Weder Stalinismus noch Kapitalismus!

Zur „politischen Revolution“ fehlten die organisierten und verwurzelten revolutionären Kräfte.

Die Aufgabe des Sturzes des Stalinismus und seine Ersetzung durch Arbeiter*innen- bzw. Räte-Demokratie unter Aufrechterhaltung und Ausbau einer nicht-kapitalistischen Planwirtschaft bezeichnete der Revolutionär Leo Trotzki einst als „politische Revolution“. Er verstand sehr früh, dass der Macht-Zuwachs der Bürokratie der Beginn einer inneren und schleichenden Gegenrevolution nach der erfolgreichen Oktoberrevolution in Russland 1917 war. Die selben Entwicklungen erkannte auch Lenin, der seine letzten Lebensjahre dem Kampf gegen die Bürokratisierung widmete. Ein Hauptgrund lag in jenen Rückschlägen, welche die Revolution weltweit erlitt. Nichtsdestotrotz hätte eine erfolgreiche Rückeroberung der politischen Macht durch die organisierte Arbeiter*innen-Bewegung in einzelnen Ländern einen wichtigen Anstoß für andere Regionen, inklusive des kapitalistischen Westens, gegeben. Dies ist ein weiteres Prinzip unseres anti-stalinistischen Räte-Sozialismus: Internationalismus oder Niederlage!

Der 2. Weltkrieg schuf eine besondere Situation, da sich die Sowjetunion trotz bürokratischer Diktatur und faschistischem Feldzug auch aufgrund der wirksamen Vorteile der Planwirtschaft behaupten konnte. Das neue Gleichgewicht zwischen kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Welt enthielt ab den 1950ern viele osteuropäische Länder, in denen nicht nur der Kapitalismus diskreditiert war, sondern auch die Herrschaft der Bürokratie bekämpft wurde. Wäre in der DDR 1953 oder Ungarn 1956 die politische Revolution mit der Festigung einer Räte-Demokratie gelungen, hätte dies höchstwahrscheinlich eine Kettenreaktion ausgelöst. Millionen Menschen wären weltweit inspiriert worden, ihr Schicksal kollektiv in die eigenen Hände zu nehmen und den jeweiligen Eliten zu entreißen.

Die Programme der Bewegungen, die sich jeweils um das machtvolle Mittel des Generalstreiks sammelten, enthielten Forderungen wie echte freie Wahlen, Beibehaltung des sozialistischen Eigentums in der Industrie, Betriebsräte mit unabhängigen Gewerkschaften, Streik- und Versammlungsrecht, Presse- und Religionsfreiheit. Moskau rollte mit Panzern jede dieser potentiellen Revolutionen nieder. Dadurch wurde verständlicherweise unter Arbeiter*innen im Westen das sowjetische System immer unbeliebter. Für die herrschenden Eliten im Westen war es wichtig, vom eigentlichen pro-sozialistischen Programm der Aufständischen abzulenken. Dem spielte die Ostblock-Bürokratie in die Hände, da sie überall „pro-kapitalistische Verschwörungen“ ausmachte.

Der nächste große Konflikt wurde als „Prager Frühling“ 1968 bekannt:1953 hatte der Kreml eine Währungsabwertung angeordnet, die den Lebensstandard um 11% senkte. Die Wirtschaft wuchs in den nächsten zehn Jahren kaum. Als Alexander Dubcek 1968 den Vorsitz der KP Tschechiens übernahm, startete er ein Programm zur Liberalisierung der Wirtschaft und zur Einführung begrenzter demokratischer Rechte – dem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Diese Bemühungen um die Öffnung der Gesellschaft fanden großes Echo bei den Massen. Zuerst versuchte der Kreml, Dubcek zum Rückzug zu bewegen. Im August wurde der Prager Frühling unter dem Druck der benachbarten stalinistischen Staaten, die eine Ausbreitung der Proteste befürchteten, unter den Ketten der Block-Panzer zerstört.

Als in Polen 1981 nach der Formierung der Gewerkschaft Solidarnosc mit 14 Millionen Mitgliedern General Jaruzelski das Kriegsrecht erklärte, hatte sich in Moskau der Wind bereits zu drehen begonnen. Teile der Bürokratie suchten zur Sicherung ihrer Herrschaft nach einem Ausweg mittels Änderungen in der wirtschaftlichen Struktur; der Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung). Die Bürokratie selbst blickte Richtung kapitalistischer Restauration. In Polen selbst, wie später auch in anderen Ländern, intervenierten westliche kapitalistische Eliten sowie die katholische Kirche, um die anti-stalinistische Bewegung entscheidend in eine anti-sozialistische Richtung zu lenken. In der Folge konnten sich die pro-kapitalistischen Kräfte innerhalb von Solidarnosc durchsetzen.

Vor dieser Ausgangslage wurde 1989 der letzte Akt des Stalinismus eingeläutet. Die Massen setzten sich unaufhaltsam in Bewegung, wie etwa bei den Leipziger Montagsdemonstrationen. Die gewaltigen Ereignisse von 1989-91 zeigten die potentielle Macht organisierter Arbeiter*innen. Nur das Fehlen einer gefestigten politischen Organisation, welche in und mit den Massenbewegungen eine Räte-Demokratie errichten hätte können, ermöglichte der Bürokratie, die kapitalistische Transformation unter Beibehaltung autoritärer Strukturen und mit dem Schüren nationalistischen Hasses umzusetzen. Doch gerade die Erfahrungen der jungen Generationen mit den Folgen der letzten 30 Jahre seit der Wende bergen den Ansatz für einen neuen revolutionären Anlauf.

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