Mi 15.10.2025
Im August 2025 beschlossen wir die Neugründung unserer Organisation als „vorwärts“. Damit einher gingen Diskussionen über unseren Status als Teil des „Project for a revolutionary marxist International“ (PRMI). Diese Diskussionen mündeten in der einstimmigen Entscheidung im September, uns vom PRMI zu lösen. Das folgende Dokument will die Gründe dafür darlegen – doch es geht uns nicht um innerlinke Grabenkämpfe mit ihren leider oft irrationalen Dynamiken. Es geht um eine größere Aufgabe: aus der Geschichte von CWI, ISA und PRMI die richtigen Lehren zu ziehen, die Stärken und Schwächen unserer eigenen Traditionen bewusst zu reflektieren und einen Neuanfang zu wagen, der nicht bloß formal, sondern programmatisch und methodisch trägt.[1]
Einen besonderen Stellenwert – sowohl in aktuellen sozialen Bewegungen wie auch in den politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre – nehmen Fragen des sozialistischen Feminismus und der nationalen bzw. rassistischen Unterdrückung ein. Unsere Ausführungen dazu in diesem Dokument sind ein Zwischenergebnis bisheriger theoretischer Arbeit und Diskussion. Sie stellen noch kein ausformuliertes Programm dar, wohl aber den Zugang, den wir für notwendig halten, um den Aufbau einer internationalen revolutionären Organisation auf einer neuen Grundlage weiterzuführen.
Wir üben in diesem Dokument durchaus harte Kritik. Dabei wissen wir, dass wir in der Vergangenheit selbst politische Fehler gemacht haben – und dass weitere Fehler in der aktuellen Periode sich ständig verschärfender und überlagernder kapitalistischer Multikrisen weitere Fehler wohl unvermeidbar sind. Entscheidend ist also nicht, ob man für die eigene Organisation und ihre Tradition behaupten kann, immer richtig gelegen zu sein (wo das behauptet wird, sollte man besonders misstrauisch sein). Entscheidend ist, ob eine Organisation es schafft, im Vorwärtsgehen zu lernen.
Wir laden deshalb aktuelle, frühere und künftige Weggefährt:innen und Genoss:innen und alle interessierten Leser:innen ein, die Analysen und Argumente dieses Dokuments mit uns zu diskutieren. Wir freuen uns über Feedback, Kritik und solidarischen Austausch mit dem Ziel gemeinsamer revolutionärer Praxis.
Bürokratischer Zentralismus im Umgang mit Safeguarding
Das PRMI ging 2024 aus der Spaltung der International Socialist Alternative (ISA) hervor. In vielerlei Hinsicht glich die ISA-Spaltung 2024 der CWI-Spaltung 2019: wieder stand auf der einen Seite eine politisch schwache und uneinsichtige Führung, die bürokratisch agierte, um ihre Kontrolle zu sichern – und wieder stand auf der anderen Seite eine Sammlung an Sektionen, Gruppen und Einzelpersonen, die mehr durch ihre Opposition geeint wurden als durch ein eigenes positives Programm. Wieder hielten die eigentlich für Debatten geschaffenen internationalen Strukturen schon dem geringsten Druck nicht stand. Wieder wich der vielbeschworene demokratische Zentralismus sofort taktischem bürokratischem Manövrieren.
Dennoch verbanden auch wir mit der Gründung des PRMI zunächst die Hoffnung auf einen notwendigen Neuanfang. Nach den jahrelangen Krisen und Degenerationstendenzen innerhalb von CWI und ISA schien das PRMI die Chance zu bieten, die eigenen Traditionen kritisch zu überprüfen, ihre Stärken zu bewahren und ihre Schwächen konsequent zu überwinden. Das PRMI analysierte mit seiner Gründung zurecht die schwere Krise, in welche die eigene politische Tradition geraten war und die Notwendigkeit eines grundlegenden Wieder- und Neuaufbaus auf theoretischer, programmatischer und organisatorischer Ebene. Doch bereits nach einem Jahr müssen wir festhalten, dass das PRMI daran gescheitert ist: von Anfang an schob man die Entwicklung eines eigenen Programms und eigener internationaler demokratischer Strukturen auf die lange Bank. Zwar war die Einsicht richtig, dass es notwendig ist, vieles grundlegend zu überdenken und nicht einfach „aus dem Stand“ eine neue Internationale aus dem Boden zu stampfen. Doch an die Stelle einer programmatischen Klärung trat ein ungesteuerter, pseudodemokratischer Föderalismus, der faktisch zu einem informellen, bürokratischen Zentralismus an der Spitze geführt hat.
Unsere Kritik am PRMI richtet sich nicht einfach gegen eine Organisation, deren Analysen politisch schwach oder deren strategische Orientierung unzureichend ist. Wäre das der Fall, könnte und müsste der Streit innerhalb der Organisation geführt und ausgetragen werden – durch offene Debatten, demokratische Entscheidungen und programmatische Klärungen. Doch genau das ist im PRMI nicht möglich. Der undemokratische Charakter des PRMI ist kein Nebenaspekt, sondern einer der zentralen Gründe dafür, dass politische Differenzen nicht konstruktiv bearbeitet werden können, wie beim späten CWI und der ISA dominiert ein bürokratischer Zentralismus, in dem Konflikte entlang von informellen Loyalitätslinien bearbeitet werden. Gleichzeitig verbindet sich dieser Zentralismus paradoxerweise mit einer föderalistischen Beliebigkeit: Die föderale Zersplitterung erzeugt zugleich national organisierte Teilperspektiven ohne kohärente internationale Grundlage. Politische Opposition wird entmutigt oder isoliert, statt als Chance zur Klärung und Weiterentwicklung begriffen zu werden.
Eine revolutionäre Internationale aber kann nur existieren, wenn sie eine dauerhafte Struktur demokratischer Auseinandersetzung bietet – eine Organisation, die Dissens nicht als Gefahr behandelt, sondern als Motor ihrer Weiterentwicklung versteht. Das PRMI hat gezeigt, dass es diesen Anspruch weder erfüllen kann noch will. Die Gründung von vorwärts und unser Austritt aus dem PRMI ist daher nicht der Ausdruck einer Spaltung um der Spaltung willen, sondern die notwendige Konsequenz aus einer Organisation, die sich selbst handlungsunfähig gemacht hat.
Die PRMI-Führung erbte also nicht nur ihr Personal, sondern auch ihren Zugang zur internen Demokratie von CWI und ISA. Das hat der Umgang mit der Krise der österreichischen Organisation im Frühjahr/Sommer 2025 mehr als deutlich gezeigt. Über den Hintergrund dieser Krise, unseren Umgang damit und die Lehren daraus haben wir im März und im August insgesamt drei Stellungnahmen veröffentlicht.[2] Wir zitieren deshalb an dieser Stelle die entsprechenden Passagen aus unserem Statement „Lernen im Vorwärtsgehen“:
„Anlass war ein Fall sexueller Gewalt, begangen 2014 von einer erst später zu unserer Organisation gestoßenen und mittlerweile ausgeschlossenen Person. 2019 wurde der Fall der damaligen Führung bekannt und von ihr falsch und fahrlässig behandelt - dank der betroffenen Person wurden diese schweren Fehler Anfang 2025 wieder zum Thema (siehe unser Statement vom März 2025). Wir beschlossen daraufhin, unsere Aktivitäten vorerst einzustellen und uns den Fehlern unserer Organisation in der Vergangenheit zu widmen, in Zusammenarbeit mit der Führung des Projekts für eine revolutionäre marxistische Internationale (PRMI). Wir möchten uns noch einmal bei der betroffenen Person entschuldigen - und hoffen deshalb, dass unsere bisherige und fortlaufende Arbeit zur Aufarbeitung und zu einem Heilungsprozess beitragen. In den darauffolgenden Wochen arbeitete eine internationale Untersuchungskommission des PRMI an der Aufklärung der Fehler. Zahlreiche Mitglieder, die damals eine sehr aktive und/oder führende Rolle spielten, wurden teils mehrfach befragt, um die Ereignisse zu rekonstruieren und teils auch um ihre heutigen Einstellungen zu ihren damaligen Fehlern in Erfahrung zu bringen. In den Gesprächen insbesondere mit den zwei noch aktiven Mitgliedern, die damals in der Bundesleitung waren, bestand weitgehende Einigkeit über den Ablauf der Geschehnisse und die kollektiven und individuellen Versäumnisse.“[3]
Doch bereits während dieses Prozesses zeigte sich der bürokratisch-zentralistische Zugang der PRMI-Führung: Als drei Monate nach Ausbruch der Krise noch immer kein Bericht der Kommission vorlag, schlugen einige Mitglieder in einem Brief vor, das Organisationsleben wieder in dem Maße neuzustarten, wie es der Untersuchungs- und Reflexionsprozess zulässt – denn der komplette Stillstand drohte, die Existenz der Organisation unmittelbar zu gefährden. Denn, wie wir in unserem Statement festhielten, „führte die zunehmende Abschottung ohne jegliche organisatorische und politische Perspektive nur dazu, dass sich Mitglieder und Umfeld weiter zurückzogen – eine Situation, die den angestrebten und notwendigen Reflexionsprozess nicht unterstützte.“[4]
Dieser Vorschlag wurde von der PRMI-Führung als Sabotage der Safeguarding-Aufarbeitung gewertet. Selbstverständlich stellte der briefliche Vorschlag in keinster Weise eine solche Sabotage dar – ganz im Gegenteil war es der Versuch, durch ein Mindestmaß an Aktivität den Fortbestand der Organisation und damit auch des Aufarbeitungsprozess zu sichern. Doch anstatt den Vorschlag demokratisch zu diskutieren, drohte die PRMI-Führung den Verfasser:innen des Briefs mit Suspendierung, wenn sie sich nicht davon distanzieren. In einem Fall wurde eine solche Suspendierung auch verhängt (obwohl keine:r der Verfasser:innen sich von dem Inhalt des Briefes distanziert hatte). Kritik an diesem bürokratischen Vorgehen wurde wiederum so dargestellt, als würde sie sich gegen Safeguarding an sich stellen – eine völlige Verdrehung der Tatsachen. Als der Abschlussbericht der Untersuchungskommission endlich vorlag, herrschte über den inhaltlichen Teil des Berichts weitgehende Einigkeit. Doch das PRMI schloss fast ausschließlich bürokratische Konsequenzen: Ausschluss (bzw. Ausschluss auf Umwegen) der verbliebenen Ex-Leitungsmitglieder und Auflösung der Organisation – letzteren „Vorschlag“ unterbreitete die PRMI-Führung den österreichischen Mitgliedern nur wenige Stunden vor der Mitgliederversammlung. Wer der Meinung war, dass Suspendierungen, Ausschlüsse und aus dem Hut gezauberte Auflösungen/Neugründungen keine angemessenen Maßnahmen in dieser Situation sind, wurde wieder unterstellt, Safeguarding nicht ernst zu nehmen. Eine Mehrheit der österreichischen Mitglieder stellte sich gegen dieses letztlich oberflächliche Vorgehen und betonte den notwendigen Zusammenhang von organisatorischer Aktivität und kollektiver sowie individueller Reflexion.
Es ist eine bittere Ironie, aber keineswegs zufällig, dass die PRMI-Führung sich als bürokratische Verteidigerin des sozialistischen Feminismus inszeniert, obwohl ihre Mitglieder selbst teils jahrzehntelang in den Führungsstrukturen des CWI dessen toxische interne Kultur gefördert haben, ohne dafür irgendwo Rechenschaft abzulegen. Die Methoden blieben gleich, nur das Vokabular hat sich geändert: früher wurde politische Kritik pauschal als „kleinbürgerlich-feministisch“ oder „akademisch“ abgekanzelt – nun wurde sie mit dem Verweis auf „Safeguarding“ abgewürgt. Gerade wegen unserer eigenen Fehler in der Vergangenheit bezüglich dieses unverzichtbaren Prinzips für den Aufbau einer revolutionären Organisation kritisierten wir die Art und Weise, wie die PRMI-Führung jegliche politische Kritik an ihrer politischen Entwicklung oder ihrem praktischen Vorgehen in die gleiche Kategorie wie unterdrückerisches Verhalten steckte und auch so sanktionierte. Wer Safeguarding gegen demokratische Debatte ausspielt, sabotiert beides.
Möglichkeiten, diese Praxis zu korrigieren, gibt es innerhalb des PRMI keine. Es existieren keine funktionierenden demokratischen Strukturen, keine Foren für ernsthaften politischen Austausch. Kein Wunder, dass das PRMI überall dort, wo der direkte Einfluss der bürokratischen Führungsclique nachlässt, bereits auseinanderzufallen beginnt. Ein Beispiel dafür ist die Atomisierung der LSP/PSL in Belgien, wo die Organisation in zahlreiche Kleingruppen zerbrochen ist. Gleichzeitig zeigt das Beispiel Österreich, wie die PRMI-Führung diesem Zerfall entgegenzuwirken versucht: nicht durch politische Klärung und demokratische Debatten, sondern auf formal-bürokratische Weise – durch Ausschlüsse, Suspendierungen und aufoktroyierte Neugründungen von Organisationen. Dieser Zustand des PRMI ist zugleich Ausdruck einer fehlenden politischen Basis und Perspektive und Ursache dafür, dass eine solche Basis unter diesen Bedingungen nie erreicht werden wird.
Keine Perspektiven weit und breit
Was stattdessen an „Analysen“ und Perspektivtexten präsentiert wird, besteht fast ausschließlich aus vereinzelten Beiträgen aus dem Vertrautenkreis der Führungsclique, deren Qualität stark variiert. Eine kohärente programmatische Orientierung oder auch nur erste Ansätze für den Aufbau einer revolutionären internationalen Organisation fehlen völlig. Wenn es überhaupt eine Einheitlichkeit in den Veröffentlichungen des PRMI gibt, dann die, dass die Frage der Notwendigkeit einer revolutionären Organisation systematisch unterbelichtet oder vollständig ignoriert wird.
Selbst die Texte zu Asien, die noch zu den besseren Publikationen des PRMI zählen, zeigen diese Schwäche deutlich. Der Artikel zur Jugendrevolte in Nepal und derjenige zu den Massenprotesten in Indonesien liefern zwar nützliche Informationen, doch sobald es um die Frage eines „Wegs vorwärts“ geht, springen die Analysen unvermittelt zu fertigen Losungen: Entweder wird die Notwendigkeit eines „revolutionary government“ verkündet, ohne beantworten, wie eine solche Regierung entstehen, welche Parteien sie tragen und auf welche Strukturen sie sich stützen soll, abgesehen von dem Verweis auf die potentielle Macht einer vereinten Arbeiter:innenklasse.[5] Oder – wie im Fall Indonesiens – werden die Gründung von Räten und Komitees kurzerhand als ausreichende Basis für „a new kind of people’s power“ proklamiert, ohne zu erklären, wie aus solchen spontanen Strukturen dauerhafte revolutionäre Gegenmacht werden soll.[6]
Was in all diesen Texten fehlt, ist die zentrale Lehre der erfolgreichen Russischen Revolution ebenso wie der zahlreichen gescheiterten Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts: die unumgängliche Notwendigkeit einer international organisierten revolutionären Partei. Räte, Komitees oder revolutionäre Übergangsregierungen entstehen in den meisten starken Massenbewegungen. Ob sie jedoch bestehen und siegreich sein können, hängt entscheidend davon ab, ob eine ausreichend verankerte, demokratisch-zentralistische, international organisierte Partei vorhanden ist, die in diesen Organen eine revolutionäre Rolle spielen kann. Trotzki und Lenin haben an zahlreichen Stellen klargestellt: Die revolutionäre Partei ist nur ein Faktor unter vielen, die über den Erfolg oder das Scheitern einer Revolution entscheiden – aber sie ist genau der Faktor, der in das Aufgabengebiet von selbsternannten Trotzkist:innen und Leninist:innen fällt.
Es versteht sich von selbst, dass diese Schwierigkeit nicht damit erledigt ist, im Stil des späten CWI die „Notwendigkeit der revolutionären Partei“ wie das Amen im Gebet an einen Artikel anzuhängen – es geht darum, aufzuzeigen, wie sie aus der aktuellen Situation und in den aktuellen Kämpfen aufgebaut werden kann. Welche organisatorischen Angebote gibt es in einer gegebenen Situation für Arbeiter:innen, Jugendliche und Unterdrückte? Worin bestehen die spezifischen Stärken und Schwächen dieser Organisationen? In welchen Fragen und Bereichen gibt es ein organisatorisches und programmatisches Vakuum? Wo gibt es Dynamiken und Potential, dieses Vakuum zu füllen? Welche konkreten organisatorischen Vorschläge können wir formulieren? Dass PRMI in seinen Analysen und Perspektiven diese Schlüsselfragen ausspart, ist kein Zufall: Die Unfähigkeit, eine eigene revolutionäre und demokratische Organisation aufzubauen, geht beim PRMI Hand in Hand mit der Unfähigkeit, deren Notwendigkeit in aktuellen Bewegungen und Kämpfen programmatisch und perspektivisch zu verankern.
Aufgabe eines „Projektes für eine revolutionär-marxistische Internationale“ wäre, Bewegungen und Kämpfen analytisch und organisatorisch weiterzuhelfen, indem das noch unentwickelte Bewusstsein über die Notwendigkeit revolutionärer politischer Organisierung geschärft wird – einer Organisierung, die die Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung bündelt und auf eine Verallgemeinerung im Kampf gegen den Kapitalismus orientiert. Stattdessen zieht sich das PRMI zunehmend darauf zurück, das bestehenden Bewusstsein in diesen Bewegungen zu reproduzieren. Statt den Bewegungen eine klare strategische Perspektive anzubieten, werden eklektisch Slogans, Parolen und Versatzstücke von Theorien, die in Bewegungen zirkulieren, in die eigene Arbeit hineinmontiert, ohne sie kritisch zu durchdringen. Dieses vorgeschobene „Ablegen des Sektierertums“ ist in Wahrheit nur die Kehrseite genau jener politischen Isolation, die das Sektierertum eigentlich kennzeichnet.
Wie Frantz Fanon in seiner Analyse der Rolle der Intellektuellen gerade in kolonialen Befreiungsbewegungen gezeigt hat, zeigt sich die Distanz der „revolutionären“ Intellektuellen zu den tatsächlichen Kämpfen oft gerade im verzweifelten Versuch, diese Distanz durch das bloße Wiederholen der Sprache der Bewegung zu überspringen. Doch, so Fanon, „wenn man ihnen zu sklavisch folgen will, entpuppt man sich oft als ein gewöhnlicher Opportunist, ja als ein Nachzügler.“[7]
Weil das PRMI den Bewegungen nichts Substanzielles anzubieten hat, das ihre Kämpfe strategisch voranbringen könnte, bleibt nur die Flucht nach vorn in eine sich ständig überschlagende Rhetorik. Nur ein Beispiel dafür ist die systematische Bezeichnung des Genozids in Gaza als „Holocaust“ oder „new Holocaust“ – und folgerichtig auch an der Gleichsetzung der deutschen Polizei mit der „Gestapo“, wenn diese gewaltsam gegen Gaza-Protestierende vorgeht.[8] Selbst wenn wir annehmen, dass es sich hier nicht um den Versuch handelt, durch effekthascherische Zuspitzung die eigene politische Orientierungslosigkeit zu übertünchen, bleibt die Frage: Welchen analytischen Mehrwert haben diese Gleichsetzungen für die Bewegung gegen den Genozid in Gaza? Die Frage hat nichts mit dem bürgerlichen Mythos von der „historischen Einzigartigkeit“ des Holocaust zu tun. Es geht vielmehr um die notwendige marxistische Analyse der sozialen, politischen und ökonomischen Grundlagen unterschiedlicher Genozide – als Voraussetzung, um daraus eine revolutionäre Strategie für den Kampf gegen sie abzuleiten.
Müssen wir hier wirklich erklären, dass der Holocaust ein völlig anders gelagerter Genozid war? Dass der Charakter des NS-Regimes ein anderer war als des heutigen israelischen? Der Holocaust entsprang einer kleinbürgerlichen faschistischen Massenbewegung, die vom deutschen Imperialismus im globalen Konkurrenzkampf instrumentalisiert wurde – nicht nur zur Ausschaltung imperialistischer Rivalen, sondern auch zur Zerschlagung der Sowjetunion und der revolutionären Arbeiterinnenbewegung im Inneren. Die Vernichtung der europäischen Jüd:innen war in diesem Kontext zwar von entscheidender Bedeutung, aber der Holocaust umfasste weit mehr: die Auslöschung allen „unwerten“ Lebens ebenso wie die vollständige Zerschlagung der politischen Opposition, insbesondere der sozialistischen und kommunistischen Strömungen – und zwar im Rahmen des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion als (wenn auch stalinistisch degenerierte) Systemalternative. Inwiefern gleicht diese historische Konstellation der Lage in Israel und Palästina? Dasselbe gilt für die Gleichsetzung der deutschen Polizei mit der Gestapo. Wenn man diesen Vergleich analytisch ernst nimmt, folgt daraus zwingend die Schlussfolgerung, dass Deutschland heute ein faschistischer Staat sei. Daraus müsste man wiederum ableiten, Untergrundnetzwerke aufzubauen, Fluchtrouten zu organisieren und den bewaffneten Kampf propagieren. Da das PRMI diese Konsequenzen jedoch nicht zieht, zeigen die Vergleiche nicht analytische Klarheit, sondern strategische Verwirrung.
Tatsächlich bewirken diese Formulierungen zweierlei:1. Sie tragen zur Verwirrung der Bewegung bei, indem sie historische und politische Konstellationen ununterscheidbar machen. 2. Sie verharmlosen im Vorbeigehen die Funktionsweise des bürgerlich-demokratischen Staates. Denn die tatsächlich skandalöse Wahrheit lautet: Der Kapitalismus braucht keinen Faschismus, um einen Genozid zu verüben oder massive Repression gegen Widerstand auszuüben. All das ist innerhalb der bürgerlichen „Demokratie“ möglich – wer das ignoriert, schürt Illusionen in ihre demokratischen Strukturen und in den bürgerlichen Staat selbst.
Weil das PRMI weder eine eigene Programmatik noch eine strategische Perspektive entwickelt, ersetzt es Analyse zunehmend durch rhetorische Effekte. Statt Bewegungen in ihrem Bewusstsein voranzubringen, indem es den Zusammenhang von Ausbeutung und Unterdrückung aufzeigt und diesen in eine Perspektive revolutionärer Organisierung übersetzt, macht sich das PRMI abhängig von den Stimmungen innerhalb der Bewegungen. Es übernimmt ihre Parolen und Begriffe unreflektiert, anstatt sie kritisch zu vermitteln und strategisch zu erweitern. Damit schwächt das PRMI genau jene Kämpfe, denen es hinterherläuft.
Opportunismus und Eklektizismus
Noch gravierender wird dieses Problem, wenn der Opportunismus und Eklektizismus des PRMI nicht nur seine Propaganda, sondern auch seine grundlegenden Analysen prägen. Ein besonders deutliches Beispiel liefert der mehr als ausführliche Artikel, der einen „marxist approach to the struggle for Palestinian liberation“ verspricht.[9] Dort baut das PRMI das ganze Dokument auf einem in Teilen der Gaza-Solidaritätsbewegung populären Konzept auf: dem Begriff des „Siedlerkolonialismus“. Israel wird als eine „peculiar form of settler-colonialism“ bezeichnet – eine Formulierung, die frappierend an die theoretische Ratlosigkeit des alten CWI gegenüber dem Charakter Chinas erinnert, welches man dann einfach „a peculiar form of state capitalism“ bezeichnete. Doch was der Begriff „Siedlerkolonialismus“ im Rahmen einer marxistischen Staats- und Wirtschaftstheorie konkret bedeuten soll, bleibt völlig unerklärt.
Die einflussreichste und bekannteste Verwendung dieses Begriffs stammt aus dem Buch „Settlers“ von J. Sakai. Dort wird argumentiert, dass das „Euro-Amerikanische Proletariat“ – also die Arbeiter:innenklassen der imperialistischen Zentren – aufgrund ihrer „Siedler-Natur“ inhärent konterrevolutionär seien und eine strategische Einheit mit dem Imperialismus bildeten. Sakai schreibt explizit:
„[Das] widerlegt die These, dass im Siedler-Amerika die „gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse“ die imperialistischen Widersprüche zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen bei der Frage der taktischen Einheit in ökonomischen Kämpfen überlagern. Dasselbe gilt für die These, dass eine vermeintliche ideologische Einheit mit der euro-amerikanischen ‚Linken‘ diese imperialistischen Widersprüche ebenfalls überlagern würde und dass sie daher – trotz ihrer eingestandenen Schwächen – als Verbündete der Unterdrückten gegen den US-Imperialismus anzusehen seien. Könnte es nicht vielmehr umgekehrt sein? Dass die euro-amerikanischen Arbeiter:innen und revisionistischen Linken trotz ihrer taktischen Widersprüche mit der Bourgeoisie in strategischer Einheit mit dem US-Imperialismus stehen?“[10]
Sakais rhetorische Frage lässt keine Zweifel über ihre Antwort zu. Wenn dies die Grundlage des vom PRMI verwendeten Begriffs „Siedlerkolonialismus“ ist, dann hat dieses Konzept – trotz seiner marxistischen Phraseologie – nichts mit einem genuinen, internationalistischen Marxismus zu tun. Sollte PRMI jedoch eine andere Definition meinen, bleibt es diese vollständig schuldig.
Weder wird geklärt, was „Siedlerkolonialismus“ im Rahmen einer marxistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsanalyse eigentlich bedeutet, noch welche strategischen Konsequenzen sich daraus ergeben sollen. Die theoretischen und praktischen Implikationen werden nicht diskutiert: Wer genau sind die „Settlers“ – nur die Bewohner:innen der Siedlungen, das gesamte israelische Proletariat oder eine „settler class“, wie sie für das Apartheid-Südafrika festgemacht wird? Und wie wird diese Kategorie der „settler class“ analytisch von den klassischen marxistischen Klassen-Kategorien Proletariat und Bourgeoisie abgegrenzt?
Statt diese Fragen zu klären, verweist der Artikel lediglich in einer Fußnote auf „verschiedene Arten von Siedlerkolonialismus“, die angeblich der israelisch-britische Marxist Moshe Machover darstellen würde. Machovers war Mitbegründer der trotzkistischen Organisation Matzpen in Israel. Auch wenn wir sicher nicht in allem mit ihm übereinstimmen, ist seine Analyse in dem zitierten Text um ein Vielfaches differenzierter und lehrreicher als das, was PRMI anbietet. Machover zeigt präzise auf, wie die Übernahme des Siedlerkolonialismus-Schemas die palästinensische Befreiungsbewegung selbst in eine analytische und politische Sackgasse geführt hat:
„Bis 1969 betrachtete die palästinensische nationale Befreiungsbewegung Palästina für alle Zeiten als die Heimat einer einzigen nationalen Gruppe: der palästinensischen Araber – es war ein arabisches Land. Angesichts der Realität kamen sie jedoch zu der Schlussfolgerung, dass die zionistischen Siedler nicht vertrieben werden konnten. Sie waren gekommen, um zu bleiben. Also hielten sie es für naheliegend, eine Lösung vorzuschlagen, die diese miteinbezieht. Doch da sie in einer nationalistischen Denkweise gefangen waren, konnten sie die Vorstellung nicht akzeptieren, dass sich im besetzten Teil Palästinas, in Israel, eine nationale Formation herausgebildet hatte – eine Siedler-Nation. Das ist nichts Einzigartiges – es gibt auch andere Siedler-Nationen in der Welt –, doch hier handelte es sich um eine Siedler-Nation, die sich noch im Prozess der Kolonisierung befand, was es noch schwerer machte, dies zu akzeptieren.
So bezog sich die PLO auf diese spezielle Siedler-Nation als eine religiöse Gemeinschaft – daher das Wort „säkular“. Das zukünftige Palästina sollte arabisch im nationalen Charakter sein, aber säkular: Es sollte allen Beteiligten gleiche religiöse Rechte und Religionsfreiheit garantieren – Juden, Christen und Muslimen.
Paradoxerweise übernahm die PLO, indem sie die Siedler nicht als neue Nation, sondern lediglich als Teil des Judentums betrachtete, implizit den diametral entgegengesetzten Standpunkt des Zionismus, der die Israelis ebenfalls nur als Teil des Judentums ansieht, nicht als neue Nation. Allerdings besagt die zionistische Ideologie, dass alle Juden weltweit eine Nation darstellen. Wir dürfen nicht vergessen, dass dies 1969 war – auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, und zweifellos war die PLO vom vietnamesischen Kampf gegen den Kolonialismus inspiriert, wenn auch unter ganz anderen Umständen. Doch die Inspiration und die Ideen, die sie aus Vietnam übernahmen, erwiesen sich als äußerst unheilvoll und führten in der Tat bald in die Katastrophe.“[11]
Die Differenz zu Moshe Machovers zitierter Analyse könnte größer kaum sein: Während Machover materialistisch zeigt, wie der unkritische Gebrauch des „Siedlerkolonialismus“-Schemas die palästinensische Befreiungsbewegung selbst in eine strategische Sackgasse mit katastrophalen Konsequenzen (schwarzer September 1970) geführt hat, wiederholt PRMI denselben Fehler – allerdings auf einer noch schwächeren theoretischen Grundlage. Statt eine materialistische Klassenanalyse des israelischen Staates und seiner sozialen Formationen vorzulegen, übernimmt PRMI unreflektiert Begriffe und Narrative, die es selbst nicht theoretisch fundiert. So bleibt der Eindruck zurück, dass das PRMI an dieser Stelle nicht von einer eigenen Analyse ausgeht, sondern auf Zuruf bestimmter aktivistischer Schichten ein Konzept übernimmt, dessen politische und theoretische Implikationen es selbst nicht durchdrungen hat. Die Folge ist eine doppelte Schwächung: 1. Die Bewegung gegen den Genozid in Gaza erhält keine klare Analyse, wie Imperialismus, nationale Unterdrückung und Klassenkämpfe zusammenhängen. 2. Gleichzeitig wird durch den unkritischen Begriffsimport zusätzliche Verwirrung in die Bewegung hineingetragen.
(Nationale) Unterdrückung und Klassenstandpunkt
Es ist offensichtlich, dass die Fehler des PRMI in den Fragen von nationaler Unterdrückung und Klassenanalyse eine Reaktion auf die entgegengesetzten Fehler des späten CWI darstellen. Es handelt sich dabei zweifellos um einen zentralen Problemkomplex für Marxist:innen in der aktuellen Periode intensivierter imperialistischer Konkurrenz und neokolonialer Ausbeutung: Wie können Kämpfe gegen nationale, neokoloniale und imperialistische Unterdrückung erfolgreich sein? Welche gesellschaftlichen Kräfte können diese Kämpfe auf der Seite der unterdrückten Nationen führen? Und welche Rolle spielen die Arbeiter:innenklassen in den Unterdrückernationen und imperialistischen Zentren?
In seiner fühen Phase hatte das CWI entscheidende Beiträge zu diesen Problemen geliefert. Während etwa in Irland die meisten linken Strömungen im Kampf gegen den britischen Imperialismus auf kleinbürgerlich-nationalistische und sektiererische Kräfte wie die IRA setzten, stellte das CWI die Einheit von katholischen und protestantischen Arbeiter*innen ins Zentrum. Diese Einheit wurde aber nicht einfach als gegeben vorausgesetzt: es war klar, dass sie erkämpft werden musste. Das bedeutete einen konsequenten politischen Kampf gegen den britischen Imperialismus und seine unionistischen Stellvertreter in Nordirland, aber auch einen konkreten Appell an die nordirisch-protestantischen Arbeiter*innen, mit „ihren“ britischen Herrschenden zu brechen. Gleichzeitig bedeutete es die Kritik des kleinbürgerlichen und ebenso pro-kapitalistischen irischen Nationalismus von IRA, Sinn Fein & Co sowie ihrer terroristischen Methoden. Nur auf dieser Basis sei ein gemeinsamer Kampf der gesamten Arbeiter*innenklasse für ihre gemeinsamen Interessen möglich: ein Leben in Frieden und Wohlstand, frei von nationaler Unterdrückung und kapitalistischer Ausbeutung, mit garantierter nationaler und religiöser Selbstbestimmung für alle.[12]
Wie wir jedoch schon an anderer Stelle am Beispiel des sozialistischen Feminismus dargestellt haben, gab es im CWI ebenso die Tendenz, um der „Einheit“ der Arbeiter:innenklasse willen Fragen spezifischer Unterdrückung hintanzustellen. Wir zitieren aus dem betreffenden Statement:
„Der Zugang zu Kämpfen gegen spezifische Unterdrückung war davon geprägt, diese durch „soziale“ Forderungen in den „eigentlichen“ Klassenkampf zu überführen – worunter man ökonomische Kämpfe um höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen etc. verstand. Das war einerseits nicht falsch: der Kampf um bessere Lebensbedingungen der gesamten Arbeiter:innenklasse kann rassistischer Propaganda den Boden entziehen. Doch andererseits führte diese Vorstellung von „Klasseneinheit“ durch die Konzentration auf das, was „alle Arbeiter:innen“ betrifft, dazu, von allem abzusehen, was nicht alle gemeinsam haben: z.B. Erfahrungen spezifischer Unterdrückung aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung usw. Entsprechend wenig gelang es, sich in migrantischen Schichten zu verankern und Politik aus ihrer Perspektive zu formulieren. Adressat des antirassistischen Programms waren weniger Betroffene selbst, sondern „einheimische“ Arbeiter:innen, denen man erklärte, Rassismus sei Ablenkung von sozialen Problemen. Doch für Migrant:innen ist der Rassismus keine Ablenkungstaktik von ihren eigentlichen Problemen – sie sind das direkte Ziel dieser Taktik, er ist ihr unmittelbares Problem.
Es braucht ein marxistisches Programm aus der Perspektive der rassistisch unterdrückten Schichten der Klasse für den Kampf gegen die Unterdrückung, die sie selbst tagtäglich erleben. Von der Geschichte der revolutionären jüdischen Arbeiter:innenbewegung über antikoloniale Kämpfe, die US-Bürgerrechtsbewegung bis zu Gastarbeiter:innenstreiks in Deutschland und der Sans Papier-Bewegung in Frankreich gibt es dafür zahlreiche historische Lehren. Sie zeigen auch, dass gerade solche Kämpfe Solidarität in der „Mehrheits“-Arbeiter:innenklasse erzeugen und diese der rassistischen Propaganda entreißen können.
Klasseneinheit ist also nicht der „größte gemeinsame Nenner“, der übrig bleibt, sobald man alles andere wegstreicht, was die eigene Lebenserfahrung außerhalb des Lohnzettels ausmacht. Im Gegenteil: wirkliches Klassenbewusstsein und tatsächliche Einheit der Arbeiter:innenklasse besteht darin, alle Formen von Unterdrückung politisch zu bekämpfen und diesen Kampf auf den Sturz des Kapitalismus und seines Staates zu orientieren.“[13]
Das ist die zentrale Lehre aus Lenins Schrift Was tun?, die gewissermaßen die Geburtsstunde des Bolschewismus darstellt. Diese Lehre gilt es zu aktualisieren und die Einseitigkeit im bisherigen Verständnis zu überwinden. „Wahrhaftes Klassenbewusstsein“ ist für Lenin nicht nur, sich als „Klasse für sich“ zu verstehen und gegen die Bourgeoisie für konkrete Verbesserungen für die Klasse zu kämpfen – so wichtig dieser Aspekt selbstverständlich ist. Es ist vor allem ein „wahrhaft politisches“ Bewusstsein, das nicht nur die eigene unmittelbare Unterdrückung reflektiert, sondern ein allseitiges Bewusstsein über sämtliche Missstände, die der Kapitalismus auf allen Ebenen hervorbringt. So schreibt er:
„Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Mißbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewußtsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt anbrennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und das Bewußtsein der Arbeiterklasseausschließlich oder auch nur vorwiegend auf sie selber lenkt, der ist kein Sozialdemokrat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden mit der absoluten Klarheit […] der durch die Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbeziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft.“[14]
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Lenin hier fordert, den Klassenstandpunkt aufzugeben, im Gegenteil. Der Klassenstandpunkt ist für Lenin nicht das Starren auf die eigenen Füße, sondern sozusagen die Perspektive, von der aus alle Vorgänge in der Gesellschaft beobachtet, studiert und analysiert werden sollen.[15] Die Vorstellung, dass man ein solcherart politisches Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse „aus ihrem ökonomischen Kampf sozusagen von innen heraus entwickeln könne, d. h. ausgehend allein (oder zumindest hauptsächlich) von diesem Kampf, basierend allein (oder zumindest hauptsächlich) auf diesem Kampf“ hält Lenin für den „Grundirrtum aller Ökonomisten“. Ein solches Bewusstsein kann den Arbeiter:innen, in einer oftmals missverstandenen Formulierung, „nur von außen gebracht werden“. Damit meint Lenin nicht, dass bürgerliche Intellektuelle den Arbeiter:innen die Welt erklären sollen. Er meint, wie er sofort anschließt: „das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.“ Das von außen ist also nicht darauf bezogen, dass eine Elitetruppe von außerhalb der Klasse eingreift, sondern dass sich die Klasse außerhalb des ökonomischen Kampfes eine politische Organisation schaffen muss, die sie in die Lage versetzt, nicht nur den ökonomischen Stellungskrieg gegen die Bosse und die Polizei zu führen, sondern die gesellschaftliche Gesamtsituation zu analysieren und das ganze System ins Visier zu nehmen. Deswegen hält Lenin auch die „Predigt“ der Ökonomist:innen, „daß der ökonomische Kampf das weitest anwendbare Mittel zur Einbeziehung der Massen in die politische Bewegung sei“, für „überaus schädlich und ihrer praktischen Bedeutung nach so überaus reaktionär.“[16]
So manchen heutigen „Marxist:innen“ bereiten diese Aussagen Lenins großes Unbehagen. Sie schummeln sich verlegen daran vorbei, indem sie behaupten, Lenin hätte in Was tun? in die eine Richtung übertrieben, um die Schwäche aus der anderen Richtung auszubalancieren (so wurde die Schrift im CWI behandelt), oder sie schweigen sich komplett darüber aus – immer aus der Angst vor dem Vorwurf, man würde auf diese Weise das Klassenbewusstsein mit „kleinbürgerlichen“ Themen verunreinigen oder vor dem „Liberalismus“ oder gar der „Postmoderne“ einknicken. Solchen „Marxist:innen“ richtet Lenin unmissverständlich aus:
„Wer in dieser Taktik eine Verdunkelung des Klassenbewußtseins des Proletariats und ein Kompromiß mit dem Liberalismus erblickt, […] zerrt damit die Sozialdemokratie zum „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung" und kapituliert vor dem Liberalismus, denn er verzichtet darauf, sich aktiv in jede „liberale" Frage einzumischen und seine, die sozialdemokratische, Stellung zu dieser Frage zu bestimmen.“[17]
Die Bedeutung dieser Ausfürhungen für heutige Kämpfe gegen spezifische Unterdrückung (Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit usw.) im Zusammenhang mit dem allgemeinen Klassenkampf, der nach Lenin immer ein Kampf ums Ganze sein muss, kann kaum überschätzt werden. Lenin führt das auch explizit aus. Mit einem solchermaßen politischen Klassenbewusstsein
„wird auch der unentwickeltste Arbeiter verstehen oder fühlen, daß der Student und der Sektierer[18], der Bauer und der Schriftsteller von derselben finsteren Macht verhöhnt und mißhandelt werden, die ihn selber auf Schritt und Tritt unterdrückt, und sobald er das fühlt, wird er von dem Willen, unwiderstehlich von dem Willen beseelt werden, auch selbst zu reagieren, wird es dann verstehen, heute den Zensoren Katzenmusik zu machen, morgen vor dem Hause des Gouverneurs, der einen Bauernaufstand unterdrückt hat, zu demonstrieren, übermorgen den Gendarmen im Priesterrock, die die Arbeit der Heiligen Inquisition verrichten, eine Lektion zu erteilen usw.“[19]
Erst all diese Kämpfe zusammen ergeben den politischen Klassenkampf, durch den die Arbeiter:innenklasse die Herrschende Klasse und ihr System stürzen kann. Man kann hier nach Belieben heutige Kämpfe, z.B. gegen die Klimakrise, einfügen.
Insbesondere sind diese Gedanken jedoch mit dem Problemkomplex Imperialismus-Antiimperialismus verbunden. Denn je mechanischer der Zugang des späten CWI zu Fragen der „Klasseneinheit“ wurde, desto abstrakter wurde er auch in diesem Zusammenhang. Man lehnte zwar korrekterweise Zugänge ab, die wie z.B. Sakais Theorie des „Siedlerkolonialismus“, die Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Zentren ausdrücklich abgeschrieben hatten. Aber dem stellte man nur die „gemeinsamen Klasseninteressen“ der Arbeiter:innen in den Unterdrückernationen und den unterdrückten Nationen entgegen. Das musste notwendigerweise völlig abstrakt wirken, insbesondere für jene Schichten, die erleben müssen, wie ihre Unterdrückung von den in diesem Sinne privilegierteren Schichten der Klasse toleriert oder sogar unterstützt wird. Das ist das Ergebnis eines Verständnisses von „Klasseneinheit“, das sich nur auf die allgemeinsten ökonomischen Kategorien gründet – insbesondere in der Epoche imperialistischer Unterdrückung und Kriege.
Trotzki hat diese Problematik bereits 1914 in Der Krieg und die Internationale weit differenzierter analysiert. Angesichts der massenhaften Unterstützung der Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Ländern für den Ersten Weltkrieg beschreibt er „die Abhängigkeit der Klassenbewegung des Proletariats, insbesondere seiner ökonomischen Kämpfe, von Umfang und Erfolgen der imperialistischen Politik des Staates“[20]. Trotzki analysiert:
„In dem Maße, als der Kapitalismus vom nationalen Boden auf einen international-imperialistischen übertrat‚ geriet die nationale Produktion und mit ihr der ökonomische Kampf des Proletariats in unmittelbare Abhängigkeit von jenen Bedingungen des Weltmarktes, die mit Hilfe der Dreadnougths und Mörser gesichert werden. Mit anderen Worten: im Gegensatz zu den grundsätzlichen Interessen des Proletariats, in ihrem vollen historischen Umfang genommen, erwiesen sich die unmittelbaren beruflichen Interessen seiner einzelnen Schichten in direkter Abhängigkeit von den Erfolgen oder Misserfolgen der äußeren Politik der Regierung.“[21]
Trotzki erkennt also, dass in der imperialistischen Epoche die grundlegenden gemeinsamen Interessen des Weltproletariats keineswegs deckungsgleich mit den unmittelbaren Interessen bestimmter Schichten oder nationaler Arbeiter:innenklassen sind. Das bedeutet nicht, dass die Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Zentren eine „strategische Einheit mit dem Imperialismus“ haben, wie etwa Sakais Theorie des „Siedlerkolonialismus“ behauptet. Aber es bedeutet: Einen Klassenstandpunkt in anti-imperialistischen bzw. anti-kolonialen Kämpfen zu beziehen heißt nicht einfach nur, an die gemeinsamen „grundsätzlichen Interessen“ der Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Zentren und jener in den unterdrückten Ländern bzw. Gebieten zu appellieren. Denn dadurch wird ignoriert, dass sich die unmittelbaren Interessen verschiedener Schichten bzw. nationaler Arbeiter:innenklassen in diesen Konflikten sehr wohl widersprechen können – und entsprechende Appelle an die „gemeinsamen Interessen“ notwendigerweise hohl und abstrakt wirken müssen. Nur Reformist:innen und Ökonomist:innen können sich empören, wenn man wie Trotzki darauf hinweist, dass die Arbeiter:innenklassen der imperialistischen Zentren am Erfolg „ihres“ Imperialismus einzelne unmittelbare Interessen knüpfen. Tatsächlich besteht auch hier der Grundfehler in der oberflächlichen Vorstellung von Klasse als einer rein ökonomischen Kategorie und von Klassenkampf als Kampf um den Mehrwert aus der kapitalistischen Produktion. Denn dadurch wird der Kampf der Klasse an die Entwicklung der „eigenen“ Produktivkräfte gekoppelt. Trotzki zeichnet die Entwicklung dieses Missverständnisses und sein Schicksal in der imperialistischen Epoche nach:
„Solange der Kapitalismus auf nationaler Grundlage verblieb, konnte sich das Proletariat an der Mitwirkung der Demokratisierung der politischen Beziehungen und der Entwicklung der Produktivkräfte mittels seiner parlamentarischen, kommunalen und sonstigen Tätigkeit nicht entziehen […]. Soweit aber die kapitalistischen Staaten aus nationalen Gebilden zu imperialistischen Weltstaaten werden, kann das Proletariat diesem Imperialismus keine Opposition entgegensetzen auf Grund des sogenannten Minimalprogramms, das seiner Politik im Rahmen des Nationalstaates die Richtung gebeben hat. Auf der Grundlage eines Kampfes um Tarifverträge und Sozialgesetzgebung ist das Proletariat außerstande, die gleiche Energie gegen den Imperialismus zu entwickeln, wie es dies gegen den Feudalismus getan hat. Indem es auf den veränderten kapitalistischen Grundlagen seine alte Methode des Klassenkampfes – der ständigen Anpassung an die Bewegung des Marktes – anwendet, gerät es selbst, materiell und ideell, in Abhängigkeit vom Imperialismus.“[22]
Hier formuliert Trotzki eine zentrale Lehre für die Frage des Klassenkampfs in den imperialistischen Zentren: Solange er auf der Grundlage von ökonomischen Tagesforderungen geführt wird, kann die Abhängigkeit vom eigenen Imperialismus nicht gebrochen werden. Im schlimmsten Falle wird sie sogar verstärkt, wie Trotzki an der deutschen Sozialdemokratie und den Gewerkschaften 1914 zeigt. Denn diese knüpften – in ihrer ökonomistischen und reformistischen Logik nicht zu unrecht – unmittelbare Verbesserungen für die deutschen Arbeiter:innen an den militärischen Erfolg des deutschen Imperialismus im Krieg.
Es stimmt, dass im Ersten Weltkrieg – und in unterschiedlicher Form auch in späteren imperialistischen Kriegen – die Unterstützung des Proletariats für „seinen“ Imperialismus abnahm, je offensichtlicher der Raubzug der eigenen Herren scheiterte, von dem man sich ein paar Krümel erhofft hatte. Daran knüpfte sich die Taktik der Bolschewiki in den Kriegsjahren.[23] Keineswegs bedeutete dies aber automatisch die entsprechende Solidarität mit den vom eigenen Imperialismus Unterdrückten. Sogar in der russischen Februarrevolution gab es in der Arbeiter:innenklasse und der Bauernschaft noch die weit verbreitete Hoffnung, durch den Sturz des Zaren den Krieg effektiver fortführen zu können. Der russische Imperialismus wurde erst durch die Oktoberrevolution und die entscheidende Rolle der Bolschewiki gestürzt. Das war nur möglich, weil die Bolschewiki (unter dem Einfluss Trotzkis) die „Tagesforderungen“ Land, Brot und Frieden als die unmittelbaren Aufgaben der sozialen Revolution verstanden, die mit jedem Imperialismus bricht. In dem zitierten Text von 1914 weist Trotzki bereits darauf hin:
„Dem Imperialismus seine revolutionäre Kraft entgegenstellen, kann das Proletariat nur unter dem Banner des Sozialismus als einer unmittelbaren Aufgabe. Die Arbeiterklasse erweist sich umso machtloser gegen den Imperialismus, je länger ihre alten mächtigen Organisationen auf dem Boden der alten possibilistischen Taktik verbleiben; die Arbeiterklasse wird übermächtig gegen den Imperialismus, wenn sie den Kampfesweg der sozialen Revolution betritt.“[24]
Die Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Ländern – sei es Österreich, die USA oder Israel – sind also weder die strategischen Verbündeten ihres eigenen Imperialismus, noch sind sie die Heilsbringer der Unterdrückten in den neokolonialen Ländern, auf deren Wohlwollen diese Unterdrückten angewiesen sind. Ja, die Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren haben das grundsätzliche Interesse und die historische Verantwortung, dem eigenen Imperialismus ihre revolutionäre Kraft entgegenzustellen – doch die Geschichte der antikolonialen Kämpfe von Angola bis Vietnam zeigt auch, dass sie dies meist nur in dem Maße tun, wie ihr Imperialismus bereits von diesen Kämpfen geschwächt wurde. Undenkbar wäre der französische Mai 1968 ohne den zeitgleich andauernden Kampf des algerischen Volkes gegen die französische Kolonialmacht, sowie deren Niederlage in Vietnam nur wenige Jahre zuvor. Unmöglich wäre die portugiesische Nelkenrevolution 1974 ohne den antikolonialen Kampf in Angola. Ja, Kämpfe gegen imperialistische und neokoloniale Unterdrückung benötigen die Unterstützung der Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren – doch um ihre Kraft entfalten zu können, benötigt diese Unterstützung noch vielmehr das Beispiel und die lebendige Erfahrung des kompromisslosen Kampfes der national und kolonial Unterdrückten. Das Programm und auch die Taktik gegen nationale und neokoloniale Unterdrückung kann deswegen nicht vom gegenwärtigen Bewusstsein der Arbeiter:innenklassen in den Unterdrückerländern bzw. -nationen ausgehen. Beide müssen vom Standpunkt der Interessen der Unterdrückten aus formuliert werden.
In Bewegungen gegen imperialistische bzw. neokoloniale Unterdrückung einen wirklichen Klassenstandpunkt zu beziehen, muss für Marxist:innen also zweierlei bedeuten. Erstens: Im Kampf der Unterdrückten selbst die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse von allen kleinbürgerlich-nationalistischen oder gar feudal-reaktionären Kräften zu verteidigen und im Sinne der Theorie der Permanenten Revolution ihren Führungsanspruch als einzig wirklich revolutionäre Kraft durchzusetzen – vor allem durch den Aufbau eigener revolutionärer Organisationen. Zweitens: In den imperialistischen Zentren das Programm für die Niederlage des „eigenen“ Imperialismus und für die Befreiung der von ihm Unterdrückten auf allen Ebenen in die Kämpfe der Arbeiter:innenklasse zu tragen. Dies ist notwendigerweise ein Minderheitenprogramm, bis das Kräfteverhältnis durch die Stärke des Kampfes der Unterdrückten kippt. An einem solchen Punkt kann es aber zu einem zentralen Hebel der proletarischen Revolution in den imperialistischen Zentren werden – und damit die grundsätzlichen gemeinsamen Interessen der weltweiten Arbeiter:innenklassen konkret mit ihren unmittelbaren Tagesinteressen vermitteln.
Wir haben an dieser Stelle nur einige Aspekte des Zugangs zu Fragen von Klasseneinheit und nationaler Unterdrückung von Lenin und Trotzki skizziert und andiskutiert. Unserer Einschätzung nach sind die Tiefe und die Konsequenzen dieses Zugangs noch lange nicht ausreichend erfasst und aktualisiert worden. Im Gegenteil sehen wir vor allem auf der revolutionären Linken eher eine theoretische Verflachung, die sich sowohl in opportunistischer Beliebigkeit wie auch in sektiererischem Dogmatismus äußert.[25]
Ausblick: Vier Lehren und die Aufgabe von vorwärts
Die vorangegangenen Ausführungen haben versucht, aus konkreten Streitpunkten und Erfahrungen der letzten Jahre einige grundlegendere Analysen zu formulieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien darüber hinaus an dieser Stelle vier konkrete Lehren angeführt, die wir für unsere künftige politische Praxis mitnehmen:
- Die erste Lehre betrifft das Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung. Der Kapitalismus schafft keine homogene Arbeiter:innenklasse, sondern eine plural zusammengesetzte Klasse, die auf vielfältige Weise in die kapitalistische Produktionsweise eingebunden ist oder von ihr ausgeschlossen wird. Wenn wir die Arbeiter:innenklasse als das revolutionäre Subjekt ernst nehmen, dürfen wir Unterdrückungsverhältnisse nicht als „Nebenwidersprüche“ behandeln, sondern müssen sie ins Zentrum einer marxistischen Strategie stellen. Die Kämpfe gegen Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und koloniale Herrschaft sind keine Zusatzfelder, sondern bestimmen entscheidend die heutigen Bedingungen des Klassenkampfes.
Der Strukturwandel des Kapitalismus zwingt uns, diese Analyse zu aktualisieren: In den entwickelten kapitalistischen Zentren haben die reproduktiven Systeme – Gesundheit, Bildung, Pflege, Sozialsysteme – enorme Bedeutung gewonnen. Hier liegt ein wachsender Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, und genau diese Bereiche sind geprägt von Schichten, die aufgrund tradierter Geschlechterrollen, globaler Arbeitsteilung und Migrationsprozessen überproportional weiblich und migrantisiert sind. Gleichzeitig hat sich die industrielle Produktion in großen Teilen in den globalen Süden verlagert, wo das Proletariat in einer doppelten Unterdrückung lebt: ausgebeutet durch lokale Kapitalist:innen und gleichzeitig unterdrückt durch imperialistische und neokoloniale Strukturen.
Eine marxistische Strategie, die diesen Realitäten nicht Rechnung trägt, kann weder die Kämpfe der Gegenwart noch die Aufgaben einer revolutionären Organisation erfassen. Ausbeutung und Unterdrückung können nur gemeinsam bekämpft werden – oder überhaupt nicht. - Daraus folgt unmittelbar eine zweite Lehre: sozialistischer Feminismus und Safeguarding müssen zentrale Prinzipien des Organisationsaufbaus sein. Wenn wir ernst nehmen, dass die Zukunft des Klassenkampfs in entscheidendem Maß in den Händen jener Schichten liegt, die in den reproduktiven Bereichen des Kapitalismus, in prekären Arbeitsverhältnissen und in Bewegungen gegen verschiedene Formen spezifischer Unterdrückung kämpfen, dann müssen diese Schichten sich heute in unserer Organisation so frei, sicher und handlungsfähig wie möglich fühlen können. Safeguarding ist dabei keine „Nebenaufgabe“ oder eine Frage individueller Sensibilität, sondern eine politische Notwendigkeit: Nur wenn wir Strukturen schaffen, die sexuellen Übergriffe, diskriminierendem Verhalten und Machtmissbrauch so weit wie möglich vorbeugen bzw. einen konsequenten und betroffenenzentrierten Umgang damit schaffen, können wir jene Menschen organisieren und halten, die für unsere Perspektive einer revolutionären Internationale unverzichtbar sind. Sozialistischer Feminismus darf sich daher nicht auf abstrakte Proklamationen beschränken oder als Vorwand für bürokratische Manöver missbraucht werden, sondern muss sich in der gelebten Organisationskultur ausdrücken. Die Fehler, die CWI, ISA und auch wir selbst in der Vergangenheit im Umgang mit Vorfällen gemacht haben, dürfen sich nicht wiederholen.
- Die dritte Lehre betrifft die Aktualität der „doppelten Aufgabe“ – ein Konzept, das vom CWI in den 1990er Jahren entwickelt wurde. Es reicht nicht aus, kleine revolutionäre Organisationen oder „reine Propagandagruppen“ aufzubauen, die im besten Fall politische Kommentare liefern, im schlimmsten Fall aber in Isolation verharren. Die entscheidende Frage ist, wie wir dazu beitragen können, die Arbeiter:innenbewegung als Ganze zu reorganisieren – und vor allem ihre politischen Ausdrucksformen, die auf globaler Ebene viel vielfältiger, fluider und situationsangepasster sein werden müssen als das schlichte Modell „neuen Arbeiter:innenpartei“. Revolutionäre Organisationen müssen nützlich sein: Sie müssen zeigen, dass sie konkrete Kämpfe voranbringen können, dass sie Strukturen aufbauen, die die Beteiligten selbst ermächtigen. Projekte wie „Sozial, aber nicht blöd!“ zeigen im Kleinen, wie eine revolutionäre Organisation verankert werden kann, wenn sie praxisorientierte Strukturen schafft, die zugleich Kämpfe organisieren und Bewusstsein entwickeln. Ohne diese Verankerung bleiben selbst zahlenmäßig große Organisationen politische Propagandagruppen – unfähig, die Dynamik von Kämpfen wirklich zu beeinflussen.
- Die vierte Lehre betrifft das Verhältnis von Demokratie, Zentralismus und Parteiaufbau. Es kann nicht sein, dass eine marxistische Organisation sich mit Prinzipien wie „völlige Freiheit der Debatte“ und „jederzeitige Abwählbarkeit von Führungspersonen“ schmückt – und diese Prinzipien dann jedesmal, sobald sie auch nur auf den harmlosesten Prüfstand geraten, über Bord geworfen werden. Echte politische Einheit kann nicht durch Loyalitäten oder administrative Maßnahmen erzwungen werden, sondern nur durch lebendige, offene Debatten, in denen Minderheitenrechte garantiert sind und strategische Konflikte wirklich ausgetragen werden. Erst eine solche innere Demokratie ermöglicht die Entstehung einer tatsächlichen politischen Einheit – und nur auf dieser Grundlage kann ein effektiver internationaler Zentralismus aufgebaut werden. Umgekehrt gilt: Nur ein solcher demokratisch verankerter Zentralismus kann die internationale Debatte und gemeinsame Handlungsfähigkeit sichern, die in einer globalisierten kapitalistischen Welt notwendig sind. Die Geschichte von CWI, ISA und PRMI zeigt, dass Organisationen, die diese Verbindung nicht schaffen, zwangsläufig zwei falsche Tendenzen hervorbringen: bürokratisch-zentralistische Erstarrung und föderalistische Fragmentierung.
Diese Gefahren hängen auch unmittelbar mit der Frage von Parteikultur und Parteiaufbau zusammen. Es stimmt zwar, wenn Trotzki betont, dass es keine Revolutionär:innen ohne Opferbereitschaft geben kann – doch diese Opferbereitschaft kann nur aus eigener Überzeugung und Vertrauen in die Organisation und ihre Politik entstehen. Sie kann nicht verlangt oder verordnet werden. „Activist Burnout“ ist ein reales Problem, besonders für revolutionäre Organisationen, die unter nicht-revolutionären Umständen arbeiten. Es ist das Produkt von einer letztlich unpolitischen Herangehensweise an Praxis und Perspektiven: Aus Mangel an überzeugenden politischen Perspektiven und einer entsprechenden Einteilung der Ressourcen und Planung entlang dieser Perspektiven entsteht ein Hyperaktivismus, der sich einbildet, überall gleichzeitig sein zu müssen – weil ja überall etwas passieren könnte.
In der Folge ist man dazu verdammt, immer nur zu reagieren, anstatt eigene politisch-praktische Akzente zu setzen. Mit politischer Flexibiliät hat dieser Hyperaktivismus nichts zu tun, im Gegenteil entsteht er aus der Unfähigkeit, Perspektiven anzupassen. Es ist nur logisch, dass ganze Generationen von Aktivist:innen in diesem Hyperaktivismus ausbrennen: Man macht mit, solange man kann, „interveniert“ hier und dort, ohne das Gefühl zu haben, dass die eigene Arbeit, der eigene Zeitaufwand, die eigene Opferbereitschaft einem klar definierten politischen (Teil)Ziel im Rahmen einer bestimmten Perspektive zugute kommt. Bei Aktivitäten wie dem Zeitungsverkauf ersetzt das Pflichtgefühl gegenüber der Organisation die politische Überzeugung auf der individuellen Ebene, auf der organisatorischen Ebene wird das Mittel (der Verkauf von Material) zum Zweck und Indikator für den Erfolg einer Aktivität. Mit einer solchen Praxis ist der Aufbau einer gesunden revolutionären Organisation unmöglich.
Opferbereitschaft kann nicht Selbstaufgabe bedeuten. Bolschewismus, wie wir ihn verstehen, ist Bolschewismus ohne Burnout. Nicht, weil wir von unseren Mitgliedern einfach generell „weniger“ verlangen wollen, sondern weil wir wissen, wie unfruchtbar es ist, Mitglieder zu bestimmten Aktivitäten zu überreden, von denen sie nicht überzeugt sind. Nicht, weil wir die Notwendigkeit professioneller Revolutionär:innen leugnen, sondern weil wir wissen, dass ein Studierender ohne Betreuungspflichten andere Zeitressourcen zur Verfügung hat als eine berufstätige alleinerziehende Mutter – und beide auf ihre Weise und ihren Möglichkeiten entsprechend an der Parteiarbeit teilnehmen können müssen.
All diese Lehren bilden zusammen den Ausgangspunkt unserer eigenen Arbeit. Wir wollen eine Organisation aufbauen, die Theorie, Strategie und Praxis wieder miteinander verschaltet: die die Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung als Einheit begreift, ihre Nützlichkeit in realen Auseinandersetzungen beweist und eine internationale Struktur entwickelt, die demokratische Debatte und koordinierte Aktion verbindet. Das bedeutet auch, uns die Zeit und den Raum für ernsthafte Perspektivenarbeit zu nehmen – nicht in Form einer Sammlung von tagespolitischen Kommentaren oder vagen Prognosen getarnt als „Perspektivendokument“, sondern als grundsätzliche Klärung der Bedingungen, Möglichkeiten und Strategien einer revolutionären Umwälzung im 21. Jahrhundert.
Wir stehen damit vor einer Aufgabe, die an historische Momente wie die Entstehung des CWI in den 1970er Jahren erinnert, als es ebenfalls keine Strömung gab, die glaubwürdig von sich behaupten konnte, den revolutionären Marxismus international zu repräsentieren. Texte wie Trotzkis Übergangsprogramm von 1938 oder Ted Grants Programm der Internationale von 1970 zeigen, wie in solchen Situationen Orientierung geschaffen werden kann: durch geduldige Analyse, das Ziehen von Lehren aus der Geschichte und die Formulierung von Perspektiven, die über den Tag hinausweisen.
Diesen Anspruch greifen wir auf – nicht, um die Vergangenheit zu kopieren, sondern um von ihr auszugehen und sie zu überwinden. vorwärts will dabei nicht nur eine weitere Gruppe unter vielen sein, sondern ein Projekt, das darauf abzielt, die politische und organisatorische Grundlage für eine neue revolutionäre Internationale neu zu erarbeiten. Das bedeutet, dass wir Fehler anerkennen, Strukturen aufbauen, die Diskussion ermöglichen, und gemeinsam mit anderen Strömungen und Aktivist:innen daran arbeiten, die fatale programmatische und organisatorische Leere zu füllen, die auf der revolutionären Linken derzeit herrscht.
[1] Vgl. unsere Stellungnahme: https://www.slp.at/artikel/aus-isaslp-wird-vorw%C3%A4rts-11393
[2] Vgl. unsere Stellungnahmen: https://www.slp.at/artikel/schwere-fehler-unserer-organisation-im-bereich-des-safeguardings-bez%C3%BCglich; https://www.slp.at/artikel/lernen-im-vorw%C3%A4rtsgehen-11392; https://www.slp.at/artikel/aus-isaslp-wird-vorw%C3%A4rts-11393
[3] https://www.slp.at/artikel/lernen-im-vorw%C3%A4rtsgehen-11392
[4] https://www.slp.at/artikel/lernen-im-vorw%C3%A4rtsgehen-11392
[5] https://revolutionarymarxism.com/nepals-gen-z-rise-up/
[6] https://revolutionarymarxism.com/indonesia-explodes-in-revolt/
[7] Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S.190.
[8] https://revolutionarymarxism.com/strike-against-gaza-holocaust-shut-down-the-system-of-genocide/; https://revolutionarymarxism.com/its-a-new-holocaust-stop-the-genocide-in-gaza/; https://revolutionarymarxism.com/sumud-flotilla-sets-out-as-arab-rulers-bury-heads-in-the-sand/
[9] https://revolutionarymarxism.com/marxist-approach-to-the-struggle-for-palestinian-liberation/#elementor-toc__heading-anchor-1
[10] Unsere Übersetzung. Original: „[It] disproves the thesis that in settler Amerika "common working class interests" override the imperialist contradictions of oppressor and oppressed nations when it comes to tactical unity around economic issues. The same applies to the thesis that supposed ideological unity with the Euro-Amerikan "Left" also overrides imperialist contradictions, and hence, even with their admitted shortcomings, they are supposed allies of the oppressed against U.S. Imperialism. Could it be the other way around? That despite their tactical contradictions with the bourgeoisie, that Euro-Amerikan workers and revisionistic radicals have strategic unity with U.S. Imperialism?“ - J. Sakai: Settlers. The Mythology of the White Proletariat. Chicago: Morning Star Press 1989, S.164.
[11] Unsere Übersetzung. Original: „Until 1969, the Palestinian nationalist movement regarded Palestine as forever the homeland of one national group: the Palestinian Arabs - it was an Arab country. However, they came to the conclusion, in view of the actual reality, that the Zionist settlers could not be dislodged. They are there to stay. So they reasonably thought that they should propose a solution that would incorporate them. But, being stuck in a nationalist mindset, they could not accept the idea that what had crystallised in the occupied part of Palestine, in Israel, was a national formation, a settler nation. This is not unique - there are other settler nations in the world - but this was a settler nation still in the process of colonisation, which made it even harder to accept.
So the PLO related to this particular settler nation as a religious entity - hence the word, “secular”. The future Palestine is going to be Arab in national character, but it is going to be secular: it is going to allow equal religious rights and freedom of religious worship to all concerned - Jews, Christians and Muslims.
Paradoxically, in relating to the settlers not as a new nation, but just as part of Jewry, they accepted implicitly the diametrically opposed stance of Zionism, which also regards the Israelis just as part of Jewry, not a new nation. Except that, according to Zionist ideology, all Jews around the world constitute a nation. However, this was 1969, remember - it was at the height of the Vietnam war and the PLO was no doubt inspired by the Vietnamese struggle against colonialism, although in very different circumstances. The inspiration and ideas they got from Vietnam were very unhelpful and in fact soon led to disaster.“ - Moshe Machover: Two Impossibilities, https://weeklyworker.co.uk/worker/1395/two-impossibilities/
[12] Siehe dazu Troubled Times (1995) von Peter Hadden, https://www.marxists.org/history/etol/writers/hadden/1995/natq/index.html
[13] https://www.slp.at/artikel/aus-isaslp-wird-vorw%C3%A4rts-11393
[14] W.I. Lenin: Was tun?, in: LW 5, S.426
[15] Zum Folgenden vgl. W.I. Lenin: Was tun?, in: LW 5, S.435-436
[16] W.I. Lenin: Was tun?, in: LW 5, S.426
[17] W.I. Lenin: Was tun?, in: LW 5, S.451
[18] Lenin meint hier nicht politische „Sektierer“, wie wir den Begriff heute benutzen, sondern Angehörige religiöser Minderheiten!
[19] W.I. Lenin: Was tun?, in: LW 5, S.427
[20] Leo Trotzki: Der Krieg und die Internationale, in: Ders.: Europa im Krieg. Essen: Arbeiterpresse Verlag, 1988, S.377-455, hier: S.445.
[21] Leo Trotzki: Der Krieg und die Internationale, in: Ders.: Europa im Krieg. Essen: Arbeiterpresse Verlag, 1988, S.377-455, hier: S.446.
[22] Leo Trotzki: Der Krieg und die Internationale, in: Ders.: Europa im Krieg. Essen: Arbeiterpresse Verlag, 1988, S.377-455, hier: S.447-448.
[23] Vgl. unsere Publikation: Roman Rosdolsky: Imperialist war and the question of peace. The Bolshevik Peace Politics of the Bolsheviks before the November 1917 Revolution (2024)
[24] Leo Trotzki: Der Krieg und die Internationale, in: Ders.: Europa im Krieg. Essen: Arbeiterpresse Verlag, 1988, S.377-455, hier: S.448.
[25] Zur Dialektik von Sektierertum und Opportunismus siehe unser Statement: https://www.slp.at/artikel/aus-isaslp-wird-vorw%C3%A4rts-11393

