigt, wie globale Lieferketten, die nicht demokratisch geplant sind, schnell ins Chaos stürzen können. Sich zunehmend auf Importe zu verlassen, um das Land mit den lebensnotwendigen und produktiven Nahrungsmitteln zu versorgen, ist ein ernsthaftes Risiko, das wir eingehen müssen.

Die Forderung der Arbeitnehmer nach Verstaatlichung beinhaltet richtigerweise, dass das gesamte Unternehmen Clover und seine Vertriebslinien unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle stehen. Dies wäre ein entscheidender erster Schritt zur Verstaatlichung der gesamten Milchwirtschaft, um die Zukunft der Arbeitnehmer und der von ihr abhängigen Gemeinschaften zu sichern. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass alle Beschäftigten in der Milchwirtschaft sich mit den Beschäftigten von Clover solidarisieren. Gewerkschaften, die in dieser Branche organisiert sind, wie die NUMSA (National Union of Metalworkers of South Africa) bei NAMPAK (Verpackungsunternehmen, welches auch Konservendosen etc. herstellt), müssen sich für eskalierende Solidaritätsaktionen wie Streikposten zur Mittagszeit, sekundäre Streiks und Besetzungen einsetzen.

Einheit der Arbeiterklasse unerlässlich

Die Einigkeit zwischen GIWUSA- und FAWU-Beschäftigten bei Clover zeigt einen qualitativen Unterschied im laufenden Kampf bei Clover, der lobenswert ist. Wo früher Spaltungen die Kraft des kollektiven Kampfes untergruben, erhöht diese klassenbasierte Einigkeit das Potenzial für einen Sieg erheblich. Der gemeinsame Betriebsratsausschuss von FAWU und GIWUSA ist eine entscheidende Struktur, die sicherstellen kann, dass alle Verhandlungen kollektiv und nicht in getrennten Sitzungen mit separaten Gewerkschaften geführt werden - das ist die Einheit der Arbeiterklasse, für die die WASP kompromisslos gekämpft hat. Es ist auch wichtig, diese Einheit zu nutzen, um für die Wiederaufnahme von GIWUSA in die SAFTU (South African Federation of Trade Unions, Südafrikanische Gewerkschaftsföderation) zu kämpfen, wodurch das Potenzial für einen kämpferischen Kampf der Arbeiterklasse erweitert werden kann. Eine Injektion von Militanz seitens der Basis, wie sie von den Clover-Beschäftigten demonstriert wurde, kann sich als wichtiges Gegenmittel gegen die bürokratische Lähmung erweisen, die die SAFTU plagt, und diese wieder auf den Weg zu einem kämpferischen Verband bringen.

Die SAFTU muss auch in diesem Clover-Streik eine aktive Führungsrolle übernehmen und eine Kampagne zur Ausweitung des Kampfes auf SA Breweries führen. Die WASP ruft die Genossen in der FAWU auf, jetzt einen Streik auszurufen, um das Potenzial für einen Sieg durch koordinierte Streiks und eine geschlossene Front der von Arbeitsplatzverlusten bedrohten Arbeiter*innen zu maximieren.

Letztlich ist dies nicht nur eine Angelegenheit der Clover-Beschäftigten oder gar der breiteren Arbeiterbewegung, sondern ein Thema, das alle Jugendlichen und die Arbeiterklasse betrifft. Wir alle müssen uns gegen diesen anhaltenden Angriff von Milco SA wehren und für die Enteignung von Clover kämpfen, um der internationalen Kapitalistenklasse die Kontrolle über die Milchindustrie zu entreißen und sie unter demokratische Arbeiterkontrolle zu stellen. 

Wie WASP-Mitglied und GIWUSA-Präsident Mametlwe Sebei erklärte: "Es gibt keine andere Alternative zu Arbeitsplatzverlusten und massiven Fabrikschließungen in diesem Land." Die Regierung und die Wettbewerbskommission werden den Bossen dienen, wie sie es bisher bei Clover getan haben, bis genügend Druck auf sie ausgeübt wird, um Zugeständnisse zu erzwingen. Nur die Arbeiterklasse hat die Macht dazu, und wir müssen diese Macht auf demokratisch organisierte und strategische Weise ausüben, um die Errungenschaften vergangener Kämpfe zu verteidigen, aber auch um weitere Siege im Klassenkampf zu erringen.

Die Ohnmacht der Regierung entlarvt den Bankrott des ANC angesichts der schlimmsten Krise seit Jahrzehnten. SAFTU muss dringend konkrete Schritte zur Gründung einer Arbeiter*innenmassenpartei auf der Grundlage eines sozialistischen Programms unternehmen, was für die WASP den sofortigen Start einer Kampagne zum Aufbau von Vor-Parteistrukturen bedeutet, um die verschiedenen Gemeinschaften für wichtige Streiks wie Clover zu mobilisieren. Mehr denn je müssen wir diese Kämpfe nutzen, um eine kämpfende Arbeiterbewegung gegen das kapitalistische System als Ganzes aufzubauen und eine sozialistische Welt auf der Grundlage einer bedarfsgerechten Planwirtschaft zu schaffen.

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Aufstand in Kasachstan

Dima Yanski

"Wir sind gewöhnliche Leute - keine Terroristen!"

Dieser Artikel erschien zuerst am 7. Jänner 2022 auf der Website der deutschen Schwesterorganisation der SLP - Sozialistischen Alternative (SAV).

 

Alle kapitalistischen Mächte in und über Europa hinaus rufen zur „Ruhe“ und „Stabilität“ in Kasachstan auf oder fordern ein Ende des Aufstandes und stellen sich damit auf die Seite der korrupten Regierung: Präsident Putin, die Europäische Union, Präsident Biden und die afghanische Taliban-Regierung.

 

 

Am 1. Januar ist es in der west-kasachischen Region Mangghystau zu Protesten gegen Preissteigerungen gekommen, die sich in rasantem Tempo auf das ganze Land ausgedehnt haben. Berichte über Demonstrationen gibt es aus den Städten Schangaösen, Aqtau, Aqtöbe, Taras, Schymkent Qaraghandy, Oral und der Hauptstadt Astana, die vor kurzem nach dem langjährigen Diktator in Nur-Sultan umbenannt wurde. Seit Monaten schon gibt es in der Region Mangghystau Streiks unterschiedlicher Gruppen von Ölarbeiter*innen. Bezogen auf die gesamte ehemalige Sowjetunion haben kämpferische Aktionen der Arbeiter*innenbewegung in dieser Region die wahrscheinlich stärkste Tradition.

Die Proteste begannen am 1. Januar mit einem Youtube-Video, auf welchem die Ölarbeiter*innen und Arbeitslosen aus Schangaösen in Westkasachstan ihren Unmut über die Preissteigerung äußern. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die breiten Protestn in Mangghystau auslöste, war die Ankündigung, dass der Gaspreis sich an Neujahr von 60 Tenge auf 120 Tenge (von elf Cent auf 22 Cent) pro Liter verdoppeln würde. Das brachte die Menschen der Region in Rage, da sie es sind, die das Gas dort aus dem Boden fördern. Vielleicht spielte das traurige Jubiläum des Schangaösen-Massakers im Dezember 2021 eine Rolle: Vor zehn Jahren zerschlugen die Polizisten und die Armee eine Demonstration der Ölarbeiter*innen und beendeten damit den siebenmonatigen Streik bei KazMunayGas blutig. Dutzende Arbeiter*innen wurden getötet, Hunderte landeten im Gefängnis. Präsident Nasarbajew galt als Liebling der westlichen Konzerne, da er den Imperialisten Öl, Gas sowie seltene Erde zu Verfügung stellt. Dies erklärt, warum das Massaker aus dem Jahr 2011 im Westen kein mediales Echo fand.

Es begann mit Preiserhöhungen

Als die Regionalregierung zunächst ablehnte, den Forderungen nachzukommen, entwickelten sich die Proteste in Schangaösen am nächsten Tag zu einem spontanen Streik in mehreren lokalen Betrieben, die eine 100-prozentige Lohnerhöhung, Besserung der Arbeitsbedienungen sowie Freiheit der Gewerkschaftsaktivitäten forderte. Sie wiesen darauf hin, dass die Preise für sämtliche Grundbedarfsgüter, Strom und Abgaben in rasantem Tempo steigen, während die herrschende Elite ihren Reichtum sogar noch vermehren konnte.

Als klar wurde, dass die Behörden den Forderungen nicht nachkommen würden, wurden die Demonstrationen größer und breiteten sich auf die gesamte Region und bald auch auf das ganze Land aus. Faktisch befand sich bereits am 3. Januar das ganze Gebiet Mangghystau und Atyrau (zwei von 14 Regionen in Kasachstan) in einem regionalen Generalstreik, begleitet von Massendemonstrationen der Arbeiter*innen. Am 4. Januar streikten die Arbeiter*innen von TengizChevrOil – einem Mineralölunternehmen, das zu 50 % der Chevron Corporation und zu 25 % ExxonMobil gehört und durch die Entlassung von 40.000 Arbeiter*innen im Dezember 2021 „berühmt“ geworden ist. Bereits am gleichen Tag wurde der Streik von Ölarbeiter*innen in ganz West-, Süd-, und Nordkasachstan unterstützt. Am selben Abend streikten Bergarbeiter*innen von ArcelorMittal im Zentrum des Landes und Metallarbeiter*innen von Kasachmys. Faktisch befindet sich aktuell die wichtigste Branche der kasachischen Wirtschaft (Rohstoffförderung- und Bearbeitung) in einem Generalstreik. Schnell transformierten sich wirtschaftliche Forderungen in politische: Demokratisierung, Rücktritt von Präsident Tokajew und Sicherheitsratschef Nasarbajew von allen Posten, sowie Neuwahlen von Stadt- und Gebietsgouverneuren.

Unterdessen versuchten die verängstigten Behörden in Westkasachstan, die Streikenden und Demonstrierenden mit dem Versprechen, die Preise zu senken, zu besänftigen. Doch bevor der stellvertretende Ministerpräsident Kasachstans, Yeraly Tugzhanov, und Energieminister Magzum Mirzagaliyev diese Entscheidung auf dem Zentralplatz in Aktau verkündeten, vertrieben die Demonstrant*innen die beiden vom Rednerpult und aus der Kundgebung. Der Ministerpräsident der Region, Nurlan Nogayev, versuchte zu fliehen, wurde jedoch von den streikenden Ölarbeiter*innen am Flughafen blockiert.

Als Funke der Proteste wirkten die qualifizierten, kampferfahrenen Arbeiter*innen in großen, meistens international geführten Unternehmen. Jedoch übernahm bereits ab dem 4. Januar eine neue Schicht der Arbeiter*innenklasse die Initiative – die sogenannten Wanderarbeiter*innen oder „innere Migrant*innen“. Das sind Millionen junger Arbeiter*innen aus überwiegend ländlichen Gebieten, die weder Russisch noch Englisch sprechen, meistens keine Ausbildung haben und im Niedriglohnsektor oder Sweatshops tätig sind. Allein in Almaty, der größten Stadt Kasachstans, leben eine Million Wanderarbeiter*innen in selbstgebauten Hütten. Seit Jahren werden sie von der Regierung aus diesen neuentstandenen Slums mit Bulldozern und Polizei verdrängt. Die aktuellen Stimmen dieser Menschen sind auch auf Youtube zu finden: „Wir sind mittellos, die Preise werden immer höher, wir sind nur noch Sklaven, unsere Leben ist unerträglich“.

Der Staat schlägt zurück

In der Nacht, nach einer Demonstration mit tausenden Teilnehmer*innen auf dem zentral gelegenen „Platz der Republik“ in Almaty kamen Schockgranaten zum Einsatz und die Militärpolizei fuhr mit ihren Fahrzeugen auf. Nach Berichten wurden in mindestens zwei Städten Gummigeschosse gegen Demonstrant*innen eingesetzt. Ein Video aus Almaty zeigt gepanzerte Mannschaftswagen, die vor Protestteilnehmer*innen zurückweichen. Aus Aqtau wurde berichtet, dass sich Bereitschaftspolizist*innen den Protestierenden angeschlossen haben. Insgesamt wurden am 4. Januar mindestens 500 Protestierende von der Polizei verletzt. Am gleichen Tag wandte sich Qassym-Schomart Toqajew, der Präsident Kasachstans, an die Nation und rief zur Vernunft auf. Er warnte das Volk, keine „Provokateure“ oder „Extremisten“ zu unterstützen. Bei Tagesanbruch des 5. Januar verkündete er, die gesamte Regierung angewiesen zu haben, ihren Rücktritt zu erklären. Den bisherigen stellvertretenden Premierminister, Älichan Smajylow, ernannte er zum geschäftsführenden Premier und zwei führende Köpfe des Nationalen Sicherheitsrats (KNB) zu dessen Stellvertreter bzw. zum Außenminister. Parallel dazu verhängte er über weite Teile des Landes einen zweiwöchigen Ausnahmezustand, darunter Almaty und die Öl- und Gas-Region Mangghystau. Im ganzen Land sind Internet, Telegram und soziale Netzwerke abgeschaltet worden.

Korruptes Systems Nasarbajew

Die jungen Protestteilnehmer*innen und Wanderarbeiter*innen haben sich schlagartig radikalisiert. Ihre Kampfparole hieß: „Shal, ket!“ („Opa, tritt ab!“) – gerichtet an die alte, postsowjetische, Elite. Diese Forderung setzt dort an, wo der wahre Grund für die Misere in der ehemaligen Sowjetrepublik zu finden ist: Bei Nursultan Nasarbajew, der 2019 zwar als Präsident zurückgetreten, als „Führer der Nation“ aber faktisch weiter an der Macht ist.

Zum Zeitpunkt, da dieser Artikel geschrieben wurde, hat Präsident Toqajew angeordnet, den Gaspreis für sechs Monate auf 60 Tenge pro Liter (~ 12 Cent) zu senken. Die Preise für Gas, Benzin und andere gesellschaftlich nötigen Produkte werden wieder staatlich reguliert. Außerdem sollen arme Familien Subventionen auf ihre Mieten bekommen und für Strompreissteigerungen gilt ein Moratorium. Er versprach einen Sonderfonds für die Gesundheitsversorgung und gegen Kinderarmut einzurichten. Er warnte allerdings, dass die Senkung des Gaspreises nur temporär sein kann, weil der Preis auf dem Weltmarkt um einiges höher sei.

Nur kam die Kompromissbereitschaft von Tokajew etwas verspätet. Faktisch verlor die Regierung am 5. Januar die Kontrolle über Almaty. Die Aufständischen entwaffneten Soldat*innen und Polizist*innen, besetzten die Gebäude der Staatsanwaltschaft sowie die des Polizeipräsidiums und das des Oberbürgermeisters. Sie errichteten Barrikaden und Blockaden in der ganzen Stadt.

Naturgemäß behaupten das Regime in Kasachstan wie auch seine Unterstützer*innen im Kreml sowie das Regime in Belarus, dass es sich hierbei wieder einmal um eine vom Westen provozierte „Farbenrevolution“ handele. „Life News“, ein Sprachrohr des russischen Regimes, behauptet, die Proteste seien angezettelt und vorab geplant worden. Man nennt den Namen des im Exil befindlichen Oligarchen Muchtar Äbljasow als verantwortliche Person und suggeriert, alles sei organisiert worden, um die Verhandlungen zu unterminieren, die für nächste Woche zwischen Russland und der NATO wegen der Lage in der Ukraine geplant sind. Hierbei handelt es sich natürlich um nichts anderes als eine weitere Verschwörungstheorie, die vom Regime verbreitet wird, um jeder Unterstützung für die Proteste das Wasser abzugraben. Der Aufstand in Kasachstan ist definitiv keine „Farbenrevolution“. Der Hauptunterschied zu den letzten Protestwellen in Russland oder Belarus ist, dass die Arbeiter*innenklasse in Kasachstan nicht zersplittert ist, sondern vereint als Klasse marschierte und eine Welle von Streiks und Blockaden organisierte, die das Regime erschütterte.

Nicht nur Putins Partner

Auch „der Westen“ ist mit der Doppelherrschaft von Nasarbajew und Tokajew zufrieden. Die USA und EU haben mehrere profitable Projekte in der Region. Kasachstan liefert Öl, Gas und seltene Erden nach Deutschland. Die „Loyalität“ der kasachischen herrschenden Klasse zu Russland ist nichts Anderes als geschicktes Manövrieren zwischen den Großmächten. Die amerikanischen und europäischen Medien, die bei jedem Protest in Russland oder Belarus aktiv und laut werden, schwiegen bei dem Massaker in Schangaösen und der blutigen Zerschlagung von Elendsvierteln in Almaty.

Trotzdem benutzt Putins Regierung die internationalen Spannungen, um die Unterstützung seines untreuen kasachischen Vasallen zu begründen. Tokajew telefonierte am Morgen des 5. Januars mit Putin und bat um militärische Unterstützung. Die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, das militärische Bündnis von Russland und ihren halbkolonialen „Verbündeten“ Kirgisien, Armenien, Tadschikistan und Belarus, entsandte am 6 Januar ungefähr 4000 Soldat*innen, um die kasachische herrschende Clique militärisch zu unterstützen.

Warum mischt sich Putin in einen Konflikt mit unvorhersehbaren Folgen ein? Putin befürchtet nicht nur das eventuelle Wachstum des amerikanischen Einflusses in der Region im Falle einer Niederlage der Nasarbajew-Tokaew-Regierung, sondern die Ausbreitung der Proteste nach Russland. Die benachbarten Regionen Russlands leiden unter ähnlichen Problemen wie Mangghystau oder Karaganda: Inflation, niedrige Löhne, Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Januar begann die Regierung Kasachstans mit der „antiterroristischen Operation gegen Plünderer und Terroristen“ in Kasachstan. Wir wissen heute nicht, wie intensiv die Kämpfe zwischen bewaffneten Aufständischen, Streikenden und Gendarmen sind. Die Regierung berichtete über 3300 verhaftete „Terrorist*innen“, Dutzende Tote und fast 1000 verletzte Polizist*innen. Über der Stadt Almaty liegen dunkle Rauchwolken. Man hört Explosionen und Maschinengewehrsalven. Die blutige Niederschlagung der Streiks in Westkasachstan und der Mord an Dutzenden Gewerkschaftler*innen lassen uns keine Illusion, was die Arbeiter*innen in Kasachstan erwartet, falls sie ihren Kampf verlieren. Das Regime verspricht sozialen Frieden und politische Lockerungen, während es gleichzeitig Massaker und Racheaktionen vorbereitet.

Die aktuelle Situation wirft die Frage auf, was passieren würde, wenn „Opa“ Nasarbajew wirklich abträte. Wer bzw. was würde ihn und das System ersetzen, das er aufgebaut hat, um nicht nur seine eigenen, sondern auch die Interessen der Konzerne zu verteidigen, die ihn unterstützen? Die Streikenden, die vor zehn Jahren an den Aktionen in Schangaösen beteiligt waren, hatten weitreichende politische Schlussfolgerungen gezogen: Sie forderten die Verstaatlichung der Ölkonzerne unter der Kontrolle der Arbeiter*innen. Im November 2011 hatten die Streikenden ein vereintes Arbeiter*innenkomitee für die gesamte Region ins Leben gerufen, das zum Boykott der Parlamentswahlen aufrief. Der Grund für dieses Vorgehen war ihr fehlendes Vertrauen in die vorhandenen politischen Parteien. Hinzu kam, dass sie die kämpferischen Gewerkschaften landesweit miteinander vereinen wollten, um eine eigene politische Partei zu gründen.

Die brutale Repression, die auf das Blutbad von Schangaösen folgte, führte auf Seiten der Arbeiter*innenbewegung zum Rückzug in die Defensive. Doch jetzt, da die aktuellen Proteste das ganze Land ergriffen haben, ist die Zeit gekommen, diese Themen zurück auf die Tagesordnung zu bringen. Die Arbeiter*innen brauchen ihre eigenen Strukturen: Gewählte Vertreter*innen der Bewegung, die die nächsten Schritte und Forderungen vorschlagen. Die Arbeiter*innen brauchen unabhängige Gewerkschaften und ihre eigene Massenpartei mit sozialistischen Programm.

Wir schlagen eine landesweite Organisation von Verteidigungskomitees von Arbeiter*innen, Armen und Jugendlichen in Kasachstan vor. Die Verteidigungskomitees könnten zusammen mit den Streikräten durch einen Generalstreik das Regime Tokajews/Nasarbajews stürzen. Angesichts der staatlichen Repression ist es nötig, dass die Verteidigungskomitees bewaffnete Milizen formieren. Die spontane Initiative der Demonstrierenden, an die einfachen Soldat*innen zu appellieren und diese zu neutralisieren, war sehr gut. An der Entwaffnung der staatlichen Einheiten muss weiter gearbeitet werden.

Wir fordern einen sofortigen Abzug von allen ausländischen Truppen aus Kasachstan. Die Plünderung und Ausbeutung des Landes muss beendet werden. Alle Ressourcen und Großunternehmen des Landes müssen unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiter*innen vergesellschaftet werden. Alle Preise sowie die ganze Wirtschaft müssen demokratisch und solidarisch geplant werden. Die Macht sollte in den Händen einer Ratsversammlung aller Schichten der Arbeiter*innenklasse liegen. Für ein freies, demokratisches und sozialistisches Kasachstan!

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Internationale Notizen: Flüchtlingsdrama in Polen/Belarus * Sozialistin kandidiert in Quebec (Kanada)

Margarita Wolf

Polen/Belarus: Flüchtlingsdrama

Grausame Szenen spielen sich an der Grenze zwischen Belarus und Polen ab. Menschen auf der Flucht vor Hunger, Elend, Verfolgung und Krieg sind genau damit mitten in Europa konfrontiert. Zusätzlich dienen sie den rechten Eliten auf beiden Seiten der Grenze für Propaganda und als Ablenkungsmanöver von den innenpolitischen Brennpunkten. Die Antworten auf die Fragen, die sich in diesem Konflikt stellen, sind weder einfach noch schnell gegeben. Die ISA macht in ihrer Erklärung, die von ISA-Mitgliedern aus Polen, Belarus, Syrien und Russland gemeinsam erstellt worden ist, eine Reihe von Vorschlägen. Die imperialistischen Mächte wie Russland, USA und die EU versuchen ihre Interessen zu sichern und verschlimmern durch Sanktionen die Situation der Bevölkerung sowohl hier wie dort. Außerdem ist ihre Politik der letzten Jahrzehnte der Grund, der Menschen in die Flucht zwingt. Dem ganzen Horrorszenario ein Ende setzen kann nur die internationale Arbeiter*innenklasse, die den imperialistischen Mächten ebenso wie den autoritären Eliten den Kampf ansagt. Wir fordern u.a. den Rückzug der Grenztruppen und der Polizei von beiden Seiten der Grenze und die Aufhebung der Sperrzone.

http://socjalizmxxi.nazwa.pl/mainsite/

https://socialist.news/

 

Quebec: Sozialistin tritt an

Rosalie Bélanger-Rioux’s von Socialist Alternative (ISA in Quebec) kandidierte bei den Gemeinderatswahlen am 9.11. in Montreal, Quebec. Der Stichtag war der vorläufige Höhepunkt einer Kampagne rund um das Recht auf leistbaren Wohnraum, die lange vor dem Wahlkampf begonnen hat. Die Socialist Alternative griff die Bedürfnisse der Mieter*innen auf und organisierte Aktionen in der Nachbarschaft. Das war u. a. der Grund für das gute Wahlergebnis von 1.050 Stimmen und ein deutliches Zeichen für die Akzeptanz von sozialistischer Politik. Die Organisierung in der Nachbarschaft ist weit wichtiger als das Wahlergebnis selbst, denn nur so können wir Druck auf die bürgerlichen Parteien ausüben und für Verbesserungen kämpfen. 

https://alternativesocialiste.org/

https://socialistalternative.ca/

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Mit der ISA in Glasgow

Jan Wottawa

Von 4.-7. November sind wir als österreichische ISA-Delegation in Schottland gewesen. Diese bestand aus über 15 Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern. In Glasgow hat die weltweite Klimakonferenz “COP26” stattgefunden. Viele sahen diese Konferenz als eine “letzte Möglichkeit”, die Klimakatastrophe abzuwenden. Die ISA hat erwartet, dass keine tatsächlichen Lösungen beschlossen werden und hat an den Protesten teilgenommen sowie eigene Aktionen und eine Veranstaltung organisiert.

Hier hat sich auch die internationale Stärke unserer Organisation gezeigt. Die internationale Gruppe in Schottland bestand aus über 300 Personen aus 16 Ländern. So konnten wir am Freitag eine zusätzliche Demonstration in Edinburgh veranstalten und einen starken Block in Glasgow aufstellen. Dass wir auch am Samstag den stärksten Block gebildet haben, konnte man gut von außen sehen. So gut sogar, dass wir von Israel bis in die USA auf den Titelseiten zu sehen waren.

Vor Ort haben wir allerdings nicht nur demonstriert. Von vielen Teilnehmer*innen wurden Reden gehalten. Diese wurden auch sehr gut aufgefasst und es wurde kräftig applaudiert! Es wurden Zeitungen der Sektion in England, Wales und Schottland verkauft, welche den Klimawandel und unter anderem auch die Frage der schottischen Unabhängigkeit behandelten. Weiters haben wir eine Broschüre über Klimawandel und Kapitalismus angeboten. Unsere Inhalte konnten wir aus meiner Sicht durch starke Banner (Capitalism Is Killing The Planet/Kapitalismus tötet den Planeten) und unsere Demo-Parolen (They say private greed, we say public need!/Sie sagen private Gier, wir sagen Nutzen für alle) verständlich machen. 

Samstag Abend haben wir auch ein öffentliches Treffen veranstaltet, auf dem bekräftigt wurde, dass der Klimawandel ein Produkt des Kapitalismus ist und die Klimakatastrophe nur in einer sozialistischen Gesellschaft abgewendet werden kann. Durch viel Ankündigen und Verteilen von Flyern sind über 50 Interessierte erschienen, die (noch) nicht Teil der ISA waren.

Eine Genossin, Amy, konnte auf der offiziellen Bühne der Proteste sprechen. In der kurzen Redezeit hat sie es gut geschafft, zu erklären, wieso die Arbeiter*innenbewegung und die Klimabewegung zusammengehören und das selbe Ziel haben.

Erscheint in Zeitungsausgabe: 

Massenproteste und Streiks zwingen Regierung in Kasachstan zum Rücktritt

Das Jahr hat gerade erst begonnen und schon kommt es zum Sturz einer ersten Regierung.

Foto: Abduaziz Madyarov

Dieser Artikel erschien am 5. Jänner 2022 zuerst auf der Website von „Sotsialisticheskaya Alternativa“ (Schwesterorganisation der SLP und Sektion der ISA in Russland) - https://socialist.news

Am 1. Januar ist es in der west-kasachischen Region Mangghystau zu Protesten gegen Preissteigerungen gekommen, die sich in rasantem Tempo auf das ganze Land ausgedehnt haben. Berichte über Demonstrationen gibt es aus den Städten Schangaösen, Aqtau, Aqtöbe, Taras, Schymkent Qaraghandy, Oral und der Hauptstadt Astana, die vor kurzem nach dem langjährigen Diktator in Nur-Sultan unbenannt wurde.

In der Nacht, nach einer Demonstration mit tausenden Teilnehmer*innen auf dem zentral gelegenen „Platz der Republik“ in Almaty, der größten Stadt des Landes, kamen Schockgranaten zum Einsatz und die Militärpolizei fuhr mit ihren Fahrzeugen auf. Es liegen Berichte von Schüssen auf Demonstrationsteilnehmer*innen vor, bei denen in mindestens zwei Städten wahrscheinlich Gummigeschosse eingesetzt worden sind. Ein Video aus Almaty zeigt gepanzerte Mannschaftswagen, die vor Protestteilnehmer*innen zurückweichen, aus Aqtau wird berichtet, dass sich Bereitschaftspolizist*innen den Protestierenden angeschlossen haben.

Erst gestern Abend, am 4. Januar, wendete sich Qassym-Schomart Toqajew, der Präsident Kasachstans, an die Nation und rief zur „Vernunft“ auf. Er warnte das Volk, keine „Provokateure“ oder „Extremisten“ zu unterstützen. Bei Tagesanbruch des 5. Januar verkündete er dann, die gesamte Regierung angewiesen zu haben, ihren Rücktritt zu erklären. Den bisherigen stellvertretenden Premierminister, Älichan Smajylow, ernannte er zum geschäftsführenden Premier und zwei führende Köpfe des Nationalen Sicherheitsrats (KNB) zu dessen Stellvertreter bzw. zum Außenminister. Parallel dazu verhängte er über weite Teile des Landes einen zweiwöchigen Ausnahmezustand, darunter Almaty und die Öl- und Gas-Region Mangghystau.

Im ganzen Land sind das Internet, Telegram und soziale Netzwerke abgeschaltet worden.

Seit Monaten schon ist die Region Mangghystau Schauplatz von Streiks unterschiedlicher Gruppen von Ölarbeiter*innen. Bezogen auf die gesamte ehemalige Sowjetunion verweist diese Region auf die wahrscheinlich stärkste Tradition an kämpferischen Aktionen der Arbeiterbewegung. Dort kam es vor zehn Jahren zum sieben Monate andauernden Streik der Ölarbeiter*innen, der brutal niedergeschlagen wurde.

Der Tropfen, der das Fass nun zum Überlaufen brachte und zu den breiten Protesten in Mangghystau führte, war die Ankündigung für Neujahr, dass der Gaspreis sich von 60 Tenge auf 120 Tenge (von elf Cent auf 22 Cent) pro Liter verdoppeln würde. Das brachte die Menschen der Region in Rage, da sie es sind, die das Gas dort aus dem Boden fördern. Als die Regionalregierung zunächst ablehnte, den Forderungen nachzukommen, forderten die Protestierenden eine Verdopplung der Löhne. Sie wiesen darauf hin, dass die Preise für sämtliche Grundbedarfsgüter, Strom und Abgaben in rasantem Tempo steigen, während die herrschende Elite ihren abartigen Reichtum sogar noch gesteigert habe.

Als klar wurde, dass die Behörden den Forderungen nicht nachkommen würden, wurden die Demonstrationen größer und breiteten sich auf die gesamte Region und dann auf das ganze Land aus. Die wichtigste Bahnstrecke in den Westen des Landes ist blockiert und Flüge von Almaty wurden gestrichen.

Es existieren etliche Berichte, nach denen vor allen jüngere Protestteilnehmer*innen sich radikalisieren und mittlerweise skandieren: „Shal, ket!“ („Opa, trete ab!“). Diese Forderung setzt dort an, wo der wahre Grund für die Misere in der ehemaligen Sowjetrepublik zu finden ist: Bei Nursultan Nasarbajew, der 2019 als Präsident zurückgetreten, aber als „Führer der Nation“ real weiter an der Macht ist.

Zum Zeitpunkt, da dieser Artikel geschrieben wurde, hat Präsident Toqajew angeordnet, den Gaspreis für sechs Monate auf 60 Tenge pro Liter (~ 12 Cent) zu senken. Die Preise für Gas, Benzin und andere gesellschaftlich nötigen Produkte werden staatlich reguliert. Außerdem sollen arme Familien Subventionen auf ihre Mieten bekommen und für Strompreissteigerungen gilt ein Moratorium. Er verspricht, einen Sonderfonds für die Gesundheitsversorgung und gegen Kinderarmut einzurichten. Er warnt allerdings, dass die Senkung des Gaspreises nut temporär sein kann, weil der Preis auf dem Weltmarkt um einiges höher sei.

Ob all dies ausreicht, um die Proteste wieder abebben zu lassen, bleibt abzuwarten. Sieht man sich das bisherige Vorgehen der herrschenden Elite an, so ist davon auszugehen, dass es sich auch bei diesen Versprechungen nur um leere Worte handelt. Die Wut ist immens und bezieht sich nicht allein auf die Preise. Im Dezember wurden beispielsweise allein in der Region Mangghystau 30.000 Ölarbeiter*innen arbeitslos. Es herrscht großer Unmut wegen fortgesetzter Verhaftungen von politischen Oppositionellen, unter anderen auch Gewerkschafter*innen. Überall in der Region kommt es zu Streiks und es gibt Berichte, dass die Arbeitsniederlegungen das Ausmaß regionaler Generalstreiks angenommen haben.

Naturgemäß behaupten das Regime in Kasachstan wie auch seine Unterstützer*innen im Kreml sowie das Regime in Belarus, dass es sich hierbei wieder einmal um eine vom Westen provozierte „Farbenrevolution“ handele. „Life News“, ein Sprachrohr des russischen Regimes, behauptet, dass die Proteste angezettelt und vorab geplant waren. Man nennt den Namen des im Exil befindlichen Oligarchen Muchtar Äbljasow als verantwortliche Person und suggeriert, dass alles organisiert wurde, um die Verhandlungen zu unterminieren, die für nächste Woche zwischen Russland und der NATO wegen der Lage in der Ukraine geplant sind. Hierbei handelt es sich natürlich um nichts anderes als eine weitere Verschwörungstheorie, die vom Regime verbreitet wird, um jeder Unterstützung für die Proteste das Wasser abzugraben.

Gleichzeitig wirft dies eine Frage auf: Was passiert, wenn „Opa geht“? Wer bzw. was wird ihn und das System ersetzen, das er aufgebaut hat, um nicht nur seine eigenen sondern auch die Interessen der Konzerne zu verteidigen, die ihn unterstützen? Die Streikenden, die vor zehn Jahren an den Aktionen in Schangaösen beteiligt waren, hatten weitreichende politische Schlussfolgerungen gezogen: Sie forderten die Verstaatlichung der Ölkonzerne unter der Kontrolle der Arbeiter*innen. Im November 2011 hatten die Streikenden ein vereintes Arbeiterkomitee für die gesamte Region ins Leben gerufen, das zum Boykott der Parlamentswahlen aufrief. Der Grund für dieses Vorgehen war ihr fehlendes Vertrauen in die vorhandenen politischen Parteien. Hinzu kam, dass sie die kämpferischen Gewerkschaften landesweit miteinander vereinen wollten, um eine eigene politische Partei zu gründen.

Die brutale Repression, die auf das Blutbad von Schangaösen folgte, führte auf Seiten der Arbeiterbewegung zum Rückzug in die Defensive. Doch jetzt, da die aktuellen Proteste das ganze Land ergriffen haben, ist die Zeit gekommen, diese Themen zurück auf die Tagesordnung zu bringen.

Die Rückkehr der leeren Regale?

Stefan Brandl

Klopapier gibt es zwar genug, trotzdem rechnen viele Einzelhandelsunternehmen mit Lieferengpässen bis Mitte 2022. In Österreich sind 75% aller Unternehmen von Lieferproblemen betroffen. Besondere Einschnitte gibt es vor allem bei technisch-mechanischen Produkten - Stellantis unterbricht die Auto-Produktion wegen fehlender Chips in Wien-Aspern - ,Möbeln und Spielzeug.

Regionen und Wirtschaftssektoren haben sich seit Beginn der Pandemie unterschiedlich schnell erholt. Vor allem die strengstens durchgeplante Container-Logistik ist am stärksten betroffen; Container stecken fest und fehlen woanders. Die Globalisierung, die einst Ausdruck des “fortschrittlichen” Neoliberalismus war, steht sich nun selbst im Weg. Durch Verlagern von Transport und Produktion in Billiglohnländer sollten Kosten gedrückt werden und die Profitrate pro Stück so hoch wie möglich geschraubt werden. Mit “just-in-time” Produktion wurden Kosten für Lagerkapazitäten eingespart; das globale Transportwesen war stabil genug, um hier Kosten für “Puffer” einzusparen.

Die Entwicklung entgegen dieser globalen Abhängigkeiten und Lieferketten hin zu mehr Protektionismus, verschärftem inter-imperialistischen Wettkampf und Rückzug auf die “heimische” / “nationale” Wirtschaft hat bereits vor Corona begonnen. Die unmittelbaren Gründe: Logistisches Chaos, lange Wartezeiten, ineffiziente Produktionsprozesse im Kapitalismus, Personalmangel (beginnend mit der Logistikbranche), erhöhte Zölle und internationale Spannungen im kalten Handelskrieg. Letzterer wirkt sich besonders auf die Kosten von Energieträgern wie Erdöl (+80%), Erdgas (+500%) aber auch Strom aus. Die Pandemie gießt hier nur teurer werdendes Öl ins Feuer: Kollapse von Häfen und Fabriken durch Corona-Infektionen, Personalmangel im Handel selbst. Der globale Kapitalismus versucht, mit dieser Verschiebung in der Produktion dem Sinken der Profitabilität entgegenzuwirken und die “Trägheit” von internationalen Lieferketten zu umgehen. Die verzweifelte Suche nach schwindenden Profiten und härterer Imperialismus werden dann als “modern” und “effizient” verkauft. Bestenfalls kann so nur die nächste Krise hinausgezögert werden.

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Nearshoring: Regional statt Global?

Auch im kleinen Rahmen können die Widersprüche des globalen Kapitalismus nicht gelöst werden
Stefan Brandl

Der Welthandel ist aus kapitalistischer Sicht zunehmend unsicher. Lieferprobleme, Zölle und Machtkämpfe sind Risikofaktoren und so wird versucht, das Spiel regional fortzusetzen (= ”Nearshoring”): Abhängigkeitsketten sollen verkürzt werden, die Produktion wird heim bzw. ins “nächstbeste” Ausland mit niedrigerem Lohnniveau verlegt: In Europa ist das v.a. der Balkan (vor allem IT und Software), in den Amerikas Südamerika, in Asien der Pazifik und Polynesien.

Die regionalen Imperialismen verstärken ihre Kontrolle über ökonomisch schwächere Nachbarländer, erhöhen den Druck auf Regierungen oder versuchen, diese durch Handelsverträge direkt zu kontrollieren. Österreich vergrößert seinen Einfluss vor allem am Balkan im Bau- und Bankenwesen weiter. Der Leak der Pandora-Papers weist auf das Tourismusprojekt “Bigova Bay” in Montenegro hin: Finanziert über Kredite der Hypo Alpe-Adria, nach dem Konkurs wurden die Schulden verstaatlicht. 

Als quasi Statthalter war das Amt des Hohen Repräsentanten in Bosnien bis vor kurzem in österreichischer Hand und militärisch hat die Region Priorität fürs Bundesheer. Dort geraten verschiedene Imperialismen unausweichlich aneinander: China will die “Belt and Road”-Initiative über den Balkan nach Europa bringen, Russland will den Balkan als Puffer gegen den EU-Block einsetzen. Das Zurückhalten von Lieferungen oder Kontrollieren von Häfen ist nur das Vorspiel zu Konflikten, bei denen das österreichische Kapital nicht außen vor bleiben kann. 

 

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Wahlen in Chile: Niederlage der Rechtsextremen öffnet den Weg für neue Massenproteste

Gabriel Boric von der Koalition „Apruebo Dignidad“ (Ich sage Ja zur Würde) hat den rechtsextremen Kandidaten Jose Antonio Kast in der zweiten Runde der chilenischen Wahlen besiegt. Boric erhielt 55,8 % der Stimmen, fast eine Million mehr als Kast.
André Ferrari (Liberdade, Socialismo e Revolução – Schwesterorganisation der SLP in Brasilien)

Damit hat sich das Blatt seit dem ersten Wahlgang gewendet, wo Kast noch den ersten Platz errungen hatte. Damals war ein großer Teil der jungen Wähler*innen aus der Arbeiter*innenklasse, die vom politischen System enttäuscht und von Borics gemäßigtem Ansatz nicht begeistert waren, nicht zur Wahl gegangen.

Arbeiter*innen und Jugendliche gehen wählen, um die Rechtsextremen zu besiegen

Angesichts des drohenden Sieges der „Pinochetisten“ im zweiten Wahlgang (Kast unterstützt offen die Pinochet-Diktatur) war die Wahlbeteiligung diesmal höher, was zur Niederlage von Kast führte. Borics Wahlsieg bedeutet einen Rückschlag für die grausamsten Teile der herrschenden Klasse, die den großen Volksaufstand, der im Oktober 2019 in Chile ausbrach, gewaltsam niederschlagen lassen wollten.

Eine Regierung der extremen Rechten, die über eine signifikante Wähler*innenunterstützung verfügt, könnte die Repressionen und Angriffe noch verstärken, die bereits unter dem derzeitigen Präsidenten Sebastian Piñera durchgeführt werden – und die auf starken Widerstand stoßen und keinerlei Legitimität in der Bevölkerung besitzen. Jetzt setzt die herrschende Klasse darauf, Boric zurückzudrängen und zu zähmen, darauf, dass seine Regierung Arbeiter*innen, Jugendliche, Frauen und Indigene davon abhält, ihre Kämpfe fortzusetzen und zu intensivieren. Gleichzeitig wird die herrschende Klasse, die auf Borics künftigen Untergang setzt, die Voraussetzungen dafür schaffen, ihre Kettenhunde, der extremen Rechten, loslassen zu können.

Borics politische Mäßigung bietet keinen Ausweg

Dass die Bevölkerung Borics Wahlsieg vollkommen berechtigterweise feiert darf nicht vergessen lassen, dass die entscheidende Niederlage der chilenischen Rechtsextremen nur erreicht werden kann, wenn die Massenproteste wieder aufgenommen werden und sich die Basis in den verschiedenen Regionen, an den Arbeitsplätzen, Schulen und Universitäten organisiert. Mit all dem kann eine radikale Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft erreicht werden, die den Neoliberalismus, den Autoritarismus, die Ungleichheit und das System, das ihnen zugrunde liegt, ein für alle Mal beseitigt.

Die politische Mäßigung und die versöhnliche Haltung Borics und eines großen Teils der chilenischen Linken – oder des Mitte-Links-Spektrums – setzt in einem Kontext politischer und sozialer Polarisierung und dem Wunsch nach echtem Wandel fast alles aufs Spiel. Der Massenaufstand vom Oktober 2019 hätte Piñera stürzen und die Voraussetzungen für eine legitime und souveräne verfassungsgebende Versammlung schaffen können. Doch die Unterzeichnung des „Pacto por la Paz“ (Pakt für den Frieden) und die Annahme einer verfassungsgebenden Versammlung mit begrenzten Befugnissen ermöglichten Piñeras Überleben und eröffneten der extremen Rechten den Raum, ihr hässliches Haupt zu erheben.

Keine Zeit zum Warten: Der Kampf der Arbeiter*innenklasse muss stärker werden

Der Sieg von Boric stellt für die chilenischen Massen eine Gelegenheit dar, die Dynamik des Kampfes der letzten Jahre wieder aufzunehmen und eine echte Alternative für die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten aufzubauen. Einen Waffenstillstand oder eine nationale Versöhnung können wir nicht akzeptieren. Wir können nicht einfach abwarten, welche Maßnahmen die neue Regierung ergreifen wird.

Wir müssen die Forderungen nach einem öffentlichen Gesundheitswesen und Bildungssystem, dem Recht auf Rente, der Verstaatlichung und der Kontrolle der natürlichen Ressourcen und der Schlüsselsektoren der Wirtschaft durch die Arbeiter*innen, der Verteidigung der Rechte von Frauen, der Garantie der Rechte der Mapuche (die größte indigene Minderheit in Chile, Anm. d. Ü.) und aller anderen indigenen Völker erheben. Wir müssen die Organisierung des Kampfes von unten stärken, die Bewegungen vereinigen und einen Generalstreik vorbereiten, der noch mächtiger ist als der vom November 2019. Wir müssen die Perspektive einer Regierung der Arbeiter*innen und Unterdrückten mit einem antikapitalistischen und sozialistischen Programm anstreben.

Nur so werden die chilenischen Massen ihren Sieg gegen die Rechten festigen und ein Leben in Würde erringen. Einmal mehr ist Chile ein Bezugspunkt für die Bewegungen der Arbeiter*innen, der Jugend und der Unterdrückten in Lateinamerika und der ganzen Welt. Lasst uns aus ihren Erfahrungen lernen, unsere Kämpfe miteinander verbinden und ein sozialistisches Lateinamerika und eine sozialistische Welt erkämpfen.

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Foto: https://flickr.com/photos/mediabanco/51630148931/in/photolist-2mEo1vz-2m... (CC-BY 2.0)

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Seattle: Sieg gegen rechte Abwahl

Sebastian Rave, Korrespondent in Seattle

Dieser Artikel erschien zuerst am 20. Dezember 2021 auf der Website der deutschen Schwesterorganisation der SLP - Sozialistische Alternative (SAV).

 

 

 

 

 

Seattles Stadträtin Kshama Sawant (Socialist Alternative) setzt sich in polarisiertem Rennen durch. Der Angriff des Establishments auf die Sozialistin ist gescheitert, obwohl die Abstimmung zwischen die Feiertage im Dezember gelegt wurde, um die Mobilisierung der Wähler*innen zu erschweren. 50,37 % (20.646 Stimmen) sorgten dafür, dass Kshama Sawant im Stadtrat bleibt.

Seattle ist eine Stadt, in der die Kluft zwischen reich und arm unübersehbar ist. Im Schatten der Konzerntürme in Downtown, die den obszönen Reichtum einiger der reichsten Menschen der Welt zur Schau stellen, stehen die Zeltcamps der Obdachlosen. Die Mieten sind in den letzten zehn Jahren um 91 % gestiegen. Verantwortlich dafür sind Tech-Giganten wie Amazon und Microsoft, die ihre Konzernzentralen in der Stadt oder der Metropolregion haben und die Gentrifizierung anheizen. Vor allem die Schwarze Bevölkerung wurde aus dem Zentrum verdrängt.

Nach dem Abflauen der Black-Lives-Matter-Bewegung und der Abwahl von Trump ist scheinbar etwas Ruhe eingekehrt, doch unter der Oberfläche kranken die USA weiter an enormer Ungleichheit, Rassismus, einer Drogen- und Gesundheitskrise, Massenobdachlosigkeit von bis zu 1,5 Millionen Menschen sowie hoher Inflation. Bidens „Flitterwochen“ sind vorbei, seine Beliebtsheitswerte sinken angesichts seiner Unfähigkeit, Verbesserungen für das Leben arbeitender Menschen zu erreichen. Rechte Republikaner*innen beginnen, sich von der Wahlniederlage zu erholen und gehen in die Offensive.

Konstruierte Anschuldigungen

Vor diesem Hintergrund genehmigte das oberste Gericht im Bundesstaat Washington die Abstimmung über einen Abwahlantrag gegen Kshama Sawant. Es stellte fest, dass folgende Anschuldigungen für eine Abwahl ausreichen würden: 1) Kshama Sawant habe eine Demonstration zur Villa der Bürgermeisterin Jenny Durkan geführt, 2) während der Pandemie das Rathaus für eine Protestkundgebung geöffnet und 3) Ratsgelder für eine Volksabstimmung missbraucht.

Kshama Sawant wurde keine Gelegenheit gegeben, sich zu verteidigen und die Tatsachen darzulegen. Die Demonstration zum Wohnsitz der Bürgermeisterin wurde nicht von ihr angeführt oder organisiert, sondern von Familien von Opfern rassistischer Polizeigewalt, die Kshama darum gebeten hatten, eine Rede zu halten. Die kurze Kundgebung im Rathaus fand mit Masken, Desinfektionsmitteln und Abstand statt, während die Polizei die Black-Lives-Matter-Proteste mit Tränengas beschoss. Die „illegale Verwendung“ von Stadtratsgeldern für eine Volksabstimmung bezog sich auf 1.700 Dollar, die für das Volksbegehren für die Amazon-Steuer ausgegeben wurden. Kshama Sawant, die nicht gewusst hatte, dass dies ein geringfügiger Verstoß gegen die Ethikregeln des Stadtrats war, zahlte eine Strafe in doppelter Höhe der Ausgaben und bekannte sich schuldig, „unermüdlich für die Besteuerung von Amazon und Großunternehmen zu kämpfen“.

Unheilige Allianz der Rechten und Profithaie

Alle Anschuldigungen, so geringfügig oder unwahr sie auch sein mögen, beziehen sich nicht zufällig auf soziale Bewegungen: Die Black-Lives-Matter Bewegung und die Amazon-Steuer. Kshama Sawant und Socialist Alternative haben dem millionenstarken Aufstand gegen rassistische Unterdrückung eine Stimme gegeben und diesen buchstäblich ins Rathaus getragen. Wenige Wochen nach dem Tränengaseinsatz gegen Demonstrant*innen wurde Seattle durch Sawants Intervention die erste Stadt, in der der Einsatz von Tränengas verboten wurden.

Während der Demonstrationen wurden Unterschriften für die Amazon-Steuer zur Finanzierung von bezahlbarem Wohnraum gesammelt und der Bewegung damit auch eine soziale und ökonomische Richtung gegeben. Diese Rolle in der BLM-Bewegung, zusammen mit den oben erwähnten Errungenschaften für Mieter*innen, hat Kshama zur Zielscheibe für den Abwahlantrag gemacht.

Die Abwahl-Kampagne „Recall Sawant“ erhielt begeisterte Unterstützung von einer unheiligen Allianz aus rechten Trump-Republikaner*innen, Immobilienmogulen, den rechtsextremen „Breitbart News“ und CEOs von Boeing und Amazon. Ein Richter beschloss wenige Wochen vor der Wahl die Aufhebung des Spendenlimits für PACs (Politische Aktionskomitees, von Unternehmen unterstützte Interessensvertretungen), das große Geld öffnete seine Schleusentore und spülte eine Million Dollar in die Kasse der Abwahlkampagne. Das, gemeinsam mit der veränderten Zusammensetzung der Stadtbevölkerung durch die fortgeschrittene Gentrifizierung, haben diesen Kampf zu einem der härtesten für Socialist Alternative bisher gemacht.

Klare Kante

„Big Business“ hat sich aber auch mit einer Organisation angelegt, die wie nur wenige die Fähigkeit besitzt, Kampagnenfähigkeit mit politischer Schärfe zu kombinieren. Jeder Zug der Recall-Kampagne wurde durchdacht beantwortet. Statt zu versuchen, sich als brav, nett und harmlos zu präsentieren, benannte Socialist Alternative den Recall von Anfang an als das, was er: Rechts und rassistisch. Viele „Liberale“, die sich zumindest verbal irgendwie gegen das Schlechte und für das Gute einsetzen, aber doch bitte ihre Ruhe haben wollen und deswegen für den Recall waren, beschwerten sich lautstark über diese Charakterisierung.

Der Recall war dadurch also von Anfang an in der Defensive. Die Strategie der Abwahl war im Folgenden, durch einen ungünstigen Wahltermin die Wahlbeteiligung niedrig zu halten. Ein Gericht setzte den Wahltermin auf den 7. Dezember fest – nur wenige Wochen nach der Bürgermeister- und Stadtratswahl und mitten zwischen den Winterfeiertagen.

Der Kampf um eine hohe Wahlbeteiligung wurde das zentrale Motiv für die Kshama Solidarity Campaign. Schon im März 2021 wurde mit Haustürgesprächen begonnen, um Wähler*innen auf die Wahl vorzubereiten. Jede Wahlkampfschicht wurde politisch eingeleitet: Warum sind wir hier, welche politischen Entwicklungen gab es, welche Neuerungen in der Taktik ergeben sich daraus. Damit wurden die Wahlkämpfer*innen politisch für die Gespräche an den Türen vorbereitet. In der ersten Phase war das Ziel, eine möglichst genaue Einschätzung der Wähler*innenschaft zu erlangen. Mit der Schlüsselfrage „Können wir auf Ihre Nein-Stimme zum 7. Dezember zählen?“ konnte schnell zwischen Unterstützer*innen, Unentschlossenen und Gegner*innen unterschieden werden. In den Haustürgesprächen und an Infoständen wurden gleichzeitig die Anschuldigungen der Abwahlkampagne entkräftet und klargemacht, dass der Abwahlversuch ein Angriff gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung darstellt, gegen das Recht auf Protest, gegen eine Kämpferin für Arbeiter*innen- und Mieter*innenrechte. Und, dass es gegen diesen Gegner nicht ausreichen würde, nur zu wählen.

Bausteine des Erfolges

Um der durch reiche Spender*innen finanzierten Abwahlkampagne und ihrer Bombardierung mit Propaganda in Fernsehen, bürgerlichen Medien und teuren Postsendungen etwas entgegen zu setzen, musste auch die Gegenkampagne viel Geld aufbringen. Bei jeder Person, die Unterstützung signalisierte, wurde in drei Anläufen um eine Spende gebeten. Erst um 50 Dollar. Wer sich das in dieser teueren Stadt nicht leisten konnte wurde um 15 Dollar für die Sozialistin gebeten, die den ersten 15 Dollar Mindestlohn erkämpft hat. Und da es keinen Preis gab, die Bewegung zu unterstützen, wurde schließlich um alles Kleingeld gefragt, was in der Sofaritze zu finden sei. Mit dieser Herangehensweise schaffte es die Kshama Solidarity Campaign, über eine Million Dollar Spenden zu sammeln, und erreichte das Ziel, über 5.000 und damit fast dreimal so viele Spender*innen aus Kshamas Wahlkreis zu gewinnen wie die Abwahlkampagne.

In der heißen Phase im November kam ein weiteres Hilfsmittel zum Einsatz: „Pledge Cards“, mit denen Unterstützer*innen gebeten wurden, mit drei Freund*innen, Nachbar*innen oder Kolleg*innen über die Abwahl zu reden und sie an die Wahl zu erinnern. 3000 Menschen konnten so einen kleinen Beitrag zur Kampagne leisten, die so in den Alltagsgesprächen der Stadt eine große Präsenz erreichte. So wurde sichergestellt, dass die Abwahl nicht durch die Feiertage, den Stress und die gerade erst stattgefundene Stadtratswahl vergessen werden würde.

Drei weitere entscheidende Bausteine für den Erfolg waren die nicht-englisch-sprachigen Teams, Wähler*innenregistrierungen und die Druckerstationen. Um Communities zu erreichen, die aus dem politischen Diskurs häufig ausgeschlossen sind, wurden Teams gebildet, die Haustürgespräche in Chinesisch oder Vietnamesisch halten konnten. Das Wahlkampfmaterial wurde in neun Sprachen übersetzt. Hunderte Menschen konnten so das erste Mal überhaupt informiert an einer Wahl teilnehmen. Fast 1800 Menschen, die gerade erst nach Seattle gezogen oder innerhalb der Stadt umgezogen waren, konnten durch die Kampagne neu zur Wahl registriert werden. Und mehr als 1000 Menschen konnten ihre Wahlunterlagen bei mobilen Druckstationen ausdrucken, die von der Kampagne organisiert wurden. Zum Redaktionsschluss betrug der Vorsprung von Kshama Sawant gegenüber der Abwahl gerade einmal 300 Stimmen. Wenn nur ein Baustein der Kampagne gefehlt hätte, hätte der Recall gewonnen.

Die Kshama-Solidarity-Campaign brach mehrere Rekorde: Die Anzahl und Höhe der gesammelten Spenden (über eine Million Dollar), die Anzahl der Wahlkämpfer*innen und Helfer*innen (über 1500), die gleichzeitig stattfindenden Infotische (65 am Wochenende vor der Wahl), gesammelte Unterschriften (15.000). Die enorme Anstrengung im regnerischsten November der Geschichte Seattles war nötig, um gegen die Niederhaltung der Wahlbeteiligung anzukommen. Und sie war erfolgreich. Arbeiter*innen, Jugendliche, People of Color und Mieter*innen konnten mobilisiert werden, und haben der Abwahl eine Absage erteilt.

Stadtrat kein Selbstzweck

Dieser Erfolg ist nicht nur das Ergebnis einer besonders großen Anstrengung der Wahlkämpfer*innen. Die korrekte Einschätzung der Perspektiven und ehrgeizige Ziele gehörten ebenso dazu. Vor allem aber wäre der Erfolg nicht möglich gewesen ohne das Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus: Der demokratische Beschluss von Socialist Alternative, diese Kampagne zum absoluten Fokus zu machen, und dann alle Kräfte auf einen Punkt zu konzentrieren, hat die Mobilisierung der enormen Ressourcen erst ermöglicht. Ohne die politische Klarheit und die ständige Schulung aller Mitglieder hätte dieser Kampf nicht gewonnen werden können. Und ohne die Überzeugung, dass der Kampf um einen Stadtratssitz kein Selbstzweck ist, sondern Teil einer größeren Aufgabe, dem Sturz des Kapitalismus, wäre die Opferbereitschaft der Wahlkämpfer*innen nicht so groß gewesen.

Wie Kshama Sawant in ihrer Siegesrede vor der versammelte Presse erklärte: „Wenn eine kleine revolutionäre sozialistische Organisation die reichsten Konzerne der Welt hier in Seattle immer wieder schlagen kann, dann können Sie sicher sein, dass die organisierte Macht der gesamten Arbeiter*innenklasse die Gesellschaft verändern kann.“

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