40 Jahre Nelkenrevolution

Damals und heute: Revolutionen sind möglich!
Sebastian Kugler

„Brot, Friede, Sozialismus!“ und „Die Macht den ArbeiterInnen“ steht auf den Transparenten, die aus den Massendemonstrationen herausragen. Fabriken unter Kontrolle und Verwaltung von ArbeiterInnenräten. Soldaten, die sich weigern, ausbeuterische Kriege zu führen und rote Nelken in ihre Gewehrläufe stecken.

All das ist keine nostalgische Fantasie aus den 1910er Jahren, sondern passierte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Portugal 1974. Die sogenannte „Nelkenrevolution“ war weit mehr als nur der überfällige Sturz einer verkrusteten Militärdiktatur. Sie war eine sozialistische Massenbewegung, eine Machtdemonstration der ArbeiterInnenklasse im Nachkriegs-Westeuropa.

Ähnlich wie heute hatten die Menschen in Portugal ihre Regierung und das politische Establishment satt. Sie sahen, dass der Diktator Caetano, aber auch seine verschiedenen Marionetten, im Endeffekt alle dasselbe vertraten. Die Menschen hatten genug von der zunehmenden Verarmung in der untergehenden Kolonialmacht. Sie sahen nicht mehr ein, warum sie für die Großmachtsfantasien portugiesischer Industrieller in Kriegen gegen die Unabhängigkeits-Bewegungen in den Kolonien sterben sollten.

Manches ist heute anders, aber vieles sehr ähnlich: Auch heute verschlechtern sich die sozialen Bedingungen besonders in Europa immer schneller. Wer noch wählen geht, wählt die Partei, die den geringsten Würgereiz verursacht. Doch auch heute gehen die Menschen wieder auf die Straße – von Brasilien bis Thailand. Vor wenigen Jahren kam das Wort „Revolution“ in der gesellschaftlichen Debatte kaum vor. Heute darf es in kaum einer Tageszeitung fehlen, wenn über Ägypten, Ukraine usw. berichtet wird. Wie Unrecht hatte der US-Historiker Francis Fukuyama, als er nach dem Untergang des Stalinismus das „Ende der Geschichte“ prophezeite!

Und doch stechen die Unterschiede ins Auge: Die heute rebellierenden Massen wissen, wogegen sie sind: Gegen die Zerschlagung des Sozialstaats in Griechenland, gegen die Korruption in der Türkei. Wofür man steht, ist jedoch oft weniger klar. Ausdruck dessen sind konfuse Forderungen nach einer „Expertenregierung“ im Rahmen des bosnischen Aufstandes oder dass sich rechte Kräfte wie die Muslimbruderschaft in Ägypten oder Swoboda in der Ukraine an die Spitze solcher Bewegungen stellen können.

Doch das macht diese Bewegungen nicht an sich „reaktionär“. Heute wie damals kämpfen die Menschen gegen Diktaturen wie in Ägypten oder gegen die Auswirkungen kapitalistischer Krisen. Dies sind berechtigte und notwendige Kämpfe. Wenn sich Rechtsextreme und NationalistInnen oder wie in Thailand Teile des alten Establishments führend auftreten, so ist das ein Beweis für die Schwäche der Linken, Alternativen anzubieten. Es ist nicht die Aufgabe von RevolutionärInnen, am Rande solcher Bewegungen zu stehen und zynisch ihre Fehler zu kommentieren. Wo immer es möglich ist, kann man darin aktiv sein, um die Rechten und prokapitalistischen Kräfte zu entlarven und sozialistische Perspektiven für die Bewegung aufzuzeigen.
Es mag stimmen, dass es zum aktuellen Zeitpunkt aufgrund der ungünstigen Kräfteverhältnisse für Linke in der Ukraine schwer und gefährlich ist, am Maidan zu intervenieren. Dies gilt jedoch nicht für die Betriebe und Einrichtungen, die vom drohenden wirtschaftlichen Kollaps bedroht sind. Die Rechten rund um Klitschko und Swoboda werden die Interessen der Massen nach Wohlstand und Sicherheit nicht erfüllen können, weil sie auf dem Boden des immer schneller erodierenden Kapitalismus stehen.

In der Nelkenrevolution gab es ein Ziel, das von den Massen getragen und mit Leben gefüllt wurde: Eine klassenlose Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der Menschen und nicht der Profit im Vordergrund stehen. Es fehlte Klarheit darüber, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Das ermöglichte letztlich dem Kapitalismus wieder die Oberhand zu gewinnen, nachdem die britische „Times“ noch 1975 festgestellt hatte: „Der Kapitalismus ist tot in Portugal“.

Dennoch zeigte die Nelkenrevolution das unglaubliche Potential einer ArbeiterInnenklasse, die sich ihrer selbst bewusst ist. In den turbulenten Monaten nach dem April 1974 erreichten zahlreiche Sektoren bis zu 50 % Lohnerhöhungen, LandarbeiterInnen besetzten die Ländereien der GroßgrundbesitzerInnen, Obdachlose organisierten sich und teilten die leerstehenden Häuser unter sich auf, Bankangestellte übernahmen die Kontrolle über die Banken und entmachteten die Manager. Im Trubel der revolutionären Ereignisse sprossen Alphabetisierungs-Programme, die ArbeiterInnen unter sich organisierten. Die „Sozialistische“ und die „Kommunistische“ Partei erkannten beide das Potenzial dieser revolutionären Entwicklungen und setzten alles daran, sie zu unterdrücken. Es entstanden zwar revolutionäre Gruppen, doch waren sie insgesamt zu schwach und teilweise zu unerfahren, um im Getümmel eine massenwirksame revolutionäre Strategie umzusetzen.

Der Kapitalismus konnte sich in Portugal trotz der Wucht der Revolution und dem breiten sozialistischen Bewusstsein mit der Hilfe des Reformismus und Stalinismus an der Macht halten. Das sollte uns heute, wo es gilt, das Kampfziel des Sozialismus überhaupt wieder präsent zu machen, nicht entmutigen. Es führt die absolute Notwendigkeit der Verbreitung revolutionärer sozialistischer Ideen vor Augen. Massenbewegungen und Revolutionen waren, sind und werden sein. Ihr Erfolg hängt von der Stärke bewusster revolutionär-sozialistischer Kräfte ab.

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