Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig

Gewalt gegen Frauen ist ein Problem, dessen Ursache in der Klassengesellschaft liegt.
Theresa Reimer

Gewalt ist laut WHO für Frauen das größte Gesundheitsrisiko weltweit. Sie kann viele verschiedene Formen annehmen und ist teilweise nur für die Betroffenen sichtbar und spürbar. Oft ist strukturelle Gewalt auch für die Opfer nicht erkennbar, da sich Frauen mit ihrer unterdrückten Stellung abgefunden und identifiziert haben. Körperliche und sexualisierte Gewalt wie Schläge, Tritte, Vergewaltigungen etc. sind die sichtbarsten Formen, die auch in der Gesellschaft mehrheitlich als Problem anerkannt und verurteilt werden.

Psychische und ökonomische (wirtschaftliche und soziale) Gewalt hingegen wird oft verharmlost oder gar nicht erkannt. Dabei ist Stalking oder die verbale Herabwürdigung von Frauen in Form von Belästigungen, Bedrohungen usw. besonders im Internetzeitalter immer sichtbarer.

Ökonomische Gewaltausübung liegt vor, wenn ein Mensch die Abhängigkeit eines anderen Menschen ausnützt. Bis zu 50% aller Frauen sind von sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz betroffen. „Wie bei einer Fleischbeschau“ fühlen sich viele Beschäftigte der Gastronomie und Vorgesetzte nutzen ihre Macht meist ungestraft. Zahlreich auch die Beispiele, wo politisch einflussreiche oder reiche Männer ihre Macht über „Weinköniginnen“, Sekretärinnen etc. ausnutzen. Auch wenn oft keine körperliche Gewalt im Spiel ist, so wird hier doch die Moral der Mächtigen ersichtlich, die die prekäre Lage von Frauen ausnutzen, um ihre eigene Macht zu demonstrieren und sich selbst einen Ego-Schub zu verpassen.

Frauen sind auch besonders von struktureller Gewalt betroffen. Strukturelle Gewalt bedeutet, dass Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, obwohl es eigentlich möglich wäre. Also z.B. wenn Menschen Ressourcen, die vorhanden sind, vorenthalten werden, weil sie Frauen sind. In den verschiedenen Klassengesellschaften – von der Sklaverei über den Feudalismus bis zum Kapitalismus – wurde stets die Mehrheit zugunsten der Minderheit benachteiligt. Doch der Kapitalismus ist erstmals eine Überflussgesellschaft, niemand müsste also mehr zu wenig von den notwendigen Dingen haben. Wenn Menschen weniger Zugang zu Bildung, Wohnen, Gesundheit etc. haben als nötig und möglich, dann ist das auch eine Form der Gewalt, weil es die Lebensqualität und -dauer reduziert. Die meisten Frauen sind dieser strukturellen Gewalt besonders ausgesetzt, durch ihre Mehrfachunterdrückung als Teil der unterdrückten Klasse, der ArbeiterInnenklasse, UND als Frau. Das zeigt sich u.a. daran, dass Frauen auch im Jahr 2015 durchschnittlich noch immer 23 % weniger als Männer verdienen und Frauen öfter prekäre Jobs haben. Ebenso ist die höchste Armutsrate unter Pensionistinnen zu finden.

Mit den Ereignissen von Köln trat in letzter Zeit vor allem eine Form sexualisierte Gewalt ins Rampenlicht. Doch wie damit umgegangen wird dient auch dazu, die anderen Formen von Gewalt gegen Frauen klein zu reden.

Für viele Frauen ist ein Gefühl der Unsicherheit allgegenwärtig. Oft suchen Frauen, die auf der Straße oder in der Familie belästigt bzw. missbraucht werden, die Schuld bei sich selbst. Bei der gedanklichen Formulierung der Frage: „Ist mein Ausschnitt zu groß und mein Rock zu kurz?“ hat sich wahrscheinlich schon jede Frau einmal ertappt. Und anstatt auf strukturelle Unterdrückung und Alltagssexismus einzugehen und die Ursachen zu ergründen, verfallen Viele in die Argumentation, dass die „richtige“ Prävention vor Übergriffen wäre, dass sich Frauen passend kleiden sollten. Auch der Wiener Polizeipräsident Pürstl stieß mit seinem Kommentar zu Köln auf heftige Kritik: „Frauen sollten nachts generell in Begleitung unterwegs sein, Angst-Räume meiden und in Lokalen keine Getränke von Fremden annehmen.“ Anstatt zu überlegen, wie (sexualisierte) Gewalt verhindert werden kann, erteilt auch er lieber Verhaltensrichtlinien an Frauen.

Auf die mediale Debatte rund um #aufschrei, unter dem Frauen von ihren täglichen Erfahrungen mit Sexismus und Gewalt berichteten, veröffentlichte die reaktionäre Antifeministin Birgit Kelle das Buch „Dann mach doch die Bluse zu“. Sie tut so, als ob Frauen durch ihren Kleidungsstil oder ihr Verhalten selbst schuld an Übergriffen wären („Victim Blaming“). Diese Argumentation ist falsch. Kelle & Co. stempeln Männer allgemein als Täter ab, die sich nicht im Griff haben könnten, wenn Frauen zum Beispiel einen größeren Ausschnitt tragen, und die unfähig wären, auf eine Frau, die sie interessant finden, auf Augenhöhe zuzugehen. Doch sexualisierte Gewalt ist nicht die „natürliche“ Folge des männlichen Sexualverhaltens oder das nicht im Zaum halten Können der Sexualtriebe. Sexualisierte Gewalt bedeutet Machtausübung und hat mit Sex nichts zu tun. Der einzelne Täter ist ein Täter, doch wer bei der Analyse auf dieser individuellen Ebene bleibt, leugnet, dass Menschen das Ergebnis ihrer Umgebung und ihrer – meist nicht freiwillig gewählten – Stellung in der Gesellschaft sind.

Die fatale Logik des Victim Blaming (Täter-Opfer-Umkehr) ignoriert die gesellschaftlichen Systemstrukturen, die das Handeln bestimmter Gruppen beeinflussen. Durch die seit Jahrtausenden existierenden Klassengesellschaften hat sich die Unterdrückung auch gesellschaftlich verankert. „Seine“ Frau zu züchtigen oder „die Ware zu prüfen“ oder „dass Frauen Technik halt nicht verstehen“ erscheint darum „normal“.

Wer versucht, Sexismus und Gewalt mit der Einteilung von Menschen aufgrund ihres Verhaltens in „gut“ und „böse“ zu erklären und andere Faktoren ausblendet, wird scheitern. Um Gewalt gegen Frauen wirksam zu bekämpfen, muss die Wurzel des Problems erkannt werden. Es ist natürlich absurd und bezeichnend für den Sexismus der bürgerlichen Gesellschaft, dass Sexualstraftäter selten und wenig bestraft werden. Hohe Strafen alleine werden das Problem aber nicht lösen, weil die Ursachen ignoriert werden. Und es ist auch keine Frage der Religion, der Kultur oder der Herkunft, weil Frauen in allen Teilen der Welt Opfer von (sexualisierter) Gewalt werden.

Gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Lage ist es für Frauen noch schwieriger, Sicherheit zu bekommen. Frauen sind finanziell oft abhängig von Partner bzw. Familie, nur prekär beschäftigt und werden vom Staat viel zu wenig unterstützt. Es muss möglich sein, dass alle Kinder Krippenplätze, Betreuung usw. bekommen, um Frauen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen. Es gibt viel zu wenig freie Stellen in Frauenhäusern, viel zu wenig gute betreute Wohneinrichtungen für Jugendliche und kaum leistbare Wohnungen. Arbeitslosigkeit und Lohndruck verstärkt die Unsicherheit auf allen Ebenen. Viele Frauen und Mädchen müssen daher bei einem gewalttätigen Mann/Vater in „versteckter Obdachlosigkeit“ bleiben. Die Familie stellt tatsächlich den gefährlichsten Ort für Frauen dar. Sicherheit gibt es nur mit mehr (finanzieller) Unabhängigkeit.

Das Thema Gewalt gegen Frauen wird langsam enttabuisiert. Überlassen wir es nicht den Rechten, die es instrumentalisieren, um rassistische Hetze gegenüber MigrantInnen und Geflüchteten zu schüren und gleichzeitig von der ständigen strukturellen, sozialen und politischen Gewalt gegen Frauen abzulenken. Es braucht einen breiten Kampf für die Gleichberechtigung aller, um die Probleme an der Wurzel zu packen. Denn das Problem ist nicht der böse schwarze Mann, sondern der Kapitalismus.

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