Über den Tellerrand schauen

Wer in der Logik des Kapitalismus denkt, bleibt in dieser gefangen.
Flo Klabacher

Der „freie Markt“ zeigt deutlich wie selten zuvor: Er funktioniert nicht. Die Aussichten auf ein gutes Leben bröckeln selbst für hochqualifizierte Beschäftigte in den Industriestaaten. Eine Diskussion über Alternativen zu Kürzungen, Krisen und Kapitalismus ist in der Arbeiter*innenbewegung nötig.

Der ÖGB sagt dazu wenig Neues, er bleibt bei seiner keynesianischen Linie: Löhne und (wegen hoher Arbeitslosigkeit jetzt prominenter) Arbeitslosengeld erhöhen; Arbeitszeit verkürzen; Reichtum besteuern; in Infrastrukturprojekte investieren, um Jobs zu schaffen. All diese Forderungen sind gut und wichtig. Nur glaubt der ÖGB, mittels Kaufkraftsteigerung die Krise zu lösen. Abgesehen vom Schweigen dazu, WIE diese Forderungen umgesetzt werden können: Eine Kaufkraftsteigerung hilft – zum Beispiel – Betrieben, die Industriemaschinen für den Export produzieren (ca. 15% des BIP in Österreich) nichts. Aber die Konkurrenz steigt, die Profite sinken. Viele Werke rentieren sich schon jetzt nicht mehr, Betriebe wandern ab, schließen – höhere Lohnkosten würden dieses Problem noch verschärfen.

Im Konkreten akzeptiert der ÖGB diese kapitalistischen Mechanismen. Doch um die Abwärtsspirale zu stoppen, sind gemeinsame länderübergreifende Kämpfe gegen schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen nötig. Stattdessen nehmen die Gewerkschaften Stellenstreichungen aus Angst vor Betriebsschließungen (FACC Ried) und selbst Betriebsschließungen (MAN Steyr) kampflos hin und tragen die nationalistische Logik der Sicherung des Wirtschaftsstandorts Österreich mit.

Die Abkehr von neoliberalen Dogmen seit Krisenbeginn machen der Regierung eine „sozialpartner*innenschaftliche“ pseudo-Einbindung der ÖGB-Führung leicht. Die trägt die Regierungspolitik mit und verzichtet weitgehend auf Kritik. Bewegungen der Arbeiter*innenklasse werden bürokratisch abgewürgt (wie die Streiks im Sozialbereich). Statt die verheerenden Krisenfolgen wirklich zu bekämpfen, rückt der ÖGB noch näher an die Regierung.

Im Kampf für Verbesserungen ist für uns nicht zentral, welche Auswirkungen unsere Forderungen auf den Kapitalismus haben, sondern welche Auswirkungen dieser auf die Arbeiter*innenklasse hat. Beispiel Arbeitslosengeld: Arbeitslos sein heißt, von der Klasse isoliert sein, das Gefühl zu bekommen, nicht gebraucht zu werden. Hohe Arbeitslosigkeit bedeutet für Beschäftigte leichte Ersetzbarkeit, also großen Druck, Verschlechterungen zu akzeptieren. All das schwächt die Kampfposition der Arbeiter*innenklasse. Höheres, unbefristetes Arbeitslosengeld ist eine nötige Sofortmaßnahme, um eine existenzbedrohende Situation zu lindern – aber nicht genug. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen löst das Problem nicht. Stattdessen braucht es eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn!

In einer Krisensituation sind intensive Kämpfe nötig, um den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse zu verteidigen. Schnell ist ein Punkt erreicht, an dem wir Eigentumsverhältnisse in Frage stellen müssen. Der ÖGB kommt auf diese Idee nicht einmal bei Betrieben die, wie MAN in Steyr, 30 Jahre nach der Privatisierung vor einer Standortverlegung zur Profitmaximierung stehen.

Dabei gibt es viele Beispiele für Belegschaften, die streiken, ihren Betrieb besetzen, den Abtransport von Maschinen verhindern, eine Verstaatlichung fordern und/oder den Betrieb unter eigener Kontrolle weiterführen. Oft sind das Betriebe, die niedergewirtschaftet und von ihren Besitzer*innen zurückgelassen wurden.

Solche Beispiele zeigen, dass Beschäftigte die Produktion demokratisch selbst organisieren können. Doch als Inseln im kapitalistischen Meer haben sie wenig Spielraum. Es fehlt Grundkapital, weil Banken keinen Kredit geben. Es gibt Beispiele, wo Genossenschaften unter dem Druck der Marktkonkurrenz die eigenen Löhne gekürzt, Stellen abgebaut oder neue Kolleg*innen zu schlechteren Bedingungen und ohne Mitspracherecht eingestellt haben. Um im Kapitalismus überleben zu können, sind sie gezwungen, die Methoden des Kapitals anzuwenden. Selbst wenn es gelingt, die Produktion aufrecht zu erhalten, geraten sie in Konflikt mit dem kapitalistischen Staat: Sie stellen die Existenzberechtigung parasitärer Unternehmensleitungen in Frage und enden oft durch Polizeieinsatz oder Gerichtsbeschluss.

Die Kolleg*innen von Inveval in Venezuela gingen das Problem offensiv an. Nach ihrer Betriebsbesetzung forderten sie eine Verstaatlichung bei demokratischer Organisation der Produktion durch die Arbeiter*innen; eine Verstaatlichung und Wiedereröffnung der Gießerei, die sie zuvor mit Rohmaterial versorgt hatte; und staatliche Produktionsaufträge durch die venezolanische Öl-Gesellschaft – also die Einbettung des eigenen Betriebes in eine verstaatlichte Industrie unter Arbeiter*innenkontrolle zur Rettung des Betriebes. Eine Umsetzung und Ausweitung dieses Programms wäre Kern einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Dass der Betrieb selbst unter Chavez’ reformistischem Regime mittels Staatsbürokratie sabotiert wurde, um die Wiederaufnahme der Produktion zu verhindern und die Beschäftigten zu demoralisieren, zeigt: Die Arbeiter*innenbewegung braucht eine Führung, die bereit ist, mit dem Kapitalismus zu brechen.

 

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