ArbeiterInnendemokratie ist möglich

Über einige Erfahrungen der Selbstorganisation
Steve Kühne, CWI-Deutschland

Seit der Pariser Kommune haben ArbeiterInnen in vielen revolutionären Situationen bewiesen, dass sie in der Lage sind die Gesellschaft zu leiten, die Verwaltung zu übernehmen, Verbrechen zu verhindern, Produktion und Verteilung zu organisieren.

Die Vertreter des Kapitalismus sind von ihrer Ordnung überzeugt. Richter, Generäle, hohe Staatsbeamte, Parteiführer kommen in der Regel aus privilegierten Kreisen und sind durch viele Fäden gemeinsamer Erziehung, Ausbildung, gesellschaftlicher Aktivitäten als Teil der so genannten Elite miteinander verbunden. Expertenkommissionen werden immer dann zusammengerufen, wenn es gilt auftretende Probleme zu „lösen“. Siehe die Kommission zur Verteilung der Gelder des staatlichen Milliardenprogramms zur Rettung der Banken. Für demokratische Kontrolle ist an dieser Stelle selbstverständlich kein Platz. Man muss schon studierter Finanzfachmann sein, sich wenigstens für einen solchen halten, um mitreden zu dürfen.

Allerdings haben die Bürgerlichen in der sich seit Sommer 2007 stetig ausweitenden Finanzkrise ihre Unfähigkeit zur Organisation der Wirtschaft und Gesellschaft im Interesse der Menschheit augenscheinlich bewiesen. Die Logik und Effizienz des Kapitalismus bezieht sich nur auf die Interessen der Besitzenden und alle Entscheidungen, die getroffen werden sind dieser Prämisse unterstellt. Logisch ist dabei auch die weitgehende Ablehnung demokratischer Kontrolle und Entscheidung. Wer für die Interessen einer kleinen Minderheit regieren will, kann sich demokratische Kontrolle nicht leisten.

Den lohn- und gehaltsabhängig Beschäftigten wird vermittelt, sie seien zu „großen“ Entscheidungen unfähig. Doch die Geschichte des Kapitalismus ist auch die Geschichte der Arbeiterbewegung und

der Selbstorganisation. Menschen, die vorher nie Erfahrungen in Verwaltung und Organisation gesammelt hatten, nahmen ihr Schicksal und das der Gesellschaft in die Hand. Betrachtet man die Bilanz dieser Erfahrungen ist man verblüfft, denn so effizient und logisch wie die Bürgerlichen in ihrem Staat ihre Interessen vertreten, so effizient und logisch vertraten die ArbeiterInnen stets ihre Interessen, wenn sie nach der Macht griffen. Nur waren das dann die Interessen der Mehrheit statt der Minderheit, wie wir es aus allen bisherigen Klassengesellschaften kennen. In dem Kampf für ihre Interessen bildeten die ArbeiterInnen eigene Organe; Komitees, Räte, Ausschüsse – waren die Namen auch verschieden, der Charakter dieser Organe blieb gleich.

Pariser Kommune

Der erste Versuch von ArbeiterInnen, die Macht im Staat zu übernehmen, war die Pariser Kommune 1871. Dort fand die Bewegung der Vertrauensleutewahl in der zunächst noch von der bürgerlichen Regierung Thiers gebildeten Nationalgarde ihren Anfang und setzte sich über die Stadtteile fort. Ihren Abschluss fand diese Bewegung in der von der Kommune entworfenen Verfassung. Karl Marx berichtet in seinem „Bürgerkrieg in Frankreich“ über diese: „Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbnen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die öffentlichen Ämter hörten auf, das Privateigentum der Handlanger der Zentralregierung zu sein. Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt.

Das stehende Heer und die Polizei, die Werkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung einmal beseitigt, ging die Kommune sofort darauf aus, das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen; sie dekretierte die Auflösung und Enteignung aller Kirchen, soweit sie besitzende Körperschaften waren. Die Pfaffen wurden in die Stille des Privatlebens zurückgesandt, um dort, nach dem Bilde ihrer Vorgänger, der Apostel, sich von dem Almosen der Gläubigen zu nähren. Sämtliche Unterrichtsanstalten wurden dem Volk unentgeltlich geöffnet und gleichzeitig von aller Einmischung des Staats und der Kirche gereinigt. Damit war nicht nur die Schulbildung für jedermann zugänglich gemacht, sondern auch die Wissenschaft selbst von den ihr durch das Klassenvorurteil und die Regierungsgewalt auferlegten Fesseln befreit.

Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein.“

Räte

Wichtige Prinzipien der Kommune wurden in späteren Kämpfen der Arbeiterklasse wieder aufgegriffen, insbesondere bei der Bildung von Räten. Das gilt vor allem für das Prinzip der jederzeitigen Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionären und für die Begrenzung von deren Entlohnung auf einen durchschnittlichen Arbeiterlohn. Zum ersten Mal entstanden Räte in der russischen Revolution von 1905. Das russische Wort für Rat ist Sowjet. Diese entstanden als Kampforgane der sich ausbreitenden Massenstreikbewegung, waren also erst einmal nicht mehr als Streikkomitees. Doch sie waren nicht nur Mittel des Kampfes, sondern entwickelten sich auch zum Ziel, denn die Zusammenführung der einzelnen betrieblichen Räte zu stadtweiten (und später landesweiten) Delegiertenkongressen, markierte die Entstehung eines Machtorgans mittels dessen die Arbeiterklasse ihre Macht ausübt. Im Generalstreik entwickelt sich schnell die Notwendigkeit die Versorgung der Streikenden und der ganzen betroffenen Gebiete und tausend andere Aufgaben zu organisieren. So werden die territorialen Räte zur Basis für einen Arbeiterstaat nach einer erfolgreichen Revolution.

Ein einprägsames Bild über die Entstehung von Räten bietet die deutsche Revolution vom November 1918 bis ins Jahr 1923. Sie entstanden meist spontan, wenn auch in manchen Betrieben und Truppenteilen die Aktivisten der USPD und des Spartakusbundes schon illegale Vertretungsorgane geschaffen hatten, und entsprangen dem Bedürfnis nach eigener Vertretung. Als im Oktober 1918 die MSPD (Mehrheitssozialdemokratie) mit dem Auftrag in die kaiserliche Regierung geholt wurde einen für die Kapitalisten erträglichen Frieden auszuhandeln und die Revolution zu verhindern, sah gerade die bislang fast untätige deutsche Flottenführung ihre Hoffnungen enttäuscht.

Mit dem erklärten Ziel die Friedensverhandlungen zu torpedieren befahl sie den Ausfall gegen England. Die Matrosen meuterten. Als die Marineleitung schießen ließ, als Matrosen festgenommen wurden und die Regierung aus MSPD, Zentrum und Fortschrittspartei den Matrosen nicht zu Hilfe kam, mussten diese sich notgedrungen selbst helfen.

Nachweislich entstanden die ersten Soldatenräte auf Zuruf. Soldaten, die bereits durch mutige Aktionen ihren Vorgesetzten gegenüber aufgefallen waren, USPD- und auch MSPD-Mitglieder wurden mit der Wahrnehmung der Interessen der Matrosen beauftragt. Es ging zunächst vor allem noch um begrenzte Forderungen, die die unmittelbare Situation der Soldaten betrafen. Die Ausfahrt der Flotte sollte ausgeschlossen, festgenommene Matrosen frei gelassen und der Vorgesetztenstatus außer Dienst abgeschafft werden und ähnliches.

Im Verlauf weniger Tage entstanden in ganz Deutschland Arbeiter- und Soldatenräte. Allein in Bayern entstanden bis zum Frühjahr 1919 über 7000 Räte in Betrieben, den Kasernen, auf dem Land, in den Städten und Gemeinden.

Das Wahlverfahren wurden von dem zentral gebildeten Vollzugsausschuss der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte geregelt. Für jeweils 1000 ArbeiterInnen und Soldaten sollte ein Vertreter gewählt werden. Die Räte verstanden sich als die politische Machtinstanz des revolutionären Deutschlands. Dadurch mussten sie zwangsläufig mit dem weiterhin bestehenden bürgerlichen Staatsapparat in Konflikt geraten.

Organisation der Klasse und der Revolution

Noch Jahre nach den Ereignissen der Jahre 1918 bis 1923 beschwerte sich der geistige Vater des Reformismus, Eduard Bernstein, in seinem Buch „Die deutsche Revolution von 1918/19“ über die Geldverschwendung, die Arroganz und die Einmischung der Räte in Staatsangelegenheiten. Auch Hermann Müller, 1918 MSPD-Mitglied und letzter parlamentarisch gewählter Reichskanzler der Weimarer Republik, wettert in seinem Buch „Novemberrevolution“ über den Versuch vieler Räte, staatliche Aufgaben an sich zu binden.

Tatsache ist jedoch, dass gerade die Räte ihre Arbeit, den Umständen entsprechend, geradezu vorbildlich machten. Ihre „Einmischung in staatliche Angelegenheiten“ entsprach ihrem Charakter als Organ der Arbeitermacht. Geldverschwendung war die absolute Ausnahme und nicht selten ein Merkmal der vom rechten Flügel der MSPD kontrollierten Räte. Diese gaben riesige Mengen staatlicher Gelder für die Erstellung von Propagandamaterial gegen den Spartakusbund und die USPD-Linke aus.

Der sich selbst zwei Monate später als „Bluthund“ bezeichnende Gustav Noske reiste nach Kiel, um den dortigen Arbeiter- und Soldatenrat unter sein Kommando zu stellen und gab Unsummen für derartige Materialien aus. Seine Arbeit verlor danach an Effizienz, verbrachte er doch große Teile seiner Tätigkeit mit der Verfolgung von RevolutionärInnen.

Die Beschwerden Bernsteins und Müllers sind auf ihre Rolle in der deutschen Revolution und im Weimarer Staat zurück zu führen. Sie wollten die Räte loswerden und den bürgerlichen Staat stabilisieren.

Gerade die erste Aufgabe, die sich den Räten 1918 stellte, die Verbreitung der revolutionären Idee über die Marinestützpunkte hinaus, erledigten sie ohne über eine Reichsmark zu verfügen. Die Räte schickten Abgesandte zu verschiedenen Einheiten, in verschiedene Städte und Betriebe. In Wellen verbreiteten sie die Kunde der Revolution: zunächst über die jeweilige Stadt, in der ihre Einheit stationiert war, dann in die nächstliegenden Städte, schließlich im ganzen Land und in die Hauptstadt.

Die Räte entschieden dabei welche ArbeiterInnen und Soldaten in welche Betriebe, in welche Kasernen und in welche Städte gingen. Sie entwarfen Pläne und diskutierten die Situation: Wie würden sich die Soldaten der anderen Standorte verhalten? Wie würden sie auf die Delegationen reagieren? Wie ist die Stimmung in den Betrieben? Werden die kaisertreuen Soldaten schießen?

Nach der Verbreitung der Revolution über ganz Deutschland hatten die Räte vor allem die Aufgabe die Klasse zu organisieren. Zwar war die SPD bereits vor ihrer Spaltung 1917 eine Massenpartei gewesen und auch 1918 waren die Mitgliederzahlen von MSPD und USPD beeindruckend, dennoch standen große Teile der Klasse außerhalb der Arbeiterorganisationen. Diese galt es hinter dem Banner der Revolution zu vereinen.

In der Spanischen Revolution von 1936/37 vertrat Andres Nin, der Vorsitzende der POUM (Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit, eine zentristische Partei) die Ansicht, die Schaffung von Räten sei in Spanien, anders als in Russland 1917, überflüssig. „Unser Proletariat hatte jedoch seine Gewerkschaften, seine Parteien, seine eigenen Organisationen. Aus diesem Grunde haben sich die Sowjets bei uns nicht gebildet“, schrieb er in einem Artikel der Parteizeitung „La Batalla“ vom 27. April 1937. Demnach wäre auch in Deutschland die Bildung von Räten unnötig gewesen. Schließlich waren die proletarischen Organisationen hier die größten in der Sozialistischen Internationale. Doch diese Herangehensweise ist falsch.

In den Arbeiterorganisationen sind in vielen Fällen nur die bewusstesten AktivistInnen der Klasse organisiert. Gerade in Revolutionszeiten geht es jedoch darum, die Klasse als Klasse zu organisieren. Sie soll die Staatsmacht übernehmen, dazu muss sie frei und offen über alle anstehenden Frage diskutieren können. Verschiedene Organisationen müssen ihre Ideen und Vorstellungen aufzeigen und miteinander streiten können. Dass die Russische Revolution 1917 glückte, ist vor allem dem Umstand zu danken, dass die Bolschewiki im Laufe des Jahres die Mehrheit im Allrussischen Sowjetkongress gewinnen konnten.

Die Schichtung innerhalb der Arbeiterklasse, das Eindringen reformistischer Ideen und unterschiedliche Vorstellungen über den einzuschlagenden Weg lassen notwendigerweise verschiedene Parteien entstehen. Vor, während und auch nach der Revolution, im neu entstandenen Staat, müssen diese miteinander konkurrieren bzw. miteinander agieren können und dabei die Klasse einbeziehen. Dies ist nur möglich über die Schaffung parteiunabhängiger Räte oder ähnlicher Organe, in die die Klasse ihre VertreterInnen entsendet.

Dabei sind Räte nicht automatisch immer revolutionär, auch wenn sie dieses Potenzial haben. Letztlich kommt es auch hier auf ihre Zusammensetzung an. Solange in Russland die Parteien der sozialdemokratischen Menschewiki und kleinbürgerlichen Sozialrevolutionäre die Mehrheit in den Sowjets stellten, handelten diese nicht unbedingt revolutionär im sozialistischen Sinne. Das galt auch für die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte in der ersten Phase der Revolution von November 1918 bis Januar 1919, in denen die Mehrheits-SPD meist die Kontrolle hatte.

Die Führung dieser Partei nutzte die Plattform, die ihr die Räte boten aus, um gegen die Revolution und gegen einen Rätestaat zu argumentieren. Diese Erfahrung zeigt, dass eine Revolution beides benötigt: Räte und eine revolutionäre Partei . Denn die Räte organisierten 1918 die Massen, um sie an der Diskussion über den weiteren Weg teilhaben zu lassen. Da diese Diskussion aber vorrangig von der MSPD bestimmt wurde, erhielt sie einen konterrevolutionären Charakter.

Organisation der Produktion und Verteilung

Die Ökonomie ist die Basis einer jeden menschlichen Gesellschaft. Schon deshalb ist die Kontrolle über die Produktion von unbeschreiblicher Bedeutung. Im revolutionären Paris von 1871 waren die Wohngebietsausschüsse vielfach noch zu zaghaft, um die Produktion selbst direkt zu übernehmen. Derartige Beispiele gab es zwar, sie blieben aber die Ausnahme. Erst im April schuf die Kommune ein Gesetz, welches es den Belegschaften von Betrieben, die aufgrund der Flucht des Eigentümers still lagen, ermöglichte die Produktion selbst zu organisieren. Trotzdem leistete auch sie Unglaubliches. Sie bewies wie unnötig der bürgerliche Beamtenapparat ist und dass der bürgerliche Staat weniger die Aufgabe der Verwaltung, als viel mehr die der Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen hat.

So wurden Familien in katastrophalen Wohnsituationen menschenwürdige Unterkünfte zugewiesen, Nahrungsmittel, Möbel und Bekleidung nach Bedarf verteilt und die Pfandhäuser durch Arbeiterausschüsse leer geräumt und der Bestand wieder an die meist verarmten Besitzer verteilt. Dies sind nur einige Leistungen dieser Ausschüsse, aber auch sie zeigen deren Organisationstalent.

In der Russischen Revolution von 1917 übernahmen die Sowjets erstmals auch direkt die Produktion in den Betrieben. Sie organisierten den Arbeitstag, regelten die Pausenzeiten, die Versorgung der Belegschaften und die Verteilung der produzierten Güter. Dies ging so weit, dass die Regierung der Bolschewiki die von den ArbeiterInnen selbstständig ergriffenen Maßnahmen im Nachhinein nur noch per Dekret als rechtmäßig bestätige. Das beinhaltete auch Enteignungen von Kapitalisten, die von den lokalen Sowjets vorgenommen worden waren.

Die deutschen Räte lagen in der Konsequenz ihres Handelns irgendwo zwischen denen der Pariser Erhebung von 1871 und denen der Sowjets in Russland. Einerseits standen ihnen zwar die Erfahrungen dieser beiden Revolutionen vor Augen, andererseits fehlte es in Deutschland an einer konsequent revolutionären Partei, die diesen Erfahrungen Ausdruck verliehen hätte. Die MSPD verschleppte die Frage der Sozialisierung immer weiter und so gelang es ihr die soziale Umwälzung zu verhindern. Die Räte begangen unter dem Eindruck der Argumentation der MSPD-Führer den Fehler, auf die Sozialisierung „von oben“ zu warten, zu der es niemals kommen sollte.

Dennoch leisteten die deutschen Räte Dinge, die für das Überleben großer Bevölkerungsteile in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht zu unterschätzen waren.

Gustav Landauer, Anarchist in der ersten bayrischen Räterepublik, schrieb bereits im Dezember 1918 über die Leistungen der bayrischen Räte in der Frage von Produktion und Verteilung: „Da handelt es sich vor allen Dingen um die Umstellung der Produktion von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft. Zum Beispiel hat der Zentralarbeiterrat wesentlich dabei mitgewirkt, […] dass die Artilleriewerkstätten sofort in Friedenswerkstätten, in Werkstätten zur Herstellung von Waggons und Lokomotivteilen umgewandelt werden. Es ist eine sofortige Einstellung der Rüstungsbetriebe durchgesetzt worden. […] Wir haben durch unsere Kommissare und Delegierte mitgearbeitet an der Versorgung Bayerns mit Kohle, an der Verstaatlichung des Lastkraftwagenverkehrs, wir haben dahin mitgewirkt, […] dass Wagen, Pferde, Vieh, Gerät aller Art bei uns im Lande bleibt und vor allen Dingen von unseren Produzenten und von unseren Bauern verwertet wird. Wir haben mitgewirkt an der Durchführung der 44-Stunden-Woche mit freiem Samstagnachmittag.“

In fast allen großen Städten Deutschlands beschlagnahmten Arbeiter- und Soldatenkomitees Nahrungsmittel und verteilten diese an Bedürftige. Ohne diese Maßnahmen hätte die Hungersnot im Winter 1918/19 weitaus tiefgreifendere Auswirkungen gehabt.

Organisation von Verteidigungsmaßnahmen

In seiner Polemik gegen Karl Kautsky mit dem Titel „Terrorismus und Kommunismus“ formulierte Trotzki den Gedanken, dass die Revolution manchmal der Peitsche der Konterrevolution bedarf, um voran zu schreiten. So war es im Paris des Jahres 1871, so war es 1936 in Spanien und so war es nicht zuletzt im revolutionären Russland 1917.

Die Nationalgarde im Paris des Jahres 1871 bildete erst dann Ausschüsse in ihren Reihen, als klar war, dass die regierungstreuen Offiziere die Nationalgarde aus Paris abziehen und die Hauptstadt den Truppen Bismarcks ausliefern würden. Doch dann wuchs die Bedeutung dieser Ausschüsse sehr schnell. Sie organisierten den Abtransport der Kanonen an bestimmte Orte der Stadt, an denen sie bewacht wurden. Auch die Pläne zur Bewachung der Kanonen stellten die Ausschüsse selbst auf.

Nach dem fehlgeschlagenen Ausfall gegen Versailles Mitte April 1871 lag in der Hand dieser Ausschüsse und der Wohngebietsausschüsse die Organisation der Verteidigung der Stadtteile: Das Errichten von Barrikaden, das Ausheben von Schützengräben, die Verteilung von Waffen und Munition an die Bevölkerung, ebenso wie die Versorgung der unter Waffen stehenden Männer und Frauen organisierten diese Ausschüsse.

Der Petersburger Sowjet hatte sich schon früh ein Revolutionäres Militärkomitee geschaffen, welches die Aufgabe hatte, konterrevolutionäre Aktionen zaristischer Truppen abzuwehren. In der Oktobererhebung hatte dieses Organ die Aufgabe den Einsatz der revolutionären Truppen zu koordinieren. Die Besetzung strategisch bedeutender Positionen, wie Brücken, wichtiger Gebäude, wie dem Rundfunk und schließlich der Sturm auf das Winterpalais leitete dieses Komitee, in dem Leo Trotzki die bedeutendste Stellung einnahm.

Auch in Deutschland übernahmen die Arbeiter- und Soldatenräte derartige Aufgaben. Sie entwaffneten kaisertreue Offiziere und Soldaten und verteilten die Waffen an revolutionär eingestellte ArbeiterInnen.

Als 1920 ein gewaltiger Generalstreik den Putschversuch des reaktionären Generallandschaftsdirektors Wolfgang Kapp und des Generals Walter von Lüttwitz zurück schlug

waren es wieder Arbeiter- und Soldatenräte, die die Abwehrmaßnahmen organisierten. Mit dem zweiten Tag des Bestehens der Putschregierung ruhte die Arbeit. Obwohl jede Aktivität gegen die installierte Kapp-Lüttwitz-Regierung strengstens untersagt war organisierten die gewählten Räte – einige wurden neu gebildet, andere hatten die Säuberungen der Ebert-Noske-Bande überstanden – den Generalstreik und weiteten ihn zum umfassendsten Streik der deutschen Geschichte aus. Beinahe nirgendwo in Deutschland wurde gearbeitet. Sogar die Beamtenschaft schloss sich unter dem Eindruck dieser gewaltigen Machtdemonstration dem Streik an.

Im Ruhrgebiet, wo die Reichswehr beinahe ausnahmslos auf der Seite der Putschisten stand, bauten diese Räte Arbeitereinheiten auf und bewaffneten diese. Im März 1920 waren trotz der überlegenen Bewaffnung der Reichswehr große Teile des Ruhrgebiets unter der Kontrolle der „Roten-Ruhr-Armee“.

Die Räte im Ruhrgebiet organisierten die Entwaffnung der putschenden Einheiten bzw. die militärischen Maßnahmen gegen jene Truppenteile, die sich der Entwaffnung widersetzten. Überall patrouillierten bewaffnete Arbeitereinheiten und sicherten die Städte des Ruhr-Gebiets gegen putschende Soldaten.

Dies endete erst, als die Regierung Scheidemann und der provisorische Reichspräsident Ebert wieder im Amt waren und mit Hilfe der Freikorps, von denen sie gerade erst gestürzt worden waren, ein blutiges Massaker unter der Roten Ruhr-Armee anrichten ließen.

Organisation des täglichen Lebens

Es ist einer jener selten in den Geschichtslehrbüchern auftauchender Fakt, dass immer dort wo Arbeiterräte herrschten, etwas gelang, was der bürgerlichen Staaten nicht schaffte: Die Zahl der Verbrechen sank rapide. Dies ist eine Erfahrung, die sowohl die Pariser Bevölkerung 1871, als auch die russische Bevölkerung 1917 und die Deutschen 1918 machten.

Ein Zeitzeuge der ersten Tage in Hamburg erinnerte sich später: „Es war Revolution und überall war es ruhig! Niemand stahl oder plünderte – selbst, wenn die Gelegenheit bestand.“ Dies hatte stets weniger mit den bewaffneten Patrouillen, die von den Arbeiterräten zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung entsandt wurden, als mehr mit den von den Räten sonst ergriffenen Maßnahmen zu tun.

Die Güter wurden nach Bedarf verteilt. Wenn irgendwer zu wenig hatte, dann, weil es davon objektiv zu wenig gab. Wenn aber jeder genug zum Leben hat, dann sinkt das Interesse an Diebstahl. Der Zugang zu Kultur und Bildung wurde durch die Arbeiterräte in Paris, in Deutschland, in Ungarn, oder der Sowjetunion nicht einfach nur aufrecht erhalten. Erstmals bekamen alle Menschen die Möglichkeit des Zugangs zu Bildung und Kultur.

An dem Tag im Mai 1871, als die konterrevolutionären Truppen aus Versailles in Paris einfielen, fand gerade ein großes, kostenfreies Konzert statt. Die Kommunarden hatten überhaupt erst die Theater und Opern wieder geöffnet, nachdem diese von der Regierung Thiers geschlossen worden waren. In der Zeit der Kommune hatten alle Zugang zu diesen Einrichtungen. Die letzte Theateraufführung in Paris fand einen Tag vor dem Fall der Stadt statt.

Auch in Sowjetrussland und Deutschland wurde ein in Kriegszeiten unmöglich gemachtes kulturelles Leben erst wieder durch die Räteherrschaft ermöglicht. Erst die Machteroberung der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion in den 20er Jahren erstickte diese kulturelle Dynamik wieder.

Lehren

Die hier geschilderten wenigen Auszüge aus verschiedenen Revolutionen zu unterschiedlichen Zeiten zeigen deutlich, dass das von den Bürgerlichen geschürte Vorurteil, die Arbeiterklasse wäre praktisch von Natur aus nicht in der Lage dazu die Herrschaft zu übernehmen, nichts anderes ist als eine schwache Rechtfertigung der bürgerlichen Herrschaft.

Mögen die angeführten Revolutionen auch auf ganz unterschiedliche Weise gescheitert sein, sie alle haben bewiesen, dass die Arbeiterklasse sehr wohl in der Lage ist ihre eigene staatliche Ordnung aufzubauen. So zeigen diese Erfahrungen auch, dass überall dort wo die Konterrevolution siegte sich die Versorgung unmittelbar danach teils dramatisch verschlechterte: In Berlin, nach dem Aufstand vom Januar 1919, in München, nach der Niederschlagung der Räterepublik, in Ungarn 1919, in Paris 1871, in den von der Konterrevolution besetzten Teilen Sowjetrusslands – überall regierten Hunger, Mangel an Brennstoff und Bekleidung im Winter. Der Grund dafür ist einfach genannt. Der bürgerliche Staat, der sich in den genannten Fällen wieder reorganisierte, hat kein Interesse an einer am Bedarf orientierten Verteilung der vorhandenen Güter. Er ist ein Organ, um die Privilegien der herrschenden Klasse zu sichern. Wenn also große Teile der Bevölkerung hungern und frieren, während andere mehr als nur genug haben, ist das eine Erscheinung, die der bürgerliche Staat kaum bekämpfen wird.

Dabei entstehen diese Kampf- und Herrschaftsorgane meistens spontan. Die Herrschaft der Arbeiterklasse kann nicht ausschließlich über deren Organisationen erfolgen, sondern muss durch Organe ausgeübt werden, die eine demokratische Beteiligung der gesamten Klasse ermöglichen . Allerdings sind dies keine „staatlichen Organe“ im bürgerlichen Sinn mehr. Sie sind jederzeit wähl- und abwählbar, werden ehrenamtlich, oder für einen ArbeiterInnenlohn bekleidet.

Dennoch ist es im Einzelfall sehr schwer vorher zusagen auf welche Weise und auf welcher Ebene diese Ausschüsse entstehen. In Venezuela beispielsweise spielen Nachbarschaftskomitees vielfach eine größere Rolle als Fabrikausschüsse, von denen es bisher sehr wenige gibt. Die exakte Form, wie sich in Zukunft die Organe zukünftiger Arbeiterstaaten entwickeln werden ist nicht vorherzusagen. Das ist auch nicht nötig. Entscheidend ist es die allgemeinen Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Erstens bedarf es Massenstrukturen durch welche die breite Masse der Lohnabhängigen und Unterdrückten in die Revolution eingebunden werden. Zweitens bedarf es in solchen Strukturen einer starken, entschlossenen und weitsichtigen marxistischen Kraft, wie es die Bolschewiki 1917 in Russland waren, die dort eine Mehrheit für ein revolutionäres Programm und eine solche Strategie gewinnen können.