Wandlung der Dynamik von außen nach innen

Man sagt, dass „der Krieg aller Dinge Vater“ sei. Im 20. Jahrhundert brachte er die Revolution hervor.
Jan Rybak

Mit dem Satz „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ begrüßte der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Kapitulation der sozialdemokratischen Parteiführung 1914. Der „Burgfrieden“ sollte die Klassenkonflikte für die Zeit des Krieges beseitigen. Er konnte sie jedoch bestenfalls für eine kurze Zeit übertünchen und unterbinden. Mit zunehmendem Hunger und Verelendung in der Heimat und ausbleibendem Erfolg an der Front endete auch die Illusion in die „herrlichen Zeiten“, die der Kaiser versprochen hatte. Ab Ende 1915 kam es zu ersten Streiks und Demonstrationen von hungernden ArbeiterInnen, in Heer und Marine rumorte es.

Zur vorerst größten Anti-Kriegs-Demonstration kam es in Österreich im Mai 1917. Am 22. Jänner 1918 folgten v.a. in der Rüstungsindustrie massive Streiks gegen die katastrophale soziale Lage und für Frieden. Die k.u.k. Polizei versuchte diese Erhebungen noch auf traditionelle Sündenböcke abzuschieben. So hieß es im entsprechenden Polizeibericht mit unverhohlenem antisemitischem Unterton, dass die „Propaganda hauptsächlich auf international-jüdischem Wege betrieben“ würde. Die Streiks waren aber nur die Ouvertüre. Nachdem im Sommer 1918 die letzten von vielen „Entscheidungsschlachten“ im Sand verlaufen waren, kollabierte das Heer. Die Soldaten stimmten mit den Füßen gegen den Krieg und zogen sich selbständig in die Heimat zurück. Räte wurden gewählt – ursprünglich um den Rückzug zu organisieren, später als revolutionäre Organe. Auch ArbeiterInnen wählten Räte und gingen auf die Straße.

Der Krieg hatte die innere Schwäche des alten Regimes offenbart. Mit seinem Fortschreiten und ohne Aussicht auf den „Siegfrieden“ brachen die nur oberflächlich verputzten sozialen und nationalen Konflikte auf. Die äußere Dynamik verwandelte sich in die innere, der Krieg schlug in die Revolution um. Die alten und morschen Monarchien fielen, wie der russische Revolutionär Leo Trotzki es formulierte „bei der Erschütterung wie eine faule Frucht“. Unter dem Druck der Massen, die Frieden, Nahrung und demokratische Rechte wollten, kollabierten die jahrhundertealten Dynastien und Staaten der Romanows, Habsburger und Hohenzollern. Nachdem sie ihre Untertanen vier Jahre für Kaiser, Gott und Vaterland hatten bluten lassen, entschlossen diese sich, in Zukunft auf derartige Herrscher verzichten zu können und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Ein Großteil der ArbeiterInnen und Soldaten wollte aber beim Sturz der Monarchie und, insbesondere in der Tschechoslowakei, nicht bei nationaler Unabhängigkeit stehen bleiben. Am 12. November 1918, als die Republik Deutschösterreich ausgerufen wurde, versammelten sich Hunderttausende mit einem Transparent mit der Aufschrift „Hoch die sozialistische Republik“ vor dem Parlament. Als Angehörige der revolutionären Roten Garde den weißen Streifen aus der rot-weiß-roten Fahne rissen, wurden sie vom sozialdemokratischen Ordnerdienst beschossen.

Der sozialdemokratischen Führung war nichts an einer Weiterführung der Revolution gelegen. Dazu der Parteiführer Otto Bauer: „Keine bürgerliche Regierung hätte diese Aufgabe [die Massen zu beruhigen; Anm.] bewältigen können. Sie wäre binnen acht Tagen durch Straßenaufruhr gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden. Nur Sozialdemokraten konnten diese Aufgabe von beispielloser Schwierigkeit bewältigen. Nur Sozialdemokraten konnten wild bewegte Demonstrationen durch Verhandlungen und Ansprachen friedlich beenden, die Arbeiterklasse von der Versuchung zu revolutionären Abenteuern abhalten.“ Der Kaiser, dem die sozialdemokratische Parteiführung so lange die Treue hielt, hatte sein altes Reich in den Untergang manövriert. In der Verzweiflung des Krieges und der Not standen die ArbeiterInnen und Soldaten auf, um das morsche System zu beseitigen. Die Erfolge waren groß, aber ebenso der Verrat der sozialdemokratischen Führung und die Möglichkeiten, die verspielt wurden.

Die Absetzung der Habsburger, das Frauenwahlrecht, Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit wurden damals erreicht. Die Arbeitszeit wurde begrenzt, Betriebsräte institutionalisiert und das Sozialsystem verbessert. Zugeständnisse der Bürgerlichen angesichts der drohenden Revolution. Doch bereits 1919, nach dem Abflauen der revolutionären Welle, wurden die Sozialdemokraten wieder aus der Regierung gedrängt. Das Weiterbestehen des Kapitalismus ermöglichte den Bürgerlichen nicht nur die Rücknahme des „revolutionären Schutts“, sondern brachte auch 15 Jahre später den Faschismus an die Macht und besiegelte damit das Aus der Errungenschaften. Der Sturz des Kapitalismus war möglich. Es gab revolutionäre Erhebungen in Russland, Ungarn und Bayern, ein Schulterschluss hätte die Geschichte Europas verändert, hätte uns die Entwicklung des Stalinismus, die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre und in späterer Folge einen weiteren Weltkrieg und die Barbarei der Nazis erspart.

 

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